I. Der kompromittierte Konservatismus
Konservatismus" schien nach dem Zusammenbruch Hitler-Deutschlands obsolet geworden zu sein. Zu stark war die Erinnerung an die unheilvolle Rolle, die Konservative bei Destruktion der Weimarer Republik und der Etablierung des Nationalsozialismus gespielt haben. Das politische und gedankliche Profil der beiden als „konservativ" firmierenden Parteien des wilhelminischen Reiches war für eine Gegenbilanz wenig geeignet, denn diese Parteien verfolgten — wenngleich als „Staatsparteien" auftretend — hauptsächlich ökonomische Interessen von Großgrundbesitz und Industrie Daß größere Bevölkerungsteile sich gerade aufgrund einer konservativen Haltung von einer Identifikation mit dem NS-Regime weitgehend bewahrten und auch der aktive Widerstand gegen Hitler zu einem wesentlichen Teil aus konservativem Lager kam: dies konnte die historische Hypothek des Begriffs „konservativ" vermindern, aber nicht abtragen. Dieser Begriff zeigte sich vielmehr so diskreditiert, daß er aus dem Vokabular der Selbstbezeichnung der meisten politischen Gruppierungen nach 1945 verschwand und weithin nur als Schimpfwort für den Gegner weiterlebte. Hinzu kam, daß einige traditionelle gedankliche und so-I ziale Stützen des Konservatismus in der gewandelten politischen Nachkriegslandschaft an Kraft verloren hatten (z. B. europäische statt nationalstaatlicher Orientierung, Entmachtung von Adel und Großgrundbesitz, Rückgang der agrarischen Bevölkerung). Dementsprechend war die Konservatismus-Diskussion in der Bundesrepublik für längere Zeit lediglich Sache kleinerer Zirkel und Gegenstand einer schmalen Reihe von Monographien die keine große öffentliche Resonanz fanden. Diese Sachlage stand freilich im Kontrast zu der Tatsache, daß „Konservatis-
Renate Tesche:
Zur Reform des Petitionswesens....... S. 19 Udo Kempf:
Der Petitionsausschuß als ausreichendes Kontrollorgan?
Antwort auf R. Tesches Diskussionsbeitrag .................................................... S. 27 mus" zwar dem Namen nach, keineswegs aber als politische und geistige Haltung „tot" war, vielmehr in Gestalt einer (sich anders nennenden) liberalkonservativen Partei neuen Typs wesentliche Züge der frühen Bundesrepublik prägte.
Die politische Scheu vor dem Begriff „konservativ" ist inzwischen kaum geringer geworden; wohl aber nimmt sich — mit nur indirektem Bezug zum Tagesstreit — die geschichtsund politikwissenschaftliche Forschung in stark zunehmendem Maße der Frage an, was Konservatismus historisch gewesen ist und kann. Einen kräftigen Impuls hat hierbei die voluminöse Untersuchung des amerikanischen Historikers Klaus Epstein (1966) über „Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland" ausgeübt. Entstehung und Verbreitung konservativen Denkens in der Zeit von 1770 bis zur Auflösung des Alten Reichs 1806 sind hier in einer fruchtbaren Kombina-schichtlicher Fragestellung empirisch solide aufgearbeitet Seither ist in rascher Folge eine größere Zahl beachtenswerter Konserv. tismus-Studien veröffentlicht worden; fünf von ihnen, die sich durch umfassende Erklärungsabsicht, weitreichende Thesen und koj. troverse Beurteilung auszeichnen, werd® hier vorgestellt und im einzelnen diskutiert
II. Konservatismus und Rationalismus: zwei friedliche Brüder?
Die Rede ist zunächst von dem großangelegten Versuch des Stuttgarter Politologen M. Greiffenhagen, einen historisch-systematischen Grundriß konservativen Denkens in Deutschland zu zeichnen Greiffenhagen beleuchtet eingangs einige historische Erklärungsansätze:
a) Konservatismus als universalhistorische Kategorie, in der der Aristokrat Pindar als konservativer Urtypus erscheinen mag, b) die Einschränkung auf den abendländischchristlichen Zeitraum, dem auch konservatives Selbstverständnis zumeist verbunden ist, c) Konservatismus als Antwort auf die Aufklärung oder d) auf die Französische Revolution.
Anthropologische Vorfragen Ausführlicher wendet er sich dann jener Deutung zu, die weniger einen historischen als einen strukturell-anthropologischen Zugang sucht. Er setzt sich dabei mit Karl Mannheims Hypothese von einer konservativen Anlage im Menschen auseinander, die in Zeiten fehlender Gefährdung als (unreflektierter) Traditionalismus sich äußere und bei krisenhaftem Umbruch zu einer politisch-reflektiven (Ge-gen-) Bewegung aktiviert werde, deren inhaltliches Substrat freilich jeweils historisch be-dingt sei Mannheim sah in Justus Möser — dem konservativen Widersacher absolutistischer Herrschaftskonzentration und -rationalisierung — ein Musterbeispiel für die Transformation von Traditionalismus in Konservatismus. Die Existenz eines „von keiner Reflexion berührten Kernes einer konservativen Natur im Menschen" verweist Greiffenhagen freilich entschieden ins Reich der Legende bzw. in den Bereich der „konservativen Ideologie selbst" (S. 61)
Nun ist die Anthropologie gewiß ein weites Feld, auf dem schon mancher die unwillig getragene rationale Beweislast durch Verweis auf ontische Gegebenheiten deponiert hat Dennoch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Greiffenhagen es sich mit apodiktischen Behauptungen — „Es gibt kein dem historischen Phänomen Konservatismus zugrunde liegendes unhistorisches Beharren, das man, im Sinne einer menschlichen Anlage oder Eigenschaft, als Motor für einen plötzlich reflexiv werdenden Konservatismus annehmen dürfte" (S. 60 f.) — zu einfach macht. Denn so viel scheint doch zumindest erwiesen, daß menschliches Verhalten zwar seiner inhaltlichen Orientierung nach weitgehend variabel ist, jedoch über eine invariante for-male Leitausstattung verfügt, die durchaus FsezugspunKte zu vannmers— u*urerIE musbegriff aufweist. Insbesondere Dieter Claessens (sicherlich kein „Konservativer) hat stringent herausgearbeitet, daß dem Menschen beim Verlassen des umfassenden tierischen Instinktsystems „formale Tendenzen"
geblieben sind, die — wie die Ordnungs-und Wiederholungstendenz — der Selbstabsicherung in einer überwältigend offen gewordenen Welt dienen Der vielbeschworene „gesunde Menschenverstand" bezöge sich demnach zwar nicht inhaltlich auf ontische Sachverhalte (er pflegt seine Kategorien vielmehr dem je Bestehenden zu entnehmen); seine Neigung, die Welt mit Vertrautem zu besetzen, verwiese jedoch strukturell auf anthropologische Konstanten. Eine weiterführende — und dringend erwünschte — Überprüfung der Beziehungen zwischen derartigen Konstanten und dem, was Mannheim Traditionalismus nannte sowie zwischen traditionalistischem Verhalten und konservativen Strömungen hat Greiffenhagens Studie jedenfalls nicht geleistet. Daß die Einbeziehung anthropologischer Momente in die historische Konservatismus-Analyse fragwürdig wird, wenn sie nicht mit großer Behutsamkeit und begrenztem Erklärungsanspruch erfolgt sei unbestritten; auf alle Fälle ist es aber problematisch, diesen Ansatz von vornherein als irrelevant auszuschalten.
Konservatismus contra Rationalismus?
Innerhalb der vorgestellten historischen Erklärungsansätze knüpft Greiffenhagen (zu Recht) nicht an der noch immer dominierenden Vorstellung an, daß der Konservatismus (als neuzeitliches Phänomen) in Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution entstanden sei. Ansätze von F. Valjavec und K. Epstein fortführend, sieht er vielmehr Konservatismus und aufklärerischen Rationalismus als „gleichursprünglich" an: Der europäische Konservatismus habe sich — von England ausgehend — als Gegenbewegung zum modernen Rationalismus entfaltet. Greif-j ---------------------sehe Barockdichter John Donne (1572— 1631) wesentliche Grundzüge konservativer Kritik an Prämissen und Konsequenzen aufklärerischen Denkens („and new philosophy calls all in doubt") ausgebildet hat Konservatismus sei „von seinem definitorischen Gegner bis ins kleinste Detail hinein abhängig" (S. 69f.), und dies mache — so lautet Greiffenhagens Kernthese — auch das unüberwindbare „Dilemma" des Konservatismus aus: dessen Werte der Rationalismus schaffe, in-dem er das Gegenteil postuliere; der den Kampf gegen die Aufklärung nicht anders führen könne als mit den spezifischen (nämlich rationalen) Waffen der Aufklärung; der schließlich — wenn er hinter der vom Rationalismus vorangetriebenen Entwicklung zurückbleibe — sich selbst ad absurdum führe, wie der „Verzweiflungs-und Todessprung" in die „Konservative Revolution" nach dem Ersten Weltkrieg zeige.
An diesen dezidierten Thesen wird die künftige Konservatismus-Diskussion nicht vorbeigehen können, und sie wird vermutlich einigen Gewinn daraus ziehen. Jedoch führt dieser Ansatz rasch zu Grenzen, zumal auf jenem Terrain, das der Umschlag von historischer zu quasi-philosophischer Betrachtungsweise eröffnet: a) Schafft der Rationalismus tatsächlich die konservativen Werte oder macht er sie nicht nur (was etwas wesentlich anderes ist) bewußt(er)? b) Wendet sich konservatives Denken stets und notwendig gegen den Rationalismus als Denk-Regulativ oder (was wiederum etwas wesentlich anderes ist) gegen die Bestimmung der ratio zum monistischen Daseins-und Gestaltungsprinzip Ähnlich verwerfen ja auch Gegner der marxistischen Dialektik nicht die Dialektik als Denk-Operation, sondern allein die Erhebung der Dialektik zum ausschließlichen Bewegungsprinzip der realen Welt CJ MÜbtÖ LteiHenlTägeir nicht umgekehrt ein.
„Dilemma des Rationalismus" in Rechnung stellen, da jeder „Rationalitätsschub, insofern er eine neue Situation heraufbeschwört, auch neue irrationale Felder schafft" — ein Gesichtspunkt, den konservative Denker oft schärfer im Blick hatten als teleologisch faszinierte Progressive
d) Wie, wenn das „Dilemma" des Konservatismus gar kein Dilemma, sondern eine Chance wäre — eine Möglichkeit nämlich zur , Anverwandelung’ des Rationalismus, der somit an ein waches Sensorium für die Kosten des rationalen Progresses gebunden würde?
e) Verdankt Greiffenhagens Dichotomie Konservatismus—Rationalismus ihre Handlichkeit nicht zum guten Teil massiver Simplifizierung, insofern z. B. auf eine Unterscheidung von (kartesianischem) Rationalismus und (durchaus nicht unkonservativem) Empirismus ebenso verzichtet wird wie auf eine Unterscheidung zwischen radikalen Extrempositionen und der „vorherrschenden — auf Ordnung, Maß, Sittlichkeit, Toleranz orientierten — Tendenz der Aufklärung"
Je stärker man Greiffenhagens Pauschalposten „Rationalismus" und „Aufklärung“ differenziert, um so brüchiger wird die Notwendigkeit, Konservatismus als Antithese zu se-hen.
Der Hauptteil des Buches gilt freilich nicht der Erörterung derartiger Fragen, sondern der Ausbreitung einer immensen Materialfülle, anhand deren Greiffenhagen eine „Theorie konservativen Denkens in Deutschland" (S. 11) entfalten will Er ordnet, was Konservative von Möser bis Mohler gesagt und geschrieben haben, kraft zentraler Kategorien (z. B. Kulturkritik, Tradition, Autorität, Insti.
tution, Organologie), innerhalb derer er dann immer feineren Verästelungen nachspürt (z. B Ironie als sublime Form konservativen Selbstverständnisses). Dabei betont Greiffenhagen,, daß er das Buch mit einem unguten Gefühl herausgebe, da es „in der Tradition deutscher . Geistesgeschichte'geschrieben" (S. 16) sei:
(fast) ganz ohne Einbeziehung der jeweiligen politischen und sozialgeschichtlichen Bedingungen, ohne wissenssoziologische Reflexion.
Anscheinend um nicht in „Idealismus" -Verdacht zu geraten, läßt er den — an anderer Stelle von P. Graf Kielmansegg vorgetragenen und möglicherweise fruchtbaren — Legitimationsversuch außer acht, daß es „eine Ebene geistiger Realität" gebe, die über die jeweiligen historischen und sozialen Bedingungen hinausweise Aber auch seiner rein arbeitsökonomischen Begründung wird man den Respekt nicht versagen, zumal das Buch als Enzyklopädie konservativen Den-kens in Deutschland hohen Wert behalten wird.
Festzuhalten bleibt indes, daß auf Differenzierungen verzichtet wird, die z. B. möglich wären zwischen a) feudalaristokratischer, b) städtisch-patrizischer, c) bäuerlich-handwerklicher Träger-(und Auspräger-) schäft des Konservatismus; zwischen konservativem Denken im Kontext d) vorindustriell-agrarischer und e) industriekapitalistisch entwickelter Gesellschaft; zwischen f) konservativen Gesellschaftsentwürfen (wie in der ersten Hälfte des 19. Jhs.), die sich schwerlich auf Partialinteressen reduzieren lassen, und g) dem aggressiven Besitzstands-Konservatismus im kleindeutschen Reich. An einem Beispiel sei gezeigt, wie Tatbestände, die Greiffenhagen zutreffend konstatiert, durch sozialgeschichtliche Relationierung vertieft werden könnten: Greiffenhagen schildert detailliert (S. 85 ff.), daß konservatives Denken in Deutschland einen wichtigen Ausgangspunkt in der Verteidigung religiöser Orthodoxie hatte. Unerwähnt bleibt der schon von K. Epstein vorgetragene Erklärungsversuch, daß die aufklärerische Kritik (speziell im deutschen Bereich) Rächst in erster Linie religiösen Zuständen aalt weil die Basis für weitergehende Zielsetzungen in diesem ökonomisch und politisch unterentwickelten" Gebiet — im Unterschied zu England und Frankreich — noch nicht gegeben war Freilich verweist dieses Beispiel auch auf Grenzen rein sozialökonomischer Erklärung, denn „das Heilige" war seit je der große „Gegenspieler von Kritik und Ratio" weil es einen Abbruch des Begründungsverfahrens involviert
Notwendige Differenzierungen Während Greiffenhagens geistesgeschichtlicher Methode die Legitimität also nicht abgesprochen werden soll, ist eine andere Vorentscheidung zutiefst fragwürdig: der Verzicht auf detaillierte Gewichtungen und Unterscheidungen innerhalb des konservativen Gedankenhorizontes. Geht es noch an, unstete, leichtfertige und opportunistische Autoren (wie Adam Müller) mit ernsthafteren (wie Franz von Baader) zusammenzurücken, so verbietet es sich doch, substantielle Unterschiede zu verwischen, wie sie K. Epstein mit den Begriffen „Status-quo-Konservative", „Reaktionäre", „Reformkonservative" markiert hat. Denn dabei handelt es sich ja weniger — wie Greiffenhagen (S. 37) meint — um unbeachtliche „begriffliche Mischtypen", als vielmehr um Mischrealitäten: Es gab eben auch Konservative mit ausgeprägten liberalen (z. B. die Brüder Reichensperger) und sozialen (z. B. Radowitz) Zügen und daneben auch solche (besonders Rodbertus), die sich der Einordnung nahezu ganz entziehen. Keiner der vier Genannten wird von Greiffenhagen herangezogen: Solche heterogenen Elemente werden der Fiktion einer kohärenten Theorie des Konservatismus geopfert
Auch in ahdöfST mnsiciii taut-SIu 2Uy-1, daß Greiffenhagens Versuch, konservatives Denken auf feststehende Nenner zu bringen, etwas Gewaltsames anhaftet: „Der Konservative ist an dem sozialen Integrationswert der Religion stärker interessiert als an den religiösen Inhalten selbst" (S. 100) — diese Aussage (die übrigens auf den „typischen" Aufklärer Voltaire voll zuträfe) wird sich zumindest in dieser generalisierten Form nicht beweisen lassen und bleibt daher auch bei Greiffenhagen unbewiesen. In dem Kapitel über konservative Kapitalismus-Kritik (das zu den enttäuschenden des Buches zählt kennzeichnet Greiffenhagen das Ziel dieser Kritik damit, daß „der Staat die wirtschaftlichen Abläufe selber in die Hand" nehme (S. 128); er übersieht dabei die im Konservatismus verbreiteten Ideen genossenschaftlicher Selbsthilfe und berufsständisch-korporativer (und eben nicht staatlicher) Wirtschaftsorganisation.
Während die Inhaltsbestimmung konservativen Denkens in diesem Buch der Gefahr der Pauschalisierung also nicht entgangen ist, wird man ihr jedoch bescheinigen können, daß keine ganz ephemer vertretenen Positionen über Gebühr aufgewertet wurden. Allerdings hätte man sich eine stärkere Herausarbeitung der Ambivalenz „typisch" konservativer Haltungen gewünscht. In gewisser Weise gilt dies sogar für den von Greiffenhagen zu Recht als „Angelpunkt des konservativen Selbstverständnisses" bezeichneten Traditionsbegriff denn die rückvergewissernde (und daher stabilisierende) Traditionsbindung erfreut sich bei den unterschiedlichsten politischen Richtungen höchster Wertschätzung, auch und gerade bei revolutionären.
III. Konservatismus und Demokratie: ein denknotwendiger Gegensatz?
Während Greiffenhagen den Konservatismus nach 1945 — der in der rationalen Form der Technokratie die emanzipatorischen Konsequenzen des Rationalismus bekämpfe und somit das konservative „Dilemma" fortsetze — nur relativ knapp behandelt, ist das konservative Denken in der Bundesrepublik Thema der Frankfurter politikwissenschaftlichen Habilitationsschrift von Helga Grebing Sie entwickelt im l. Teil des Buches historische und definitorische Überlegungen zu den Begriffen Konservatismus und Demokratie. Im 2. Teil referiert und kritisiert sie zeitgenössische konservative Aussagen zu Topoi wie „Vermassung", „Pluralismus", „Volkssouveränität", „Gleichheit" usw. (man vermißt den wichtigen konservativen Topos „Entproletarisierung"). Während dieser Teil als Materialsammlung angelegt ist, in dem die zitierten Autoren ohne nähere Differenzierung herangezogen werden, erstrebt Grebing im 3. Teil eine „Typologie konservativer Ordnungsvorstellungen", in der das Material nach unterscheidbaren Programmen geordnet wird. Als Typologisierungsansätze dienen die Gedankenkreise a) der Abendländischen Akademie, b) der katholischen Soziallehre, c) des Neoliberalismus, d) protestantischer Konservativer, e) der Carl Schmitt-Nachfolge und f) der „technokratischen" Konservatismusvariante.
Prämissen der „Kritischen Theorie"
Die Bedeutung des Grebingschen Buches wird man zum guten Teil an dem Plausibilitätsgrad des Maßstabes messen müssen, den sie an das konservative Denken anlegt. Dieser Maßstab ist ihr Demokratiebegriff. Wie die gesamte Arbeit, so gehört auch diese Begriffsbestimmung in den Kontext der Kritischen Theorie Frankfurter Provenienz, die letztlich auf dem Axiom beruht, daß „der Geschichte ein Ziel inhärent" sei: die herrschaftsfreie Gesellschaft Auf den ersten Blick erscheint Grebings Rezeption der Kritischen Theorie allerdings „insofern unvollständig", als sie deren „absolute Gewißheit im Hinblick auf Weg und Ziel der Geschichte" sowie — „zumindest gegenwärtig" — deren Anspruch auf einen Totalentwurf „zur Erklärung alles Wirklichen" nicht zu teilen erklärt. So heißt es jedenfalls im Vorwort (S. 7), und Grebing scheint daher mit der Möglichkeit zu rechnen, „voluntaristisch-idealistischer" Abweichung geziehen zu werden (S. 8).
Nun ist die . Zellteilung'der Kritischen Theorie für den Außenstehenden schwer zu überschauen, und man weiß nicht, welcher konkreten Konstellation Grebings Selbstplacierung gilt; vielleicht will sie auch nur dem Kritiker die Legitimation entziehen, ihre Prämissen mit den Schwächen der Kritischen Theorie in Verbindung zu bringen. Festzustellen ist jedenfalls dies: Die Einschränkung des Vorworts wird im Buch selbst — und zwar durchgängig — preisgegeben. Ausgehend von a) einer „Trendbeobachtung" der Demokratie-Entwicklung in Europa seit dem 18. Jh. und b) einer „Antizipation" künftiger „denk-und praxismöglicher" Lebensformen präsentiert Grebing „Demokratie“ als eine fortschreitende weltgeschichtliche Bewegung, die — vorangetrieben von der Entfaltung der Produktivkräfte und in „Chiffren" (S. 80) erkennbar — die Menschheit in das Reich der Mündigkeit führt. Nachdem schon im Vorwort die „Möglichkeit zu rationaler herrschaftsfreier Ordnung" (S. 8) vorausgesetzt wird, zieht sich die hypostasierende Annahme eines welthistorische Phasen durchlaufenden Demokratisierungsprozesses (S. 80), einer auf „Fundamentaldemokratisierung hin sich auswirkenden Dynamik der Produktiv-kräfte" (S. 426), eines zielgerichteten „permanenten Prozesses der Demokratisierung" (S. 436) leitmotivartig durch das Buch. Die Prämisse, daß „die Menschen der Herrschaft bedürfen" wird dem konservativen Glaubens-kanon zugewiesen (S. 428), der gerade die „Inganghaltung des Demokratisierungsprozesses" (S. 429) blockiere. Nur an einer Stelle könnte es scheinen, als fasse Grebing den Demokratisierungsprozeß nicht entwicklungsgesetzlich, sondern (wogegen wenig zu sagen wäre) im Sinne einer „regulativen Idee" (S. 220) auf; sie hebt diese Relativierung aber unverzüglich durch den Zusatz auf, daß Demokratisierung als „regulative Idee" nur dort am Platze sei, „wo die Mündigkeit des Menschen erst noch vorweggenommen werden muß": daß die Realität die „Idee" einholen werde, ist mithin außer Frage gestellt. Problematischer Demokratiebegriff Indessen sind Grebings Aussagen über die Struktur der „antizipierten" Gesellschaft mehr als dürftig. Sofern sie überhaupt Indikatoren angibt, bestehen sie aus unbrauchbaren Leerformeln wie: „hohe wirtschaftliche Produkti'bei „kooperativer Teilnahme aller Beteiligten" und zunehmender Beseitigung hierarchischer Herrschaft durch „individuelle Selbstbestimmung" und „gesellschaftliche Selbststeuerung" 30) auf der Grundlage „verwirklichter Gleichheit" (S. 81). Gehörten bis-her schon „minuziöse Analyse, Sorgfalt im Detail und präzise Problemdifferenzierung nicht eben zu den Stärken der . Kritischen Theorie'" 31), so klammert also auch Grebing die sich erst im Konkreten zeigende Antinomie-und Problemlast der Regelung gesellschaftlichen Zusammenlebens aus. Sie kompensiert dies, indem sie demokratisches Freiheitsgeschehen in einer Weise hypostasiert, deren Hegelsche Abkunft man schwerlich übersehen kann. Hatte indes bei Hegel der spekulative Vorgriff auf das „Ganze" der Geschichte und teleologische Gewißheit dank seiner Identifizierung von Vernunft und Realität eine gewisse Stringenz, so entfällt diese Voraussetzung bei Grebing. Ihre Demokratietheorie ist daher ein Spekulationsgebäude, das seine scheinbare Unbezwinglichkeit einem letztlich illegitimen methodischen Vorgehen verdankt: dem Abbruch des rationalen Begründungsverfahrens an bestimmten Punk-ten durch Rekurs auf Glaubenssätze. Diese Selbstdispens von wissenschaftlich-zwingender Methode zeigt sich an den beiden „strategisch" wichtigsten Punkten: einmal in der Extrapolation von Zukunftsg auf der Grundlage „verwirklichter Gleichheit" (S. 81). Gehörten bis-her schon „minuziöse Analyse, Sorgfalt im Detail und präzise Problemdifferenzierung nicht eben zu den Stärken der . Kritischen Theorie'" 31), so klammert also auch Grebing die sich erst im Konkreten zeigende Antinomie-und Problemlast der Regelung gesellschaftlichen Zusammenlebens aus. Sie kompensiert dies, indem sie demokratisches Freiheitsgeschehen in einer Weise hypostasiert, deren Hegelsche Abkunft man schwerlich übersehen kann. Hatte indes bei Hegel der spekulative Vorgriff auf das „Ganze" der Geschichte und teleologische Gewißheit dank seiner Identifizierung von Vernunft und Realität eine gewisse Stringenz, so entfällt diese Voraussetzung bei Grebing. Ihre Demokratietheorie ist daher ein Spekulationsgebäude, das seine scheinbare Unbezwinglichkeit einem letztlich illegitimen methodischen Vorgehen verdankt: dem Abbruch des rationalen Begründungsverfahrens an bestimmten Punk-ten durch Rekurs auf Glaubenssätze. Diese Selbstdispens von wissenschaftlich-zwingender Methode zeigt sich an den beiden „strategisch" wichtigsten Punkten: einmal in der Extrapolation von Zukunftsgesetzlichkeit auf schmälster empirischer Basis, zum andern darin, daß — mittels „Antizipation" — ein normatives Ziel (das Reich der Mündigkeit sein) unter der Hand in eine Sachaussage soll verwandelt wird (das Reich der Mündigkeit ist „praxismöglich", und wer daran zweifelt, ist „tendenziell" oder „manifest" antidemokratisch). Beide Verfahren — Extrapolation und Antizipation — stellen in Wahrheit jedoch nur die beiden Kehrseiten von (und nicht mehr als) Spekulation dar. Zwar gilt demgegenüber in der Kritischen Theorie das Dogma, daß „die Wahrheit von Aussagen in der Antizipation des gelungenen Lebens" gründe 32). Aber diese Antizipation könnte sich — wie M. Theunissen richtig betont hat — nur dann von unkontrollierbarer Spekulation unterscheiden, wenn „sie die objektive Tendenz zur Freiheit an einer schon gegebenen Wirklichkeit aufzuweisen vermag" 33). In diesem Aufweiszwang liegt denn auch der tiefere Grund dafür, daß Grebing — entgegen den einschränkenden Bemerkungen im Vorwort — die Entwicklung zur herrschaftsfreien Mündigkeit in der Nomenklatur einer objektiven Tendenz darstellen muß, wenn sie ihr Verfahren nicht als das zu erkennen geben will, was es ist: als Spekulation.
Diese Methode entzieht Grebings Argumentation zugleich in hohem Maße dem fundamentalen wissenschaftlichen Kriterium der Falsifikationsmöglichkeit durch Erfahrungskontrolle, denn jedem empirischen Einspruch kann nunmehr mit der These begegnet werden, daß die Wirklichkeit die Theorie eben noch nicht eingeholt habe bzw. „die Mündigkeit des Menschen erst noch vorweggenommen werden muß" 34).
Empirische Einsprüche Und der empirischen Einsprüche gibt es mehr, als hier auch nur angedeutet werden können 35). Drei Beispiele mögen genügen: Es besteht sehr wohl — im Unterschied zu Grebings harmonisierender Auffassung (S. 214) — eine Antinomie zwischen den Postulaten „Gleichheit" und „Möglichkeit zu individueller Entfaltung“ jedes höhere Maß an autonomer Bestimmung gesellschaftlicher Teilbereiche schränkt gleichzeitig — und folgenschwer — die Kontrollmöglichkeit ein, die die Gesellschaft als Ganzes (kraft ihrer demokratischen Repräsentation) hat; komplexere Organisationen (die unser Leben immer mehr bestimmen) sind durchaus nicht in dem Maße enthierarchisierbar, wie das F. Nascholds spektakuläre Thesen erwarten lassen Statt weiterer Einzelprobleme sei auf die Forschungsergebnisse eines des Konservatismus (jedenfalls in Grebings Sinne) ganz unverdächtigen Sozialpolitikers Gerhard Weisser, verwiesen, der aus dem Befund: industrielle Gesellschaft müsse organisierte Gesellschaft sein, organisierte Gesellschaft müsse disziplinierte Gesellschaft sein, tiefgreifende Antinomien ableitet, die in Grebings Gesichtskreis — da hier technisch-zivilisatorischer und humaner Progreß harmonisiert erscheinen — erst gar nicht eintreten
Es lassen sich auch ernst zu nehmende empirische Einwände gegen Grebings anthropologisch-psychologische Prämissen vorbringen, obwohl diese — auf die Dimension der Mündigkeit verkürzt und ansonsten nur aus heftiger Kritik an konservativen Menschenbeurteilungen ableitbar — merkwürdig konturlos bleiben. Wiederum sei eingeräumt, daß bei derartigen Prämissen höchste Vorsicht am Platze ist: Zu groß ist die Einschränkung der Beobachtungsbereitschaft, die eine inadäquate Vorentscheidung hier bewirkt. Im Hinblick auf konservative Skeptiker würde Grebing diese Gefahr sicherlich unterstreichen; diese Gefahr gilt freilich nicht minder für ihre eigenen, zum Teil versteckten Prämissen. Hierzu gehört z. B. die Voraussetzung hoher und dauerhafter politischer Partizipationsbereitschaft aller Gesellschaftsmitglieder. Demgegenüber hat Gunnar Myrdal am Beispiel Schwedens gezeigt, daß eben diese Partizipationsbereitschaft bei wachsender Wohlfahrt sinkt und nicht steigt Und Mancur Olsons gruppentheoretische Untersuchungen liefern auch eine plausible Begründung dafür, daß der Einsatz für öffentliche Güter im individuellen Interessenkalkül (zumal bei steigender Sozialstaatlichkeit) weit unten zu rangieren pflegt: Der einzelne kann erwarten, daß sich andere (z. B. Funktionäre) engagieren und er dann a) ohnehin in den Genuß der Verbesserungen kommt und b) sich obendrein seines geschonten Zeit-budgets erfreuen kann. Wenn man derartige und andere, ärgerlichere menschliche Unzulänglichkeiten ignoriert, kann man leicht das bescheidene Verständnis von Demokratie als Struktur, als System von Machtmißbrauchsschutz, Herrschaftskontrolle und Konfliktregelung geringschätzen gegenüber der Vorstellung von Demokratie als Prozeß, als emphatische Bewegung menschlicher Emanzipation — freilich mit dem Risiko des Interpretationsmonopols und der Kontrolldispens für jene, die zu wissen glauben, wohin der Prozeß zielt
Konservatismus contra Demokratie?
Die Adäquanz des Maßstabes, den Grebing an konservatives Denken anlegt, ist also zu bestreiten, da er seinerseits nicht genügend an der Realität gemessen und meßbar ist. Aber auch die Handhabung des zweiten Kernbegriffs der Studie —-Konservatismus — verdient grundsätzliche Kritik. Grebing ordnet Greiffenhagens ideengeschichtlichen Bezugspunkt — den Rationalismus — in den breiteren Zusammenhang ihrer Demokratisierungstheorie und definiert Konservatismus in „dialektischer" Absicht als „die dem historischen Prozeß der Demokratisierung immanente Gegenbewegung" (S. 83 und passim). Wenn Kritik der Vergleich des Vorliegenden mit dem Denkmöglichen ist, dann hätte bereits der ins Spekulative verflüchtigte Demokratiebegriff zu herber Kritik an konservativer Rückstän-digkeit ausgereicht. Darüber hinaus setzt Grebing nun konservatives und antidemokratisches Denken ex definitione, also denknotwendig, in eins — und dies ist entschieden mehr, als die unbestreitbare Tatsache hergibt, daß Konservative in der deutschen Geschichte (wenn auch nicht ausnahmslos und nicht immer) Demokratie bekämpft haben. Die stolze Bilanz — „Das Ergebnis der Untersuchung bestätigt die Richtigkeit des Ausgangspunktes: Erst recht der Konservatismus nach 1945 kämpft gegen die Demokratie" (S. 424) — ist somit definitorisch vorweggenommen und erinnert an den logischen Zirkel. Um ihren methodischen circulus abzusichern, klammert Grebing in ihrem historischen Rückblick (darin Greiffenhagen ähnlich) Mischrealitäten weitgehend und im zeitgenössischen Konservatismus Autoren wie A. Rüstow, H. Barth oder G. Mann ganz aus — ebenso wie sie konservative Postulate, die durchaus nicht antidemokratisch auszulegen sind, als „Ablenkungsmanöver" (S. 218) und „Opportunitätsdenken" (S. 425) abwertet
Derselben Absicherungsstrategie dient es, daß Grebing sich von ihrem eigenen dialektischen Denken auf halbem Wege dispensiert: Ist konservative Gegenbewegung nicht gerade vom dialektischen Ansatz her ein regulatives und korrigierendes Prinzip? Dieser Gedanke ist Anathema: Grebing weist jede Reflexion zurück, „die womöglich noch deutlich ma-chen möchte, ob oder gar daß konservative Existenz auch heute noch ...denk-und praxismöglich ist“ (S. 31) Grebings Ansatz präsentiert sich mithin — überspitzt gesagt — weniger dialektisch als manichäisch: Gut und Böse, Licht und Dunkel liegen miteinander im Kampf. Dialektisches Denken hätte Grebing auch zu dem „Dilemma des Rationalismus" führen müssen, von dem oben die Rede war. Oder ähnlich: Verstärkt der Wissenschaftsfortschritt nicht ständig die Abhängigkeit des einzelnen (von Experten)? Wird Überfluß auf dem einen Gebiet nicht stets durch Verknappungen auf anderen Gebieten erkauft (wie z. B. das Umweltschutzproblem zeigt)? Eine so gewendete Dialektik klammert Grebing freilich aus, denn ihre Grundannahme eines universal fortschreitenden Freiheitsgeschehens würde damit in Frage gestellt.
Ein Buch also, das man getrost ad acta legen kann? Trotz aller Einsprüche: nein! Denn es bietet nicht nur eine große Materialfülle, die zu durchforsten sich lohnt. Es zeichnet sich auch durch einen zwar einseitig, aber scharf bohrenden Intellekt aus, der manche konservative Denkmuster empfindlich trifft, in denen das rationale Begründungsverfahren zu früh abgebrochen wird bzw. zu spät einsetzt Löst z. B. die auf skeptischem Menschenbild beruhende Forderung nach starker Führung das Skepsisgebot immer auch gegenüber den Führenden ein? Sind konservative Haltungen zum „Vermassungs“ -Phänomen nicht zu stark und zu lange von der Bedrohung bisheriger Sozialenklaven und zu wenig von den sich für die „Massen" eröffnenden Chancen her bestimmt worden? Gilt für die „technokratische" (Sachzwang-) Variante des Konservatismus nicht der Satz, daß „die Behauptung der reinen Sachlichkeit und überlegenen Urteilskraft die Legende der fachgeschulten Bürokratie ist" so wie die „Behauptung der Herrschertugenden und der Uberparteilichkeit des Landesvaters" zur „Legende der Monarchie" wurde? Ein Satz, der in die-ser Form freilich nicht von Grebing stammt, sondern von Benedikt Schmittmann einem jener Konservativen, die in Grebings Gesichtskreis gar nicht eingetreten sind. — Nicht nur Antikritik, sondern auch verstärkte konserva-tive Selbstreflexion wäre also eine angemessene Antwort auf dieses Buch. Vielleicht gilt, so gesehen, für Grebings Studie sogar das Dictum, daß große Irrtümer die Erkenntnis stärker fördern als kleine Wahrheiten.
IV. Konservatismus in kybernetischer Sicht
Erwartungsvoll nimmt man W. Ribhegges Versuch zur Hand, anhand eines kybernetischen Modells eine „kritisch-historische Theorie" des Konservatismus zu entwikkeln 49). Rasch zeigt sich jedoch, daß zwei Hypotheken den Wert dieser Untersuchung von vornherein belasten. Zum einen geht Ribhegge von einem überholten Stand der historischen Forschung aus. Sonst könnte er die These, daß „der Konservatismus überhaupt erst aus der Dynamisierung der Geschichte durch die Französische Revolution entstanden“ sei (S. 28) ebenso wenig vertreten wie die These, daß der „Konservatismus der 1. Phase" eine Stütze des Absolutismus gewesen sei (S. 28); auch die unverständlich grobe Skizzierung der sozialen Träger des Konservatismus „um 1800" (25: „der kirchliche und weltliche Adel sowie die ständisch gebundenen sozialen Schichten“ — wer bleibt da überhaupt noch übrig?) hätte z. B. durch Rezeption des Buches von K. Epstein vermieden werden können. Die andere Hypothek liegt darin, daß Ribhegge sich zwar auf K. W. Deutschs grundlegende „Politische Kybernetik" stützt, die weiterführende Diskussion hierüber jedoch nicht zur Kenntnis nimmt: Schwache Punkte in Deutschs Modell hätten dann klarer gesehen und bei dessen Übertragung in den historischen Kontext berücksichtigt werden können.
Ribhegge skizziert zunächst Grundzüge eines kybernetischen Modells und überträgt dessen Begrifflichkeit sodann auf den historischen Konservatismus. Dieser stellt sich somit dar als ein „integratives gesellschaftliches Steuerungssystem“, das sich durch einen „zielverändernden Rückkopplungsprozeß und Lernprozeß" ständig verändert, so daß „der heutige Konservatismus äußerlich gesehen mit der soziologischen, politischen und ideologischen Struktur des Konservatismus der Zeit vor 150 Jahren kaum noch etwas gemeinsam hat“ (S. 25).
Inwieweit sich aus diesem Ansatz neue Erkenntnisse ableiten lassen, kann sich allerdings nur erweisen, wenn die Hypothesen konkretisiert und in beobachtbare Sachverhalte übersetzt werden. „Denn in genau dem Maße, in dem sozialwissenschaftliche Theorien ihre meist platte . Allgemeingültigkeit'verlieren, gewinnen sie an Trennschärfe und Aussagegehalt" Eine derartige Operationalisierung leistet Ribhegge aber gerade nicht. Er verbleibt vielmehr auf einer Abstraktionsebene, auf der historische Realität in inhaltsarmer Begriffsmechanik verschwindet. Hierfür ein Beispiel: „Der Erste und der Zweite Weltkrieg sind im wesentlichen auf das Versagen des internationalen Steuerungssystems des Konservatismus zurückzuführen“
(S. 27); denn: „Das konservative Regelsystem war strukturell nicht in der Lage, durch einen Lernprozeß die historische Situation zu bewältigen" (S. 29). Trennschärfe und Aussagegehalt? Man sucht beides vergebens; die Hierarchie historisch-konkreter Faktoren wird nicht klarer, sondern unklarer.
Es ist keineswegs erwiesen, daß mit kybernetischer Betrachtungsweise nicht mehr zu erreichen ist, obgleich sie auf eine Verflüchtung der Phänomene zu Kommunikationsvorgängen und damit auf einen realitätsindifferenten Schematismus hin angelegt zu sein scheint. Ein Teil des unbefriedigenden Ergebnisses ist vielmehr auch auf die Informationen zurückzuführen, mit denen Ribhegge sein kybernetisches Modell gleichsam . füttert'. Hier finden sich pauschale Prämissen wie die: der Konservatismus sei außerstande, „die Zukunft als Zielinformation zu erfassen" (S. 27); ein Widerspruch liegt darin, daß Ribhegge den Konservatismus einerseits als „ständigen Prozeß der Zielveränderung" sieht, dann wieder von „unverzichtbaren" konservativen Forderungen spricht (S. 27).
Neue Erkenntnisse vermittelt Ribhegge also nicht, es sei denn die, daß der Weg zu einer historischen Kybernetik noch weit ist. Vielleicht läßt sich aber jetzt schon sagen, daß kybernetische Modelle — wie alle Modelle (wenn man darunter gedankliche Systeme versteht, die auf rein logische Schlüssigkeit und innere Ableitbarkeit abheben) — die Geschichtswissenschaft nur sehr begrenzt bereichern können, nämlich — durch Präsentation von Denkfiguren — auf dem Gebiet der Heuristik. Mehr darf die Historie von Theorien erwarten, die empirisch gehaltvoll und auf empirische Bewährung angelegt sind. So kann man z. B.demographische Theorien für die Bevölkerungsgeschichte weit leichter und fruchtbarer nutzen als kybernetische Modelle für die Konservatismus-Geschichte. Hohe Anerkennung verdient daher freilich auch der Mut, mit dem Ribhegge als einer der ersten (wenn nicht gar als erster) die Möglichkeit getestet hat, eine historische Theorie auf ein kybernetisches Modell zu beziehen.
V. Soziale und liberale Züge im historischen Konservatismus
Eine „deutsche Bilanz" des Konservatismus verspricht ein Piper-Sammelband, in dem M. Greiffenhagen und H. Grebing ihre oben erörterten Bücher resümieren, J. B. Müller über den deutschen Sozialkonservatismus referiert und Chr. Graf v. Krockow eine „Gegenbilanz" unter dem Titel „Der fehlende Konservatismus" zieht
Sozialkonservatismus Quellennah schildert Müller die Dreifrontenstellung, die der Sozialkonservatismus — bis zu seinem Verebben in der Weimarer Republik — zwischen Liberalismus, Sozialismus und (immobilem) Konservatismus eingenommen hat. Allerdings zeichnet er ein wohl zu stationäres und einheitliches Bild sozialkonservativer Forderungen (S. 73 bis 77: gerechtere Einkommens-und Vermögensverteilung, Entwicklung von Produktions-, Handels-und Konsumgenossenschaften, demokratische Fabrikverfassung, Verstaatlichung bestimmter Wirtschaftszweige, Idee des „sozialen Königtums"). Wenn auch allen konservativen Sozialreformern das Ziel gemeinsam war, „ohne radikale Umwälzung der bürgerlichen Eigentumsordnung die sich widerstreitenden Interessen zwischen der besitzenden und der besitzlosen Klasse zum Ausgleich" zu bringen (S. 67), so sind doch andererseits Entwicklungen (z. B.der Übergang vom Sozialreform-zum Sozialpolitik-Leitbild des sozialen Katholizismus) und Differenzierungen nicht zu übersehen (z. B. brachten nicht alle Sozialkonservativen dem „Staat" viel Vertrauen entgegen, und auch auf die Idee des „sozialen Königtums" setzten manche — besonders Radowitz, den Müller unberücksichtigt läßt — nicht viel Hoffnung; die Forderung nach einer demokratischen Fabrikverfassung war nicht allgemein). Dennoch bietet Müller eine wertvolle Ergänzung der oft auf den sterilen Konservatismus fixierten Konservatismus-Literatur. Mit Recht schränkt er allerdings ein, daß die Sozialkonservativen eine relativ schwache Minderheitsrichtung innerhalb des Gesamtphänomens „deutscher Konservatismus" gewesen sind, über die Tradition sozialkonservativen Denkens nach 1933 berichtet Müller nur knapp. Er sieht die Er-ben dieses Denkens im Kreisauer Kreis, nicht bei den Nationalsozialisten. In der Bundesrepublik schickt sich Müller zufolge die Sozialdemokratie an, die — von der CDU preisgegebene — „Erbschaft des Sozialkonservatismus zu übernehmen" (S. 89) — eine These, die der politischen Spannweite der beiden angesprochenen Richtungen schwerlich gerecht wird und die Müller auch nur andeutungsweise belegt.
Liberalkonservatismus Von Krockows Ansatz unterscheidet sich grundlegend von den Ausgangspunkten der bisher erörterten Autoren. Er liegt in der Diagnose, daß die stürmische Erweiterung der Veränderungspotentiale a) dem Handlungsspielraum des Menschen kaum mehr Grenzen setze und b) zugleich die Dimensionen und Intensitäten der Konfliktmöglichkeiten in zuvor unbegrenztem Maße ausdehne. Beide Tendenzen könnten „nur zu leicht zur Unterdrückung, zur Barbarei, zu radikaler Inhumanität führen, und dies ausgerechnet im Namen angeblich letzter Wahrheiten und umfassender Gerechtigkeitsideale, in deren Namen der Kampf um die radikale Veränderung des Bestehenden vorbereitet und geführt wird" (S. 101). Die Dialektik des Rationalismus, von der oben die Rede war, führt in dieser Sicht zu einer Neu-bestimmung von „Konservatismus": Er behält die Qualität einer Gegenbewegung, bezogen aber nicht mehr auf das Demokratisierungspotential, sondern das Destruktionspotential der modernen Gesellschaft. Damit ist Raum geschaffen für ein Konservatismusverständnis, dessen Substanz nicht in verbissener Privilegienverteidigung, sondern in skeptischer Vernünftigkeit und geschichtlicher Erfahrung liegt: der „produktive Veränderungen" dadurch ermöglicht, daß er sie gegen die Gefahren der Willkür und des Despotismus absichert (S. 99); der vor allem skeptisch ist gegen „Ideologien des . Letzten'", die — zumal in Verbindung mit bürokratischer Zentralisation der Macht — Freiheit und Offenheit ersticken (S. 107). Ein „liberaler Konservatismus" also — wie v. Krockow ihn nennt —, der nicht den Wandel perhorresziert, wohl aber den Leichtsinn, „ohne Bremsen forsch zu fahren" (S. 116).
Daß ein derartiger Konservatismus keine bloße Denkmöglichkeit ist, sondern historisch verifiziert werden kann, sucht v. Krockow durch eine Interpretation Burkes, der Federalists und Tocquevilles zu zeigen. Indem er auf klassische außerdeutsche Konservative zurückgreift, eröffnet er zugleich die Gegenbilanz dieses in Deutschland „fehlenden Konservatismus" (S. 99): Während die Verteidigung materieller Privilegien und politischer Vorzugsstellungen die deutsche Geschichte verhängnisvoll stark geprägt habe, weise der Liberalkonservatismus ein „historisches Defizit" auf. — Diese These wird auch der nicht in Abrede stellen, der eine reformkonservative Tradition in Deutschland durchaus nicht „fehlen" sieht; daß sie hier schwächer ausgeprägt ist als im angelsächsischen Raum, ist jedenfalls unbestreitbar. Die Frage, welche Gründe diese Sonderentwicklung bewirkt haben, prüft v. Krockow nicht näher. Vielleicht darf man erwarten, daß sie in der angekündigten Ausarbeitung des Aufsatzes stärker im Vordergrund steht damit die Erörterung theoretischer Legitimität des Liberalkonservatismus vertieft wird durch einen historischen Aufweis von Bedingungen, unter denen er Wirksamkeit entfalten kann — Da das demokratische Verfassungssystem heute zu diesen Bedingungen zählt, weist v. Krockow dem Liberalkonservatismus u. a. die Funktion zu:
ein Widerlager zu bilden gegen leichtfertigen Umgang mit „formgerechten Verfahren und bestehenden Verfassungsprinzipien zugunsten sei es auch noch so dringender Aktionen und hehrer Ziele" (S. 115). Wie aktuell eine solche Funktionsbestimmung ist, könnte vielfältig demonstriert werden. Es genüge jedoch der Hinweis auf eine neuere sozialwissenschaftliche Veröffentlichung, die die „spezifische Legalstruktur" der „westlichen Nationalstaaten" allein unter der Kategorie der Gewalt faßt und von da aus „das Politikum institutionalisierter, , legitimer'Gewalt" und „das Politikum nicht institutionalisierter illegitimer Gewalt" auf eine Stufe stellt: Das Monopol legitimer Gewaltanwendung durch den (Rechts-) Staat, das weithin als eine der bewahrenswertesten Errungenschaften der Neuzeit gilt, ist damit — wenn nicht explizit, so doch im Prinzip — zur Disposition gestellt — Hatte Greiffenhagen (S. 81) festgehalten, daß der Rationalismus in der Gesellschaft „eine nach Maßgabe rationaler Entwürfe zu treffende Versuchsanordnung“ sehe, so bestimmt es v. Krockow zur konservativen Aufgabe, dafür zu sorgen, daß in diese Versuchsanordnung keine unübersehbaren Risiken eingebaut werden.
VI. Aufgeklärter Konservatismus?
Ein von G. -K. Kaltenbrunner unter dem Titel „Rekonstruktion des Konservatismus" herausgegebener Sammelband vereinigt 24 (mit zwei Ausnahmen bisher unveröffentlichte) Abhandlungen zum Gegenstand „europäischer Konservatismus" — nur mühsam gebändigt durch die Dreiteilung: I. Zur Theorie des Konservatismus, II. Zur Geschichte des Konservatismus, III. Gestalten und Probleme des Konservatismus. Ein großer Teil der Beiträge gilt der Geschichte des Konservatismus in einzelnen europäischen Ländern; dabei erreichen nicht alle das vorbildliche Niveau der nicht nur deskriptiven, sondern auch erklärungsstarken Studie von E. Gruner über den Konservatismus in der Schweiz. Die große Vielfalt der übrigen Beiträge — von R. A. Kanns Reflexion über die Begriffe Konservatismus, Restauration, Reaktion über M. Puders Essay „Marx und Engels als konservative Den-ker" bis hin zu A. Dempfs Betrachtung „Reichskunst und konservative Ästhetik" — läßt sich hier kaum andeuten. Der Band ist insofern „interdisziplinär", als Autoren aus sieben Fachrichtungen daran mitgearbeitet ha-ben; aufgrund ihres Selbstverständnisses können sie zum größeren Teil — jedoch nicht ausnahmslos — als Konservatismus-freundlich gelten
Den für die Diskussion wohl fruchtbarsten Beitrag liefert — mit dem Einleitungsaufsatz „Der schwierige Konservatismus" — der Herausgeber selbst. Kaltenbrunner geht davon aus, daß „bestimmte Formen von konservativer Ideologie und Programmatik, wie sie in den letzten 150 Jahren vor allem in Deutschland formuliert wurden, spätestens seit dem Aufstieg und Untergang des Hitler-Reiches nicht mehr als politische Orientierung und Alternative möglich" seien (S. 13/14). Um so entschiedener versteht sich sein Beitrag als Widerpart zu den vorherrschenden Versuchen, Konservatismus allein auf überholte Positionen festzulegen. Um die „Bedingungen der Möglichkeit und Legitimität eines Konservatismus im zu Ende gehenden 20. Jahrhun-dert" zu bestimmen (S. 24), unterzieht er zunächst einige gängige Konservatismus-Definitionen (Reaktion auf die Französische Revolution, zeitloses System inhaltlich fixierter Werte und Ideale) der Kritik und entfaltet sodann in mehreren Schritten einen eigenen Deutungsansatz: a) Den gedanklichen Ausgangspunkt bilden anthropologische Voraussetzungen: Die Angewiesenheit des Menschen auf die haltende Macht von Dauer und Tradition (die bewahrten Fortschritt darstelle), von intakter (wenngleich nicht statischer ) Ordnung und Autorität.
b) Den Schluß von diesen weitgehend relativistischen Voraussetzungen auf eine bestimmte soziale Ordnung (und damit den Fehler dogmatischer Konservativer) vermeidet Kaltenbrunner, indem er streng zwischen dem möglichen apologetischen (soziale und politische Vorzugsstellungen verteidigenden) und dem „transzendentalsoziologischen" Gehalt von Konservatismus unterscheidet: Dieser liege in der „Einsicht in die Bedingungen intakter Institutionen und nichtkatastrophischen sozialen Wandels, wobei die Materie dessen, was jeweils institutionalisiert und umgewandelt wird, von der konkreten historischen Situation abhängig ist" (S. 45).
c) Der Konservatismus, dem Kaltenbrunners Plädoyer gilt, ist demzufolge „eine in bestimmten Krisensituationen immer wiederkehrende Möglichkeit ethisch-politisch-intellektuellen Engagements" (S. 39), welches vor katastrophischem Wandel zu bewahren sucht, indem es die „kreatürliche Schwäche des genus humanum", die „Konstanten der mensch-lichen Natur" und die „elementaren Bedingungen gesellschaftlicher Stabilität" in Rechnung stellt; welches daher nicht den Wandel schlechthin verneint (vielmehr tragen und induzieren kann), wohl aber durch die beständige Frage hemmt, „bis zu welchem Ende fortzuschreiten sei, welche Kosten daraus entstehen, welche Dinge dabei verlorengehen" (S. 53).
Dieser — in Kaltenbrunners Terminologie — „neue, aufgeklärte Konservatismus" liegt also auf einer anderen Ebene als konkurrierende politische Programme, denn er ist nicht auf ein bestimmtes soziales Modell festgelegt und kann von unterschiedlichen Richtungen rezipiert werden Er ist aber auch nicht der Be-liebigkeit preisgegeben, insofern Fortschrittsbewahrung, nichtkatastrophischer Wandel und anthropologische Konstanten auf Grenzen verweisen Konservatismus läge mithin nicht in einer antirationalen oder antidemokratischen, sondern in einer antiradikalen Haltung bzw. mit Kaltenbrunners Worten: im Widerstand gegen jede Haltung, der die Möglichkeit katastrophischen Wandels innewohnt. Auch dem, der Kaltenbrunners Prämissen für plausibel hält, stellt sich nun allerdings die entscheidende Frage, ob ein so weit gefaßtes Konservatismusverständnis konkrete Trennschärfe und Relevanz erweisen kann. Diese Frage glaubt Kaltenbrunner mit Verweis auf gegenwärtige Tendenzen, die „auf ein praktisches Bedürfnis nach einem konservativen Ansatz hindeuten" (S. 49), positiv beantworten zu können:
a) Das Strukturgesetz industrieller Gesellschaft selbst — angelegt auf ständige Wandlungen in allen Lebensbereichen, aber auch angewiesen auf intakte Koordinierungs-, Integrations-und Stabilisierungsfunktionen — erfordere ein konservatives Korrektiv.
b) Die Resultate der neuzeitlichen aufklärerischen Emanzipation (wie Menschenrechte, Gewissensfreiheit, Rechtsstaat) bedürften, da sie sich nicht von selbst verstehen, sondern immer wieder neu gesichert werden müßten, des konservativen Widerstands gegen Dehumanisierung und Barbarei.
c) Die wachsende thermonukleare, ökologische (und wie man ergänzen kann: psycho-trope sowie genetisch-manipulative) Bedrohung des Menschen verlange nach einer vis conservandi.
d) Unter konservativem Vorzeichen stünden einige „bemerkenswerte Wandlungen im ideellen Haushalt der allerletzten Jahre": von der Verdrängung des subjektivistischen Existentialismus durch den Stukturalismus bis hin zur skeptischen Wende Max Horkheimers, der neben die Notwendigkeit der Veränderung zunehmend die Notwendigkeit der Erhaltung treten sah
VII. Der kompromittierte Fortschritt
Sand im Getriebe des Fortschritts? Wer Konservatismus so assoziiert, wird sein Vorverständnis in Frage stellen lassen müssen. Denn v. Krockows und Kaltenbrunners Erwägungen zeigen zumindest dies: „Fortschritt" ist eine so problematische Größe geworden, daß mit der Dichotomie fortschrittlich-konservativ nicht mehr viel gewonnen ist. Sieht man genauer hin, so findet man daher durchaus „konservative" Elemente in „progressiven" Positionen der Gegenwart Die . konservative'Einsicht, daß man nicht „ungestraft in Kreisläufe und Gesetzlichkeiten der Natur eingreifen" kann konservatives Engagement für Erhaltung „gewachsener" Gegenden und „organische" Anlage von Wohnvierteln, für „personale" Sicht des Menschen, für Ruhe und Muße die konservative (freilich ex-trem mißbrauchsgefährdete) „Idee des Opfers" — dies alles findet man zunehmend bei solchen, die sich als progressiv verstehen. Die Konturen verschwimmen noch mehr, wenn man Horkheimer darin folgt, daß der „wahre Revolutionär" dem „wahren Konservativen" verwandt sei, weil beide gegen die Vereinnahmung durch „totalitäre Bürokratie" angehen
Umgekehrt wird z. B.der Fortschrittsmythos ungehemmten Wirtschaftswachstums eher von traditionell Konservativen (sowie sozialistischen Staaten) hochgehalten, die zugleich den alten konservativen Gedanken preisgegeben haben, daß Ökonomie nicht nur an der Produktionsquantität, sondern auch an ethischen Maßstäben gemessen werden müsse
Da sich in dieser Situation der Gegensatz konservativ-progressiv als ein zu grober Raster erweist, ist die von v. Krockow und Kaltenbrunner in Rechung gestellte Synthese von Aufklärung und Konservatismus bedenkenswert Wissenschaftstheoretisch hat der Kritische Rationalismus hier längst eine Brükke geschlagen, indem er konsequent auf einer Prämisse aufbaut, die für konservatives Den-ken konstitutiv ist: die Fehlbarkeit menschlicher Vernunft. Auf Grundelemente dieses Wissenschaftsverständnisses wäre aufgeklärter Konservatismus daher angewiesen wenngleich manche Konservative sich anscheinend von einem Verständnis der Wissenschaft als „Wesensschau" nicht lossagen können und hierdurch — ungewollt — in negativer Koalition mit Verfechtern der Kritischen Theorie stehen. — Im Gegensatz zu Ribhegges oben erwähnter Prämisse würde dieser aufgeklärte Konservatismus sehr dezidiert „Zukunft als Zielinformation" erfassen.
Wenn man aufgrund von sozialen und technologischen Bedingungen, die insbesondere J.
K. Galbraith weitgehend plausibel entfaltet hat davon ausgeht, daß die Zukunft industrieller Gesellschaften zunehmend von langfristigen Planungen und Kollektivaufgaben bestimmt sein wird, so ist zugleich eine wachsende Dichte des Netzes zu erwarten, in dem der einzelne und die kleinen Sozialgebilde erfaßt und verwaltet werden. Angesichts dieser Entwicklung läge aufgeklärt-konservatives Engagement vor allem darin, 1. grundlegende freiheitliche Errungenschaften der Neuzeit und der Moderne in die Epoche verstärkter Planung und gesteigerter politischer Verfügung hinüberzuretten — ohne jedoch den weitgehend vorindustriell orientierten Selbständigkeitskodex des „alten Mittelstandes"
zu kanonisieren. Er hätte 2. ein Umschlagen des technischen Fortschritts ins Unmenschliche zu verhindern — ohne jedoch einer ebenso illusionären wie unverantwortlichen Technik-Feindschaft zu verfallen. Bewahrenden Engagements wert wäre zugleich 3. ein Grundstock von Moralintentionen, die freilich schon heute so sehr in die Defensive gedrängt sind, daß sie — wie I. Fetscher kürzlich treffend festgestellt hat — günstigstenfalls als „altmodisch und komisch" gel-ten, Fetscher nennt einige Beispiele: die Wertschätzung „ehelicher und kindlicher Treue", der „Tätigkeit der Hausfrau und Mutter", der persönlichen Verantwortlichkeit — entgegen dem Trend, jegliches Verhalten und Fehlverhalten auf soziale Wurzeln zu reduzieren, schließlich und vor allem „das Recht, man selbst zu bleiben“ Diese Beispielsreihe ließe sich erweitern — z. B. um die Ach-tung vor dem Leben, auch dem ungeborenen. Aufgeklärter Konservatismus könnte mithin eine Chance sein, dem Trilemma von aufschäumender Gegenaufklärung rigidem Dogmatismus und einem aufs technische Funktionieren reduziertem Gesellschaftsverständnis entgegenzuwirken. Die Gefahr ist freilich groß, daß mit der vorherrschenden, extrem negativen Besetzung des Wortes „konservativ" auch die Zerstörung dieser Chance einhergeht. Aus diesem Grunde mehren sich neuerdings in auffälliger Weise Stimmen sehr unterschiedlicher Provenienz, die dem „Konservatismus" neue Respektabilität zu verleihen suchen: die vor „fahrlässigem Umgang" mit dem Wort konservativ warnen „Aufklärung als konservative Aufgabe" reklamieren auf die Legitimität eines „demokrati”) sehen" Konservatismus hinweisen und sogar schon — nach dem Existentialismus der fünfziger und dem Neomarxismus der sechziger Jahre — ein „Jahrzehnt des neuen Konservatismus" heraufziehen sehen Diese Prognose ist jedoch zumindest verfrüht, denn noch besteht über die Konturen dieses Konservatismus und die geschichtliche Tradition, die ihm zukommt, nicht genügend Klarheit und Konsens. Aber warum sollte in einer Zeit, „da es Mittel gibt, durch die sich die Menschheit selbst zerstören kann, und da der Fortschritt in Anführungszeichen geschrieben werden muß, weil er mehr zu zerstören beginnt als er an Vorteilen bringt" — warum sollte in einer solchen Zeit der Aufweis unmöglich sein, daß Konservatismus etwas anderes bedeuten kann als alldeutschen Chauvinismus und das Hängen am Privileg?