Ende der fünfziger Jahre nahmen einige amerikanische Politikwissenschaftler, vor allem Gabriel Almond, Sidney Verba und Lucian Pye, ein großzügiges Forschungsprogramm in Angriff, dessen theoretischen Ansatz sie unter den Stichworten „politische Kultur“ und „politische Entwicklung" zusammenfaßten Beide Formeln sind dabei komplementär aufeinander bezogen, wobei bestimmte Aspekte der Kultur als Funktion der politischen Entwicklung und Modernisierung eines Landes verstanden werden.
Im Zeichen dieses Ansatzes erschienen in der ersten Hälfte der sechziger Jahre rasch nacheinander eine Reihe von Studien, unter denen die „The Ciric Civic Culture" von Almond/Verba und der von Pye/Verba herausgegebene Sammelband „Political Culture and Political Development" mit Beiträgen u. a. über Japan, England, die Türkei, Indien, Italien, Äthiopien, Ägypten und die Bundesrepublik Deutschland herausragen.
Welche Absichten und Motive lagen der Ausarbeitung dieser in der Politikwissenschaft neuen Konzeption zugrunde? Die Anstöße kamen aus drei unterschiedlichen Bereichen.
Almond gelangte erstens zu der Ansicht, daß die strukturell-funktionalistische Systemtheorie und im weiteren Rahmen auch die vergleichende Politikwissenschaft sich bisher ausschließlich an den Begriffen Staat, Nation und Regierung orientiert habe und deshalb sich nicht aus der juristischen Betrachtungs-weise und deren Dogmen habe lösen können. Auch die ergänzende Erforschung der Parteien und Verbände habe unter diesem Gesichtspunkt keinen entscheidenden Fortschritt gebracht. Das Phänomen Politik werde jedoch erst in einem weiteren Horizont als der Funktionsanalyse von staatlichen Institutionen und Parteien deutlich.
Zweitens kritisierte Almond, daß die Inhalte und Formen der nationalstaatlichen Betrachtungsweise in der Politikwissenschaft durch westliche Vorbilder geprägt seien und daher keineswegs ausreichten, um politische Systeme nicht-westlichen Charakters, z. B. sowjetische oder traditionalistische Asiens und Afrikas, zu erklären und zu beschreiben In diesem Sinne bildete die Ausarbeitung der Konzeption von der politischen Kultur einen Versuch, die politischen Probleme der Dritten Welt von deren eigenen Kategorien her zu verstehen
Drittens ging es um ein Umdenken in der amerikanischen Politikwissenschaft Dieser Wandel beruhte auf der wachsenden Einsicht, daß die amerikanischen Staats-und Regierungsinstitutionen nicht ohne weiteres, also nicht ohne eingehende kulturelle Veränderungen, in Länder mit anderen Traditionen eingepflanzt werden könnten. Almond meint an einer Stelle, es genüge nicht, nur die äußeren Formen zu vermitteln, sondern das Erleben von Demokratie sei eine Sache der Haltung und des Fühlens.
Wie einschneidend dieser selbstkritische Reflexionsvorgang ist, wird deutlich, wenn man gegen die Arbeiten von Almond/Verba das Schrifttum der amerikanischen Besatzungsbehörden in Deutschland hält, das eben-falls unter Titeln wie „Politische Kultur" oder „Politischer Fortschritt" meist naiv die Überlegenheit und universale Anwendbarkeit von formalen Prinzipien amerikanischer Demokratie als Vorbild für die „Reeducation" Deutschlands anpries
Dieses Umdenken markiert jedoch nicht nur eine theoretische Weiterentwicklung der Politikwissenschaft, sondern es birgt auch praktische Aspekte in sich. Almond stellt in einem Aufsatz über „politische Systeme" fest, die USA hätten ihre Interessen über die gesamte Welt hin ausgedehnt, und es ginge nicht mehr an, daß eine politische Krise in Indochina oder Frankreich von ihnen nur noch wie in der Zeit des Isolationismus als eine kuriose Krankheit betrachtet würde Die Autoren der „Politischen Kultur" waren sich also auch über die Notwendigkeit einer Ausweitung des theoretisch-wissenschaftlichen Instrumentariums im Dienste der weltweiten Aufgaben ihres Landes bewußt, zumal es sich erwies, daß die Probleme der Entwicklungshilfe in den gerade entkolonialisierten Staaten Afrikas und Asiens eine größere Elastizität des Handelns erforderten als bisher. Andererseits wollten Almond und seine Mitarbeiter sich nicht damit begnügen, die jeweiligen politischen Systeme nur in ihrer geschichtlichen Individualität zu verstehen, sondern sie versuchten, einen Bezugsrahmen zu finden, innerhalb dessen die unterschiedlichen Kulturen vergleichbar gemacht werden konnten, denn erst der Vergleich erlaubt die Ausarbeitung von Handlungsmodellen.
Es geht hier also nicht um eine allgemeine Theorie der Kultur etwa im Sinne von Bronis-law Malinowski auch nicht um ein neues System der Kulturwerte nach dem Vorbild von Heinrich Rickerts Anthropologie, sondern nur darum, politische Systeme in ihren kulturellen Horizont einzufügen und dessen Funktion für die vergleichende politische Theorie fruchtbar zu machen
Der Begriff „Politische Kultur"
Almond lehnt sich beim ersten Schritt seiner Überlegungen an die strukturell-funktionalistische Systemtheorie an, wie sie David Easton vorgelegt hat. Eine Gesellschaft gliedert sich danach in zahlreiche Einheiten, welche durch die sie jeweils prägenden sozialen Rollen charakterisiert werden. Diese Ein-heiten stehen miteinander handelnd in Beziehung, in Interaktionen, die schon wegen der Konstanz der ihnen zugrunde liegenden Rollen als stabil angesehen werden müssen Ein soziales System bezeichnet Almond dann als ein Ensemble von Rollen in Interaktion. Er ist der Überzeugung, daß das Rollenmodell anpassungsfähiger die politische Wirklichkeit beschreiben kann als die von ihm als statisch interpretierten Termini der Staats-und Regierungslehre und daß dadurch die Politikwissenschaft der Länder der Dritten Welt sich aus der Umklammerung der herkömmlichen Staatstheorie zu lösen vermöge. Im Unterschied zu Easton orientiert er sein System jedoch nicht an einem Idealzustand, sondern in realistischer Sicht nur an der Entwicklungsstufe des modernsten historisch gegebenen und empirisch beobachtbaren Systems.
Welche kulturellen Grundlagen bestimmen nun die Rollen der Handelnden in einem System? Im Anschluß an Almond definiert Verba in seinem Aufsatz „Comparative Political Culture" Kultur als die Gesamtheit relativ konstanter Ansichten, Symbole und Wertschemata eines Volkes, auf denen das politische System beruht und die die Atmosphäre und Situation prägen, in denen politische Handlungen sich vollziehen Das politische System ist demnach eingebettet in be-stimmte allgemeine Verhaltensmuster, die von Verba unter dem Begriff „basic belief Systems" zusammengefaßt werden. Diese „basic belief Systems" bestehen aus existentiellen Glaubenshaltungen, aus Normen, die die Verhaltensziele festlegen, Prinzipien, die die Mit-tel zur Erlangung dieser Ziele regulieren, sowie schließlich aus emotionalen Bindungen. Sie formen das Verhalten von Individuen gegenüber dem politischen Leben und bilden so ein System von Kontrollen über die politischen Interaktionen sowie die Grundlage politischer Ideologien. Politische Kultur eines Volkes bildet daher vor allem die Verbindung zwischen der Ebene der Entscheidungsinstanzen und den Individuen in ihrer Reaktion auf die Entscheidungen
Kernstück der politischen Kultur sind also Grundüberzeugungen, die von den Mitgliedern einer Gemeinschaft als selbstverständlich anerkannt werden; jeder nimmt sie hin und meint, auch andere nähmen sie ebenso ohne Widerspruch hin. Diese Grundüberzeugunaen schaffen und erhalten Vertrauen sowohl zwischen den Mitgliedern eines Volkes als auch eines jeden gegenüber der Regierung Es handelt sich dabei also nicht um vordergründige, an aktuelle Interessen gebundene Ideologien und Programme, sondern um relativ fe-ste Grundstrukturen, die ein System stabilisieren und die rationale Austragung von Konflikten erst ermöglichen
Allerdings wird dieser Begriff von seinen Autoren unterschiedlich weit ausgelegt. Almond faßt ihn in seinem Buch „The Civic Culture" eng. Ihn interessiert vor allem die Frage, welche Bedeutung die Mitglieder eines politischen Systems ihren nationalen und lokalen politischen Einrichtungen zu einem bestimmten Zeitpunkt beimessen Verba dagegen vertritt eine weitere Konzeption; ihm geht es vor allem darum, auch die historischen Aspekte in den Griff zu bekommen und das jeweils gegebene Bündel der Grundüberzeugungen selbst wiederum zu erklären. Er sieht in den Grundüberzeugungen den Garant der Stabilität und Selbsterhaltung eines politischen Systems. Sind sie in einer Wandlung begriffen, dann ist auch mit Instabilität zu rechnen, was praktisch für den Politiker bedeutet, daß er in den Grundüberzeugungen einen Indikator zur Hand hat, der ihm die Krisenhaftigkeit von Gesellschaft und Politik eines Landes anzeigen kann Wichtigste Funktion der Grundüberzeugungen ist so die Bildung oder Verhinderung von Identitätsgefühlen innerhalb eines Volkes; z. B. stellt La Palombara über Italien fest, daß die unterschiedlichen Kulturen zwischen dem Norden und dem Süden des Lande ein Hindernis für eine wirkliche Identifizierung der gesamten Bevölkerung mit dem in seiner Anlage demo-kratisch verfaßten Staat bedeuten Oder Pye weist an einer Stelle darauf hin, daß die Arbeiterbewegung in der Wilhelminischen Ära Deutschlands einen Keil in das Identitätsgefüge des Volkes mit dem Staat getrieben habe, der erst im „Burgfrieden" von 1914 notdürftig beseitigt worden sei.
Identität wird somit zu einem zentralen Terminus in der Konzeption der politischen Kultur. Im Sinne der Systemtheorie ist die Stabilität oder Instabilität eines Systems ein Ergebnis des Grades und der Intensität, mit denen sich ein Volk mit einem politischen Regime identifiziert. Dabei intendiert der Identitätsbegriff keine nationalistischen Gefühle nach außen, obgleich Nationalismen ein Bestandteil einer politischen Kultur sein können, sondern nur die Frage nach der Kohärenz und dem Bestand von politischen Systemen. Allerdings birgt dieser Ansatz eine Reihe von Problemen.
Kritik des Begriffs Der Kulturbegriff wird erstens allzu einseitig auf die Nation als System bezogen. Ein sol-ches Vorgehen stellt eine Vereinfachung dar, die zwar praktische Forschung durch Begrenzung des Gegenstandes erleichtert, aber doch auch den Blick für die Zusammenhänge der Supranationalität von Kulturen verstellt. Einige Autoren des Bandes „Political Culture and Political Development" sind sich dieses Problems durchaus bewußt. Die meisten Arbeiten beschränken sich jedoch auf Nationalstaaten. Berücksichtigt man aber, daß die Instabilität zahlreicher Staaten gegenwärtig gerade von Einflüssen supranationaler Natur, etwa von dem Eindringen des Kommunismus oder Strömungen innerhalb der islamischen Welt abhängen, bedenkt man andererseits die engen Verflechtungen der Industrienationen etwa in der Europäischen Gemeinschaft, die trotz aller unterschiedlicher nationaler Kulturen doch relativ stabil und für die einzelnen Mitgliedstaaten von entscheidender Bedeutung ist, dann erscheint mir die Beschränkung auf die Untersuchung von Nationalstaaten nicht unbedenklich, zumindest ein wenig veraltet. Systemtheoretisch gesehen sind bei dieser Konzeption das Problem der Grenzen des Systems und des Innenund Außenaustausches noch nicht endgültig gelöst.
Zweitens erhebt sich die Frage nach der empirischen Erfassung der Grundüberzeugungen eines Volkes. Im „Civic Culture“ explizieren Almond und Verba ihre Methode. Sie greifen dabei auf die von Paul Lazarsfeld entwickelten Techniken der Analyse von Wahlverhalten zurück und versuchen sie für die vergleichende Betrachtung fruchtbar zu machen. Sie bedienen sich dabei vor allem standardisierter Interviews, die sie sorgfältig nach Bildung und sozialer Schichtung ausgewählten Personenkreisen in fünf Nationen, den USA, Großbritannien, Italien, der Bundesrepublik und Mexiko, vorlegten. Almond gibt aber zu, daß dieses Verfahren nicht ohne Probleme sei Zum einen ließen sich die in den Interviews zusammengestellten Fragen für die Befragten nicht vollkommen unmißverständlich übersetzen, da es sich bald herausstellte, daß die im Kontext eines Satzes mitschwingenden Assoziationen in den unterschiedlichen Kulturkreisen auch verschieden waren, zum anderen besitzen die in den Fragen angesprochenen Institutionen der einzelnen Länder einen oft kaum vergleichbaren Stellenwert im System. Zum Beispiel untersucht Almond die
Haltung der Bevölkerung der oben genannten fünf Nationen hinsichtlich ihrer Einstellung gegenüber einer aktiven Teilnahme an der Gemeindepolitik. Seine Erhebungen ergaben, daß in den USA 51 0/0 der Befragten, in Großbritannien 39 °/o, in der Bundesrepublik Deutschland 20 °/o, in Mexiko 20 °/o und in Italien 10% eine solche Aktivität für erforderlich hielten Aufgrund dessen deutet er vorsichtig an, daß die USA wohl das demokratisch stabilste Land seien, weil sie über ein reiches Gemeindeleben verfügten. Hier wird Demokratie an einem für die USA bezeichnenden Wertmaßstab gemessen, der für Länder mit anderer Geschichte und anderen Rechtstraditionen nicht ohne weiteres gültig ist. So haben seine Ergebnisse manchmal einen geringen Aussagewert, da bestimmte Verhaltensweisen und Einstellungen sowohl von den Grundüberzeugungen der Bevölkerung gegenüber dem Gesamtsystem als aber auch von der spezifischen Position etwa der Gemeinden innerhalb einer Staatsverwaltung abhängen können. Angenommen, die Bedeutung von Gemeinden ist gering und deshalb von der Bevölkerung auch gering eingeschätzt, so heißt das nicht unbedingt, daß deshalb die Stabilität der Demokratie eines Systems ebenfalls gering sein muß. Erst außerordentlich umfangreiche Kontrollbefragungen könnten hier Klarheit schaffen. Derart umfangreiche Befragungen benötigen jedoch einen hohen Zeitaufwand, so daß, wie Almond einräumt, die Zeitgleichheit der Interviews selten gegeben ist. Dies ist jedoch für den Vergleich erforderlich, um die aus historischer Fortentwicklung sich ergebenden Verzerrungen auszuschalten. Der Zeitfaktor bildet durchaus kein nebensächliches Problem, da die Konzeption der politischen Kultur weltweit angelegt ist und somit in der methodischen Ausführung vor erheblichen technischen Aufgaben steht.
Drittens ist zu bedenken, daß Identifizierung oder Nichtidentifizierung von Individuen oder Gruppen mit ihrem politischen System durchaus nicht nur den „basic belief svstems" entspringt, sondern vielmehr auch wirtschaftlichen und machtpolitischen Gegensätzen. Erst die wechselseitige Abhängigkeit von Grundüberzeugungen und ökonomisch-politischen Faktoren, die überdies meist auch außerhalb eines Systems liegen können, macht dessen Stabilität aus. Die Weimarer Republik bietet ein gutes Beispiel für das Ineinander-greifen dieser Zusammenhänge. Allerdings können in der Tat die in einer politischen und wirtschaftlichen Krise auftretenden Veränderungen der Grundüberzeugungen ein brauchbarer Indikator für die Tiefe und das Ausmaß der Krise sein und einen sich anbahnenden Strukturwandel deutlich werden lassen.
Der Begriff „Politische Entwicklung"
Bisher gingen die Betrachtungen von einem weitgehend statisch gefaßten Systembegriff aus. Nun muß die historische Dimension, die in der Konzeption von der politischen Kultur liegt, nämlich „politische Entwicklung", miteinbezogen werden. Verba ist überzeugt, daß politische Entwicklung vom jeweiligen Stand einer Kultur abhängt. Traditionalistische Grundüberzeugungen halten demnach die Modernisierung eines Landes auf und erst deren Überwindung gibt den Weg für ein demokratische System frei. Ja, Verba sieht die Auflösung veralteter politischer Kulturen, wie sie etwa in Indien oder Ägypten bewußt angestrebt wird, als eine der Hauptaufgaben politischer Systeme an. Nach welchen Kriterien soll sich nun politische Entwicklung vollziehen? Verba nennt vier.
1. Der Wandel vom Untertanenstatus des einzelnen Individuums zum aktiven Staatsbürger mit Einsicht in die Notwendigkeit der Teilnahme am öffentlichen Leben und mit Gefühl für die Prinzipien der Gleichheit und Anerkennung allgemeingültiger Regeln und Gesetze. 2. Die Fähigkeit eines Systems, die öffentlichen Angelegenheiten zu regeln, Konflikte zu kontrollieren und mit den Ansprüchen der Bürger zurechtzukommen.
3. Die wachsende strukturelle Aufgliederung eines sozialen Systems sowie die zunehmende Leistungs-und Anpassungsfähigkeit seiner Funktionsträger gegenüber den Anforderungen seiner Mitglieder und der Umwelt, ohne daß durch diesen Differenzierungsprozeß die Homogenität unter den Beteiligten verlorengeht, und 4. eine Säkularisierung der Politik, in deren Verlauf die Menschen ihre Probleme rational, analytisch und empirisch zu lösen lernen
Die Logik dieses Katalogs orientiert sich offensichtlich am Vorbild westlicher Industrienationen mit ihrem hohen Grad der Arbeitsteilung in Verwaltung und im intermediären Bereich der Politik, den Parteien und Verbänden, ferner mit ihrer Fähigkeit, die elementaren Bedürfnisse der Bürger zu befriedigen, ja dem Bürger, wie in der Bundesrepublik, sogar einen rechtlichen Anspruch auf Versorgung und Bildung zuzuweisen, und schließlich der Ausdehnung der egalitären Gesinnung. In der Tat kommt in einem so arbeitsteiligen und auf politische Gleichheit angelegten System der freiwilligen, auf gemeinsamen Grundüberzeugungen beruhenden Identifikation der Bürger mit dem Staat und den Mitbürgern eine entscheidende Bedeutung zu. Das Gegenteil bilden die traditionalistischen Systeme der Dritten Welt, bei Almond auch als „parochiale" (z. B. die in Stämme, Clans, Kasten oder Familien zergliederten Gesellschaften, wie sie noch in Afrika oder Asien vorkommen) be-zeichnet Sie werden charakterisiert durch eine weite Kluft zwischen den in heterogenen und in diffusen sozialen Ordnungen lebenden Untertanen und der Führung sowie durch die relativ wenigen Aufgaben, die die Regierung gegenüber den Untertanen erfüllt Unter diesem Aspekt betrachtet Dankwart Rüstow die osmanische Türkei vor den Reformen des 19. und 20. Jahrhunderts. Zur Verdeutlichung möchte ich auf dieses Beispiel näher eingehen.
Die Organisation des Staates (devlet) war demnach im Prinzip zweigliedrig. Sie zerfiel in die Oberschicht der Osmanen mit dem Padischah an der Spitze und die Masse der Untertanen (rayya), deren Angehörige im wesentlichen als Sklaven des Padischah betrachtet wurden. Den Untertanen stand es jedoch frei, in den Bereichen des Lebens, die nicht zum Staatsapparat gehörten, ihre Gemeinschaft (millet) zu gestalten. Die Vermittlung zwischen Führung und Gemeinschaften fiel den Oberhäuptern der milletler zu, dem Seyh ül-islam für die Muselmanen, dem Patriarchen für die orthodoxen Christen und dem Rabbiner (haham ba) für die Juden. Der einzelne Untertan war dem Staat nicht unmittelbar verantwortlich, und er konnte auch an ihm keinen Anteil nehmen, es sei denn, er stieg über das Devirme-System in die Schicht der Osmanen auf. Er war integriert in eine Gemeinschaft, die zahlreiche Funktionen wahrnahm, welche in einem modernen politischen System der staatlichen Verwaltung zukommen: Erziehung, öffentliche Ordnung, Rechtspflege, Gesundheitswesen und Steuereintreibung Den Untertanen fehlte vor allem ein Identitätsbewußtsein mit dem Staat; in weiten
Kreisen herrschten vielmehr Mißtrauen oder Gleichgültigkeit gegenüber den öffentlichen Institutionen. Besonders kraß waren die Verhältnisse in Ägypten, wo die Herrschaft des Sultans mit Beginn des 19. Jahrhunderts ständig abnahm
Die Konzeption der politischen Kultur und politischen Entwicklung konzentriert sich so-mit auf die Frage, wie es gelingt, einen desintegrierten Staat, der den Anforderungen demokratischer Prinzipien und nationaler Wohlfahrt nicht gewachsen ist, auf eine höhere Stufe zu stellen und den von Pye angegebenen Modernitätskriterien anzupassen. Dabei kommt es auf zweierlei an: Zum einen, daß in den entsprechenden Ländern sich nach dem Maßstab der angegebenen Kriterien nationale Eliten bilden, die bereit sind, nach und nach den Partikularismus in den „basic belief Systems" zu beseitigen, und zum anderen, daß Erziehungsprozesse innerhalb der Familien, Dörfer und Clans in Gang gebracht werden, wozu vor allem der Abbau patriarchalischer Familienstrukturen bei gleichzeitiger Auflösung der Großfamilien als Wirtschaftseinheit gehört, um so überhaupt die aktive Persönlichkeit freizusetzen. Das Endergebnis soll dann nach Almond/Verba eine „rational activist-culture" sein, in der die demokratische Imprägnation über das nur informierte und zweckra-tionale Verhalten einer reinen „civic culture" hinausgeht. Die „rational activist-culture" manifestiert sich im Stolz der Bevölkerung auf ihre politischen Einrichtungen, während eine „civic culture" zwar den demokratischen Staat akzeptiert, ihren Stolz jedoch eher den wirtschaftlichen oder künstlerischen Leistungen zuwendet. Nach dieser Konzeption soll sich also die •politische Entwicklung in drei Phasen vom parochialen System zur „civic culture" und auf der höchsten Stufe zur „rational activist-culture" vollziehen Kritik des Begriffes
1. Dieser Aspekt des Ansatzes der „Politischen Entwicklung“ birgt ebenfalls einige Probleme. Mit der Einführung der notwendig historischen Betrachtungsweise reicht die von Almond/Verba in „The Civic Culture“ angewendete Methode der empirischen Datenerhebung durch Interviews nicht aus. Einerseits liegt für die Vergangenheit kein adäquates statistisches Material vor, ja es fehlt sogar dort, wo politische Systeme schon einen gewissen Modemitätsgrad erreicht haben, zum anderen werfen gerade in den sich entwikkelnden Gesellschaften, in denen sich heimisches und westliches Denken mischt, die Befragungen nicht unerhebliche semantische Probleme auf. So kann z. B. das indonesische Wort für Individuum, „peribadi", das in diesem Zusammenhang durchaus wichtig ist, einerseits zwischen den älteren Bedeutungen „allein* und oft in mythischem Sinne „selbst“ und Individuum im europäischen Sinne andererseits schwanken, je nachdem, wer es verwendet. Die Sprachen der sich gegenwärtig modernisierenden Völker sind in einem raschen Wandel begriffen, so daß heute noch gültige Erhebungsergebnisse schon in wenigen Jahren überholt sein und mit erneut angestellten Befragungen nicht mehr unbedingt verglichen werden können. So verzichten die meisten Autoren des Bandes „Political Culture and Political Development" auf Befragungen und bedienen sich statt dessen der Interpretation historischer Quellen oder der Analyse von Wahlen und Statistiken der nationalen Verwaltungen. Sie unterliegen hier gewissen methodischen Schwankungen, die zwar die angestrebte Präzision des ursprünglichen Ansatzes einschränken, dennoch nicht unfruchtbar sind. 2. Probleme wirft auch der Katalog der Modernitätskriterien auf. Seine augenfällige Betonung des aktiven, autonomen Bürgers, der seine Persönlichkeit durch Teilnahme z. B. an politischen Parteien, Vereinen und Verbänden entfaltet, weist auf die „politische Kultur" und Anthropologie der USA hin, die damit als Vorbild dieser Konzeption und als system-theoretisches Bezugskriterium hoher Modernität dient. Angesichts dessen erhebt sich aber die Frage, ob einerseits das Wertsystem der USA tatsächlich vorbildlich sein muß und andererseits, ob die daraus abgeleiteten Modernitätskriterien für den kulturellen Wandel anderer Länder maßgeblich sind. Unter diesem Gesichtspunkt besitzt der Katalog vor allem nur einen heuristischen Wert für die Feststellung von Veränderungen. Denn es gibt immerhin Versuche in Afrika und Asien, die unter Einbeziehung heimischer Traditionen die politischen Probleme der Gegenwart bewältigen wollen. 3. Die schwersten Bedenken freilich liegen im systemtheoretischen Ansatz. Er beschränkt sich in seiner Zielsetzung im wesentlichen auf Integration und Desintegration, also auf die Stabilität eines politischen Regimes, wobei Konflikte als Dysfunktionen aufgefaßt werden. Stanley Hoffmann bemerkt dazu, daß der Status quo so leicht zum empirischen und normativen Angelpunkt der strukturell funktionalistischen Systemtheorie wird Es wird eben nicht mehr gefragt, wozu ein modernes System existiert und ob nicht Konflikte doch notwendig sind, um es am Leben zu erhalten und zu entwickeln. Bedenkt man andererseits aber, daß Almond bei der Ausarbeitung seiner Konzeption als eines seiner Motive auch die weltweiten Interessen der USA zugrunde legte und daß in diesem Zusammenhang die Krisenhaftigkeit bestimmter Länder als Problem der USA betrachtet wurde, dann paßt das Stabilitätsdenken dieses systemtheoretischen Ansatzes durchaus in bestimmte Bereiche des außenpolitischen Kalküls der Vereinigten Staaten.
Bei aller Kritik an der einseitig nationalstaatlichen Betrachtungsweise der Kultur und dem Stabilitätsdenken, das freilich überwunden werden kann, besitzt die Beschäftigung mit der Funktion der politischen Kultur für ein politisches System doch einen erheblichen theoretischen Wert für die Erforschung politischer Entwicklungen. Nur genügt es nicht, sich auf die von Almond vertretene engere Fassung des Begriffes zu beschränken, sondern man sollte einerseits den weiteren Aspekt, wie ihn Verba darstellt, aufgreifen und entfalten, wozu vor allem die Frage nach den Prämissen der Grundüberzeugungen gehört, also das epistemologische Denken in einer Kultur, und andererseits den supranatio-len Charakter von Kulturen weiter in den Vordergrund rücken, ohne jedoch den nationalen zu vernachlässigen.