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Bürgerinitiativen im repräsentativen Regierungssystem | APuZ 12/1974 | bpb.de

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APuZ 12/1974 Bürgerinitiativen im repräsentativen Regierungssystem

Bürgerinitiativen im repräsentativen Regierungssystem

Horst Zilleßen

/ 51 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Tätigkeiten von Bürgerinitiativen haben sowohl in den Parlamenten als auch in den Massenmedien und damit in der öffentlichen Diskussion lebhafte Kontroversen ausgelöst. Wer die Bürgerinitiativen positiv wertet, erkennt in ihnen neue Möglichkeiten einer stärkeren Beteiligung des Stimmbürgers an den politischen Entscheidungen; wer sie kritisch beurteilt, sieht zumindest die Gefahr einer plebiszitären Aushöhlung der repräsentativen Demokratie. Um die Frage zu beantworten, welchen politischen Stellenwert Bürgerinitiativen in einem parlamentarischen Regierungssystem besitzen, müssen ihre wesentlichen Ziele sowie die Voraussetzungen und Bedingungen ihrer Aktivitäten berücksichtigt werden. Die Ziele sind letztlich politische: Auch dort, wo es den Handelnden selbst nicht bewußt ist, mündet ihr Engagement in die Forderung, auf allen politischen Ebenen die Entscheidungsprozesse zu verändern — in Richtung auf Mitbestimmung der durch eine Entscheidung Betroffenen. Der Grund für diese Zielsetzung liegt in der nahezu unbegrenzten Reichweite politischer Entscheidungen, die den einzelnen zunehmend außerstande setzen, auf die Gestaltung seiner Lebensbedingungen verbindlich einzuwirken. Angesichts der relativen Ohnmacht des Bürgers gegenüber Politik und Verwaltung signalisieren die Bürgerinitiativen die verfassungspolitisch entscheidende Frage, ob die der Demokratie zugrunde liegende Idee der Selbstbestimmung angemessen verwirklicht ist, wenn Selbstbestimmung nur formal definiert ist — als Auswahl von Entscheidungsträgern. Auf dem Hintergrund der Demokratietheorie wird deutlich, daß sich in der modernen Demokratie repräsentative und plebiszitäre Elemente ergänzen und daß die Bürgerinitiativen den Ausbau der plebiszitären Komponente in der bislang fast nur repräsentativ entfalteten Demokratie anstreben, um Selbstbestimmung auch inhaltlich stärker zu verwirklichen. Das Problem der mangelnden Rückkopplung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich kann weder durch eine völlige Aufgabe des Repräsentationsprinzips noch durch eine „gerechtere” Repräsentation bewältigt werden. Vielmehr muß das Prinzip der Repräsentation um neue Formen direkter Beteiligung des Bürgers ergänzt werden — nicht durch Partizipation aller an allen Entscheidungen, sondern durch die institutionell abgesicherte Mitbestimmung derer, die von einer bestimmten Entscheidung betroffen sind. Auf dieser Linie der Erweiterung demokratischer Mitverantwortung agieren die Bürgerinitiativen; sie nehmen die Chancen wahr, die das Grundgesetz für politische Partizipation anbietet und versuchen, auf dem breiten Feld zwischen reaktionärer Systemstabilisierung auf der einen und revolutionärer Systemüberwindung auf der anderen Seite die politische Ordnung durch vermehrte Partizipation besser an die gesellschaftliche Entwicklung anzupassen, d. h. sie zu verändern, ohne sie zu zerstören.

her vorliegende Beitrag erscheint in Kürze auch in „Umweltstrategie — Materialien und Analysen zu einer Umweltethik der Industriegesellschaft'', Band IV der Schriftenreihe des Sozialwissenschaftlichen Instituts der evangelischen Kirchen in Deutschland, Gütersloh 1974.

Die Entwicklung der natürlichen, und der sozialen Umweltbedingungen hat in jüngster Zeit nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß viele daseinsrelevante politische Entscheidungen den notwendigen Zusammenhang mit den Bedürfnissen der Betroffenen vermissen ließen. Je negativer aber diese Distanz von den betroffenen Bürgern erfahren wurde, um so mehr wuchs der Widerstand gegen das bloße objekthafte Unterworfensein hinsichtlich politischer Entscheidungen. Angesichts der relativ bescheidenen Tradition bürgerlichen Selbstbewußtseins und bürgerschaftlicher Mitverantwortung muß es den Beobachter überraschen, wie viele Bürger sich gegenwärtig in Bürgerinitiativen für die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen engagieren. Man könnte vermuten, daß diejenigen, die sich auf diese Weise — oft zwar ausgelöst durch subjektive Betroffenheit, meist aber orientiert ah gemeinschaftlichen Bedürfnissen — für das bonum commune einsetzen, damit ein demokratisch angemessenes Staatsbewußtsein verwirklichen. Sie würden also den Staat nicht als Gegenüber der Gesellschaft mit dem Charakter des notwendigen Übels verstehen, sondern als eine allen Bürgern „zur Verwirklichung aufgegebene Ordnung" mit dem Ziel der Einheit von Staat und Bürger

Eine solche Bewertung der Bürgerinitiativen ausschließlich im Sinne einer politischen Doit-yourself-Bewegung würde freilich die grundsätzlichen Anfragen an das politische System übergehen, die mit der Existenz und den Aktivitäten der Bürgerinitiativen gestellt sind. Sie signalisieren einerseits das aktuelle Versagen des Systems in bestimmten Problembereichen und die bisher mangelnde Nutzung gegebener politischer Chancen durch die betroffenen Bürger sowie andererseits eine grundsätzliche Funktionskrise der repräsentativen Demokratie. Die Anzahl und die Intensität ihres Engagements machen die Bürgerinitiativen zu einem augenfälligen, neuartigen Phänomen in der politischen Landschaft der Bundesrepublik. Im folgenden soll daher versucht werden, den politischen Stellenwert von Bürgerinitiativen in einem parlamentarisch-repräsentativen Regierungssystem sichtbar zu machen

I. Bürgerinitiativen. — Versuch einer Beschreibung

1. Vorläufige Definition Jede Bemühung, ein in sich abgerundetes und stimmiges Bild „der" Bürgerinitiative zu entwerfen, scheitert letztlich daran, daß sich die empirische Vielfalt der Erscheinungsformen von Bürgerinitiativen der Reduktion auf eine allgemeine Theorie entzieht. Die besonderen Merkmale einer Bürgerinitiative richten sich weitgehend nach den sachlichen, räumlichen, zeitlichen und personellen Bedingungen ihres Entstehens. Daraus ergibt sich, daß auch der nachfolgende Versuch einer exemplarischen Beschreibung unter dem Vorbehalt steht, daß die konkreten Erscheinungsformen von Bürgerinitiativen ebenso vielfältig sind wie die Bedingungen ihres Entstehens. Unter dieser Einschränkung kann in einer vorläufigen Definition formuliert werden: Als Bürgerinitiativen sind Gruppen zu bezeichnen, die sich in offener oder vereinsmäßiger Organisation spontan bilden, um gegen offensichtliche und typische Mißstände in ihrer natürlichen oder sozialen Umwelt anzugehen oder um auf umweltrelevante Planungs-und Entscheidungsprozesse unmittelbar oder durch „Herstellung von Öffentlichkeit" einzuwirken; sie arbeiten auf freiwilliger, ehrenamtlicher Basis und konzentrieren sich in der Regel auf lokale und kurzfristig lösbare Probleme. (Damit bleiben hier solche Gruppen außer Betracht, die unter dem Namen „Bürgerinitiative" ausschließlich private Interessen verfolgen.)

Aufgrund praktischer Erfahrung des Verfassers geht diese Begriffsbestimmung in zwei Punkten über die bekannten Definitionen Offes und der Berliner Forschungsgruppe hinaus: Sie beschränkt Bürgerinitiativen nicht auf das Ziel der „unmittelbaren", öffentlichen Durchsetzung von Partizipation an Entscheidungsprozessen sondern bezieht Problemlösungen durch Selbsthilfemaßnahmen mit ein, wenn diese wegen ihres exemplarischen Charakters politisch Signalwirkung haben können. Gegenüber der mehr normativen Definition Offes der unter Bürgerinitiativen nur solche Formen der Selbstorganisation sowie der Aktion verstehen will, die im geltenden System der politischen Institutionen nicht vorgesehen sind, werden im vorliegenden Zusammenhang Bürgerinitiativen bewußt auch als Indikatoren von Systemschwächen mit dem Ziel der Mobilisierung sowohl der Of fentlichkeit als auch der politischen Instanzen verstanden.

Die kurze Definition des Phänomens „Bürgerinitiative" bedarf nun freilich einiger Erläuterungen. Der Hinweis auf „Mißstände" und „Systemschwächen" scheint anzudeuten, dai Bürgerinitiativen mehr auf ein vorgegebenes Problem reagieren als selbständig und von sich aus agieren. Dies gilt sicher insoweit, als der Entstehung einer 'Bürgerinitiative fast regelmäßig ein subjektives Betroffensein, das erst Problembewußtsein schafft, vorausgeht Als besonderes Merkmal einer Bürgerinitiative muß hier jedoch gewertet werden, daß es nicht bei einem subjektiven Betroffensein und also einer subjektiven Reaktion bleibt, sondern daß die Reaktion zunächst in dem Versuch besteht, andere Betroffene zu aktivieren und damit einen Prozeß der Solidarisierung einzuleiten. Dies kann deshalb gelingen, weil sich Bürgerinitiativen in der Regel als Ein Punkt-Aktionen verstehen und also ihr Engagement sachlich, zeitlich und räumlich begrenzen. Dadurch sind sie auch in einer interdependenten und komplexen Industriegesellschaft in der Lage, im konkreten Fall die existenzielle Betroffenheit einsehbar -zu machet und individuelle und kollektive Interessen zu mobilisieren.

Diese Zielsetzung geht zunächst von der Voraussetzung aus, daß Probleme, die in gesellschaftlichen Teilbereichen auftreten, zumindest teilweise lösbar sind und also nicht in jedem Fall durch die dem Gesamtsystem zugrunde liegenden Bedingungen der Kapital-verwertung blockiert werden Die Situation — etwa im Problembereich.

Umweltschutz" — wird insoweit tatsächlich als Mißstand gewertet, der in bestimmten Fällen durch entsprechende Initiative und Interessendruck behoben werden kann. Die Problemorientiertheit von Bürgerinitiativen sollte freilich nicht dazu verleiten, in ihnen lediglich eine neue Form des Verbandsinteresses zu sehen. Gegenüber den üblichen Verbänden, die sich entweder als unpolitisch verstehen oder im Rahmen des normalen politischen Prozesses ihre Sache vertreten, haben Bürgerinitiativen ein besonderes politisches Ziel: Auch dort, wo es den Handelnden selbst nicht bewußt ist, mündet ihr Engagement letztlich in die Forderung, auf allen politischen Ebenen die Entscheidungsprozesse zu verändern — in Richtung auf Mitbestimmung der durch die Entscheidung Betroffenen.

Diese-politische Zielsetzung wird nicht von allen Bürgerinitiativen ausdrücklich formuliert, aber sie ist schon durch die bloße Existenz von Aktionsgruppen in gesamtgesellschaftlich relevanten Problembereichen stets thematisiert. Politisch wirksam wird sie aber schließlich nur dadurch, daß sie bewußt in die Strategie von Bürgerinitiativen aufgenommen wird. Diese ziehen folglich Konsequenzen aus der Erkenntnis, daß ihr Engagement in vielen Fällen an den System-und damit interessenbedingten Entscheidungsprozessen scheitert, so daß auch guter Wille und Einsatzbereitschaft nicht ausreichen, um die angestrebten Problemlösungen durchzusetzen. Indem die Bürgerinitiativen jenseits der konkreten Anlässe und Interessen grundsätzlich die Form des politischen Entscheidungsprozesses zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzungen machen, fordern sie nicht nur eine konkrete Veränderung bzw. — nach ihrer Wertung — Verbesserung des politischen Systems, sondern dokumentieren auch gleichzeitig ihre Zuversicht in dessen Innovationsfähigkeit. 2. Ursachen und Gründe für das Entstehen von Bürgerinitiativen Daß gegenwärtig die Zahl und die Aktionsbereiche von Bürgerinitiativen ständig weiter zunehmen, kann auf verschiedene, teilweise eng miteinander zusammenhängende Ursachen zurückgeführt werden. Von besonderer Bedeutung ist dabei zweifellos die Wandlung in der Reichwerte politischer Entscheidungen, die zu einer Entwicklung geführt hat, die man wohl mit Recht als Verstaatlichung der Gesellschaft bezeichnet Durch ein prinzipiell nahezu lückenloses System staatlicher Interventionen — von der Altersversorgung bis zur Zulassung eines Gewerbebetriebes — unterliegt das tägliche Leben in einem bisher nicht bekannten Ausmaß einer politischen und bürokratischen Regulierung. Dem einzelnen wird in gleichem Maß die Möglichkeit beschnitten, auf die Gestaltung seiner Lebensbedingungen verbindlich einzuwirken oder doch wenigstens eigene Problemlösungen zu entwickeln.

Diese relative Ohnmacht des einzelnen Bürgers im Hinblick auf seine Daseinsgestaltung wird dadurch noch erhöht, daß der Funktionsgewinn der Bürokratie und die tendenzielle Aufhebung der Trennung von Gesellschaft und Staat zu einer wachsenden Verflechtung von ökonomischen Interessen und politischer Problembewältigung geführt haben Das wiederum läßt sich vor allem mit dem Verhalten der großen Interessenverbände begründen, die zunehmend am Parlament vorbei unmittelbar die Ministerialbürokratie zu beeinflussen versuchen. Wie die Exekutive neigt aber auch die Bürokratie dazu, das „Gemeinwohl" im Machtausgleich der stärksten Interessen zu suchen und das sind nach dem Maß ihrer organisatorischen und materiellen Möglichkeiten die wirtschaftlich orientierten Großgruppen. Die Verfestigung der auf Verbandseinfluß basierenden pluralistischen Machtstruktur führt nun dazu, daß Interessengruppen mit geringem Organisationsgrad kaum an der Machtverteilung und -ausübung beteiligt werden. Auch sind mit Zunahme der Staatstätigkeit entsprechende Interessengruppen kaum oder nur mit großem zeitlichen Abstand nachgewachsen. Als Ergebnis dieser Entwicklung ist nicht nur eine gewisse Einflußlosigkeit des einzelnen Bürgers auf wesentliche Bedingungen seiner privaten Existenz festzustellen. Durch mangelnden Interessendruck bleiben darüber hinaus bestimmte gesellschaftliche Bereiche unterversorgt, obwohl sie grundsätzlich staatlicher Regelung unterliegen, oder sie werden staatlich geregelt, ohne daß die Betroffenen ihre Interessen und Bedürfnisse angemessen geltend machen können. Dies gilt wohl besonders für die Bereiche der Infrastruktur, wie Bildung, Gesundheitsvorsorge, Stadtplanung, Umweltschutz oder Verkehr.

In dieser Situation formiert sich in den Bürgerinitiativen einerseits der Widerstand gegen eine politische und bürokratische Bevormundung und andererseits die Reaktion der Betroffenen auf Fehlentwicklungen und Unerträglichkeiten durch die staatliche und privatwirtschaftliche Problembewältigung oder — wie Vilmar formuliert — „durch die rapide Zunahme kommunal-und umweltpolitischer Notstände" Historisch betrachtet stehen die Bürgerinitiativen auf jener Linie des „bürgerlichen Publikums", dessen Ansprüche außerhalb des Machtausgleichs geltend gemacht werden, der sich in Form der Gewaltenteilung der Herrschenden vollzieht. Bürgerinitiativen streben grundsätzlich keine Beteiligung an der Herrschaft an, sondern wollen Herrschaft als solche verändern, indem sie sie einer größeren öffentlichen Kontrolle unterziehen

Mit der Forderung nach einer effektiveren politischen Kontrolle sind die Bürgerinitiativen auch als eine Konsequenz aus dem Funktionsverlust von Parteien und Parlamenten zu betrachten. Dieser resultiert nicht nur aus dem Übergewicht der Exekutive und der Bürokratie, sondern auch aus der Entwicklung der Parteien zu Volksparteien, die keine spezifi-9 sehe Interessenvertretung für benachteiligte und nicht unmittelbar wahlrelevante Problembereiche mehr leisten können. Die Parteiführung muß um der Geschlossenheit und der Aktionsfähigkeit der Partei willen bestimmte Interessen zurückdrängen, solange sie nicht ein auf dem Markt der politischen Meinungen anerkanntes Thema betreffen. Was auf diesem Markt thematisiert wird, das bestimmen „die mächtigen Kerngruppen des Systems der Vereinigungen wohl mehr als die Parteien" die damit ihre Artikulationsfunktion teilweise verloren haben.

Wenn unter solchen Bedingungen Bürgerinitiativen versuchen, neben und gegenüber den Parteien politische Willensbildung und Interessenartikulation zu betreiben, so wird ihr Entstehen offenbar durch Fortschritte im allgemeinen politischen Bewußtsein begünstigt. Die Fehl-und Unterentwicklungen etwa im Infrastrukturbereich haben ja eine wesentlich längere Geschichte als die Bürgerinitiativen, die erst gegen Ende der sechziger Jahre auftreten. Die Frage, ob die erhöhte Kritikfähigkeit primär aus der Erfahrung von konkreten Krisensituationen oder aus der Wirkung von Bildungsprozessen begründbar ist soll hier nicht weiter erörtert werden. Sicher scheint, daß die Bürgerinitiativen in ihrer gegenwärtigen Form und insbesondere in ihrer Vielfalt teilweise als Ergebnis der Mobilisie rungs-und Demokratisierungskampagnen der Studenten, der außerparlamentarischen Opposition und der antiautoritären Bewegung bezeichnet werden können. Sie stellen dabei nicht einfach eine „mittelständische Variante der Studentenrevolte" dar, sondern in der Tat eher eine zeitlich verschobene Reaktion auf soziale Tatbestände sowie auf allgemeine Bildungs-und Sozialisationsprozesse.

Die subjektiven Voraussetzungen, unter denen Bürgerinitiativen entstehen und agieren, sind nicht monokausal zu beschreiben. Eine weniger autoritäre Sozialisation gehört dazu ebenso wie demokratische Erziehungs-und Bildungsformen, die Einsicht in gesellschaftliche Fehlentwicklung und die Erfahrung infrastruktureller Unerträglichkeiten ebenso wie* der psychologische Anstoß durch das Beispiel der Studentenbewegung. 3. Adressat ihrer Aktivität Auf den Zusammenhang zwischen Verände-rungen im demokratischen Bewußtsein und den Aktivitäten von Bürgerinitiativen wies Willy Brandt hin, als er die Aufforderung, die oft reservierte Haltung gegenüber Bürgerinitiativen zu überprüfen, mit dem Satz einleitete: „Die überkommenen Formen der kommunalpolitischen Beteiligung der Bürger reichen offenbar nicht aus, dem angewachsenen Problembewußtsein zahlreicher Bürger und ihrem Wunsch, aktiv mitzuwirken, Rechnung zu tragen."

Hier ist zugleich der Adressat genannt, an den sich die Bürgerinitiativen in aller Regel wenden: Ihre Situation ist in den meisten Fällen durch eine Konfrontation mit der kommunalen Verwaltung gekennzeichnet. Auch dort, wo ihre Aktivität durch den Betrieb eines Industrieunternehmens ausgelöst wird, steht in der Sicht der Bürgerinitiativen oft eine unzulängliche Funktionserfüllung der Verwaltung im Hintergrund. Als Ursache für solches Fehlverhalten können vor allem zwei Zusammenhänge genannt werden: Zum einen ist in allen Verwaltungen gelegentlich die Tendenz nachweisbar, sich gegenüber kritischen Einwänden auf formale Entscheidungskriterien zu berufen, Alternativen als lästig zu verdrängen, die öffentlichen Angelegenheiten als Objekt bevormundender Fürsorge zu betrachten und somit bewußt oder unbewußt den betroffenen Bürger von der Willensbildung und Entscheidungsfindung fernzuhalten

Zum anderen steht der geringe Einfluß des einzelnen Bürgers im umgekehrten Verhältnis zu dem der Wirtschaft. Die Abhängigkeit der Gemeinden von der Gewerbesteuer und ihr Bemühen um die Sicherung der Arbeitsplätze, mit deren Gefährdung die Unternehmen oft argumentieren, führen dazu, daß im Konfliktfall die Interessen der Allgemeinheit gegenüber den Interessen der großen Gewerbesteuerzahler zurückstehen müssen — was meist dadurch verdeckt wird, daß sie als identisch erklärt werden. Hinzu kommen die informellen Einflußmöglichkeiten der Unternehmens-leitungen, die, da sie der gleichen sozialen Schicht angehören wie die Spitzen der Verwaltung, mit diesen häufig persönlichen Kontakt haben. Solche Kontakte können aber wegen der Unabhängigkeit’ der kommunalen Spitzenfunktionäre besonders wirksam sein. Die „staatliche“ Kontrolle der kommunalen Selbstverwaltung funktioniert zwar über Vergabe von finanziellen Zuschüssen zu örtlichen Projekten; aber darüber hinaus sind die kommunalen Spitzenfunktionäre nicht vom Staatsapparat, sondern von der örtlichen Politik abhängig. Sie gewinnen in dieser Situation weitgehende Unabhängigkeit daraus, daß sie gegenüber dem Gemeindeparlament und seinen Wählern die staatlichen Direktiven betonen, während sie sich diesen gegenüber mit dem Hinweis auf die örtliche Politik zu entziehen versuchen: „Die eigentümliche Sonderstellung der kommunalen Selbstverwaltung kommt unbedingt den Spitzenfunktionären zugute, nur sehr eingeschränkt dem Gemeinderat und überhaupt nicht dem Bürger."

Die Bürgerinitiativen setzen mit ihrem Engagement bei diesen für sie negativen Folgen bürokratischer Verwaltung an und versuchen, die strukturellen Voraussetzungen dieser Entwicklung zu ändern. Ihre Strategie zielt auf eine größere Öffentlichkeit in Willensbildung und Entscheidungsfindung, auf eine breitere Information durch Partizipation von Betroffenen, um zu verhindern, daß Statussorgen und Funktionsgehorsam von Bürokraten die Verwirklichung allgemeiner Interessen allzusehr beeinträchtigen. Gewiß verfolgen viele Bürgerinitiativen gruppenegoistische Interessen und verstehen sich selbst nicht als Sachwalter allgemeiner Belange. Aber auch das Engagement von Bürgerinitiativen im lokalen Bereich bezieht sich in der Regel auf typische Tagesprobleme, signalisiert also eine gesellschaftliche Fehlentwicklung und artikuliert —-deutlich etwa im Bereich „Umweltschutz" — bisher vernachlässigte allgemeine Interessen.

Die Strategie der Bürgerinitiativen kann vor allem deshalb erfolgreich sein, weil die Interessen der Verwaltung nicht so homogen, d. h. einseitig kapitalorientiert sind, wie von marxistisch orientierten Kritikern oft unterstellt wird Wenn etwa — was nicht gerade selten der Fall ist — kommunale Spitzenpolitiker in den Aufsichtsgremien von Unternehmen sitzen, gegen deren Planungen oder Umweltbelastungen sich die Bürgerinitiativen wehren, dann ist leicht einzusehen, daß auch Verwaltungsbeamte gelegentlich Zwängen unterliegen, die ihre Entscheidungen in eine von ihnen nicht unbedingt gewünschte Richtung bringen. Ihren Interessen kommt das Engagement einer Bürgerinitiative daher oft durchaus gelegen, weil sie selbst nichts mehr sagen oder nichts mehr unternehmen können.

Aber auch dort, wo die Bürgerinitiativen auf versteckten oder offenen Widerstand der Verwaltungen stoßen, ist ihre Strategie nicht unbedingt zum Scheitern verurteilt, wie zahlreiche Erfahrungen zeigen. Nicht zuletzt ist sie aber deshalb sinnvoll, weil Änderungen im kommunalen Bereich offenbar sowohl von den handelnden Subjekten als auch vom Gesamtsystem her gesehen eine wesentliche Voraussetzung dafür sind, die angestrebten grundsätzlichen Änderungen im Ablauf von Entscheidungsprozessen durchzusetzen Natürlich spielen im jeweiligen Fall praktische Gründe eine besondere Rolle für die Konfrontation zwischen Bürgerinitiative und Verwaltung. Deren Entscheidungen sind schließlich oft der Anlaß für das Engagement der Bürgerinitiative; die Verwaltung ist gegenüber den wechselnden Parteimehrheiten und den unterschiedlichen Regierungskoalitionen auf den verschiedenen Entscheidungsebenen ein konstanter und berechenbarer Verhandlungspartner.

Für den vorliegenden Zusammenhang sind aber die grundsätzlichen Aspekte entscheidend. Die Durchsetzung neuer Formen politischer Entscheidungsprozesse, auf die die lokalen Aktivitäten von Bürgerinitiativen abzielen und die sie teilweise bereits erreicht haben ist von weitgreifender politischer Bedeutung. Obwohl viele politisch relevante Entscheidungen von der kommunalen auf eine ihr übergeordnete Ebene verlagert worden sind, verfügen die Kommunen dennoch — wie eine empirische Analyse gezeigt hat — über genügend Möglichkeiten eigener politischer Entscheidung, wenn diese auch nicht immer wahrgenommen werden. Wenn Bürgerinitiativen in diesem Zusammenhang beurteilt werden, dann haben sie in ersten praktischen Schritten bereits realisiert, „daß die Gemeinden für einen wesentlichen Teil der dringend anstehenden politischen Reformen das Zentrum des Handelns bilden müssen" 4. Aktionsbereich und soziale Schichtung von Bürgerinitiativen Unter dem zuletzt genannten Aspekt erscheint die oft kritisierte Beschränkung der Bürgerinitiativen auf Probleme im Reproduktionsbereich in einem neuen Licht. Sicher sind dafür zunächst ganz praktische Überlegungen maßgebend. Im Produktionsbereich wäre aufgrund der straff organisierten Arbeitsprozesse ein wesentlich höherer Organisationsgrad erforderlich, als Bürgerinitiativen erreichen können, zumal sie vorwiegend diejenigen aktivieren, die bislang keine oder nur geringe politische Erfahrungen gesammelt haben. Außerdem würde eine Bürgerinitiative im Produktionsbereich für die Beteiligten mit einer unmittelbaren Bedrohung ihrer materiellen Existenz verbunden sein Schließlich artikulieren im Produktionsbereich die Gewerkschaften die Interessen der durch wirtschaftliche Entscheidungen Betroffenen, während im Reproduktionsbereich eine entsprechende Interessenvertretung weithin fehlt. Darüber hinaus spricht insbesondere die politische Zielsetzung von Bürgerinitiativen eindeutig für eine Konzentrierung auf den Reproduktionsbereich. Hier treten die Unzulänglichkeiten und Unerträglichkeiten der bisherigen Entwicklung am deutlichsten zutage und erweisen sich teilweise offensichtlich als Folgen einer unzureichenden Organisation politischer Entscheidungen. Die engagementauslösende subjektive Betroffenheit kann daher im Reproduktionsbereich am ehesten in die politische Zielsetzung münden. Zugleich können die Bürgerinitiativen auf diesem Feld eher dem Verdacht entgegentreten — dem sie gleichwohl häufig ausgesetzt sind—, eigennützige Ziele hinter der Fassade allgemeiner Belange verbergen zu wollen.

Die Aktivitäten der Bürgerinitiativen in gesamtgesellschaftlich relevanten Problemfeldem der Reproduktionssphäre erfordern aber von den Handelnden ein relativ hohes soziales Bewußtsein. Die Notwendigkeit solidarischen Handelns setzt voraus, daß die Mitarbeiter von Bürgerinitiativen die grundlegenden Spielregeln des gleichberechtigten Miteinander, der Gruppenbildung und des verantwortlichen Handelns in einer Gemeinschaft beherrschen und also bereits wesentliche Sozialisationsprozesse durchlaufen haben. Dies legt den Schluß nahe, daß es sich hier wirklich um Bürger-Initiativen handelt, d. h. um Gruppen, die sich überwiegend aus dem (mittelständischen) „Bürgertum" rekrutieren. Es dürfte wohl unbestritten sein, daß diese Schicht im Hinblick auf die geforderten Verhaltensweisen weitaus reaktionsfähiger als die soziale Unterschicht ist. Alle empirischen Untersuchungen bestätigen denn auch, daß vorwiegend Vertreter der sozialen Mittel-schicht in Bürgerinitiativen engagiert sind

Diese schichtenspezifische Ausrichtung der Bürgerinitiativen muß wiederum im Zusammenhang mit ihrer politischen Zielsetzung gesehen werden. Angehörige der Mittelschicht sind aufgrund ihres höheren Bildungsniveaus und ihrer besseren materiellen Voraussetzungen eher als Angehörige der Unterschicht bereit und in der Lage, „von bloßen symptom-kurierenden zu strukturbezogenen Aktivitäten" fortzuschreiten Gleichzeitig folgt aus ihrer sozialen Zusammensetzung, daß das politische Engagement von Bürgerinitiativen nicht im Sinne einer bestimmten parteipolitischen Richtung gedeutet werden kann. So wenig die Angehörigen der Mittelschicht ausschließlich oder überwiegend politisch einlinig festgelegt sind, so wenig lassen sich auch die Bürgerinitiativen grundsätzlich einer bestimmten Partei zuordnen Dies ist schon deshalb kaum möglich, weil sich bei einer projektbezogenen Aktionsgruppe die Mitgliedschaft nicht nach politischen Differenzierungen richtet und weil eine Bürgerinitiative im Fahrwasser einer politischen Partei ihre Glaubwürdigkeit sowohl gegenüber ihren politisch heterogenen Mitgliedern als auch gegenüber den wechselnden Verhandlungspartnern auf der politischen Ebene verlieren würde.

Der Zusammenhang zwischen Mittelschichtorientiertheit und politischer Zielsetzung von Bürgerinitiativen besitzt nun freilich noch einen betont normativen Akzent. Bei Vernachlässigung der politischen Implikationen können Bürgerinitiativen allzuleicht als Veranstaltungen gewertet werden, durch die ein ohnehin bereits privilegiertes Bildungsbürgertum seine sozialen Komfortbedürfnisse befriedigt. Wenn hier also der politische Charakter von Bürgerinitiativen hervorgehoben wird, dann deshalb, weil ihre Aktivität nicht nur die Forderung signalisiert, durch eine verstärkte Partizipation von Bildungsbürgern die Lücken im System staatlicher Daseinsvorsorge zu füllen. Ihr Engagement ist vielmehr als der Versuch zu verstehen, neue politische Ziele in die öffentliche Diskussion zu bringen und damit die politischen Programme zu erweitern — nicht zuletzt dadurch, daß auf die ungelösten Probleme der Unterprivilegierten und Randgruppen hingewiesen wird. Auch und gerade im Blick auf ihre gegenwärtige soziale Struktur stellt sich mit den Bürgerinitiativen die Frage, ob die augenblickliche Form staatlicher Daseinsvorsorge an den Be-dürfnissen der Gesamtgesellschaft oder der Privilegierten dieser Gesellschaft ausgerichtet ist. So zeigt die Existenz von Bürgerinitiativen die Notwendigkeit von politischen Veränderungen an; aber selbst wo sie ausdrücklich unter dieser Zielsetzung antreten, schließt ihre Verankerung in der bürgerlichen Mittelschicht die Annahme weithin aus, sie würden dies auf dem Weg revolutionärer Systemüberwindung zu erreichen versuchen. 5. Bürgerinitiativen als Institution In welchem Maß nun Bürgerinitiativen der ihrem Engagement innewohnenden Forderung nach Partizipation politische Stoßkraft verleihen, hängt davon ab, wieweit es ihnen gelingt, über die Mobilisierung von Unzufriedenen hinaus eine längerfristige Politisierung ihrer Mitglieder zu erreichen. Dafür ist einerseits eine gewisse organisatorische Stabilisierung notwendig und andererseits die Überwindung eines „Kirchturmdenkens", das sich nur an den lokalen Symptomen gesellschaftlicher Fehlentwicklung orientiert. Wenn die Bürgerinitiativen nicht doch schließlich bei einem bloßen Hin-und Herschieben der Probleme landen wollen, müssen sie ihre Aktivitäten in ein gesamtgesellschaftlich wirksames Konzept einordnen und also den Rahmen der Privatheit und der Selbsthilfe überschreiten

Am Beispiel der Bürgerinitiativen im Bereich der Umweltpolitik läßt sich diese Folgerung empirisch belegen. Je länger sich die Bürgerinitiativen mit den Symptomen der Umweltkrise auseinandersetzten, um so deutlicher trat zutage, daß mit nur lokalen und projektgebundenen Aktionen nicht die eigentlichen Ursachen der Umweltbedrohung beseitigt werden können. Als entscheidend für Erfolg oder Mißerfolg örtlicher Initiativen erwiesen sich immer häufiger die politischen Grundlagen, so daß die Einflußnahme auf umweltbezogene Gesetzgebungs-und Planungsprozesse die konkreten Umweltschutzaktivitäten ergänzen mußte. Die entsprechende Ausweitung ihrer Aktivitäten stellte die Bürgerinitiativen zunächst auf lokaler Ebene vor die Notwendigkeit, sich institutionell so zu festigen, daß sie kommunalpolitisch handlungsfähig und gleichzeitig als ein Verhandlungspartner der Verwaltungen akzeptierbar wurden. Dies ge lang ihnen in der Regel dadurch, daß sie sic] als eingetragener Verein konstituierten. Ihn konsequente Weiterführung fand diese Forn der Partizipation in den überregionalen Zu sammenschlüssen von lokal und regiona tätigen Aktionsgruppen. Damit wurden aucl für die landes-und bundespolitische Ebene Einflußmöglichkeiten geschaffen und darübe: hinaus der Partizipationsforderung der Bür gerinitiativen politische Stoßkraft und Konti nuität verliehen.

So sinnvoll und notwendig die organisatorische Stabilisierung gerade im Hinblick aui die politische Zielsetzung auch immer ist, sie bringt auch Gefahren für die Wirkung del Bürgerinitiativen. Eine fest organisierte Bürgerinitiative kann vom Verhandlungspartner besser eingeplant werden — etwa im Sinne eines Frühwarnsystems, das Fehlentscheidungen bereits dann signalisiert, wenn deren Auswirkungen noch durch entsprechende Reaktionen aufgefangen werden können. Damit würde aber das politische Ziel der Bürgerinitiative verfehlt, da etwa die Verwaltung so reagieren kann, daß die Forderung nach Partizipation wirkungslos bleiben muß. Auch muß die Möglichkeit gesehen werden, daß sich die Bürgerinitiativen bei einer gewissen politischen Etablierung selbst bereitfinden, im Sinne einer anpassenden Integration zu wirken, und damit den Reformansatz preisgeben

Diese Entwicklungsmöglichkeiten sollten gesehen, aber sie sollten nicht überschätzt werden. Einerseits kann es durchaus in der Absicht einer Bürgerinitiative liegen, im Sinne eines Frühwarnsystems zu agieren, denn auch damit werden Lücken in der bisherigen Problembewältigung sichtbar gemacht. Zum zweiten bedeutet die Institutionalisierung von Bürgerinitiativen keineswegs, daß damit die spontane und lockere Organisation lokaler Aktionsgruppen ausgeschlossen ist. Vielmehr muß die Funktionsteilung zwischen lokalen Bürgerinitiativen und überregionalen Zusammenschlüssen berücksichtigt werden. Lokale Gruppen können beispielsweise einen Konflikt dramatisieren und radikalisieren, während ihr Landesverband ihn verhandlungsfähig und die Bürgerinitiativen als Verhandlungspartner akzeptierbar macht. Zum dritten schließen sich „systemintegrative Tendenzen" und Reformwille nicht absolut aus. Wenn man auf der einen Seite davon ausgeht, daß das System verbesserungsbedürftig und auch verbesserungsfähig ist und auf der anderen Seite das Ziel der Veränderung nicht gleichsam in einem Schwung erreicht werden kann, dann ist jedes doktrinäre Schema „Systemintegration oder Systemüberwindung" fehl am Platz.

Unter den gegebenen Bedingungen ist — wie auch praktische Erfahrungen zeigen — eine grundsätzliche Konfrontationsstrategie zum Mißerfolg verurteilt; sie widerspricht überdies dem strategischen Ziel der Bürgerinitiativen, die gegenwärtige politische Ordnung durch vermehrte Partizipation zu verbessern, d. h. sie zu verändern, ohne sie zu zerstören. Wenn die Institutionalisierung der Bürgerinitiativen unter dieses Vorzeichen gestellt wird, muß sie sowohl hinsichtlich deren langfristiger Wirksamkeit als auch in bezug auf die Regenerationsfähigkeit des repräsentativen Regierungssystems positiv gewertet werden.

II. Bürgerinitiativen im Rahmen der Demokratietheorie

1. Die klassische Theorie der Demokratie Die politische Interpretation des Phänomens „Bürgerinitiative" führt nun zwangsläufig zu der Frage, welchen politischen Stellenwert Bürgerinitiativen im repräsentativen Regierungssystem einnehmen. Welches Demokratieverständnis liegt der hier mehr oder weniger ausdrücklich formulierten Zustimmung zu den Bürgerinitiativen zugrunde? — Es kann im vorliegenden Zusammenhang keine ausführliche Demokratietheorie entfaltet werden; aber die Beantwortung der gestellten Fragen setzt zumindest eine kurze demokratietheoretische Ortsbestimmung voraus.

In der Entwicklung der modernen Demokratie laufen etwa seit der Französischen Revolution zwei Entwicklungslinien nebeneinander her, die man als die „liberale" und die „demokratische" unterschieden hat Die klassische Demokratietheorie hat beide Linien aufgenommen. Auf sie berufen sich auch die streitenden Parteien in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Demokratisierung. Die liberale Konzeption stammt im wesentlichen von dem Engländer John Locke und nimmt die Forderungen des wirtschaftlich stark gewordenen Bürgertums auf, das sich mit den absolutistischen und merkantilisti-sehen Herrschaftsformen des 17. und 18. Jahrhunderts auseinandersetzte. Um die individuelle, insbesondere die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen vor staatlicher Bevormundung zu sichern, forderte das Bürgertum eine klare Trennung von Gesellschaft (Wirtschaft) und Staat und — um die Verwirklichung dieser Forderung sicherzustellen — die Beteiligung des Bürgers an der Ausübung staatlicher Macht. Diese Beteiligung hat vorwiegend abwehrenden Charakter: Das grundlegende demokratische Prinzip der Selbstbestimmung bedeutet hier Auswahl und Kontrolle der politischen Führung, um vor ihr einen individuellen Freiheitsraum zu sichern. Da Staat und Gesellschaft als voneinander getrennt gelten, wird keine inhaltliche politische Selbstbestimmung angestrebt; die Einflußnahme auf die Gestaltungsfunktionen der Politik entfällt, weil der Politik diese Funktionen nicht zuerkannt werden. Der Staat wird in seiner Aufgabenstellung darauf beschränkt, die öffentliche Ordnung und damit zugleich die Sicherheit der Bürger zu garantieren. Dabei wird von der Voraussetzung ausgegangen, daß die natürlichen Kräfte der Gesellschaft in der Regel einen Ausgleich der unterschiedlichen Interessen bewirken und also die sich selbst stabilisierende Harmonie der gesellschaftlichen Freiheit vor staatlichen Eingriffen zu schützen ist.

Zur Sicherung der individuellen Freiheit und Selbstbestimmung sind durch John Locke und die liberale Theorie wesentliche Elemente in die demokratische Entwicklung eingeführt worden. Von besonderer Bedeutung erwies sich dabei der Gedanke, daß Bildung, Ausübung und Kontrolle politischer Macht durch eine gesetzte Rechtsordnung, eine Verfassung, geregelt werden müssen. Um zu verhindern, daß Leben, Freiheit und Eigentum der Bürger durch eine übermächtige Staatsgewalt gefährdet werden, wird diese grundlegenden Rechtsvorschriften unterworfen, die an den naturrechtlich begründeten Menschenrechten orientiert sind. Das entscheidende Kriterium dieser Verfassungsordnung ist die Beschränkung der Staatsgewalt durch das Prinzip der Gewaltenteilung Die Idee der Rechtsstaatlichkeit, die hier die politische Bühne betritt, umschließt nicht nur die Forderung nach Rechtmäßigkeit staatlicher Gewalt, sondern auch die Vorstellung, diese sei dadurch abzusichern, daß jeder Bürger vor dem Gesetz gleich ist und also auch die gleichen politischen Rechte und Einflußmöglichkeiten besitzt. Da die individuelle Freiheit auch die Meinungsfreiheit einschließt, erhält die öffentliche Meinung konstitutive Bedeutung für die Politik, weil über sie der Wille des Bürgers politisch Gestalt gewinnt.

Daß es sich bei der liberalen Demokratietheorie um eine „bürgerliche" Theorie handelt, wird daran deutlich, daß das Problem „Gleichheit“ nicht weiter thematisiert wird. Gleichheit wird hier vielmehr als die Chancengleichheit der Bürger im Wirtschaftsleben und in der Politik vorausgesetzt; sie kann letztlich als die Gleichheit der Besitzenden verstanden werden. Da sich diese Theorie auf den relativ homogenen Bereich des Bürgertums bezog und zudem den Raum dessen, was politisch zu gestalten war, stark einengte, brachte auch die Einführung des Prinzips der Repräsentation, die die Grundlage der Gewaltenteilung darstellt keine unlösbaren Probleme. Die dem Eigentumserwerb nachgehenden Bürger konnten sich in ihren politischen Belangen unbesorgt durch die Repräsentanten ihrer Schicht vertreten lassen. Die Bindung des Wahlrechts an soziale Merkmale garantierte eine ungehinderte politische Interessenvertretung des besitzenden Bürgertums. Während die-liberale Demokratietheorie die individuelle 'Freiheit als obersten Wert und politische Selbstbestimmung im Gegenüber zur staatlichen Gewalt sieht, geht die radikal-demokratische Konzeption davon aus, daß Freiheit und Selbstbestimmung nur durch die bewußte Gestaltung der staatlichen Ordnung zu erreichen sind.

In ihren Hauptlinien geht diese Konzeption auf Jean-Jacques Rousseau zurück. In ihr ist in der Idee der Volkssouveränität die Forderung nach politischer Selbstbestimmung am konsequentesten ausformuliert. Die Bürger gründen den Staat, indem sie einen Vertrag über die Ordnung des Zusammenlebens abschließen, der die Identität von Regierenden und Regierten sicherstellen soll. Politische Selbstbestimmung wird hier in einem absoluten Sinne dadurch gewährleistet, daß Herrschaft prinzipiell abgeschafft wird. Die das Zusammenleben ordnenden Gesetze sind Äußerungen des Gemeinwillens, der sich aus den Abstimmungen der Gesellschaftsmitglieder ergibt. Die Bürger geben sich in einem Prozeß unmittelbarer Demokratie selbst ihre Gesetze und bilden damit den Gemeinwillen, der mehr ist als der Gesamtwille, die bloße Summe der Einzelwillen.

Im Gegensatz zur liberalen Konkurrenztheorie, die auf die Einsicht der Bürger und die Logik eines formal geregelten Interessenausgleichs vertraut, ist hier das vernünftige Verhalten der Individuen nicht Voraussetzung, sondern Ziel der politischen Partizipation. Durch die Beteiligung an der Regelung staatlicher Belange gibt der einzelne seine isolierten und eigensüchtigen Interessen auf und stellt sich unter den Gemeinwillen. Dadurch, daß er unmittelbar in den Prozeß der Gesetzgebung etwa eingeschaltet und in seiner politischen Tätigkeit nicht auf die Wahl von Repräsentanten beschränkt ist, erkennt er den Gemeinwillen in dem, was für das gemeinsame Leben sinnvoll und annehmbar ist. Das besondere Merkmal dieser Konzeption ist die Betonung der Gleichheit aller Bürger als Voraussetzung für die Möglichkeit wie für die Funktionsfähigkeit der unmittelbaren Demokratie. Nicht alle Bürger sind freilich bereit, ihre Partikularinteressen dem Gemeinwillen unterzuordnen oder in diesem zu erkennen. Daher müssen sie durch einen starken Staat, in dem sich der Gemeinwille konkretisiert hat, dazu gezwungen werden können. Darüber hinaus sollen Erziehungs-und Bildungsmaßnahmen die Bürger zur Selbstbestimmung befähigen, wozu sie — entgegen der liberalen Theorie — nicht in jedem Fall und von vornherein in der Lage sind. Erst dann, wenn der einzelne sich in Übereinstimmung mit dem Gemeinwillen befindet, ist er wirklich ein freier und zur Selbstbestimmung fähiger Bürger. Man kann daraus die These ableiten, hier würde das Individuum „schlechthin zur Disposition der Gemeinschaft gestellt" aber damit werden wohl mehr die Perversionen der demokratischen Theorie getroffen als diese selbst. Sie stellt in der Verwirklichung des Gemein-willens. die Selbstregierung des Volkes und damit letztlich das Wohl des Individuums in den Mittelpunkt

Politische Selbstbestimmung ist in der demokratischen Theorie nicht Mittel zur Kontrolle staatlicher Macht, sondern Selbstzweck. Sie soll dem einzelnen unmittelbaren Einfluß auf die Gestaltung der staatlichen Ordnung verleihen. Wenn Rousseau auch seine Vorstellungen für einen Kleinstaat mit homogener Bevölkerung entwickelte so haben doch die wesentlichen Elemente dieser Theorie die moderne Demokratietheorie stark beeinflußt: Volkssouveränität, unmittelbare politische Selbstbestimmung und Entfaltung der individuellen Fähigkeiten durch politische Beteiligung. 2. Demokratietheorie und politische Wirklichkeit Die liberale und die demokratische Theorie haben die Entwicklung des demokratischen Verfassungsstaats nachhaltig bestimmt, über die Betonung der individuellen Freiheit, abgesichert durch Verfassung, Repräsentation und Gewaltenteilung, war das liberale Konzept politisch wirksam, über die Idee der Gleichheit und der sozialen Gerechtigkeit, abgesichert durch Volkssouveränität und unmittelbare politische Selbstbestimmung, das demokratische. In der modernen Demokratie laufen die Entwicklungen zusammen, ergänzen sich repräsentative und plebiszitäre Vorgänge, und so ist die Antithese zwischen repräsentativer und plebiszitärer Demokratie — wie Friedrich mit Recht hervorhebt — irreführend

Es gilt daher die Frage zu beantworten, welche Bedeutung die wesentlichen Elemente der klassischen Demokratietheorie angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung haben. Zunächst ist zu berücksichtigen, daß die klassische Theorie als typisch bürgerlich zu kennzeichnen ist: vereinfachend kann man die liberale Konzeption mit dem Besitz-bürgertum und die demokratische mit dem Bildungsbürgertum verbinden. Politische Gestaltung wird somit auf der Basis dieser Theorien um so problematischer, je mehr das soziale Substrat der Politik als besitzlos oder bildungsarm charakterisiert werden kann, je stärker sich die sozialen Unterschiede in einer Gesellschaft entwickeln. Die klassische Theorie reflektiert aber nicht nur in ihrer Orientierung auf das Bürgertum die Situation ihrer Entstehungszeit, sondern zum anderen auch in ihrem Politikverständnis. Angesichts des großflächigen und komplexen Sozialstaates entspricht weder die „liberale" Trennung von Gesellschaft und Staat, wobei Freiheit durch Eigentum garantiert ist, noch die „demokratische" Identität von Regierenden und Regierten, die politische Selbstbestimmung durch unmittelbare Demokratie verwirklicht, den Anforderungen an eine zeitgemäße Demokratietheorie. Diese muß berücksichtigen, daß unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen die klassischen Strukturelemente der Demokratie in ihrer ursprünglichen Konzeption nicht mehr gewährleisten, daß individuelle und gesellschaftliche Freiheit sowie politische Selbstbestimmung auch verwirklicht werden.

Was zunächst die durch die klassische Theorie hervorgehobene Verfassungsstaatlichkeit angeht, so stellt sie gewiß die große historische Leistung dieser Theorie dar. Aber wenn die Verfassung zum Ziel hat, durch Gewaltenteilung und gleichberechtigte Beteiligung aller Bürger am politischen Geschehen Freiheit und Selbstbestimmung zu garantieren, so scheitert dies letztlich an der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit. Die Gewaltenteilung unterstellte einen logischen Ablauf des politischen Prozesses und rechnete nicht mit der Dynamik politischer Macht. Diese setzte den intendierten Kontrollmechanismus weitgehend außer Kraft und machte alle staatlichen Teilfunktionen zu Instrumenten einer einheitlichen politischen Führung. „Gesetzgebung und Vollziehung der Gesetze sind keine getrennten oder trennbaren Funktionen, sondern nichts weiter als verschiedene Techniken der politischen Führung." Zumindest zwischen Exekutive und Legislative ist die Gewaltenteilung fast völlig aufgehoben. Die die Regierung tragenden Fraktionen verstehen sich mehr als Schutztruppen denn als Kontrolleure derselben; sie beschließen zwar formell die Gesetze, aber sie formulieren sie nicht mehr — von 2366 Gesetzen, die im Bundestag zwischen 1949 und 1969 beschlossen wurden, gegen 1811 auf Entwürfe der Bundesregierung zurück

Der Lehre von der Gewaltenteilung liegt ein Formalismus zugrunde, der sich auch im Hinblick auf die verfassungsmäßig garantierten Beteiligungsrechte als problematisch erweist. Solange dabei die gesellschaftlichen, insbesondere ökonomischen Voraussetzungen unberücksichtigt bleiben, ist durch diese Rechte politische Selbstbestimmung noch keineswegs für alle Bürger gewährleistet. Abgesehen davon, daß politische Beteiligung nicht inhaltlich verstanden wird, sondern sich formal darauf beschränkt, Repräsentanten auszuwählen, um also nur indirekt die politische Willensbildung zu beeinflussen: „Es steht eben nicht jeder Gruppe nach Belieben frei, sich in den Meinungsbildungsprozeß einzuschalten; Chancengleichheit bedeutet noch immer einen Wunschtraum. Er scheitert nicht nur, sicher aber vordringlich an der unterschiedlichen Verfügungsmacht über Eigentum und an dem Einfluß, welche dieses Eigentum im Prozeß der politischen Willensbildung gewährt."

Auch wenn man das Prinzip der Gewaltenteilung durch eine Funktionsunterscheidung ersetzt und diese wiederum an Gesetz und Recht bindet bleibt angesichts der Ausdehnung der Staatstätigkeit einerseits und der angestrebten demokratischen Selbstbestimmung andererseits die Mediatisierung der politischen Beteiligung durch die Parteien und deren Monopolisierung des politischen Prozesses problematisch. Die Parteien haben gleichsam die von der liberalen Theorie geöffnete Lücke zwischen Staat und Gesellschaft ausgefüllt und steuern nun beide Bereiche durch eine umfassende Gewaltenvereinigung. Sie haben sich gegenüber dem Parlament verselbständig, das als ein „Ausschuß von Fraktionen" erscheint sie stellen in ihren Parteiführern die Spitze der Exekutive und in einer Vielzahl von Parteiangehörigen die Spitzen der Verwaltungen; sie beeinflussen die Judikative, indem sie die Richterpersonalpolitik mitbestimmen — insbesondere bei den Bundesgerichten —, und sie kontrollieren über die Beherrschung der Aufsichtsgremien von Funk und Fernsehen die Informationspolitik wichtiger Massenmedien und also wenigstens teilweise damit die „vierte Gewalt", die öffentliche Meinung.

Die Bedeutung der Parteien für die demokratische Ordnung soll hier nicht bestritten werden. Sie sind notwendige Vermittlungsinstanzen zwischen der verfassungsmäßigen Willensbildung und dem Willensvollzug — ohne daß damit die Idee der uneingeschränkten Volkssouveränität aufrechterhalten werden kann in Gestalt einer fiktiven Willensidentität von Volk und Volksvertretung. Aber die tendenzielle Omnipotenz der Parteien ist im Blick auf die grundlegenden demokratischen Prinzipien deshalb problematisch, weil es den Parteien kaum noch gelingt, den Willen der Bevölkerung zu erfassen und zu kanalisieren Nicht nur läßt die innerparteiliche Demokratie zu wünschen übrig, so daß die gesellschaftliche Weiterentwicklung im Prozeß.der politischen Willensbildung „meist eher fürsorglich oder sogar ideologisch angeleitet zustande (kommt) denn als Ergebnis einer Auseinandersetzung der Betroffenen“ Auch gelingt auf der kommunalen Ebene jene Kanalisierung nicht — wegen der vertikalen Gliederung der Parteien, der Einflußlosigkeit der Gemeindeparlamente und der Verschiebung der Entscheidungsebene. Hinzu kommt der Bedeutungsgewinn der Verwaltung, die zur „zentralen Planungs-und Steuerungsinstanz" geworden ist parteipolitisch durchsetzt, aber nicht ausreichend politisch kontrolliert. Die öffentliche Regulierung privater Lebensbereiche bedeutet daher nicht in jedem Fall eine Zunahme verantwortlicher politischer Gestaltung. Politik im Sinne verantwortlicher Zukunftsbewältigung wird teilweise ersetzt durch Verwaltungsakte, deren Kontrolle sich als problematisch erweist. Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage, ob das Prinzip der Repräsentation nicht dadurch zu einer partiellen Vergesellschaftung des Staates führt, daß einflußreiche Interessenverbände über die Parteien und die Verwaltung ständig ihre Interessen durchsetzen, ohne daß die öffentliche Bedeutung der entsprechenden Entscheidungen zu einer öffentlichen Auseinandersetzung führt. Der Machtzuwachs der Parteien hat diese zu den bevorzugten Adressaten eines Verbandseinflusses gemacht, der sich auf vielfältige Weise Geltung verschafft. Parteien und Verbände geraten in ein Interdependenzverhältnis, das aufgrund der gesellschaftlichen Fixierung auf Wirtschaftswachstum letztlich in eine „ökonomische Oligarchie über Politik und Verwaltung im Rahmen des Staatsapparats" umschlägt.

Die liberale Konzeption bürgerlicher Freiheit und Selbstbestimmung läßt sich also nur für einen Teil der Gesellschaft verwirklichen. Für den größeren Teil hat sie zwar immer noch ein Mehr an Freiheit als andere politische Ordnungen gebracht; aber politische Selbstbestimmung ist. unter ihren Vorzeichen nur sehr unvollkommen gelungen, was in vielen Fällen nicht nur zu Ungleichheit, sondern auch zu Unfreiheit geführt hat.

In den Bürgerinitiativen formiert sich nun Widerstand gegen das Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis der Demokratie. Sie versuchen — in systematischen Kategorien ausgedrückt —, die in der politischen Entwicklung zugunsten der liberalen vernachläs-sigte demokratische Linie stärker zur Geltung zu bringen, um die Idee der Volkssouveränität und der gleichberechtigten politischen Selbstbestimmung nicht vollends obsolet werden zu lassen. Es geht ihnen um die Stärkung der plebiszitären Komponente in der bislang fast nur repräsentativ entfalteten Demokratie. 3. Das Repräsentationsprinzip im Parteien-und Verbändestaat Weder in der liberalen Theorie, die die Staats-tätigkeit soweit wie möglich einschränken wollte, noch in der demokratischen mit ihrer Betonung der uneingeschränkten Volkssouveränität war das Repräsentationsprinzip ursprünglich enthalten. Insofern war und ist die repräsentative Demokratie ein „Notbehelf der reinen Idee der Demokratie" In ihrer Entwicklung nehmen freilich beide Konzeptionen das Repräsentationsprinzip auf — aus praktischen wie aus grundsätzlichen Erwägungen. Bei den ansteigenden Bevölkerungszahlen und der Zunahme der Staatstätigkeiten schien es kaum möglich, die politisch mündigen Bürger ständig zu politischen Entscheidungen zu veranlassen. In den Flächenstaaten reichen darüber hinaus die Kommunikationsmöglichkeiten nicht aus, um von einem angemessenen Informationsstand der Stimmberechtigten ausgehen zu können. Grundsätzlich wurde die Gefahr einer unqualifizierten Mehrheitsherrschaft gesehen, die um die Rationalität politischer Entscheidungen fürchten ließ, wenn diese in Volksversammlungen und Plebisziten gefällt werden

Die Theorie nahm damit Bezug auf die politische Praxis, in der sich das Repräsentationsprinzip etwa seit dem 14. Jahrhundert wahrscheinlich aus der Übernahme kirchlicher Repräsentationstechniken entwickelt hat Mit der aüs den Ständen hervorgehenden Vertretungskörperschaft sollte ein Gegengewicht gegen die absolute Macht der Fürsten und ihrer Bürokratie und also eine verantwortliche Regierung konstituiert werden. Da die Vertretungskörperschaften im Zuge der Steuerbewilligung politische Macht erlangten, waren es zunächst und vor allem die wirtschaftlichen Interessen der herrschenden Schichten, die als „öffentliches Interesse" zur Richtlinie der Exekutive erhoben wurden.

Dieses elitäre und interessenspezifische Element des Repräsentationsprinzips, das zuerst der Aristokratie und später dem Bürgertum zugute kam, sollte durch die Idee der Volks-souveränität beseitigt werden. Mit der Ausdehnung des Wahlrechts auf alle Bevölkerungsschichten versuchte man, die Vorstellung der demokratischen Theorie, die Staatsgewalt müsse auf den Willen der Mehrheit der Bevölkerung zurückgehen, auch über das Repräsentationsprinzip zu verwirklichen. Die Entwicklung des Repräsentationsprinzips hat beide Linien aufgenommen. Danach sollen die Volksvertreter sowohl das Volk als Ganzes repräsentieren als auch Vertreter konkreter Interessen sein Mit der weiteren politischen Entwicklung und der sozialen Differenzierung trat freilich die Idee der Repräsentation des Volkes als Instrument politischer Selbstbestimmung der Bürger mehr und mehr in den Hintergrund gegenüber der Vorstellung, das Repräsentationsprinzip solle über die Unabhängigkeit der Abgeordneten (Art. 38 GG) zu einer handlungsfähigen und gleichzeitig — kontrolliert durch die Repräsentanten und die Öffentlichkeit — verantwortlichen Regierung führen.

Tatsächlich ist jedoch bei der vorhandenen Machtstruktur und der zunehmenden Interdependenz politischer Entscheidungen die Entscheidungsfähigkeit der Regierung auf Kosten der Kontrollfunktion erreicht worden. Diese ist zudem dadurch beeinträchtigt, daß durch die Macht der Parteiapparate die Unabhängigkeit der Abgeordneten faktisch aufgehoben und durch das von Verbänden, Parteien und Verwaltung die Öffentlichkeit weitgehend ausgeschlossen ist

Durch die Entwicklung zum Parteien-und Verbändestaat ergeben sich daher kritische Anfragen an das auf die Formalität der Wahl geschrumpfte Repräsentationsprinzip, das ungeachtet der sozialen Voraussetzungen zur regulativen Idee der parlamentarischen Demokratie geworden ist. Gerade diese Voraussetzungen begünstigen im modernen Sozialstaat die elitäre und interessenspezifische Komponente des Repräsentationsprinzips. Der Einfluß starker Organisationen auf politische Entscheidungen verdeckt oft die reale Interessenlage bei den Betroffenen. Politische Kontrolle scheitert am Mangel an Alternativen. Es entsteht der Eindruck eines umfassenden Konsenses auch dort, wo eigentlich ein Dissens die Überprüfung der Entscheidung verlangt; denn der einzelne ist im konkreten Fall kaum in der Lage, seine Interessen eindeutig zu definieren und also gegebenenfalls eine Alternative zu entwickeln. Der Zwang zur Entscheidung geht über die Einwände hinweg, die „nur" das Beabsichtigte ablehnen anstatt auszudrücken, was positiv gewollt wird.

Hier befinden sich auf spezielle Interessen ausgerichtete Organisationen eindeutig im Vorteil: Sie wissen, was sie wollen, weil es stets unzweifelhaft definierbar ist; sie verfügen über die finanziellen und organisatorischen Möglichkeiten, ihren Willen als den „breiter Bevölkerungskreise" zu deklarieren, und ihre Spitzen haben oft engen Kontakt mit der politischen Führung. Da auch die Entscheidungsträger sich nicht im sterilen Raum emotionsfreier Sachbezogenheit befinden, haben diese Beziehungen mehr oder weniger bewußten Einfluß auf die Entscheidung

Nimmt man noch die Entwicklung eines autonomen Verbandsinteresses hinzu, das sich nur noch teilweise mit den Interessen der Verbandsmitglieder deckt, dann liegt die Schlußfolgerung nahe, daß politische Entscheidun-54 gen sich stärker als bisher an den Interessen und Bedürfnissen der Betroffenen orientieren müssen, daß neue Beteiligungsformen zu entwickeln sind, damit der einzelne „in möglichst weitem Umfang verantwortlich auch an den Entscheidungen für die Gesamtheit mitwirken“ kann

Die Alternative besteht freilich nicht in einer mathematisch exakten Vertretung aller relevanten Interessen oder gar in einer völligen Aufgabe des Repräsentationsprinzips. Letzteres wird oft von Kritikern des Parlamentarismus gefordert, die in der Abschaffung der Herrschaft von Menschen über Menschen die Verwirklichung echter Demokratie erblicken. Bei realistischer Einschätzung der menschlichen Defekte scheint es aber zumindest zweifelhaft, ob eine herrschafts-und elitenlose Ordnung dauerhaft und funktionsfähig etabliert werden kann. Weder mit den Bürgerinitiativen noch mit anderen Formen der Demokratisierung kann das Endziel aller Motivationsstrategien erreicht werden — die massenhafte Einsicht in komplexe politische Zusammenhänge und die massenhafte Bereitschaft zu politischer Beteiligung.

Viele derjenigen, die das fordern und erwarten, genießen den Vorzug, ihre private Existenz ständig politisch aktualisieren zu können, und übersehen, daß diese Übereinstimmung von politischer und privater Aktivität nicht verallgemeinerungsfähig ist. Solange es Recht und nicht Pflicht ist, sich „um Politik zu kümmern", bleibt das Prinzip der Repräsentation die humanste Form politischer Ordnung, wenn es aus seiner gegenwärtigen Einseitigkeit und Erstarrung gelöst wird. Es geht dabei nicht um die endgültige Abschaffung der Herrschaft des Menschen über den Menschen, aber sicher um Abbau von Herrschaft als einwandsimmunes Verfügen von Menschen über Menschen; es geht nicht um die Abschaffung der Eliten, aber sicher um deren Umorientierung, damit sie sich „immer weniger als solche von der . Basis'isolieren können"

Dies sollte nun nicht zu der Annahme verleiten, die Repräsentation müsse nur möglichst gerecht und umfassend die in der Bevölkerung vorhandenen Interessen widerspiegeln, um demokratischen Ansprüchen zu genügen. Die Repräsentation kann stets nur unvollkommen sein, da es schon theoretisch unmöglich ist, im Parlament die unübersehbare Zahl unterschiedlicher Interessen zu vertreten. Entscheidender ist freilich, daß durch die Abgeordneten und die politischen Parteien der „Volkswille“ weniger repräsentiert als vielmehr gebildet wird; die Parteien formulieren auf der Basis eigener Absichten und unter Verwendung von weithin undifferenzierten Impulsen aus der Wählerschaft ein politisches Programm, das sie dem Volk vorlegen, damit es darin seinen Willen erkenne. Daran wird sich auch durch eine „gerechtere" Repräsentation nicht viel ändern lassen. Das entscheidende Problem liegt also nicht in der Interessen-,, Vertretung", sondern in der politischen Willensbildung, durch die darüber entschieden wird, welche Interessen überhaupt politisch verhandelt werden. Hier liegt die Schwachstelle in der gegenwärtigen Form der repräsentativen Demokratie; denn die vorherrschenden Institutionen der politischen Willensbildung — Parteien und Verbände — werden aus den dargelegten Gründen zu Filtersystemen, „die bestimmte Bedürfniskategorien der Chance politischer Artikulation entziehen"

Wer nicht davon ausgeht, daß es sich dabei um einen unabänderbaren Konstruktionsfehler einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung handelt, der muß eine veränderte Form der Willensbildung anstreben, wenn er das Ziel der demokratischen Selbstbestimmung nicht allmählich preisgeben will. Das Prinzip der Repräsentation muß dann um neue Formen direkter Beteiligung ergänzt und in seinen Wirkungen korrigiert werden — nicht durch Partizipation aller an allen Entscheidungen, sondern durch die institutionell abgesicherte Möglichkeit, daß die von einer Entscheidung Betroffenen dieselbe mitgestalten können.

Diese Möglichkeit versuchen die Bürgerinitiativen zu schaffen und wahrzunehmen. Das Phänomen „Bürgerinitiative" kann daher nicht im Zusammenhang mit dem Repräsentationsprinzip verhandelt werden; der in der Frage: „Wen repräsentatieren die Bürgerinitiativen?" formulierte Einwand bleibt ohne politische Substanz. Denn Bürgerinitiativen sind noch weniger als die Parteien Repräsen-tanten der Bevölkerung. Sie können vielmehr als notwendige Vermittlungsinstanzen zwischen gesellschaftlichen Bedürfnissen und politischer Zuständigkeit begriffen werden, als ein neuer Weg der Reintegration des Bürgers in den Prozeß politischer Willensbildung und Entscheidung. Sie können damit im Planungsund Daseinsvorsorgestaat eine Teillösung jenes entscheidenden Problems bieten, das in der mangelnden Rückkopplung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich liegt. 4. Politische Partizipation durch Bürgerinitiativen Wenn mit den Bürgerinitiativen eine neue Form der politischen Willensbildung konstituiert wird, so kann dieser Versuch verfassungsrechtlich kaum auf Bedenken stoßen. Nach Art. 21 GG wirken die Parteien bei der politischen Willensbildung mit, was bedeutet, daß sie auf diesem Feld kein Monopol beanspruchen können. Die Verfassung öffnet also hier Möglichkeiten, die von politisch engagierten Gruppen wahrgenommen werden können, ohne daß ihnen von vornherein Verfassungsverletzung vorgeworfen werden könnte. Gleiches läßt sich auch aus der zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit bestehenden Wechselbeziehung ableiten, durch die das Grundgesetz im Hinblick auf die sozialen Voraussetzungen eine gewisse Elastizität gewinnt. Daher braucht der verfassungsmäßige Organisationsrahmen nicht beeinträchtigt zu werden, „wenn . Kräfte', welche die Verfassung nicht anspricht, sich am Willensbildungsprozeß beteiligen"

Schwieriger ist für die Bürgerinitiativen das Problem der Motivation zu lösen. Gelingt es ihnen, die empirisch nachweisbare politische Apathie zu überwinden, oder bilden sie nur neue elitäre Zirkel von ohnehin politisch Engagierten? Können sie auch den bislang unpolitischen Bürger in den Prozeß der politischen Willensbildung eingliedern? — Schon der entsprechende Versuch wird gelegentlich mit dem Hinweis problematisiert, es mangele dem „einfachen" Bürger an Sachverstand und Kenntnis der Zusammenhänge, um in jenem Prozeß eine verantwortliche Rolle übernehmen zu können. Dieses Argument erweist sich jedoch bei näherer Prüfung als wenig stichhaltig.

Zunächst würde es in vielen Sachfragen auch auf die Parlamentarier anwendbar sein, die bei entsprechenden Abstimmungen unbesehe dem folgen, was die Experten der Fraktion vorgeschlagen haben. Zum zweiten sollte bedacht werden, daß der Hinweis auf komplexe Sachzusammenhänge oft von Technikern der Macht verwendet wird, die alle Einwände und also Forderungen nach Mitsprache zurück weisen und ihre Entscheidungen auch dan mit einem angeblichen Sachzwang begründen wenn sie eine Alternative in Wahrheit nich wollen. Drittens trifft jenes Argument am wenigsten die Bürgerinitiativen da sie sich inder Regel um ein räumlich, zeitlich und sach lieh begrenztes Problem kümmern, dessen Zu sammenhänge noch überschaubar sind. Schließlich gilt grundsätzlichdaß sich die politische Willensbildung vornehmlich auf dii Zielfindung bezieht und weniger auf die Frage wie das Ziel am besten zu erreichen ist. Da es hier also um Wertsetzungen geht, die durch Politik für die individuellle Lebensgestaltung relevant werden, ist der einzelne Bürger dafür ebenso kompetent wie verantwortlich Seine Willensbildung kann sich freilich kaum in Form einer Volksbewegung vollziehen. Für eine universelle Partizipation an zentralen politischen Entscheidungsprozessen fehlt bisher jede organisatorische Basis, ja selbst derfür eine solche Organisation Es ist auch fraglich, ob die Hoffnung auf eine selbstbewußte politische Beteiligung der gesamten Bevölkerung, abgesehen von dem Problem der praktischen Durchführung, realistisch ist. Viele Menschen wollen offenbar unpolitisch leben und sind dabei glücklich und zufrieden, ohne daß man daraus ein Problem der politischen Bildung machen könnte. Auch eine hohe Wahlbeteiligung ändert nichts daran, „daß politisches Engagement ebenso ein Ausdruck besonderer Anlagen oder Begabungen ist wie andere Betätigungen auch

Anlagen und Interessen können freilich gefördert werden, und darin liegt wohl die besondere Chance der projektorientierten Aktionsgruppen in bezug auf das Motivationsproblem. Zu politischem Engagement sind jedenfalls mehr Bürger bereit, als aufgrund der geringen Beteiligung in politischen Parteien zunächst angenommen werden kann. Wenn sich nach einer Umfrage des Instituts für angewandte Sozialwissenschaft (Infas) 63 Prozent der Bundesbürger für eine unmittelbare Beteiligun Prozent der Bundesbürger für eine unmittelbare Beteiligung an politischen Entscheidungen aussprechen 62), dann mangelt es offenbar an Voraussetzungen für die praktische Umsetzung dieser Bereitschaft. Dazu gehören der unmittelbare Anreiz zum Engagement sowie die Einsicht in Problemzusammenhänge und die Wahrnehmung von Einflußchancen.

Was den Anreiz zum Engagement angeht, so bedarf es dafür einerseits mehr als der üblichen Form politischer Bildung. Die Baselbieter Untersuchung etwa ergab, daß die politische Beteiligung nicht erhöht wird, wenn man nur die Quantität der Informationen über Politik steigert. Notwendig ist eine qualitativ veränderte Information — durch Kommunikation, durch Diskussion in Gruppen, durch Organisierung von Aktionen 63). Die projekt-orientierte Aktionsgruppe besitzt andererseits den Vorteil, daß sie individuelle und kollektive Interessen mobilisiert und die subjektive Betroffenheit einsehbar macht. Politische Beteiligung wird als Chance der aktiven Gestal-tung konkreter Lebensbedingungen erkannt, wenn sie in einer Gruppe organisiert ist, die gleichartige und bislang unterdrückte Interessen durchsetzt und damit gleichzeitig deutlich zu machen versucht, daß Unterprivilegierung nicht nur Folge von Minderbegabung, sondern auch von sozialer Benachteiligung ist. Die durch die Aktionsgruppen vermittelte soziale Integration ist gerade für die Unterschicht von grundsätzlicher Bedeutung. Bürgerinitiativen in Neubaugebieten, Stadtrandsiedlungen oder Sanierungsgebieten können, wenn sie darauf bewußt eingehen, für die Vertreter dieser Schicht den Sozialisationsprozeß und die Lebenspraxis erweitern, deren Begrenztheit sie bisher in politischer Ohnmacht und Apathie gehalten hat

Darüber hinaus können Bürgerinitiativen die beiden anderen Voraussetzungen für politische Beteiligung erfüllen. Bei ihren Aktionen geht es meist um konkrete Projekte mit relativ überschaubaren Interdependenzen; die jeweiligen Interessen sind eindeutig definierbar; durch kontroverse und kommunikative Informationen werden alternative Lösungen, durch solidarisches Handeln Einflußmöglichkeiten sichtbar. Die positive Einschätzung der Einflußmöglichkeiten von Bürgerinitiativen kommt in einer repräsentativen Befragung zum Umweltbewußtsein der Bevölkerung der Bundesrepublik zum Ausdruck. Danach halten 60 Prozent der Bevölkerung Bürgerinitiativen für sinnvoll und 67 Prozent sind der Meinung, daß Bürgerinitiativen Einfluß besitzen. Dem einzelnen sprachen nur 31 Prozent einen Einfluß auf den Schutz der Umwelt zu

Die durch Bürgerinitiativen vermittelte positive Einschätzung des persönlichen Einflusses auf politische Entscheidungen ist für die Stabilität der demokratischen Ordnung von nicht geringer Bedeutung. Wer aufgrund seiner Ausbildung und/oder seiner persönlichen Erfahrung den politischen Prozeß sowie die eigene Betroffenheit durch ihn überblicken und damit gleichzeitig auch eigene Einflußmöglichkeiten erkennen kann, neigt zu einer positiven Bewertung der demokratischen Ordnung Umgekehrt gilt zwar zunächst, daß politische Apathie eine plebiszitäre Basis für den gesellschaftlichen Status quo schafft aber wer sich dem System hilflos ausgeliefert sieht, verfällt leicht in eine Gegnerschaft zu ihm, wenn eine politische Schönwetterperiode durch eine konjunkturelle Krise beendet wird. Die Erfolge der NPD während der Wirtschaftsrezession 1966/68 scheinen diesen Zusammenhang zu bestätigen.

So mobilisieren die Bürgerinitiativen zwar einen kritischen, aber einen demokratisch orientierten Teil der Bevölkerung zum politischen Engagement Wenn es ihnen dabei gelingt, die soziale Unterschicht stärker zu aktivieren, tragen sie einerseits zur Stabilisierung der demokratischen Ordnung bei, legen aber andererseits auch Weichen für eine politische Gewichtsverlagerung innerhalb dieser Ordnung. Die von Steiner nachgewiesene relativ intensive politische Partizipation der oberen Sozialschichten, die darin bereits eine soziale Norm sehen, führt über den politischen Prozeß zu einer überproportionalen Berücksichtigung ihrer Interessen und Bedürfnisse. Für die unteren Sozialschichten ergibt sich aus der Umkehrung dieses Sachverhalts ein Teufelskreis. Aufgrund ihrer Unterprivilegierung wird ihnen die intellektuelle und erfahrungsmäßige Einsicht in politische Zusammenhänge vorenthalten; sie schätzen die Beeinflussung der eigenen Existenz durch die Politik gering ein, ebenso die eigenen Einflußmöglichkeiten; sie neigen infolgedessen zu politischer Apathie oder lehnen das politische System ab und vergeben damit alle Chancen, die politischen Prozesse in ihrem Sinne zu verändern. Vereinfacht ausgedrückt: Ihre Unterprivilegierung fördert ihre politische Apathie, welche wiederum die Unterprivilegierung verfestigt.

Gewiß sind die Probleme wegen der Komplexität der Systembeziehungen und insbesondere wegen des Zusammenhangs von wirtschaftlicher und politischer Macht nicht einfach durch vermehrtes politisches Engagement zu lösen. Aber wenn man das politische System nicht ausschließlich durch den Grundwiderspruch von Kapital und Arbeit definiert, dann kommt dem beschriebenen Zusammenhang politische Bedeutung zu. Bevor man sich auf den unter den gegebenen Bedingungen recht utopischen Weg macht, das System als Ganzes zu überwinden, scheint es realistischer, zunächst zu versuchen, es an dieser Stelle zu verändern. Mit den Bürgerinitiativen kann ein Partizipationspotential in der Bevölkerung ge schaffen werden, das gegebenenfalls zu wei tergehenden Beteiligungsmodellen gelange; läßt — Modellen, die über die lokale Be grenztheit hinausreichen Damit würde de notwendigen Veränderung des politischen Sy stems mehr gedient als mit der bloß intellek tuellen Vermittlung von Einsichten in Sy stemzwänge. 5. Bürgerinitiativen zwischen System-stabilisierung und Systemüberwindung Die von den Bürgerinitiativen beabsichtigte Erweiterung demokratischer Mitverantwor tung stößt sowohl bei Repräsentanten des politischen Systems als auch bei seinen Kritikern auf Vorbehalte. Die einen befürchten, unter der Bezeichnung „Bürgeriniative" drohe der repräsentativen Demokratie und dem Recht und der Pflicht von Regierung und Verwaltung eine Einflußnahme von außen, . die zur Erpressung werden kann" — wobei offensichtlich die Gewichte in der Einflußnahme von „außen" ziemlich verschoben werden. Oder sie sehen die Gefahr eines räteähnlichen Systems, wenn Bürgerinitiativen Entscheidungsbefugnisse anstelle des Stadtrates oder Vetorechte ihm gegenüber beanspruchen. Letztlich würde dann dem Stadtrat . die Abwägung partikularer Interessen gegenüber den Interessen der Gesamtgemeinschaft unmöglich gemacht"; die Demokratie sei aber kein „Gefälligkeitskartell der Mächtigen“ und keine Phonokratie, bei der die Stimmstärke entscheidet Auch hier wird die politische Szenerie reichlich verzerrt dargestellt, wenn ausgerechnet gegenüber den Bürgerinitiativen mit einem „Gefälligkeitskartell der Mächtigen" argumentiert wird.

Solche und ähnliche Äußerungen von Vertretern der politischen Parteien scheinen durch den Verdacht motiviert zu sein, mit den Bürgerinitiativen werde der Versuch unternommen, das Parteiensystem durch eine unmittelbare Demokratie ersetzen oder — wie H. J. Vogel von manchen Bürgerinitiativen vermutet — das System unserer Gesellschaftsordnung sprengen zu wollen. Zumindest sehen manche Politiker in den Bürgerinitiativen eine lästige Konkurrenz im Hinblick auf die Mitgliederwerbung Von völlig unerheblichen Ausnahmen abgesehen rechtfertigen aber weder die konkreten Zielsetzungen noch die praktischen Erfahrungen diese Annahmen. Nur in ganz wenigen Fällen haben sich Bürgerinitiativen in eine unmittelbare Konkurrenz zu den Parteien gestellt; im allgemeinen wird man sogar davon ausgehen können, daß die Politisierung durch die Bürgerinitiativen den Parteien zugute kommt — viele ihrer führenden Kräfte werden im Laufe der Zeit Mitglieder in den großen Parteien

Das Verhältnis von Bürgerinitiativen und Parteien läßt sich komplementär als beschreiben. Bürgerinitiativen können als Ebenen symbolischer und konkreter Interaktion verstanden werden, durch die und in der Grundsatzfragen thematisiert werden, die gegenwärtig in Parteien und der gesellschaftlichen Entwicklung zu kurz kommen. In und zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Entscheidungsgremien und hat sich eine mehr oder weniger bewußte gemeinsame Grundhaltung durchgesetzt. Sie ist gekennzeichnet durch eine Überbewertung des Materiellen, was zu einer weitreichenden Ökonomisierung auch nicht-wirtschaftlicher Lebensbereiche geführt hat. Bezeichnungen wie Wohlstands-, Konsum-oder Leistungsgesellschaft deuten auf dieses gesamtgesellschaftlich wirksame Phänomen hin. Die aus Parteien und Verbänden hervorgehenden Impulse für politische Entscheidungen können daher kaum mehr widerspiegeln als jene Dominanz des Materiellen, die sich inzwischen im allgemeinen Bewußtsein festgesetzt hat (weshalb denn auch eine Änderung kaum durch plebiszitäre Entscheidungen erreicht werden kann). Hinzu kommt, daß die gesellschaftlichen und politischen Machteliten in der Regel Aufstiegsprozesse durchlaufen, die eine Anpassung an das bestehende System einschließen, so daß sich ihr Innovationsvermögen kaum auf das System selbst und seine Interessenbindungen richten wird.

Die Bürgerinitiativen können in dieser Situation ein Potential für neue Werthaltungen und notwendige gesellschaftliche Veränderungen aufbauen und damit Entscheidungen fördern, die teilweise auch von den Parteipolitikern befürwortet werden, bisher aber nicht durchgesetzt wurden, weil sie als unpopulär galten. Die Komplementarität von Bürgerinitiativen und Parteien ist also nur zum Teil auf das aktuelle Versagen von Politik und Verwaltung in daseinsrelevanten Problembereichen oder auf eine gewisse Parteiverdrossenheit zurückzuführen. Daß sich viele Bürger lieber in Bürgerinitiativen als in Parteien engagieren, liegt gewiß auch an den relativ geringen individuellen Entfaltungsmöglichkeiten und dem normalerweise langwierigen Aufstiegsprozeß in den großen Parteien. Von grundsätzlicher Bedeutung ist demgegenüber jedoch, daß viele Eindruck erhalten, den daß die Parteien so sehr mit sich selbst und der Verwaltung der Macht beschäftigt sind, daß entscheidende Fragen der gesellschaftlichen nicht Entwicklung in der ihnen angemessenen Form politisch verhandelt werden. Solange sich dieser Sachverhalt nicht ändert, werden die Bürgerinitiativen ungeachtet ihrer jeweiligen räumlichen und zeitlichen Begrenztheit als Institution von einiger Dauer sein.

Gerade das hier beschriebene Verhältnis zu den politischen Parteien macht aber die Bürgerinitiativen in den Augen mancher Kritiker des politischen Systems verdächtig. Diese befürchten, daß Bürgerinitiativen zu Frühwarnsystemen für die Aufdeckung politischer Fehlentwicklungen degenerieren und zur Stabilisierung des Systems dadurch beitragen, daß sie die ihm immanenten Schwächen verdecken helfen; außerdem würden sie zu Lükkenbüßern, indem sie die aufgrund der Logik der Kapitalverwertung fehlenden öffentlichen Einrichtungen durch private Provisorien ersetzen

Dieser kritische Vorbehalt muß insofern ernst genommen werden, als es — etwa seitens der Verwaltungen — durchaus den Versuch einer technokratischen Vereinnahmung von Bürgerinitiativen gibt. Deren Aktivitäten werden dann von den Verwaltungen bewußt eingeplant, um das Entscheidungsverfahren etwa bei einer Planung in ihrem Sinne ablaufen zu lassen. Die angestrebten Ziele stehen fest, die Entscheidungsstrukturen bleiben unverändert und über die Aktivitäten der Bürgerinitiativen entsteht der Eindruck einer öffentlichen Beteiligung an der Planungsentscheidung, während es sich in Wirklichkeit um nichts anderes handelt als um die quasi plebiszitäre Legitimation eines längst vorgefestigten Beschlusses, der höchstens noch leicht verändert wird

Es kann wohl kaum bestritten werden, daß solche Versuche der Verwaltungen gelegentlich erfolgreich sind. Aber abgesehen davon, daß eine Kooperation zwischen Verwaltung und Bürgerinitiative sinnvoll sein kann, wenn es um die Durchsetzung einer notwendigen, aber unpopulären Entscheidung geht, ist das übliche Verhältnis zwischen beiden zu konfliktreich, als daß hier Systemstabilisierung durch Problemverschleierung erfolgen könnte. Zweifellos kann insofern eine Systemstabilisierung stattfinden, als durch erfolgreiche Bürgerinitiativen nicht nur die positive Einschätzung der Reaktionsfähigkeit des Systems auf Bedürfnisse der Bevölkerung ansteigt, sondern durch Änderungen im Entscheidungsverfahren auch die Reaktionsfähigkeit selbst.

Wer aber auch die entsprechenden Reformen als bloße Beschwichtigungsmaßnahmen ablehnt und auf die revolutionäre „Überwindung" des Systems hofft, verkennt die stabilisierende Kraft der sozialen Komplexität. Durch sie ist die normale menschliche Existenz weitgehend abhängig vom Funktionieren der bestehenden Ordnungszusammenhänge. Das Ziel der Systemüberwindung kann daher kaum breitere Zustimmung finden, weil die meisten Menschen die damit verbundenen Risiken und Unsicherheiten nicht tragen wollen und wohl auch nicht tragen können. In Sinne dieses Zieles kann dann nur derjenige handeln, der gleichsam in der Rolle eines Stellvertreters überzeugt ist, im „wahren In teresse" seiner Mitbürger zu handeln. Dies gilt ohne Zweifel für viele derjenigen, die das System überwinden wollen und mit Recht aul die Vielzahl der Unterprivilegierten in dei Gesellschaft hinweisen. Aber der missionari sehe Eifer der Systemüberwindung, der schrittweise Erfolge bei der Veränderung als systemstabilisierend verdammt, erreicht nui diejenigen, die schon revolutionär infiziert sind — und dazu gehören ihrer konkreten Zielsetzung und sozialen Zusammensetzung nach sicher nicht die Bürgerinitiativen.

In die politische Landschaft der Bundesrepublik sind die Bürgerinitiativen nicht nach dem gängigen Schema fortschrittlich oder konservativ, links oder rechts, systemfeindlich oder systemkonform einzusortieren. Sie streben Veränderungen an; wo verharschte Entscheidungsstrukturen die demokratische Mitverantwortung des Bürgers und damit gleichzeitig die Befriedigung vitaler Bedürfnisse beeinträchtigen; sie treten dabei im konkreten Fall, etwa im Umweltschutz, für das Bewahren und Erhalten des Bestehenden ein, wo es auf Kosten vieler Betroffener, auch nachfolgender Generationen, für einseitige, kurzfristig kalkulierte oder eigennützige Interessen verändert werden soll. Sie fordern einerseits eine Verstärkung der plebiszitären Komponente der demokratischen Ordnung und vermeiden doch andererseits die irrationalen und emotionalen Entgleisungen einer unmittelbaren Demokratie; denn sie fördern durch die gruppeninternen Sozialisationsprozesse die Rationalität politischer Auseinandersetzung letztlich auch da, wo eine wortreiche Polemik dagegen zu sprechen scheint. Wenn es ihnen auch bei einer weiteren Institutionalisierung gelingt, der Korrumpierung durch politische Karrieren und der Verführungen der Macht zu entgehen — beispielsweise durch häufige Rotation der Führungsfunktionen —, können sie einen wichtigen Beitrag leisten zur emanzipatorischen wie innovatorischen Kraft des demokratischen Systems.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Kurt Sontheimer, Staatsidee und staatliche Wirklichkeit heute, in: Ernst Fraenkel, Kurt Sontheimer, Bernhard Crick, Beiträge zur Theorie und Kritik der pluralistischen Demokratie, Bonn 19703, S. 23 (Schriften der Bundeszentrale für politische Bildung).

  2. Im Blick auf die umfangreiche Literatur über die Arbeitsweise von Bürgerinitiativen und deren Strukturprobleme erschien die Konzentrierung auf die politische Grundsatzfrage sinnvoll. Zu den genannten Aspekten der Tätigkeit von Bürgerinitiativen vgl. u. a. Heinz Grossmann (Hg.), Bürgerinitiativen. Schritte zur Veränderung?, Frankfurt und Hamburg 1973; Reimer Grönemeyer, Integration durch Partizipation?, Frankfurt 1973; Roland und Marianne Günter, Bürgeriniativen, in: Bauwelt 1971, H. 49; Peter Dienel, Bürgerinitiativen und Selbstverwaltung, in: Der aktive Bürger. Utopie oder Wirklichkeit, Köln und Berlin 1971; Bürgerinitiativen, Gemeinwesen und Stadtteilarbeit, in: Sozialpädagogische Korrespondenz, 4. Jg., Berlin 1972, Nr. 24; Helmut Bilstein und Klaus G. Troitzsch, Bürgerinitiativen, in: Gegenwartskunde, Opladen 1972, H. 3; Theodor Ebert, Mit Bürgerinitiativen zur antikapitalistischen Strukturreform?, in: gewaltfreie aktion, 4. Jg., Berlin 1972, H. 12, S. 1 ff; Jürgen Dittberner, Bürgerinitiativen als partielles Partizipationsbegehren, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 4. Jg., Opladen 1973, H. 2; ebda: Forschungsgruppe an der Freien Universität Berlin, Zur Rolle und Funktion von Bürgerinitiativen in der Bundesrepublik und West-Berlin - Analyse von 61 Bürgerinitiativen; Horst Zilleßen, Im Kampf gegen die Umweltkrise. Erfolge und Schwächen der Bürgerinitiativen, in: Evangelische Kommentare, 7. Jg., Stuttgart 1974, H. 1, S. 26 ff.

  3. Vgl. Forschungsgruppe an der Freien Universität Berlin, a. a. O., S. 286.

  4. Vgl. Claus Offe, Zum politischen Stellenwert von Bürgerinitiativen, a. a. O., S. 244; kritisch dazu s. Reimer Grönemeyer, a. a. O., S. 153.

  5. Faßbinder spricht von der „Illusion, der Staal sei in der Lage,... die Lohnabhängigen vor der chaotischen Willkür des Kapitals zu schützen s. Helga Faßbinder, Bürgerinitiativen und Planungsbeteiligung im Kontext kapitalistischer Re gionalpolitik, a. a. O., S. 81.

  6. So etwa Claus Offe, Politische Herrschaft und Klassenstrukturen. Zur Analyse spätkapitalistischer Gesellschaftssysteme, in: Politikwissenschaft, hg. von Gisela Kress und Dieter Senghaas, Frankfurt 1969, S. 162.

  7. Vgl. dazu Eckhard Rehbinder, Hans-Gerwin Burgbacher und Rolf Knieper, Bürgerklage im Um-weltrecht, Berlin 1972, S. 121. Sie formulieren die These, daß die genannten Entwicklungen einander zu dem Effekt ergänzen, „eine gemeinwohlkonforme Rechtsverwirklichung durch die Behörden zwar nicht zu verhindern, aber doch zu erschweren".

  8. So Kurt Sontheimer, Zur neueren Kritik an der pluralistischen Demokratie, in: Ernst Fraenkel u. a., a. a. O., S. 30; s. auch Erich Fechner, Die Interessen der Nichtorganisierten, in: Die politische Verantwortung der Nichtpolitiker, München 1964,

  9. Vgl. dazu Ralf Dahrendorf, Demokratie aus der Basis, in: liberal, 14. Jg., Bonn 1972, H. 7, S. 521.

  10. Fritz Vilmar, Strategien der Demokratisierung, Bd. I: Theorie der Praxis, Darmstadt und Neuwied 1973, S. 201.

  11. S. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied, Berlin 19694, S. 39. In einigen Fällen haben Bürgerinitiativen in letzter Zeit versucht, unmittelbar Anteil an der Entscheidungsgewalt zu erlangen. Sie haben sich bei Kommunalwahlen als Wählergemeinschaften registrieren lassen und teilweise recht erfolgreich an den Wahlen teilgenommen. Nach dem hier zugrunde liegenden Verständnis haben sie damit aber den Rahmen verlassen, der ihrer Organisation die Bezeichnung „Bürgerinitiative" zubilligen läßt.

  12. So Thomas Ellwein, Die großen Interessenverbände und ihr Einfluß, in: Aus Politik und Zeitge schichte, B 48/73 vom 1. 12. 1973, S. 38. Zun Machtverlust des Parlaments vgl. jüngst ders., Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 19733, S. 350 ff.

  13. Vgl. dazu Fritz Vilmar, a, a, O., S. 196.

  14. So Reimer Grönemeyer, a. a. O., S. 155.

  15. Willy Brandt, Die Verantwortung der Kommunen für den Ausbau der Demokratie; Rede vor der Mitgliederversammlung des Deutschen Städte-und Gemeindebundes am 5. 10. 1973, zitiert nach: Bulletin des Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung vom 6. 10. 1973, S. 1238.

  16. Vgl. dazu Jürgen Fijalkowski, Demokraten als Bürokraten — Statussorgen und Funktionsgehor-sam gegen politisches Bewußtsein, in: Die autori-täre Gesellschaft, hg. von Günter Hwrtfiel, Köln und Opladen 1969, S. 155 ff.

  17. Thomas Ellwein, Kontrolle der Bürokratie oder Kontrolle durch die Bürokratie?, in: Probleme der Demokratie heute. Politische Vierteljahresschritt, Sonderheft 2, 11. Jg., Opladen 1971, S. 175.

  18. Helga Faßbinder nennt die Stadtverwaltungen und ihre Planungsabteilungen „regionale Agenturen zur Aufrechterhaltung des Kapitalverhältnisses" ; a. a. O., S. 77.

  19. Vgl. dazu Wolf-Dieter Narr, Frieder Naschold, Theorie der Demokratie, Stuttgart 1971, S. 98.

  20. Vgl. dazu die neue Gemeindeordnung des Landes Rheinland-Pfalz sowie den Bericht von Knut Barrey, Neue Kommunalverfassung für Rheinland-Pfalz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. 12. 1973. '

  21. Vgl. Thomas Ellwein, Ralf Zoll, Wertheim III, Kommunalpolitik und Machtstruktur, München

  22. Thomas Ellwein/Ralf Zoll, Politische Bildung und empirische Sozialforschung, in: Materialien zur politischen Bildung, 1. Jg., Bonn/Neuwied 1973, H. 1, S. 53.

  23. Vgl. Hans Grossmann im Vorwort zu Claus Offe, Bürgerinitiativen und Reproduktion der Arbeitskraft im Spätkapitalismus, a. a. O., S. 152. Als Reproduktionsbereich definiert Offe den Bereich, in dem „die Arbeitskraft und das Leben nicht durch individuelle Kaufakte, sondern kollektiv reproduziert werden: Wohnung, Verkehr und Personentransport, Erziehung, Gesundheit, Erholung usf.", a. a. O., S. 159.

  24. So auch Hans-Eckehard Bahr, Gesellschaftliche Bedingungen des Friedens, in: H. -E. Bahr (Hg. , des Alltags — gesellschaftliche Bedingungen des Friedens, Darmstadt/Neuwied 1972, S. 22.

  25. Vgl. etwa Forschungsgruppe an der Freien Universität Berlin, a. a. O., S. 265.

  26. Hans-Eckehard Bahr, a. a. O., S. 29. Da die Angehörigen der Mittelschicht meist unter befriedigenderen Bedingungen arbeiten als die Angehöri-

  27. Die These, Bürgerinitiativen würden unter der politischen Perspektive antreten, „das konservative, inzwischen lohnabhängig gewordene . Fußvolk'der CDU von ihrer kapitalorientierten Spitze zu trennen“, scheint parteipolitisch motiviertem Wunschdenken zu entstammen; vgl. Roland Günter, Michael Weisser, Vorschule der Politik, Bürgerinitiativen — Entstehung und Rahmenbedingungen, in: Kritischer Katholizismus, Köln 1972,

  28. Vgl. auch Reimer Grönemeyer, Organisierter Alltag. Basisdemokratie der Elitenherrschaft, in: Politisierung des Alltags, a. a. O., S. 57.

  29. So etablierten sich etwa in Hessen die »RheinMain-Aktion gegen Umweltzerstörung“, in Nordrhein-Westfalen die „Rhein-Ruhr-Aktion gegen Um Weltzerstörung“. Auf Bundesebene arbeitet der „Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz".

  30. Vgl. dazu Udo Bermbach, Bürgerinitiativen — Instrumente direkter Demokratie?, Diskussionsvorlage für die Arbeitsgruppe „Politische Partizips tion und Mitbestimmung", Kongreß der DVPW, Hamburg 1973, vervielfältigtes Manuskript, S. 11.

  31. Ebda.

  32. Vgt. Gisela Zimpel, Selbstbestimmung oder Akklamation? Politische Teilnahme in der bürgerlichen Demokratietheorie, Stuttgart 1972, S. 44 ff., und dieselbe, Der beschäftigte Mensch. Beiträge zur sozialen und politischen Partizipation, München 1970, S. 22 ff.

  33. Vgl. Carl Joachim Friedrich, Demokratie als Herrschafts-und Lebensform, Heidelberg 1959, S. 13 f.

  34. Vgl. Karl Loewenstein, Verfassungslehre, Tübingen 1959, S. 35.

  35. So Gisela Zimpel, Selbstbestimmung oder Akklamation?, a. a. O., S. 55.

  36. Gerhard Leibholz, Die Repräsentation in der Demokratie, Berlin 1973, S. 219.

  37. Vgl. Adolf Grabowsky, Die Politik. Ihre Elemente und ihre Probleme, Zürich 1948, S. 112 und 190.

  38. Vgl. Walter Euchner, Demokratietheoretische Aspekte der politischen Ideengeschichte, in: Gisela Kress, Dieter Senghaas, a. a. O., S. 57.

  39. Carl Joachim Friedrich, a. a. O., S. 29.

  40. Karl Loewenstein, a. a. O., S. 38 f.

  41. Vgl. Thomas Ellwein, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, a. a. O., S. 273.

  42. Thomas Ellwein, a. a. O., S. 476 f. S. auch Jürgen Habermas, Ludwig von Friedeburg, Christoph Oehler, Friedrich Weitz, Student und Politik, Neuwied 19693, S. 34: „In dem Maße, in dem die Trennung von Staat und Gesellschaft schwindet und gesellschaftliche Macht unmittelbar politisch wird, wächst objektiv das alte Mißverständnis zwischen der rechtlich verbürgten Gleichheit und der tatsächlichen Ungleichheit in der Verteilung der Chancen, politisch mitzubestimmen."

  43. Vgl. Thomas Ellwein, a. a. O., S. 469, und Karl Loewenstein, a. a. O. r S. 39 ff. Loewenstein unterscheidet die Funktion „politische Grundentscheidung, Ausführung der Grundentscheidung und politische Kontrolle".

  44. Vgl. Jürgen Habermas u. a., a. a. O., S. 29.

  45. Vgl. Jürgen Habermas u. a., a. a. O., S. 31: Die Parteien sind Instrumente der Willensbildung, aber nicht in der Hand des Volkes, sondern derer, die den Parteiapparat beherrschen"; s. auch Wolf-Dieter Narr, Frieder Naschold, a. a. O., S. 95, und Ralf Dahrendorf, a. a. O., S. 526.

  46. Thomas Ellwein, a. a. O., S. 473. Grundsätzlic zur innerparteilichen Demokratie s. a. a. 0. S. 189 ff.

  47. Vgl. Thomas Ellwein, a. a. O., S. 378; Helmut Krauch, Computer-Demokratie, Düsseldorf 1972, 8. 28 Horst Zilleßen, Der Bürger — Objekt oder ubjekt der Planung, in: Das Gartenamt, 22. Jg., Hannover 1973, Nr. 7, S. 380 f.

  48. So Maurice Duverger, Demokratie im technischen Zeitalter, München 1973, S. 167, s. auch Thomas Ellwein, a. a. O., S. 109.

  49. Theodor Eschenburg, Demokratisierung und politische Praxis, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 38/70 vom 19. 9. 1970, S. 6.

  50. Mosca sagt in diesem Zusammenhang, die repräsentative politische Ordnung habe „einen ähnlichen Sieg über die spontanen Energien und den Eigenwillen der Individuen errungen wie unsere Institute, Werkzeuge, Kenntnisse und Methoden über die Kräfte der Natur“; s. Gaetano Mosca, Die herrschende Klasse, Bern 1950, S. 317.

  51. Vgl. Karl Loewenstein, a. a. O., S. 36.

  52. Carl Joachim Friedrich hält es für unzulässig, „eine scharfe Trennungslinie zu ziehen zwischen Agenten mit festen Instruktionen und Volksvertretern mit der Aufgabe, die das Allgemeinwohl betreffenden Fragen zu lösen"; so in seiner Einführung zu Ferdinand A. Hermens, Demokratie oder Anarchie?, Frankfurt 1951, S. XVI.

  53. Nach Karl Dietrich Bracher werden die Parlamentarier bewußt oder unbewußt einem imperativen Mandat von Parteien-und Verbändeinteressen unterworfen; vgl.ders., Gegenwart und Zukunft der Parlamentstheorie in Europa, in: Parlamentarismus, hg. von Kurt Kluxen, Köln, Berlin 19692, S. 74.

  54. Vgl. Gaetano Mosca, a. a. O., S. 140: „Wenn wir in unserem Europa von der Tätigkeit des Staates sprechen, dann meinen wir in Wirklichkeit die Tätigkeit von Ministern, Abgeordneten und Beamten; sie sind gewiß lauter gute Leute, aber trotz allem Verantwortungsgefühl, aller Disziplin und allem Korpsgeiste doch nur Menschen mit allen Vorzügen und Schwächen; vortreffliche Leute, die aber wie alle Menschen Augen haben, die sich je nach Bedarf öffnen und schließen, und Hände, die sich öffnen und schließen und sich sogar schmieren lassen können. Auch sie können durch Anmaßung, Schlamperei, Geldgier und Eitelkeit sündigen. Auch sie haben ihre Neigungen und Abneigungen, ihre Freundschaften und Gegnerschaften, ihre Leidenschaften und Interessen ..."

  55. So das Bundesverfassungsgericht grundlegenden Begründung zum Urteil Verfassungswidrigkeit der KPD vom 1956; hier zitiert nach Thomas Ellwein, S. 592.

  56. Fritz Vilmar, a. a. O., S. 95 f.

  57. Claus Offe, Politische Herrschaft und Klassen-strukturen, a. a. O., S. 174.

  58. Thomaf Ellwein, a. a. O., S. 103.

  59. Man kann die Argumentation sogar umkehren: Gerade wegen der Interdependenz und der Komplexität der modernen Zivilisation sowie der existenziellen Auswirkungen politischer Entscheidun gen setzen diese ein Maß an Information und Kommunikation voraus, das das repräsentative System bisher offenbar nicht geleistet hat. Daher kann die „Lawine gesellschaftlicher Probleme ohne Beteiligung des Bürgers nicht mehr aufgehalten werden"; so Reimer Grönemeyer, a. a. 0., S. 49.

  60. Vgl. dazu Fritz Scharpf, Demokratie als Partizipation, in: Demokratisierung in Staat und Gesellschaft, hg. von Martin Greiffenhagen, München 1973, S. 122.

  61. Helmut Lindemann, Wieviel kann das Volk entscheiden, in: Evangelische Kommentare, 4. Jg., Stuttgart 1971, H. 8, S. 440. Daß eine hohe Wahlbeteiligung nicht unbedingt demokratische Beteiligung ausdrückt, belegt eine empirische Untersuchung über das politische Verhalten von Stimmbürgern im Kanton Basel-Landschaft. Danach nehmen vor allem diejenigen regelmäßig an Abstimmungen und Wahlen teil, die darin eine Pflicht sehen. Viele gehen zur Wahl, weil es so üblich ist, weil sie es so gelernt haben — und nicht, weil sie auf das politische Geschehen bewußt Einfluß nehmen wollen; vgl. Die Baselbieter Stimmbürgeruntersuchung 1972. Bericht der Expertenkommission zur Hebung der Stimmbeteiligung, Basel o. Jg., S. 29.

  62. Vgl. Die Baselbieter Stimmbürgeruntersuchung 1972, a. a. O., S. 21, und Reimer Grönemeyer, Integration durch Partizipation, a. a. O., S. 162: «Die Bedeutung von Bürgerinitiativen ist für die politische Sozialisation . . . vermutlich von ungleich größerer Bedeutung als etwa traditionelle Versuche politischer Bildung." Grundsätzlich vgl. hierzu Fritz Vilmar, a. a. O„ S. 187 ff.

  63. Vgl. Klaus Horn, Zur Überwindung politischer Apathie, in: Demokratisierung in Staat und Gesellschaft, a. a. O., S. 214.

  64. Vgl. Umweltpolitisches Bewußtsein 1972. Eine Untersuchung des Instituts für angewandte Sozialwissenschaft, Berlin 1973, S. 46 f.

  65. Vgl. die empirische Untersuchung von Jürg Steiner, Bürger und Politik, Meisenheim 1969, S. 158 f.; s. auch S. 74 ff und 85 ff.

  66. So Klaus Horn, a. a, O., S. 211.

  67. Auf die bundespolitische Wirkung lokaler Bürgerinitiativen weist Theodor Ebert hin, in: Mit Bürgerinitiativen zur antikapitalistischen Struktur-reform, a. a. O., S. 9.

  68. So Werner Dollinger, Glaube als Basis unserer Handelns, in: Evangelische Verantwortung — Meinungen und Informationen aus dem Evangelischen Arbeitskreis der CDU/CSU, Bonn 1973, H. 9, S-5

  69. Vgl. Hans Jochen Vogel, Wenn Bürger was wollen. Auch Bürgerinitiativen haben ihre Gren zen, in; Die Zeit, 9. Juni 1972, S. 58.

  70. (Eine Sammlung positiver Stellungnahmen bringt die Dokumentation „Politiker interpretieren Bürgerinitiativen“, in: gewaltfreie aktion, 5. Jg., Berlin 1973, H. 15. S. 22 ff.

  71. Vgl. auch Theodor Ebert, a. a. O., S. 10.

  72. Vgl. etwa Helga Faßbinder, a. a. O., S. 78, und Gemeinwesen-und Stadtteilarbeit, Bürgerinitiativen, a. a. O., S. 3.

  73. Vgl. Pierre Hoffmann, Nikitas Patellis, Demokratie als Nebenprodukt. Versuch einer öffentlichen Planung, München 1971, S. 56. Sie zitieren dort aus einem Arbeitspapier der Stadtverwaltung München: „Es ist besser Kraft zu investieren, um von vornherein zu werben, zu überzeugen und zu erreichen, daß die öffentliche Meinung die Grundlinien einsieht, selbst für notwendig hält und sie dann auch sich zu eigen macht."

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Horst Zilleßen, Dr. rer. pol., geboren 1938 in Jüchen /Kreis Grevenbroich. Studium der Politischen Wissenschaft, Wirtschaftswissenschaft und Geschichte in Köln. 1963— 1969 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sozialethischen Ausschuß der Evangelischen Kirche im Rheinland, Velbert; seit 1970 Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der evangelischen Kirchen in Deutschland, Bochum. Veröffentlichungen u. a.: Dialektische Theologie und Politik. Eine Studie zur politischen Ethik Karl Barths, Berlin 1970; Protestantismus und politische Form. Eine Untersuchung über das protestantische Verfassungsverständnis, Gütersloh 1971; Lebensqualität — Zur inhaltlichen Bestimmung einer aktuellen politischen Forderung, Wuppertal und Paderborn 1973 (gemeinsam mit H. D. Engelhardt, K. E. Wenke und H. Westmüller). Als Herausgeber: Mehrheitswahlrecht?, Stuttgart und Berlin 1967; Volk, Nation, Vaterland. Der deutsche Protestantismus und der Nationalismus, Gütersloh 1970; Gastarbeiter = Mitbürger. Bilder — Fakten — Gründe — Chancen — Modelle — Dokumente, Gelnhausen 1971 (gemeinsam mit R. Leudesdorff).