I. Einleitung
Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist, blickt man auf ihre nun bald 25jährige Geschichte zurück, einem außerordentlich tiefgreifenden und vielfältigen Wandel unterworfen gewesen — zwar nicht im Sinne einer spontanen grundsätzlichen Veränderung ihrer Wertentscheidungen, wohl aber in Form einer kontinuierlichen Wandlung des normativen Anspruchs.
Im Mittelpunkt dieser Entwicklung steht das bundesstaatliche System Dieses ist durch die weitaus meisten der — im Vergleich mit anderen westlichen Verfassungen häufigen — seither erfolgten Änderungen des Verfassungstextes betroffen worden. Nun läßt sich die Statik oder die Dynamik eines Verfassungswandels nicht schlechthin aus einem Vergleich der Anzahl ausdrücklicher Verfassungsänderungen ablesen. Es kann sich in der Häufigkeit der Änderungen des Verfassungstextes eine Verfassungstradition niederschlagen, die es verbietet, daß sich in weiten Bereichen ein nachhaltiger stillschweigender oder ungeschriebener Verfassungswandel vollzieht. Die kontinental-europäische Rechtstradition bewirkt in der Tat einen stärkeren Hang bzw. auch eine stärkere Notwendigkeit INHALT I. Einleitung II. Die Frage der Kontinuität föderalistischen Denkens III. Föderalismus als funktionale Notwendigkeit IV. Einflüsse durch Kreise der West-Emigranten V. Das anti-preußische Grundklima VI. Die neue Führungsrolle des Katholizismus VII. Die historische Priorität der Länder VIII. Die Rahmenbedingungen der Alliierten IX. Schlußbemerkung zu formalen legislatorischen Bemühungen, als dieses dem anglo-amerikanischen Rechtskreis eigen ist. Aber auch ein Blick auf den ungeschriebenen Verfassungswandel in der Bundesrepublik, wie er sich nicht zuletzt unter Mitwirkung des Bundesverfassungsgerichts vollzogen hat macht deutlich, daß die Gestaltung des bundesstaatlichen Systems den stärksten Veränderungen unterworfen war. Hinzu kommt ein verändertes Verständnis hinsichtlich der Legitimation des bundesstaatlichen Föderalismus im Sinne einer Vernachlässigung historischer Begründungsversuche zugunsten einer Betonung seiner gewaltenteilenden Funktionen
Dabei beeinflussen Veränderungen der bundesstaatlichen Struktur zunehmend auch andere Verfassungsbereiche des politischen Gesamtsystems. So findet es sorgenvolle Aufmerksamkeit, daß der Ausbau einer Vielzahl von Koordinierungsorganen zwischen den Ländern oder den Ländern und dem Bund, wodurch die Diskrepanz zwischen Länderkompetenzen einerseits und über den Länderbereich hinausweisenden Aufgabenstellungen andererseits überbrückt werden soll, leicht zu Lasten des Einflusses der einzelnen Länderparlamente geht. Der Wandel zu Formen des sogenannten „kooperativen Föderalismus" vielfach als Möglichkeit eines zeitgemäßen Föderalismus gepriesen, erweist sich zunehmend auch als bedeutsam für den Bereich der horizontalen Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive
Schließlich verdient Beachtung, daß die von verschiedener Seite erhobene Forderung nach einer Gesamtrevision des Grundgesetzes zum zentralen Anliegen eine Neugestaltung des Verhältnisses von Bund und Ländern hat. Gleiches gilt für die Enquete-Kommission . Verfassungsreform'des Bundestages, wo nach den Worten des Abgeordneten Apel „Fragen des Bund-Länder-Verhältnisses konkret einer der wichtigsten Punkte sind" Diesen Gegebenheiten steht andererseits gegenüber, daß im Grundgesetz durch die Artikel 20 und 79 Abs. 3 der Bundesstaat zu einem der Kernverfassungsprinzipien erhoben und mit einer Bestandsgarantie versehen worden ist. Es mag daher zunächst erstaunen, daß gerade dieser Verfassungsbereich der stärksten Dynamik unterliegt.
Man könnte meinen, für den Bereich des Bundesstaates hätten die , Verfassungsväter'die zukünftigen Entwicklungstendenzen nicht voll erfaßt. Oder kamen etwa vor Gründung der Bundesrepublik zusätzliche Faktoren zum Tragen, die sich aus der spezifischen Nachkriegssituation heraus erklären lassen? Jedenfalls rechtfertigt es sich, einmal den Blick auf die Grundelemente und Komponenten zu richten, welche die Föderalismusdiskussion — und zwar speziell die auf die innerstaatliche Struktur bezogene — in der Phase nach dem Zusammenbruch bis zum Zeitpunkt des Zusammentritts des Parlamentarischen Rates maßgeblich beeinflußt haben. Gewiß wäre es verkehrt, die schließlich im Grundgesetz von 1949 getroffenen Entscheidungen lediglich als eine legislatorische Umsetzung von schon zuvor deutscherseits entwickelten Meinungsbildern aufzufassen. Dazu waren bereits die vielschich-tigen Einflüsse der Westalliierten gerade zu diesem Verfassungsbereich auf den Parlamentarischen Rat zu nachhaltig. Wohl aber erschließt sich andererseits das Verständnis der im Grundgesetz getroffenen Entscheidungen erst aus der zusätzlichen Einbeziehung der bereits vor dem vorhandenen geistigen und machtmäßigen Vorformungen. Es sollen dabei nachfolgend in erster Linie die grundsätzlichen Bestimmungsfaktoren, welche das Meinungsbild beeinflußt haben, betrachtet werden. Nicht hingegen ist es in dem vorgegebenen Rahmen möglich, die vielfältigen programmatischen Äußerungen der Träger der Meinungsbildung in den politischen Parteien und Massenmedien selbst ausführlich darzustellen 10). Zudem kann es sich hier auch nur darum handeln, die Hauptaspekte der für die Föderalismusdiskussion maßgeblichen Faktoren zu erfassen.
II. Die Frage der Kontinuität föderalistischen Denkens
Die Diskrepanz zwischen einer in weiten Kreisen der Bevölkerung nach 1945 zunächst vorherrschenden antiföderalistischen Grund-stimmung einerseits 11) und dem im Gegensatz hierzu weitverbreiteten föderalistischen Anliegen in Kreisen von Politikern, Publizisten und derjenigen Staatsrechtler, die in den ersten Jahren nach dem Kriege Gelegenheit zur Veröffentlichung ihrer Schriften erhielten 12), wirft die Frage nach der Kontinuität föderalistischer Gedankengänge auf. Woher kam das föderalistische Engagement maßgeblicher meinungsbildender Kreise? Haben wir es hier mit einem Wiederanknüpfen an frühere Entwicklungen zu tun, die lediglich durch das Dritte Reich un Zudem kann es sich hier auch nur darum handeln, die Hauptaspekte der für die Föderalismusdiskussion maßgeblichen Faktoren zu erfassen.
II. Die Frage der Kontinuität föderalistischen Denkens
Die Diskrepanz zwischen einer in weiten Kreisen der Bevölkerung nach 1945 zunächst vorherrschenden antiföderalistischen Grund-stimmung einerseits und dem im Gegensatz hierzu weitverbreiteten föderalistischen Anliegen in Kreisen von Politikern, Publizisten und derjenigen Staatsrechtler, die in den ersten Jahren nach dem Kriege Gelegenheit zur Veröffentlichung ihrer Schriften erhielten wirft die Frage nach der Kontinuität föderalistischer Gedankengänge auf. Woher kam das föderalistische Engagement maßgeblicher meinungsbildender Kreise? Haben wir es hier mit einem Wiederanknüpfen an frühere Entwicklungen zu tun, die lediglich durch das Dritte Reich unterbrochen worden wären? War es ein neuer geistiger Aufbruch, der aus eigenem Antrieb erfolgte? Oder stoßen wir hier möglicherweise, um das andere Extrem zu kennzeichnen, lediglich auf eine von einigen Besatzungsmächten initiierte und kanalisierte Publizitätskampagne?
Ein historischer Rückblick auf die Entwicklung föderalistischer Gedankengänge in der Weimarer Zeit zeigt, daß sich das Aufleben dieser Ideen in den ersten Nachkriegsjahren jedenfalls nicht auf eine Kontinuität berufen konnte, die lediglich durch den Nationalsozialismus unterbrochen worden wäre.
Die Betrachtung der Entwicklung des föderalistischen, spezifisch bundesstaatlichen Prinzips in der Weimarer Republik offenbart nämlich eine stetige Abkehr vom Gedanken des Bundesstaates. Als einer der Endpunkte dieser Entwicklung, welcher die bayerische Regierung durch wiederholte Interventionen zu begegnen suchte 13), stand der sogenannte „Preußenschlag", die Absetzung des preußischen Kabinetts und die Unterstellung Preußens unter einen Reichskommissar 14). Diesem antiföderalistischen Zug in der Verfassungswirklichkeit der Weimarer Ära entsprach eine zunehmende Herabstufung bundesstaatlicher und föderalistischer Forderungen in den Programmen selbst derjenigen Parteien, die ursprünglich keineswegs prinzipiell unitarisch dachten 15). Bei der Reichs-tags-Debatte über das Ermächtigungsgesetz, welches in entscheidendem Umfang mit in die Befugnisse der Länder eingriff, fand der föderalistische Gedanke nur noch bei Ritter von Lex als dem Vertreter der Bayerischen Volkspartei Erwähnung Auch im Bereich der Staatsrechtslehre war die Mehrheit der führenden Vertreter ihres Faches unitarisch oder nur sehr maßvoll föderalistisch gesinnt. Entschiedene Verteidiger des föderalistischen Prinzips kamen im wesentlichen aus Kreisen, die der bayerischen Regierung nahestanden Aber auch ein semantischer Ansatz beleuchtet diese Entwicklung. Von Gronau weist in seiner Dissertation über den Verfassungskonvent von Herrenchiemsee auf den Bedeutungswandel hin, den der Begriff , Föderalismus’ seit der Bismarckschen Reichsgründung erfahren habe. Gegenüber dem sich ausweitenden Begriff , Partikularismus‘ sei der , Föderalismus’-Begriff im Sprachgebrauch zunehmend im Sinne einheitsbildender Vorstellungen eingeengt worden Was von Gronau von semantischem Ansatz her feststellt, erfaßt Merkl allgemein historisch in der Bemerkung, daß trotz einer „klar hervortretenden föderalistischen Tradition", die bis ins Mittelalter zurückzuführen sei, „die Verfassungsänderungen der vorangegangenen 150 Jahre ... einem beständigen Zug zur Zentralisierung gefolgt“ seien, „bis das Naziregime Deutschland im Jahre 1934 in einen Einheitsstaat umwandelte“
Auch die Verfassungspläne des innerdeutschenWiderstandes vermitteln keine unmittelbar auf die Nachkriegszeit einwirkenden föderalistischen Tendenzen. Gewiß gab es während der nationalsozialistischen Herrschaft in Kreisen der innerdeutschen Widerstandsbewegung, vor allem des bürgerlichen Lagers, bemerkenswerte verfassungspolitische Ansätze, die auf föderalistischen Gedanken fußten. Dem lag insbesondere das Bemühen zugrunde, der Staatsallmacht des nationalsozialistischen Herrschaftssystems den Gedanken der Selbstverwaltung, welcher der Einzel-initiative größere Freiheiten ermöglichen sollte, entgegenzusetzen. Außerdem wurden hier föderalistische Konzepte als Grundlage für eine europäische Ordnung und damit gleichzeitig als Alternative zum hegemonialen Europa-Konzept der nationalsozialistischen Regierung entwickelt Die unmittelbaren Einflüsse dieser Kreise auf die politischen und staatsrechtlichen Diskussionen der ersten Nachkriegsjahre blieben jedoch sehr begrenzt. Der vorwiegend konservative, zum Teil trotz des Widerstandes gegen das Hitler-Regime bewußt nationale Akzent der Programmatik bürgerlicher Widerstandskreise paßte nicht in die Nachkriegslandschaft. Das Bild des „Anderen Deutschlands", an dem maßgeblich hohe Offiziere ihren Anteil hat-ten, fügte sich zudem nicht in die bei den Siegermächten vorherrschende Vorstellung von der schlechthin verbrecherischen Mentalität des deutschen Offizierskorps So wurde von deutscher Seite zwar die Tatsache des Widerstandes gegen Hitler nach und nach als Gegenantwort gegen die Deutschland treffende Kollektivschuldthese aufgegriffen des-sen eigentliche Programmatik hingegen blieb vernachläßigt. Auch schlugen sich zunächst selbst die formalen Aspekte des Widerstandes in der ersten Nachkriegsphase im Bewußtsein der Öffentlichkeit wie auch in der zeitge-schichtlichen Forschung nur sehr zögernd nieder. Erst im Zusammenhang mit der westdeutschen Wiederaufrüstung scheint das Phänomen des Widerstandes bürgerlicher, insbesondere auch militärischer Kreise im Hitler-Deutschland stärkere Beachtung gefunden zu haben. So vermitteln die Verfassungspläne des innerdeutschen Widerstandes im Hinblick auf ihren fehlenden Einfluß gleichfalls keine historische Kontinuität bezüglich föderalistischer Bestrebungen in der Zeit vor dem deutschen Zusammenbruch Zudem entstammten diese Gedankengänge weitgehend auch einem anderen Konnex als die Veröffentlichungen zu föderalistischen Fragen in der ersten Nachkriegszeit. Somit sind die Hauptursachen für das Aufblühen föderalistischer Gedanken nach dem Krieg in anderen Bereichen zu suchen, wie etwa in den spezifischen Gegebenheiten der Nachkriegszeit und in außerhalb von Deutschland vollzogenen bzw. begünstigten Entwicklungen
III. Föderalismus als funktionale Notwendigkeit?
Zur Erklärung des Aufblühens föderalistischer Bestrebungen nach dem Kriege wäre etwa eine funktionalistische Deutung in Betracht zu ziehen, wonach sich -das föderalisti sche Prinzip den deutschen politischen Kräf -ten in der spezifischen Lage der Nachkriegszeit besonders augenfällig als geeignet angeboten hätte, die umfangreichen Nachkriegsprobleme zu lösen.
Aber auch ein derartiger Versuch führt nicht zu einem befriedigenden Ergebnis. Gewiß läßt es sich nicht von der Hand weisen, daß Tendenzen zu föderalistischen Strukturen in der ersten Nachkriegsphase teilweise auch als Gegenschlag gegen den nationalsozialistischen als ein Einheitsstaat, Rückschwingen des Pendels im geschichtlichen Rhythmus zu deuten sind. Bereits in den Plänen des innerdeutschen Widerstandes waren dererlei ja Neigungen sichtbar geworden. Dennoch bleibt die Frage, ob nicht diese Tendenzen, wenn sie unabhängig von den Einwirkungen der Westalliierten gewesen wären, durch die und Umstände der anstehenden Sachprobleme ersten. Nachkriegsphase hätten aufgefangen werden müssen.
den Die mit Kriegsereignissen verbundene Bevölkerungsverschiebung, die größte in der jüngsten deutschen Geschichte, hatte gebietsmäßige Bindungen stark gelockert und damit das Gewicht historischer und kultureller Begründungen gebietsföderalistischer Gestaltungen erheblich vermindert. Die Notlage und die Versorgungsprobleme der damaligen Zeit wurden durch jede regionale Abgrenzung nur noch vergrößert. Denn gebietsmäßige Abgrenzungen wirkten sich bei den damaligen Transport-und Kommunikationsbedingungen aufs Ganze gesehen für alle Beteiligten zum überdies Nachteil aus. verstärkte eine zu enge räumliche Begrenzung die Abhängigkeit von den Besatzungsmächten. Je kleiner ein dessen Land und je unausgewogener Wirtschaftsstruktur war, um so geringer blieb der ohnehin schmale Spielraum deutscher Politiker gegenüber den Alliierten. Das sollte sich insbesondere im Hinblick auf die kleinsten Länder, nämlich die Stadtstaaten, erweisen. So waren es die Regierungschefs dieser kleinsten Länder, die im Hinblick auf regionale Sonderprobleme am ehesten die Disziplin ihrer eigenen Partei durchbrachen und auf den von den westlichen Besatzungsmächten geförderten Kurs einer Weststaatsbildung einschwenkten. Gegenüber den von ihrer Parteiführung ins Auge gefaßten langfristigen Zielen sahen sie sich genötigt, Tagesund regionalen Problemen den Vorrang einzuräumen. Die mannigfachen Konflikte zwischen Kaisen (Bremen), Brauer (Hamburg) und Reuter (Berlin) einerseits und der sozialdemokratischen Parteiführung um Kurt Schumacher andererseits vermögen das zu verdeutlichen. Kaisen selbst kennzeichnete den Kem dieser Konflikte später in seinen Memoiren mit dem Hin-weis, daß es zwischen Schumacher und ihm immer wieder um eine Frage gegangen sei: solle man abwarten oder handeln? „Dieses Abwarten war nicht nach meinem Sinn. Ich war damals angesichts der großen Not rings-um geradezu allergisch gegen das Wort , abwarten'. Ich fühlte mich von der grenzenlosen Verarmung auf allen Gebieten zum Handeln aufgerufen." Und weiter bemerkte Kai-sen; „An dieser Mahnung entzündete sich meine erste Kontroverse, die ich mit Kurt Schumacher hatte. Es sollten im Laufe der Zeit mehrere folgen. Immer aber ging es im Prinzip um dasselbe: Sollten wir handeln oder abwarten, um mehr zu bekommen? Ob es die Bildung der Länder, die Vereinigung der Zonen, die Entstehung der Bundesrepublik, den Europarat oder die EWG betraf, immer war es die gleiche Kontroverse, die sich zwischen Kurt Schumacher und mir entspann.“
Doch es gab noch weitere sachliche Gesichtspunkte, die geeignet gewesen wären, föderalistischen Absichten entgegenzuwirken. Der Krieg war schließlich vom ganzen deutschen Volke verloren worden und damit waren die Lasten der Niederlage gerechterweise auch von allen zu tragen. Hierzu zählte vor allem das Vertriebenenproblem. Hinzu kamen die Unklarheiten hinsichtlich der gebietsmäßigen Zukunft Deutschlands. Jede Ausrichtung an betont föderalistischen Modellen konnte die gesamtdeutschen Integrationskräfte schwächen und das Risiko einer Teilung Deutschlands verstärken. Somit zeigt eine funktionale Betrachtung, daß nach dem Zweiten Weltkrieg die sachlichen Gesichtspunkte, die sich auf deutscher Seite den Gegnern einer gebietsföderalistischen Lösung angeboten hätten, so gewichtig waren wie nie zuvor. Wenn solche Erwägungen in der amerikanischen Besatzungszone, ganz zu schweigen von der französischen, offensichtlich selbst kaum als Mindermeinung in Erscheinung traten, sondern lediglich in der britischen Zone sowie in Berlin und in der Ostzone, so läßt sich dieses nicht allein aus der in bezug auf die Beurteilung des Föderalismus historisch bedingten Kontroverse zwischen dem Süden und dem Westen einerseits und dem Osten wie dem Norden Deutschlands auf der anderen Seite erklären. Es müssen vielmehr die Gründe für den „fruchtbaren Boden Nachkriegs-Deutschlands" für den Föderalismus, wie es Merkl in einer Kapitel-Überschrift seiner Darstellung über „Die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland" kennzeichnet zusätzlich in anderen, spezifischen Gegebenheiten der Nachkriegszeit gesucht werden. „Die drastische Umkehr der Entwicklung vom Zentralismus zum Föderalismus" stellt sich somit vorrangig als ein Phänomen dar, dessen Erklärung aus der Betrachtung der deutschen Führungsschichten in den ersten Nachkriegsjahren und der sie bestimmenden Motive sowie der alliierten Einwirkungen gewonnen werden muß.
IV. Einflüsse durch Kreise der West-Emigranten
Besonderen Einfluß für die ideologische Rechtfertigung des Föderalismus und dessen Übertragung auf Konzepte für die Gestaltung Nachkriegsdeutschlands hatten Kreise deutscher Emigranten, die in den westlichen Ländern, vor allem in der USA und in der Schweiz, Asyl gefunden hatten. Wenn auch der Hinweis bei Merkl, daß „fast alle im Ausland lebenden Deutschen ...den Föderalismus als ein mögliches Heilmittel für das nach dem Kriege darniederliegende deutsche Staatswesen" vorschlugen als übertrieben gelten muß, so steht doch andererseits fest, daß in diesen Kreisen eine sehr nachhaltige Unterstützung föderalistischer Gedankengänge zu finden war. Viele einschlägige Abhandlungen entstanden bereits in der Emigration und wurden unmittelbar nach dem Kriege in Deutschland aufgelegt. Die Gründe für die starke Resonanz, welche der Föderalismus in Kreisen deutscher West-Emigranten fand, sind vielschichtig. Nicht zuletzt dürfte die bessere Kenntnis westlicher Verfassungsinstitutionen hierfür bedeutsam geworden sein. Spezifisch die enge Verbindung von Demokratie und Föderalismus im Verfassungsdenken der USA, wo bereits aus der Zeit der Entstehung der Verfassung her der Föderalismus als ein „Teilstück des demokratischen Glaubensbekenntnisses" verstanden wurde mag zu einer nachhaltigen Beschäftigung der in den Vereinigten Staaten weilenden deutschen Emigranten mit bundesstaatlichen Gedankengängen beigetragen haben. Ein weiterer Gesichtspunkt ergibt sich, wenn man bedenkt, daß in deutschen Emigrantenkreisen die Beschäftigung mit den Ursachen des Scheiterns der Weimarer Republik verständlicherweise eine herausragende Rolle gespielt hat. Auffallend ist hierbei, daß diese — zumindest im bürgerlichen Lager — vor-rangig auf vorhandene bzw. vermeintliche institutionelle Mängel der Verfassung, wie das Wahlrecht, die Stellung des Reichspräsidenten oder auch die mangelhafte föderalistische Durchgestaltung des Reiches, reduziert wurden. Eine Erklärung für die besondere Beachtung institutioneller Aspekte dürfte in der spezifischen psychologischen Situation zu suchen sein, der sich insbesondere während des Krieges viele Emigranten ausgesetzt sahen. Gegenüber der sich in Kreisen der deutschen Kriegsgegner zunehmend ausbreitenden These von der Kollektivschuld der Deutschen, wonach die Ursachen des Scheiterns der Weimarer Republik in der Psyche der Deutschen schlechthin angelegt seien, konnte vielen Emigranten die Betonung institutioneller Mängel als ein Argument gegen die letztlich auch sie selber treffende Propaganda dienen
Als weiterer bedeutsamer Aspekt der Föderalismusdiskussion erwies sich in den Ländern der alliierten Mächte das weitverbreitete antipreußische Grundklima.
V. Das anti-preußische Grundklima
Einer sozialpsychologisch begründeten Deutung des deutschen Volkscharakters verband sich bei den Kriegsgegnern häufig eine Vorstellung von der deutschen Geschichte und Gesellschaft, die in Preußen und seiner „Herrschaft über Deutschland" die Grundlage aller Übel sah. Preußischer Geist habe letztlich den deutschen Charakter verdorben. Im preußischen Generalstab, im Junkertum, im Berliner Zentralismus hätten alle unguten Tendenzen deutscher Geschichte über den positiver zu bewertenden süddeutschen Föderalismus und Liberalismus gesiegt. Es gelte daher, als erste Maßnahme dieses Grundübel Preußen ein für allemal zu vernichten Indem man so die Daseinsberechtigung Preußens, welches sich immerhin für das Deutsche Reich als einigende Klammer erwiesen hatte, verneinte, wurde damit aber zugleich die Frage einer territorialen Neugestaltung des deutschen Raumes mit aufgeworfen. Die antipreußische Haltung war nicht allein auf die USA beschränkt, die im Hinblick darauf, daß sie ihren Kriegseintritt der Öffentlichkeit gegenüber nicht überzeugend aus dem Gesichtspunkt einer unmittelbaren Bedrohung des Landes zu rechtfertigen vermochten, in besonderer Weise auf eine „Kreuzzugs" -Ideologie angewiesen waren. Sie beschränkte sich keinesfalls zusätzlich auf Frankreich, wo man das Problem Preußen al-lerdings weniger von einem sozialpsychologischen Ansatz her sah, also als Ausdruck einer Denkhaltung, die es durch ein großangelegtes Umerziehungsprogramm auszumerzen galt. In französischer Betrachtungsweise war das Problem Preußen vielmehr stärker gebietsbezogen und wurde vom französischen Sicherheitsbedürfnis her beurteilt. Zwar war es nach französischer Betrachtung gleichfalls preußischer Geist, welcher ganz Deutschland infiziert habe, allerdings mit der Einschränkung, daß der Grad der Infizierung mit der Entfernung von seinem geistigen Zentrum — Berlin — abnähmess). Die therapeutischen Maßnahmen, die es zu ergreifen galt, beschränkten sich daher aus französischer Sicht nicht primär auf ein großangelegtes Umerziehungsprogramm, sondern sie waren in erster Linie auf das Gebiet bezogen. Von hier ergab sich als Zielsetzung, Preußendeutschland unter selbstverständlicher Auflösung Preußens zu zerschlagen und ein für allemal durch Deutschlands Teilung bzw. extrem föderalistische Gestaltung sowie durch Abspaltung von deutschen Gebietsteilen und deren Eingliederung in das Gebiet der Nachbarländer dem eigenen Sicherheitsbedürfnis zu genügen. Im Sinne derartiger Vorstellungen traten im August 1945 nach einer Umfrage 78 0/o aller Franzosen für die Aufteilung Deutschlands ein
Doch auch in Großbritannien gab es einen starken antipreußischen Affekt. Churchill erklärte am 21. September 1943 vor dem britischen Unterhaus über die Preußen „Zweimal während unserer Lebzeit und dreimal in der unserer Väter haben sie die Welt in ihre Expansions-und Angriffskriege gestürzt. Sie verbinden in sich auf verhängnisvolle Weise die Eigenschaften des Kriegers mit denen des Sklaven. Auf Freiheit legen sie selbst keinen Wert... Deutschlands Herz ist Preußen. Dort liegt der Herd der immer wieder grassierenden Seuche ... Nazi-Tyrannei und preußischer Militarismus sind die beiden Hauptelemente deutschen Lebens, die restlos ausgetilgt werden müssen."
Wohl gab es deutsche Emigranten wie beispielsweise Arnold Brecht in den USA, der als Vertreter Preußens bei der 1928 eingesetzten Länderkonferenz zur Reichsreform eine herausragende Rolle gespielt hatte und nunmehr in der Emigration zwar um der Schaffung eines ausgewogenen Staatsgebildes willen die Auflösung Preußens empfahl, sich hingegen gleichzeitig gegen eine Verteufelung Preußens wandte. In einer während seiner Emigration in den Vereinigten Staaten im Jahre 1945 veröffentlichten Darstellung zum Thema , Federalism and regionalism in Germany'versuchte er dem amerikanischen Leser die Entwicklung und Problemstellung Deutschlands in einer Weise aufzuzeigen, welche diesem vor allem die Wesensunterschiede beider Verfassungsentwicklungen bewußt mach-te Dabei wandte sich Brecht auch gegen das Negativimage, das in der westlichen Welt mit dem Begriff . Prussianism'häufig verbunden wurde. Statt dessen verwies er darauf, daß der Nationalsozialismus in Preußen bei den jeweiligen Wahlen einen geringeren Stimmenanteil gewonnen habe als im Gesamtreich. Auch hätte sich die preußische Regierung stets auf eine Regierungsmehrheit demokratischer Mittelparteien stützen können Dem Negativbild der anglo-amerikanischen Welt setzte er die Begriffsinhalte entgegen, die sich im Deutschen mit der Bezeichnung . Preußentum'verbänden „Treue zum Land ohne Rücksicht auf dessen Armut, Ehrlichkeit in der Armut, Sparsamkeit und Genügsamkeit verbunden mit einem anständigen Auftreten in der Öffentlichkeit, Sauberkeit, Pflichtbewußtsein, Disziplin und Sachlichkeit, d. h. unpersönliche Hingabe an die gestellte Aufgabe oder an das zu lösende Problem.“
Solcherlei Stimmen dürfte allerdings in der mit Emotionen geladenen Atmosphäre des Krieges nur geringer Einfluß auf die Meinungsbildung im Lager der West-Alliierten beschieden gewesen sein. Wahrscheinlicher erscheint im Gegenteil, daß umgekehrt bei vielen Westemigranten die allgemeine Stimmung in den Asyl gewährenden Völkern nicht ohne Einfluß geblieben ist. Wieweit darüber hinaus konkrete und gezielte Einflußnahmen seitens der Westmächte auf einzelne Emigranten und Emigrantengruppen erfolgt sind, läßt sich bisher noch nicht abschließend überblicken. Wohl aber ist bekannt, daß in den Gesprächen, die Eden und Roosevelt im März 1943 in Washington über die Frage der Teilung Deutschlands geführt haben, wie auch auf der ersten Konferenz von Quebeck (19. — 24. 8. 1943) und auf der Moskauer Außenministerkonferenz vom Oktober 1943, der Gedanke eine Rolle gespielt hat, anstatt Deutschland von Seiten der Siegermächte gewaltsam zu teilen, dieses Ziel auf mittelbarem Wege zu erreichen, indem man deutsche Separatistenbestrebungen unterstützte, so daß am Ende die Alliierten nur noch die Zustimmung zur deutschen Volksmeinung zu geben hätten Daß derartige Überlegungen auf verschiedenen internationalen Konferenzen auf höchster Ebene nicht ohne eine gewisse reale Grundlage angestellt worden sein dürften, liegt auf der Hand. Hinzu kommt, daß der amerikanische Geheimdienst, beispielsweise in der Person von Allen Welsh Dulles, zu Emigranten wie Wilhelm Hoegner, welcher innerhalb der Sozialdemokratie den extrem föderalistischen Flügel verkörperte, oder auch zu F. A. Kramer, der später im Rheinischen Merkur einem extremen Föderalismus huldigte, enge Kontakte besessen hat
VI. Die neue Führungsrolle des Katholizismus
Darüber hinaus ist im Hinblick auf die Föderalismus-Problematik das Augenmerk auf eine bedeutsame Verschiebung des Einflusses geistiger Eliten zu werfen, die sich durch die Ereignisse des Jahres 1945 vollzogen hat. Erstmals seit der Bismarckschen Reichsgründung war es dem Katholizismus in den Westzonen gelungen, eine weltanschauliche und politische Führungsrolle zu übernehmen, was sich sowohl auf geistig-ideologischem Sektor wie auch im Hinblick auf die Einnahme entscheidender staatlicher Führungspositionen äußern sollte. Dem entsprach die Zurückdrängung protestantischer Einflüsse, die vor allem insbesondere in Preußen einen maßgeblichen Rückhalt gefunden hatten. Die an die Bis-marcksche Reichsgründungstradition anknüpfende deutsche Staatsrechtslehre wurde, wenn auch nicht völlig verdrängt, so doch zurück-* gedrängt. Katholisch-abendländische Vorstellungen gewannen entscheidend an Boden.
Für diesen Umstand zeichneten eine Anzahl von Gegebenheiten verantwortlich. Am naheliegendsten erscheint es, sich die Bedeutung der Separierung der vorwiegend protestantischen Ostgebiete vor Augen zu führen, wodurch sich das Verhältnis von protestantischer zu katholischer Bevölkerung stark ver-schob Hinzu kam der faktisch durch die Abtrennung der Kemprovinzen im Osten von Polen, die Erklärung Berlins zur Viermächtestadt sowie durch die Zonengrenzen und schließlich rechtlich durch Kontrollratsgesetz vollzogene Zerfall Preußens, das als Wahrerin der Reichstradition von 1871 und als machtmäßiger Hintergrund des deutschen Protestantismus gewirkt hatte. Weiter aber kam zum Tragen, daß es dem Katholizismus nach dem Zusammenbruch weitaus besser gelang als dem Protestantismus, die eigene Vergangenheit im Verhältnis zum Nationalsozialismus zu bewältigen und sich die Legitimation zum Handeln zu erhalten
Obwohl sich Protestantismus und Katholizismus in gleicher Weise teilweise mit dem Nationalsozialismus arrangiert hatten, aber auch andererseits aus dem Bereich beider Kirchen Widerstand geleistet worden war wurde der Protestantismus durch den Zusammenbruch und dessen Folgen weitaus stärker verunsichert als der Katholizismus. Äußerungen wie die des . Stuttgarter Schuldbekenntnisses', die der Rat der EKD auf seiner Tagung in Stuttgart vom 18. /19. Oktober 1945 bekanntmachte suchen im katholischen Bereich ihresgleichen. In der Stuttgarter Erklärung hieß es unter anderem: „Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregime seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben."
Dieser Haltung, die stark unter dem Einfluß des theologischen und politischen Denkens Karl Barths stand und einem bewußt evangelischen Politiker nur wenig Impulse zu verleihen mochte, auch den machtmäßigen Gegebenheiten im politischen Raum gerecht zu werden, stand auf katholischer Seite eine weitaus aktivistischere Denkweise gegenüber. Ihre theoretische Analyse, wie sie beispiels-weise in Äußerungen Konrad Adenauers wiederholt ihren Niederschlag fand ging vielfach von der Überzeugung aus, daß der Nationalsozialismus Auswirkung der zunehmend materialistischen Weltanschauung gewesen sei. Der „neuralgische Punkt", „die tiefsten Wurzeln der deutschen und mitteleuropäischen Katastrophe" lagen nach dieser Auffassung in einer „geistigen Fehlentwicklung“, die mit der Französischen Revolution eingesetzt und zu einem immer stärkeren Säkularisierungsprozeß geführt habe. Insofern seien der Marxismus, aber auch der Liberalismus, letztlich genauso wie der Nationalsozialismus Symptome derselben „Fehlentwicklung“, gleichermaßen austauschbare Früchte vom gleichen Stamm. Wenn auch durch die Ereignisse von 1945 der Nationalsozialismus ausgelöscht worden sei, so sei damit keineswegs dem zunehmenden materiellen Denken Einhalt geboten. Dem politischen Handeln seien daher noch wie vor entscheidende Aufgaben gestellt. Als weiterer Gesichtspunkt für den intellektuellen und politischen Machtzuwachs des Katholizismus verdient sein internationaler Zuschnitt gegenüber der nationalen Eingebundenheit des deutschen Protestantismus Beachtung. Die deutsche Niederlage mußte damit auch die protestantische Kirche als Organisation viel stärker treffen als die katholische Kirche in Deutschland. Letztere sah sich von Anfang an in der Lage, nach wie vor über internationale Querverbindungen zu verfügen und im Hinblick auf die Wiederentstehung des politischen Lebens organisatorische Hilfestellungen zu leisten.
Mit dem Zuwachs an Einfluß seitens des Katholizismus in Deutschland nach 1945 gewannen aber auch traditionelle föderalistische Anschauungen an Boden, die nicht zuletzt von der Interessenlage des Katholizismus her bestimmt waren. Im Jahre 1947 soll es 63 neue Vereinigungen, die sich spezifisch um den Föderalismus bemühten und die sich im August 1947 zum großen Teil zum . Bund Deutscher Föderalisten'zusammenschlossen, gegeben haben. Hierbei spielten katholische, abendländisch ausgerichtete Politiker, Publizisten und Verbandsvertreter eine maßgebliche Rolle Das föderalistische Denken dieser Kreise knüpfte an der mittelalterlichen , Ordo'-Idee an, die von einer Stufenordnung vom einzelnen her bis zur Weltordnung oder umgekehrt ausging. Ergänzt wurde diese Vorstellung durch die Lehre von der Subsidiarität, welche diese Stufenordnung gewissermaßen von unten her nach oben dachte. Letztere war verhältnismäßig spät, nämlich in der Sozialenzyklika Quadragesimo anno'im Jahre 1931 von Papst Pius XI, zu einem Hauptprinzip der Sozialtheorie deklariert worden Darüber hinaus war mit der Förderung föderalistischer Gedanken aber auch ein kulturpolitisches Anliegen verbunden gewesen. Danach hatte der Föderalismus als staatliches Ordnungsprinzip im deutschen Raum insbesondere auch dem Zwecke zu dienen, die vorrangig katholischen Gebiete in kultureller Hinsicht vor Einflüssen aus dem protestantischen Bereich abzuschirmen. Dieses Anliegen läßt sich aus der Zeit des Bismarckschen Kulturkampfes bis in die Gegenwart mit dem eifersüchtigen Beharren der Länder auf ihrer Kultur-, insbesondere Schulhoheit verfolgen
Schließlich verstanden sich die nach 1945 in katholischen Kreisen in starker Weise auflebenden föderalistischen Gedankengänge in nicht geringem Umfange als Teilstück eines Neuordnungsvorhabens im mitteleuropäischen Raum. Mit der Entmachtung der einigenden Klammer Preußens, auf welches katholische Autoren nochmals „jegliche seit dem 19. Jahrhundert... geübte Kritik, jegliches seit dem Kulturkampf vorhandene Ressentiment des süddeutschen und rheinischen Katholizismus" entluden und dem nunmehr die Alleinverantwortung für das Desaster der jüngsten deutschen Geschichte angelastet wurde schien sich eine Neuordnung anzubieten, die den Schwerpunkt auf den Katholizismus verlagerte. Mit der Anklage Preußens und des preußischen Zentralismus verband sich so „die Intention ..., die (katholischen) süd-und westdeutschen Gebiete künftig zu den politischen Zentren Deutschlands zu machen. Der nach 1945 von der katholischen Kirche erhobene spirituelle Führungsanspruch findet darin sein politisches Äquivalent" Diese Vorstellungen füllten in räumlicher Hinsicht einerseits nicht unbedingt voll das Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches aus, zum anderen aber griffen sie über die ursprünglichen Reichsgrenzen hinaus. Dabei lassen sich an großräumigen Konzepten letztlich zwei Hauptspielarten erkennen. Die eine orientierte sich vorrangig an der Vorstellung einer Nord-Süd-Achse und dachte Bayern die Mittelpunktfunktion eines politischen Verbandes zu, der nach seiner extremsten Variante bei möglicher Preisgabe der protestantischen Nord-und Ostgebiete weit in den Alpen-und Donauraum hineinragte Die andere Vorstellung war nach Westen hin orientiert und wollte den politischen Schwerpunkt in das Rheinland verlagern, jenes Gebiet, welches Walter Ferber nach dem Kriege als Heimat des abendländischen „politischen" und „geistigen Universa-lismus“, „des Abendlands Mitte", die stets vier der sieben Kurfürsten, die den römischen Kaiser wählten, gestellt habe, in Erinnerung brachte In diesem Denken wurzelte nicht zuletzt auch die politische Vorstellungswelt Konrad Adenauers
Die süddeutschen wie auch die rheinischen Konzepte basierten, wenn auch unterschiedlich variiert und durch die realen Gegebenheiten modifiziert, auf dem Gedanken einer Herabstufung der nationalen Staatlichkeit mittels des föderalistischen Prinzips, die den Umbau zu einer neuen räumlichen, nationale Grenzen überschreitenden Ordnung ermöglichte.
Neben dem durch den Einfluß von beachtenswerten Kreisen deutscher Westemigranten und dem durch den verstärkten Niederschlag spezifisch katholischer Gedankengänge geförderten föderalistischen Klima, welches durch die Auflösung Preußens zusätzlich begünstigt wurde, kam als weiterer bedeutsamer Um-stand hinzu, daß der Wiederaufbau des politischen Lebens mit Hilfe der Besatzungsmächte nach 1945 von den Ländern her begann.
VII. Die historische Priorität der Länder
Die Neubildung der Länder vollzog sich in den verschiedenen Besatzungszonen in dem Zeitraum der Jahre 1945 bis 1947. Eine ausführliche historische Gesamtdarstellung der Länderbildungen nach dem Kriege steht bis-her noch aus. Wohl aber verfügen wir inzwischen über eine Anzahl von Monographien zur Entstehungsgeschichte einzelner Länder Es ist hier nicht der Platz, einen Abriß zur Bildung der Länder zu liefern, doch sei im Hinblick auf das vorliegende Thema auf einige bedeutsame Aspekte hingewiesen.
Die Länderbildung erfolgte aufgrund der Entscheidung der Besatzungsmächte; ihre Grenzziehung war in erster Linie von besatzungspolitischen Zweckmäßigkeitserwägungen her bestimmt. So fehlte, abgesehen von Bayern und den Hansestädten Hamburg und Bremen, weitgehend eine Rücksichtnahme auf historische Vorläufer, was bekanntlich Theodor Heuss zu dem später viel zitierten Ausspruch bewog, die deutschen Länder seien weniger originär als originell. Gleichwohl darf trotz der entscheidenden Bedeutung der Alliierten bei der Neubildung der Länder nicht übersehen werden, daß hierbei Gedanken und Überlegungen deutscher Kräfte, wenn auch in beschränktem Maße, mit einflossen und sich sehr schnell Eigeninteressen mancher deutscher Politiker an die entstehenden Ländergründungen anzuknüpfen begannen. Bemerkenswert ist hierbei, daß trotz der übergroßen Schwierigkeiten der Nachkriegszeit von selten deutscher regionaler Politiker die Tendenzen vielfach keineswegs auf die Bildung funktionsfähiger Einheiten hinausliefen. Vielmehr zeigte sich ein Hang zur Bildung von Kleinstländern und zur regionalen Atomisierung. Da kämpfte man um die Selbständigkeit Schaumburg-Lippes und Lippe-Detmolds, Braun-schweigs, Oldenburgs und Lübecks, um nur einige Beispiele anzuführen. Die Bildung größerer funktionsfähiger Einheiten wie Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen durch die Briten vollzog sich gegen heftige Widerstände vieler deutscher Kreise und wäre wohl kaum ohne zusätzlichen alliierten Druck erfolgt
Die historische Priorität der Länder vor dem Gesamtstaat nach dem Kriege, die vorrangige Wiederbelebung des Parlamentarismus in den Ländern und die teilweise Verabschiedung von Länderverfassungen sicherte den Länderinteressen eine institutionell abgesicherte Machtbasis zur Einwirkung auf den Bundesverfassungsgeber. Zwar blieb den Bestrebungen einiger Landesregierungen, die künftige deutsche Verfassung durch weisungsgebundene Vertreter der Länder erstellen zu lassen oder wenigstens den Parlamentarischen Rat an Rahmen-Vorschläge der Länder zu binden 60), ein Erfolg versagt. Dennoch erwies sich der Ein-fluß der Länder auf den Parlamentarischen Rat als außerordentlich bedeutsam. Der Umstand, daß nach dem Willen der Westalliierten der Parlamentarische Rat von den Länderregierungen einberufen wurde, die Bestellung der Mitglieder des Parlamentarischen Rates durch die Landtage erfolgte und die Verfassung schließlich von zwei Dritteln der Länder zu ratifizieren war sicherte den Ländern auch formal entsprechende Einflußkanäle.
So setzte sich der Parlamentarische Rat im wesentlichen aus Landtagsabgeordneten und Mitgliedern von Landesregierungen zusammen. Von den 77 Abgeordneten, Delegierten und Ersatzleuten im Parlamentarischen Rat verfügten 52 über ein Landtagsmandat, 12 Mitglieder des Parlamentarischen Rates gehörten Landesregierungen an Außer Hamburg waren sämtliche Landesregierungen durch eines ihrer Mitglieder im Parlamentarischen Rat vertreten. Bayern hatte sogar zwei Regierungsvertreter in den Parlamentarischen Rat entsandt, nämlich den Leiter seiner Staatskanzlei, Anton Pleifler, bei dem in der Phase vor Gründung der Bundesrepublik alle entscheidenden Fäden föderalistischer Bemühungen zusammengelaufen waren und auf dessen Initiative auch die Gründung des streng föderalistischen „Ellwanger Freundeskreises“ zurückgeführt wird, ferner seinen Staatssekretär im Innenministerium, Josef Schwaiber. Besondere föderalistische Initiativen hatte auch der dem Parlamentarischen Rat zugehörende Justizund Kultusminister von Rheinland-Pfalz, Adolf Süsterhenn, entfaltet. Zusammen mit Anton Pfeiffer gehörte er unter anderem zu den Gründungsmitgliedern des . Bundes Deutscher Föderalisten'und nahm an den entscheidenden Aktionen föderalistischer Kräfte aktiven Anteil
VIII. Die Rahmenbedingungen der Alliierten
Die föderalistischen Bestrebungen vor der Gründung der Bundesrepublik lassen sich allerdings nur dann voll erfassen, wenn man die Gegebenheiten der Besatzungsherrschaft mit einbezieht. Dabei äußerten sich diese nicht im Sinne einer klaren Begrenzung deutscher Aktivitäten, welche den Deutschen dennoch einen festen eigenen, wenn auch eingeschränkten Spielraum zuwies. Die Eigenart der Besatzungsherrschaft brachte es vielmehr mit sich, daß die alliierten Einflüsse und die deutschen Bestrebungen eine Verbindung miteinander eingingen, die sich als ein kaum trennbares Interdependenzgefüge darstellte und demzufolge eine konkrete Lokalisierung der eigentlichen Ausgangspunkte für bestimmte Entwicklungen wie unter anderem die der föderalistischen Gestaltungen außerordentlich erschwert So finden sich auch in der Beurteilung der Frage nach den eigent-lieh treibenden Kräften für die schließlich im Grundgesetz verwirklichte föderalistische Ordnung sehr unterschiedliche Auffassungen. Äußerungen wie die, wonach wesentliche föderalistische Strukturen auf einen „Oktroi der Besatzungsmächte“ (Werner Weber) zurückzuführen seien, stehen Hinweise darauf gegenüber, daß „keine Aufpfropfung eines fremden Systems" stattgefunden habe, wie öffentlich behauptet werde, vielmehr es in Deutschland selber „verbreitete und ernsthafte Bestrebungen föderalistischer Art" gegeben habe (Heinz Walper)
Immerhin bleibt eine gewisse Affinität der deutschen Bestrebungen hinsichtlich föderalistischer Strukturen zu den Auffassungen der jeweiligen Zonenmachthaber unverkennbar. Gerade zur Frage der gebietsmäßigen Gestaltung und Untergliederung des deutschen Raumes bestanden aber von Anfang an zwischen den einzelnen Besatzungsmächten sehr unterschiedliche Ansichten und Ziele. Zwar hatten die auf der Konferenz von Potsdam (17. Juli — 2. August 1945) versammelten Regierungschefs Großbritanniens, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika auch zu diesem Punkt einige gemeinsame Grundsätze niedergelegt. So sollte die Verwaltung Deutschlands „in Richtung auf eine Dezentralisation der politischen Struktur und der Entwicklung einer örtlichen Selbstverwaltung" hin angelegt werden. Zu diesem Zweck sah das Potsdamer Kommunique parlamentarische Vertretungen für die Gemeinde-, Kreis-, Provinzial-und Landesebene vor Gleichwohl war die Interpretation dieser Grundsätze durch die einzelnen Zonenmachthaber sehr unterschiedlich, ganz abgesehen davon, daß sich Frankreich als nicht in Potsdam vertretene spätere Besatzungsmacht, wie dessen Regierung durch Noten und durch Äußerungen seiner Mitglieder verschiedentlich zum Ausdruck brachte, ohnedies nicht durch die Potsdamer Grundsätze gebunden fühl-te Die unterschiedlichen Auffassungen unter den Besatzungsmächten hinsichtlich der künftigen Gestaltung Deutschlands wurden unter anderem auf internationaler Ebene auf der Konferenz der stellvertretenden Außenminister in London (14. 1. bis 25. 2. 1947) sowie auf der nachfolgenden Moskauer 4. Außenministerkonferenz (10. 3. bis 24. 4. 1947) sichtbar. Sie blieben selbst im Lager der Westmächte noch zum Zeitpunkt unmittelbar vor Gründung der Bundesrepublik bestehen, wie sich auf der Londoner Konferenz, welche die für die Ausarbeitung des Grundgesetzes maßgeblichen „Frankfurter Dokumente" vorbereitete, erwies
Adenauer hat in seinen Memoiren die unterschiedlichen Auffassungen zur Frage des Verhältnisses von Bund und Ländern, wie sie bei Zusammentritt des Parlamentarischen Rates bei den Westalliierten bestanden, wie folgt skizzenhaft umrissen „Die Franzosen drängten auf einen möglichst lockeren Zusammenschluß der Länder und möglichste Schwächung der Zentrale, das heißt des Bun-des. General Clay trat für ein System ein, das der amerikanischen föderativen Verfassung entsprach. General Robertson, der Sprecher der Engländer, war, soweit mit dem föderativen Prinzip vereinbar, mit einer stärkeren Zentralisierung einverstanden."
Diese Charakterisierung beschreibt dabei allerdings bereits ein Stadium der Annäherung der Standpunkte unter den Westalliierten. Unmittelbar nach Kriegsende war das Bestreben maßgeblicher französischer Kreise auf die staatliche Zergliederung oder wenigstens Abgliederung umfangreicher Gebietsteile im Westen gegangen Zumindest hatte man eine staatenbundliche Organisation dann später in dem im Januar 1947 vorgelegten Bi-dault-Entwurf eine bundesstaatliche Verfassung verlangt, nach welcher die Länder die unbedingte Suprematie gegenüber der Zentralgewalt besaßen. Das wird etwa deutlich in dem Verlangen, das Bundesparlament nicht aus direkten Volkswahlen hervorgehen zu lassen, sondern statt dessen allein ein Staatenhaus zu bilden, in welches die Vertreter paritätisch von den Regierungen der als Staaten bezeichneten Länder entsandt werden sollten
Den französischen Vorstellungen, denen in erster Linie geopolitisch-strategische Erwägungen zugrunde lagen, waren die sowjetischen diametral entgegengesetzt. Die Sowjets traten nämlich trotz eines gewissen verbalen Entge. genkommens gegenüber westlichen Vorsteii lungen konsequent für die Errichtung eines Einheitsstaates ein
Die britische Politik orientierte sich demgegenüber im wesentlichen am Modell der Weimarer Verfassung Hans-Peter Schwan hat darauf hingewiesen, daß sowohl die Haltung maßgeblicher Torywie auch Labour-Kreise zum Deutschlandproblem sehr bald nach Kriegsende durch eine nüchterne Ver folgung der eigenen nationalen Interessen gekennzeichnet gewesen sei an Stelle einer kriegsbedingt emotionalen Behandlung dieses Komplexes Insofern mochte es den Briten auch im Rahmen ihres ausgeprägten Balance-Denkens gefährlich erschienen sein, eine z starke Föderalisierung zuzulassen. Es offenbarte sich hier im übrigen eine Denktradition der sich bereits etwa 130 Jahre vorher Castlereagh entsprechend auf dem Wiener Kongrel verpflichtet fühlte. Darüber hinaus mag auch eine gewisse Vorsicht der damaligen britischen Labour-Regierung gegenüber dem Föderalismus eine Rolle gespielt haben, die sich auf Beobachtungen in Australien stützte. Hier hatte sich nämlich die bundesstaatliche; Struktur als das stärkste Hindernis gegenüber den Verstaatlichungstendenzen der dortigen Zentralregierung erwiesen Demgegenüber war die Haltung der Amerika ner zunächst stärker ideologisch bestimmt Diese ließen sich maßgeblich von Vorstellungen des eigenen Verfassungssystems leiten In der amerikanischen Verfassungstradition verband sich nämlich von Anfang an der Gedanke der Demokratie mit dem des Föderalis mus aufs engste, wie ein Blick in die Schriften der Verfasser der Federalist-Papers, Ho milton, Jay und Madison, beweist.
Arnold Brecht bezeichnet daher auch in sei nein kenntnisreichen Vergleich über die politischen Unterschiede zwischen amerikanischem und deutschem Föderalismus das amerikanische Föderalismusverständnis als „Teilstück des amerikanischen Glaubensbekenntnisses" und bemerkt zudem 81): „Von Anbeginn an war der Föderalismus ein untrennbarer Bestandteil der amerikanischen demokratischen Einrichtungen. Ihm lagen die gleichen Gedanken zugrunde wie den Gesetzen über die Menschenrechte, die gleichen Gedanken, die zu örtlicher Verwaltung durch Bürgerversammlungen (town meetings) führten, und schließlich die gleichen Gedanken, auf denen die Unabhängigkeitserklärung fußte. Diesel-ben Männer, die in jeder Beziehung von der britischen Bevormundung frei sein wollten, wünschten eine solche Freiheit in lokalen Angelegenheiten auch von der Einmischung irgendeiner anderen weit entfernten Zentralinstanz, genauso wie sie in allen ihren privaten Dingen wünschten, von jeder staatlichen Einmischung verschont zu bleiben."
Die von den einzelnen Besatzungsmächten angestrebten Modelle hinsichtlich der Gestaltung des deutschen Raumes fanden ihren sichtbaren Ausdruck in der unterschiedlichen Strukturpolitik, welche diese in ihren jeweiligen Zonen betrieben. Denn bereits bei dem Aufbau höherer Verwaltungseinheiten und Koordinierungsorgane in den einzelnen Zonengebieten ließ sich die jeweils zuständige Besatzungsmacht von dem übergeordneten Gesichtspunkt einer zukünftigen Gestaltung des mehrere Zonen umfassenden Gesamtrau-mes leiten.
Dabei erwiesen sich die Franzosen am zurückhaltendsten. Der Schwerpunkt lag bei ihnen eindeutig bei den einzelnen Ländern. Zoneneinheitliche Einrichtungen oder sonstige zonale Koordinierungsorgane hatten sie nur in spärlichen Ansätzen zugelassen, und auch nur dort, wo ein extremes Bedürfnis hierfür bestand
Ganz anders die sowjetische Besatzungsmacht! Bereits im Sommer 1945 schuf sie in ihrer Zone sogenannte „Deutsche Zentralverwaltungen“ und „Zentralbehörden". Zunächst dienten diese Einrichtungen zwar lediglich der fachlichen Beratung der Sowjetischen Militärbehörden, ohne daß ihnen also eigene legislative und exekutive Befugnisse zustanden. Im Laufe der Zeit übernahmen sie jedoch zunehmend koordinierende Aufgaben in bezug auf die Ländergesetzgebung. Außerdem wuchsen ihnen nach und nach eigene hoheitliche Gesetzgebungsund Weisungsbefugnisse gegenüber den Ländern, die in ihrer selbständigen Bedeutung immer mehr in den Hintergrund traten, zu
In der amerikanischen Zone lag die Gesetzgebungshoheit in allen Sachbereichen bei den Ländern. Allerdings hatte man hier im Hinblick auf Materien, die sinnvollerweise einheitlich zu regeln waren, die Form eines kooperativen Föderalismus gewählt. Als Koordinierungsorgan diente der Stuttgarter Länderrat. In diesem Gremium handelten die einzelnen Landesregierungen gleichberechtigt Gesetzesentwürfe aus, die dann mit gleichem In-halt als eigene Landesgesetze in den jeweiligen Ländern erlassen wurden
Die Briten schließlich hatten durch die Verordnung Nr. 57 vom 1. 12. 1946 die Befugnisse der Länder ihrer Zone auf diejenigen Bereiche beschränkt, für welche diese im wesentlichen auch nach der Weimarer Verfassung zuständig gewesen waren. Im Hinblick auf die zoneneinheitlich zu regelnden Sachbereiche hatte die Militärregierung „Zentralämter" geschaffen und begonnen, ihnen Befugnisse zum Erlaß eigener Anordnungen zu ge-ben, teils aber auch solche Anordnungen in eigenem Namen unter Hinzuziehung der Zentralämter erlassen. Im Gegensatz zu dem in der amerikanischen Zone praktizierten Verfahren, die zoneneinheitliche Willensbildung deutscherseits als Koordinierung der Politik der Länder erfolgen zu lassen, äußerte sich bei den Briten die klare Tendenz, selbständige Organe über den Ländern zu schaffen, die aus eigenem Recht — bei entsprechender Einschränkung der Rechte der Länder — Anordnungen ergriffen und Maßnahmen trafen
Der Stuttgarter Länderrat besaß für die Diskussion über eine Vier-Zonen-Verwaltung auf der Bremer Ministerpräsidentenkonferenz (4. und 5. Oktober 1946) einen gewissen Modellcharakter Er sollte jedoch im Zusammenhang mit dem seit Herbst 1946 betriebenen Aufbau und Ausbau der Zweizonenverwaltung (für die amerikanische und britische Besatzungszone) zunehmend an Bedeutung verlieren
Für die Amerikaner wurden nunmehr funktionale Gesichtspunkte im Hinblick auf wirtschaftliche Erfordernisse, wie John Gimbel ausführlich dargestellt hat eindeutig bestimmend, so daß sie hierfür bereit waren, ursprüngliche Modelle preiszugeben und zentrale, von den Einflüssen der Länder weitgehend unabhängige, anstelle von auf Kooperation hin angelegte und auf den guten Willen der Länder angewiesene Institutionen zu schaffen. Ja, die Amerikaner bremsten nunmehr sogar Initiativen, insbesondere der süddeutschen Ministerpräsidenten, die zum Ziele hatten, überzonale Koordinationsorgane der Länder als Gegengewicht gegen die bizonalen Verwaltungseinrichtungen zu begründen. Das wurde sowohl gegenüber den Versuchen auf der Münchner Ministerpräsidentenkonferenz (6. — 9. Juni 1947), die Kooperation der Ministerpräsidenten zu aktivieren als auch hinsichtlich von Gründungen der Ministerpräsidenten, wie die des bizonalen „Deutschen Büros für Friedensfragen“ deutlich.
Nachdem es schließlich gelang, auch Frank-reich durch mehr oder minder nachhaltigen Zuspruch für die Bildung eines Weststaates zu gewinnen, war damit ein Zustand erreicht, in welchem es unter den westlichen Besatzungsmächten zwar immer noch erhebliche Unterschiede im Hinblick auf die föderalistische Gestaltung des zukünftigen Weststaates gab, in dem man sich jedoch bereits um einiges von den ursprünglich eingenommenen extrem divergierenden Positionen entfernt hatte.
Bei den sehr unterschiedlichen Vorstellungen zur gebietsmäßigen Organisation des deutschen Raumes, wie sie zwischen den Alliierten nach der Besetzung bestanden, konnte es nicht ausbleiben, daß diese auch auf die deutschen Bestrebungen einwirkten. Dabei bedurfte es nicht einmal der Einwirkung durch direkte, ausdrückliche Weisungen. Allein der Zustand nicht nur politischer, sondern auch materieller Abhängigkeit, die umfangreicher Lizenz-, Genehmigungs-und Zensurrechte, welche die Besatzungsmächte ausübten, und zudem die Möglichkeit, ihren Interessen genehmes Verhalten durch entsprechende Machtpositionen zu belohnen, wie auch umgekehrt, widerstrebendes Verhalten entsprechend zu sanktionieren, gab den Alliierten entscheidende Machthebel an die Hand. Die-sen Zustand vermag die nüchterne Erkenntnis von Theodor Heuss, wonach „Besatzung... nicht gleichzeitig Unterweisung in demokratischer Lebensweise" sein könne ebenso zu; charakterisieren wie die Bemerkung eines wissenschaftlichen Autorenteams „... sowohl in der Frage nach der Staatskonstruktion wie auch in der Frage nach dem sozioökonomischen System kamen in den einzelnen Besatzungszonen deutsche Initiativen auf unterschiedliche Weise zum Zuge, nämlich so, wie es jeweils den Auffassungen der Besatzungsmächte entsprach. Angesichts dieser Sachlage kann in den Jahren 1945 und 1948 nur mit Einschränkungen von Richtungsentscheidungen einer deutschen politischen Willensbildung gesprochen werden. ..."
Die Frage nach den vielschichtigen Einflußnahmen, wie sie allein durch Einwirkungen auf den zuvor angedeuteten Ebenen erfolgten, bedarf noch der wissenschaftlichen Aufarbeitung. Sie sind bisher nur im Ergebnis sichtbar, nämlich beispielsweise darin, daß in den einzelnen Zonen das Schwergewicht publizistischer und wissenschaftlich-literarischer Äußerungen zur föderalistischen Gestaltung in auffallender Weise mit den leitenden Auffassungen der jeweiligen Besatzungsmacht konform gingen. Hierzu verdienen die Darlegungen des Generalsekretärs des Zonenbeirates der britisch besetzten Zone, Gerhard Weisser, Beachtung, der in einem Vortrag an der Technischen Hochschule Braunschweig am 6. Dezember 1946 in bemerkenswerter Freimütigkeit gerade im Hinblick auf die Literatur, welche sich mit föderalistischen Gestaltungsmodellen befaßte, ausführte’ „Das Propagandaministerium des Herrn Goebbels hat es ausgezeichnet verstanden, und es ist der Sache nach auch heute so, daß man die Kultur weitgehend mit der Papierverteilung regulieren kann. So grotesk das klingt, aber wenn man für bestimmte Bücher, Zeitungen und Broschüren kein Papier zuteilt, weil das Kontingent angeblich oder wirklich nicht reicht, so ist damit erreicht, daß bestimmte Ansichten nicht zu Wort kommen. Auch hier dominieren Verwaltungsakte."
Nimmt man hinzu, daß beispielsweise Otto Fegers mehrere hundert Seiten starke Programmschrift „Schwäbisch-Alemannische Demokratie" welche für die Loslösung des südwestdeutschen Raumes und Bildung eines selbständigen Staates aus Südbaden, Südwürttemberg, Vorarlberg und Tirol, gegebenenfalls auch unter Einbeziehung Bayerns im Sinne der gaullistischen Dismembrations-Politik eintrat, im Jahre 1946 in dem damals noch zur französischen Zone gehörenden Konstanz in einer Auflage von 250 000 Exemplaren herauskam, und dieses zu einer Zeit, als Zeitungen wegen Papierknappheit lediglich einmal, höchstens zweimal in der Woche mit wenigen Seiten erscheinen konnten und einige Bögen Schreibpapier eine Kostbarkeit darstellten, so gewinnen in der Tat die zitierten Ausführungen Gerhard Weissers durch dieses Beispiel an Konkretheit.
Doch nicht allein die mittelbaren Einwirkungsmöglichkeiten, auch die unmittelbaren Einwirkungen etwa durch Verbote und konkrete Weisungen bedürfen der Aufhellung. So waren beispielsweise in der französischen Zone den Parteien alle Äußerungen untersagt, welche sich kritisch mit den französischen Föderalisierungsbestrebungen auseinandersetzten. Weder durften in öffentlichen Versammlungen Erörterungen von „Ansprüchen zugunsten der Einheit Deutschlands (Zentralregierung)“ noch die „Kritik von Plänen, die auf den Föderalismus der deutschen Staaten abzielen", stattfinden. Auch war die „Besprechung von Projekten, die auf die Internationalisierung gewisser Gebiete abzielen (Ruhr und Rheinland und der wirtschaftliche Anschluß der Saar an Frankreich)", untersagt
IX. Schlußbemerkung
Die angedeuteten Wirkungszusammenhänge zwischen deutschen und alliierten Bestrebungen zur Gestaltung des deutschen Raumes lenken damit die Aufmerksamkeit auf die spezifischen Gegebenheiten der Besatzungsherrschaft. Sie machen deutlich, daß eine wissenschaftliche Behandlung der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes sich nicht in ei-ner Auswertung der offiziellen Korrespondenzen zwischen deutschen und alliierten Vertretern zur Zeit der Entstehung des Grundgeset-* zes erschöpfen darf Insbesondere verschiebt eine Betrachtungsweise, die deutsche und alliierte Stellungnahmen einander gegenüberstellt, ohne darauf einzugehen, daß die deutschen Stellungnahmen zum Teil bereits durch die spezifischen Gegebenheiten der Nachkriegsepoche — und damit auch durch die Einwirkungen der Besatzungsmächte — vorgeprägt waren, die Proportionen.
Die Schwierigkeit, die vorgenannten Zusammenhänge methodisch sauber zu erfassen, ohne in gefühlsmäßig bedingte -Extremkatego rien zu verfallen, hat allerdings dazu geführt, daß die wissenschaftliche Forschung bisher weitgehend diese Zusammenhänge ignorierte. Für den bisher gängigen Forschungsansatz mag eine Feststellung, welche Peter H. Merkl in seiner ansonsten sehr eindrucksvollen Arbeit „Entstehung der Bundesrepublik die über Deutschland" trifft, als charakteristisch gel-ten. In seiner Darstellung äußert sich Merkl zur Frage des Verhältnisses deutscher und westalliierter Einflüsse auf das Grundgesetz wie folgt „Zur Zeit der Ausarbeitung des Grundgesetzes war Westdeutschland ein besetztes Land, und so könnte man annehmen, daß der Einfluß der alliierten Behörden das Grundgesetz prägte. Dreimal mischten sich die westlichen Alliierten in die Verfassungsarbeit des Parlamentarischen Rates ein. Eine genauere Prüfung zeigt jedoch, daß der alliierte Einfluß auf das Grundgesetz mehr scheinbar als wirklich vorhanden war. Die paar Änderungen, die ihre Interventionen bewirkten, lagen dem Konzept der Verfassungsgeber nicht fern; sie dienten vielmehr dazu, die Stimmen hinsichtlich einiger Streitfragen auf eine Seite zu bringen."
Auch bei Merkl, der sich mit am intensivsten mit den föderalistischen Bestrebungen in der ersten Nachkriegsphase befaßt hat, wird das geistig-politische Vorfeld für die Verfassungsgebung zumindest nicht hinreichend sichtbar gemacht. Zugleich kennzeichnet das Zitat eine weitere Beschränkung in der bisherigen Betrachtung der Tätigkeit des Parla-mentarischen Rates. Sie liegt darin, daß die Einwirkungen der Alliierten weitgehend nur im Hinblick auf die wenigen offiziellen No-ten, welche diese dem Parlamentarischen Rat zu Fragen der Verfassungsgestaltung überreichten, Beachtung finden. Demgegenüber wurden die vielfältigen Kontakte, welche zwischen den Militärgouverneuren und den Mitgliedern der alliierten Verbindungsstäbe einerseits und den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates stattfanden, kaum andererseits beachtet. Die Kontakte, der Leiter über welche des amerikanischen Verbindungsbüros in Bonn, Hans Simons, später einige Ausführungen gemacht hat werden in einer jüngst veröffentlichten Darstellung von Dieter Johannes Blum, gestützt insbesondere auf mündliche Darlegungen Carlo Schmids, außerordentlich hoch eingeschätzt. Die Intensität der Einflüsse aus persönlichen Begegnungen haben der Wirkung der übermittelten Schriftstücke zumindest nicht nachgestanden Entsprechendes dürfte für die Versuche der einzelnen Besatzungsmächte, über die ihnen in ihrer jeweiligen Zone unterstehenden Länderregierungen Einfluß auf die Tätigkeit des Parlamentarischen Rates zu nehmen, gel-ten.
Schließlich fehlt es bei den bisherigen Untersuchungen über den Parlamentarischen Rat weitgehend an einem Einbau seiner Tätigkeit) in den internationalen Konnex der damaligen Zeit. Die Verfassungsgesetzgebung wird statt dessen vorwiegend allein als innenpolitisches Ereignis verstanden, orientiert am Bild derl Weimarer Nationalversammlung oder der'Frankfurter Paulskirchenversammlung. Dabei wäre es sicherlich der Mühe wert, als Gegenpol das Bild des Wiener Kongresses mit seinem Zusammenspiel von internationalen und Verfassungs-Fragen zusätzlich ins Auge zu fassen. Zumindest zeigt die Lektüre der zeitgenössischen Quellen, wie beispielsweise die der bisher unveröffentlichten regelmäßigenS. Berichte, die vom Leiter des Beobachterstabs des Büros der Ministerpräsidenten beim Parlamentarischen Rat erstellt wurden, daß sich die deutschen Hauptakteure des Parlamentarischen Rates durchaus des internationalen Konnexes ihre Tätigkeit bewußt waren.
Heute, ein Vierteljahrhundert, nachdem der Parlamentarische Rat seine Verfassungsarbeiten begann, gibt der Entstehungsvorgang des Grundgesetzes, zu dessen bedeutsamsten und zugleich umstrittensten Bereichen das bundesstaatliche System gehörte, der politikwissenschaftlichen und zeitgeschichtlichen Forschung nach wie vor ein großes Feld von noch unbeantworteten Fragestellungen auf.
Demzufolge verdienen Bemühungen besondere Aufmerksamkeit, welche zum Ziele haben, die Tätigkeit des Parlamentarischen Rates aus seiner bisher weitverbreiteten isolierten Betrachtung herauszulösen. Es stellt sich daher die Aufgabe, die Einbettung des dortigen Geschehens in die geistigen Strömungen der Zeit, wie sie durch die Gegebenheiten der ersten Nadikriegsphase bestimmt wurden, sichtbar zu machen. Hinzu kommen muß der Versuch, die vielschichtigen wechselseitigen Einflußebenen zwischen Deutschen und Alliierten aufzudecken sowie den Entstehungsprozeß des Grundgesetzes in die internationalen Zusammenhänge einzuordnen.