Die Frage nach der Zukunft der politischen Partei ist bereits im vorigen Jahrhundert radikal von zwei sehr unterschiedlichen Denkern gestellt worden — sowohl von Karl Marx wie von Constantin Frantz. Zum letzteren wird noch ganz kurz etwas zu sagen sein.
Uber Marx im allgemeinen ist hier kein Wort zu verlieren, dagegen ist seine Konzeption von der Rolle der Partei anzudeuten. Die Partei ist für Marx das Kampf-und Machtmittel der jeweiligen Klasse und ihrer Untergliederungen. Daher tritt den konservativen, liberalen usw. Parteien, d. h.den Parteien der bürgerlichen Klasse, die kommunistische bzw. sozialdemokratische Partei der proletarischen Klasse als Todfeind gegenüber. Nicht zuletzt auch dank der Organisation und Strategie seiner Partei besiegt das Proletariat im welthistorisch letzten Klassenkampf die Bourgeoisie. In und mit der Errichtung der Diktatur des Proletariats wird die Arbeiterpartei zur proletarischen Staatspartei so wie der Staat zum sozialistischen Parteistaat wird. Beide, der neue Parteistaat wie die neue Staatspartei, stellen für Marx aber nichts anderes dar als ein ganz kurzfristiges Provisorium: Im Verlauf der permanenten proletarischen Revolution stirbt der Arbeiterstaat alsbald ebenso ab wie sich die Arbeiterpartei aufhebt. So schlägt die proletarische Diktatur über Nacht um in eine staats-und parteilose anarchische Assoziation, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist".
Marx und Engels (ebenso wie aber auch noch Luxemburg und Lenin!) zweifelten keinen Augenblick daran, daß dieser „Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit" im Weltmaßstäbe vor sich gehen würde. Natürlich würden damit die Einzelstaaten verschwinden — im Verlauf der Weltrevolution tritt die geeinte Menschheit an deren Platz. Naturnotwendig nimmt alsbald eine klassenlose Weltgesellschaft und herrschaftsfreie Weltgemeinschaft Gestalt an.
Der katholische Föderalist und Bismarckgegner Constantin Frantz ist von Cosima Wagner „ein berühmter Unberühmter“ genannt worden Er hatte zweifellos unvergleichlich viel weniger Ausstrahlungskraft als seine Zeitgenossen Marx und Engels — er, der sich selber Schlomo Na'aman Jüdische und israelische GesellschaftsStrukturen in ihrer europäischen Verbundenheit .................................................... S. 15 Peter Hüttenberger Politische Kultur und politische Entwicklung ........................................................ S. 21 einen „Idealrealisten" nannte, war auch erheblich nüchterner und vorsichtiger als die beiden Sozialisten. Alle drei waren jedoch durchaus zukunftsbezogene, , futurologisch orientierte Denker. Gerade in der Frage nach der Zukunft der Parteien ergeben sich zudem erstaunliche Analogien zwischen ihnen.
Frantz unterschied im Blick auf die Zukunft zwischen alten und neuen Parteien. Zu den alten rechnete er nicht nur die Konservativen, sondern auch die Liberalen — „alt war für ihn alle Politik, die nicht die Kraft und den Mut aufbrachte, in ihr Programm über den nationalen Bereich und über die nächste Gegenwart hinausgreifende Ziele aufzunehmen" Neue, zukunftsgestaltende Politik zielte seiner Meinung nach auf „die großen gemeinsamen Anliegen der Menschheit, Völkerverständigung bis zu einer in Stufen realisierbaren Föderation“ Als neue Parteien erkannte Frantz das katholische Zentrum und die Sozialdemokratie an, gehörten sie doch der „schwarzen“ bzw. „roten Internationale“ an und hatten sich damit der Menschheitsidee ganz anders genähert als die alten Parteien. Freilich waren auch sie ihm noch zu einseitig: Das Zentrum überbewertete das Geistig-Religiöse, die Sozialdemokratie das Materielle. Diese Mängel sollte eine ganz neue föderalistische „Partei der Zukunft" überwinden.
Bei allen Gegensätzen sind sich Marx und Frantz in einem doch einig: Die überlieferten politischen Parteien sind unauflöslich verquickt mit dem Aufkommen und der Existenz des Klassen-und Einzelstaates. Immer wieder haben sich die Parteien in den Staat integriert, sei dieser National-oder Nationalitätenstaat, Bundesstaat oder Einheitsstaat, Kleinstaat oder Weltmacht. Auch der Versuch von Parteien, sich international zusammenzuschließen, konnte hieran wenig ändern. Frantz hat bereits 1878 von einer „dreifachen Internationale“, der schwarzen, roten und goldenen, gesprochen. 75 Jahre später verweist Walter Dirks auf die christlich-demokratische Internationale mit ihren Equipes Internationales, um aber zuzugeben: „Diese Internationale ist keine einheitliche Kraft". Daran hat sich wohl in den letzten zwanzig Jahren kaum etwas geändert. Auch heute noch sind die christlichen Parteien Westund Mitteleuropas keine einheitliche politische Kraft, die die großen Herausforderungen der nächsten Jahre und Jahrzehnte, die kontinentaler und sogar globaler Natur sind, zu mei-stern vermöchte. Und das gilt wohl auch für den losen Zusammenschluß der liberalen Parteien. Auch diese gehen in allen entscheidenden Fragen ihre eigenen — nationalen — Wege, ähnlich wie die christlichen und sozialistischen Parteien.
Man mag sich darüber wundern: Auch die sogenannte rote Internationale ist nicht zu einer echten Weltorganisation auf Dauer ge-worden. Die 1864 von Marx mitbegründete Erste Internationale überlebte kaum das Ende der Pariser Kommune. Die sozialdemokratische Zweite Internationale brach beim Beginn des Ersten Weltkrieges zusammen. Als Sozialistische Arbeiterinternationale wurde sie 1923 wiederbegründet; sie lebt zwar heute in der Sozialistischen Internationale fort, aber diese ist auch nicht viel mehr als ein diplomatisches Forum für regelmäßige Zusammenkünfte sozialdemokratischer Führer, die wohlklingende und wohlgemeinte Erklärungen abgeben, auch wenn sie sich nur auf diese zu einigen vermögen. Aber auch auf dem revolutionären Flügel der Arbeiterbewegung sieht es nicht viel anders aus. Die linkssozialistische sogenannte Internationale Zweieinhalb dauerte ganze zwei Jahre — von 1921 bis 1923. Die in Moskau 1919 begründete Dritte Internationale glaubte bei ihrer Gründung, sie würde als Generalstab der Weltrevolution das Weltproletariat in wenigen Jahren zum Siege führen. Nach einer Kette von Mißerfolgen wurde sie von Stalin 1943 seinen Bundesgenossen zuliebe sogar offiziell aufgelöst, über das Kominform oder die trotzkistische Vierte Internationale brauchen wir nicht vie-le Worte zu verlieren.
Heute sind die kommunistischen Parteien entweder offen und ehrlich wieder zu nationalen Staatsparteien geworden, wie etwa die KP Chinas, Rumäniens oder Jugoslawiens. Aber auch die KPI ist als Massenpartei vor allem italienisch. Daneben gibt es nur noch Hegemonialparteien eines Machtblocks oder Imperiums wie die KPdSU oder Satellitenparteien wie die KPC, SED oder DKP. Christliche Studenten diskutieren die Möglichkeiten für eine „Europäische Demokratische Partei" — die Zusammenarbeit der verschiedenen sozialdemokratischen, liberalen usw. Parteien im Rahmen des Europarates oder der EG ist bisher nicht sehr weit gediehen. Eine Splitterpartei wie die Europäische Föderalistische Partei konnte bei den letzten Bundestagswahlen ganze 24 000 Zweitstimmen erzielen.
Der nationalstaatliche Wesenszug der Parteien wird schon deutlich, wenn man ihrem Ur-sprung nachgeht. Vereinfachend läßt sich feststellen, daß die moderne Partei zwei Vorläufer kennt: einmal die oligarchische Parlamentsgruppe oder Honoratiorenclique, das an-der Mal die religiöse, soziale oder politische Massenbewegung. Während sich jene mit der Erweiterung des Wahlrechts mehr und mehr demokratisiert und schließlich zur modernen „Volkspartei" wird, institutionalisiert sich umgekehrt die Bewegung, so daß aus dieser die durchorganisierte Massenpartei des modernen Klassenstaates entsteht.
Während nun in England schon nach der Revolution von 1689 die von den verschiedenen Parlamentsgruppen vertretenen Interessen der Fraktionen des Adels und der Gentry nicht in einem radikalen Gegensatz zu einander stan-den, ging auf dem Kontinent die Parteibildung von den Thron und Altar schärfer bekämpfenden Gruppierungen des liberalen Bürgertums im 19. Jahrhundert aus. Die rechten konservativen Parteien entstehen hier überhaupt erst in Reaktion auf die Bildung linker liberaler Oppositionsparteien. In einem späteren Stadium kommen dann die noch radikaleren Massenparteien hinzu, die aus den bäuerlichen, kleinbürgerlichen und vor allem proletarischen Bewegungen herauswachsen.
Die Macht der Rechten im Einzelstaat beruht nun nicht so sehr auf ihren Parteien als vielmehr auf einer ganzen Reihe anderer etablierter Institutionen wie Krone und Kirche, Adel und Grundbesitz, Heer und Bürokratie. Die Linke ist dagegen erheblich stärker auf die politische Partei angewiesen, will sie sich durchsetzen, Reformen verwirklichen, den Status quo einer Klassengesellschaft demokratisieren. Wie M. Duverger richtig sah, hatte daher ganz natürlich die Linke stets für die Partei viel mehr übrig als die Rechte.
Typisch hierfür ist etwa das Loblied eines so radikal demokratischen Dichters wie Herwegh:
„Partei! Partei! Wer sollte sie nicht neh-men,
Die doch die Mutter aller Siege war! ...
Ich hab'gewählt, ich habe mich entschieden,
Und meinen Lorbeer flechte die Partei!"
Kein Wunder, daß die Kommunisten als linke „Traditionalisten" schließlich ihre Partei vergottet haben. So spricht Wladimir Majakowski von der Partei als „Rückgrat der Arbeiterklasse", „Unsterblichkeit unserer Sendung“, „einzige Gewähr der Vollendung". Und für Bert Brecht hat die Partei „tausend Augen" und „viele Stunden", sie „kann nie vernichtet werden".
Als Reaktion auf die Verabsolutierung der Einparteiherrschaft und ihrer Führer durch die Kommunisten (wie am anderen Extrem auch durch die Faschisten) begann man nun aber auch auf der Linken die totalitäre Partei in Frage zu stellen. Das führte zwar zu einer Aufwertung des — nationalen — Mehrparteiensystems; die ursprüngliche, ungebrochene Bejahung der Partei ließ sich aber doch nicht einfach wiederherstellen.
Mithin ist das Verhältnis zur Partei ähnlich wie zum Einzelstaat heute häufig ein widersprüchliches: Einerseits spürt man, daß der einzelne Staat kaum ohne Parteien auskommen kann. So stimmen Duverger und W. Grewe v. d. Gablentz und Flach darin überein, daß trotz aller Mängel keine Alternative zum modernen Parteienstaat in Sicht ist: „Wer in der Mitte des 20. Jahrhunderts in Europa Demokratie, also verantwortliche Gesellschaft, will, der muß Parteien wollen“ (O. -H. v. d. Gablentz). Andererseits scheint die Parteiverdrossenheit keineswegs nachzulassen. Konservative Kreise verweisen auf die die nationale Einheit schwächende und den Zwiespalt fördernde Rolle der Partei. Radikale Gegner anarchistischer, syndikalistischer, internationalistischer oder sonstiger antiautoritärer Provenienz werfen insbesondere auch den linken Arbeiterparteien vor, daß diese sich in die bestehende Wirtschafts-, Gesellschaftsund Staatsordnung — und zwar in jedem handel — integriert und ihre ursprüngliche Konzeption von der Aufhebung des Klassenund Einzelstaates (und damit letztlich auch der Politik und der Partei selber) aufgegeben oder gar „verraten“ haben. In der Mitte wie auf der Rechten und Linken erinnert man zudem an die Unproduktivität, Unsachlichkeit oder gar Korruptheit einer Politik der Gewaltsamkeit, Doppelbödigkeit und Dummheit. Schon im 17. Jahrhundert hat ja der Kanzler Oxenstierna von dem Mangel an Weisheit gesprochen, mit dem die Welt regiert würde, und heute verweisen Kybernetiker auf die Lernfeindlichkeit von partikularen Institutionen und parochialen Systemen, die vor allem auf Macht und Ge-walt nach innen wie aber auch nach außen begründet sind.
Am ernstesten scheint uns aber doch wohl der Einwand, daß so gut wie alle Parteien stets und überall bestenfalls national, nicht* aber übernational und global orientiert waren, daß aber die einzelstaatlich begrenzte Partei im letzten Drittel unseres Jahrhunderts ebenso problematisch ist wie der nationale oder imperiale Staat, mit dem sie sich identifiziert.
Dies trifft auch auf die Parteien der Bundesrepublik zu. Ihre Identifizierung mit dem eigenen Staat stellt einen — bisher wenig beachteten — Wesenszug ihrer sogenannten Entideologisierung und Amerikanisierung dar. Insbesondere die sogenannte Entideologisierung ist viel gepriesen worden; man hat in ihr lediglich den Verzicht auf überholte Pro-gramme und Utopien sehen wollen. Soweit es sich um den Abbau von Dogmen und Illusionen, um eine echte Versachlichung gehandelt hat, mag sie in der Tat einen begrenzten Stellenwert haben. Es ist aber, um Alfred Grosser zu zitieren, ein Unterschied, „ob keine Ideologie verfochten wird oder von allen dieselbe". Wir könnten hinzufügen: Die „Ideologie der Ideologielosigkeit" Indem man sich auf das Hier und Heute einer sozialkapitalistischen Wirtschaft, einer spätbürgerlichen Gesellschaft und des jeweiligen Militärund Wohlfahrtsstaates begrenzt hat, hat man sicherlich auf jede Form von Utopie, kaum aber auf ideologische Fixierungen im weiteren Sinne des Wortes verzichtet.
Insofern haben sich zunächst auch die westdeutschen Parteien ähnlich wie die vieler anderer Länder in den letzten Jahren aneinander angeglichen. An die Stelle der alten Programm-Parteien sind die Allerweltsparteien, an die Stelle der Klassen-die Volksparteien getreten. Im gleichen Zuge sind die Parteien aber auch zu Patronage-, Dienstleistungsund Quasi-Staatsorganen geworden, die im Zeichen ihrer „Verstaatlichung" und „Nationalisierung" jedwede übernationale Orientierung und globale Zielsetzung, soweit sie überhaupt je vorhanden waren, zurückstellen. Nach den bitteren Erfahrungen der Weimarer Republik wird man wohl verstehen, daß heute unsere Parteien auf dem Boden der Verfassung stehen und damit der gewaltfreien Austragung ihrer Konflikte den Vorzug geben, übersehen wird hierbei aber doch meist, daß das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland immer noch (oder wieder!) die Verfassung eines mehr oder weniger „souveränen" Einzel-staates ist. Das findet seinen Ausdruck auch darin, daß sich SPD wie FDP wie CDU/CSU nicht nur zur Demokratie, zur „Sozialen Marktwirtschaft", sondern auch zur „Landesverteidigung“ bekennen. Sie alle glauben, die wahre Synthese von „Sozial", „Frei" und „Christlich" schon in den eigenen Reihen verwirklicht zu haben. Als „Volksparteien" wollen FDP und SPD auch die Interessen der Selbständigen und Unternehmer wahrnehmen; andererseits gelingt es der CDU/CSU nach wie vor, erhebliche Teile der Lohnabhängigen — katholische Arbeiter wie protestantische Angestellte und Beamte — zu mobilisieren.
Sind aber CDU und SPD, CSU und FDP wirklich einfach gleichzusetzen? Wie weit die Angleichung und „Konvergenz" nun auch gegangen sein mögen, so scheint der Trend zur „Anähnelung“ in sein Gegenteil umgeschlagen zu sein. Ein stärkeres Verlangen nach Programmatik und Theorie ist insbesondere auf der Linken zu spüren. Darauf deuten in der SPD die Debatten um das Langzeitprogramm hin, zugleich aber auch die Kritik der Jungen Union und noch stärker die der Jung-demokraten und Jungsozialisten an den Parteiestablishments. Freilich hat sogar die radikalste Kritik am „Spätkapitalismus" oder an der „Formaldemokratie" bisher kaum die Einzelstaatlichkeit der Bundesrepublik grundsätzlich in Frage gestellt. Selbst die Linken in der FDP und SPD haben die politische Parzellierung der Welt mit ihren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen noch kaum konkret analysiert. Ein Langzeitprogramm für den politischen und sozio-ökonomischen Neubau der Welt ist noch nicht diskutiert, geschweige denn beschlossen worden. Vielleicht ist auch das ein Symptom dafür, daß heute ganz anders als gestern die kurz-oder vielleicht auch sogar mittelfristigen Interessen der Lohnabhängigen in einem Industrieland wie der Bundesrepublik nicht einfach identisch sind mit denen der verelendenden Massen in der Dritten Welt.
Immer wieder muß daran erinnert werden, wie sehr sich die Parteipolitik im wesentlichen noch im Rahmen der tradierten Institutionen wie Justiz und Armee, Wirtschaft und Familie, Kirche und Staat abspielt. Keineswegs verschwunden ist auch die von der Vergangenheit geprägte typische Konzentration auf die Tagespolitik, auf das, was man in den USA nicht zufällig etwas abwertend „poli-tics" nennt, das heißt also Patronage und Personalpolitik, Kuhhandel und Korruption, Borniertheit und Duplizität. Das Eigeninteresse des Parteipolitikers an der Organisation, am Apparat, am „Betrieb" wirkt eher zugunsten der Bewahrung „privatistischer" Verhaltensweisen und starrer Strukturen als der Realisierung globaler und dynamischer Zukunftsvorstellungen. Insofern die Partei von heute in aller Regel langfristige Menschheitsinteressen kurzfristigen Sonderwünschen und -Vorstellungen unterordnet, ist sie nach wie vor alles andere als eine „Partei der Zukunft".
Wir haben von dem Trend der modernen Partei gesprochen, zu einem „Quasi-Staatsorgan" zu werden. Der moderne Wohlfahrts-, Verwaltungs-und Militärstaat erscheint aber immer mehr auch als riesige Bürokratie. Was liegt da näher, als daß die Verschränkung der Partei mit dem Staat sich auch in einer Bürokratisierung insbesondere der großen Parteien auswirkt. Eine Großpartei erinnert heute an ein stattliches Bauwerk. Sie verfügt über viele Stockwerke und Flügel, Höfe und Nebengebäude. Hier stoßen wir auf die Stäbe und Büros, die Archive und Schulen, die Fachgruppen und Unterausschüsse. Hier begegnen wir neben den einfachen Mitgliedern den Aktivisten, Funktionären und Führern, aber auch den Sekretären, Geschäftsführern und anderen „Bürokraten". Die moderne Partei ist in der Tat ähnlich wie eine Staatsverwal7 tung oder ein Großunternehmen ein Apparat oder, wie man in Amerika sagt, eine „Maschine“.
Die Großpartei von heute ist um so stärker auf einen ausgebauten Parteiapparat von hauptamtlich tätigen Funktionären und Parteibeamten angewiesen, als sie jetzt im Zeitalter des allgemeinen Wahlrechts nicht nur große Wählermassen erfassen, sondern zudem die widerstrebenden Gruppen und Verbände der modernen Gesellschaft möglichst weitgehend integrieren möchte. In dem Maße, wie die Partei mit dem stets expandierenden modernen Staat zusammenwächst, sucht sie zudem immer neue Bereiche des öffentlichen Lebens zu beeinflussen und mit ihren Anhängern zu besetzen.
Heute begnügen sich die großen Parteien nicht mehr damit, Parlamentarier und Minister, Stadtverordnete und Bürgermeister, Gemeinderäte und Landräte zu stellen. Sie versuchen, ihre Anhänger in der Verwaltung unterzubringen oder die Beamten als Parteimitglieder zu gewinnen. Darüber hinaus gelingt es ihnen aber auch immer mehr, die Anstalten, Körperschaften und Stiftungen, die Verwaltungsräte und Kammern, die Organe der Sozialversicherung, des Rundfunks und sonstiger Kulturgremien paritätisch zu besetzen. Auf die Problematik dieser Entwicklung gerade auch für das Wirken parteiunabhängiger Persönlichkeiten und Gruppen braucht hier nicht eingegangen zu werden.
Besonders bedeutsam ist die ständige Einflußnahme der Parteien auf die öffentliche Meinung ihres Landes. Die Parteien suchen durch zahllose Verlautbarungen verschiedenster Art nicht nur die Presse, den Rundfunk, das Fernsehen und die anderen Massenmedien zu beeinflussen, sie wollen auch die Meinungsund Willensbildung eines jeden Staatsbürgers — sowohl des einzelnen wie aber auch des Mitglieds eines Verbandes oder einer Gruppe — mitgestalten. Ob man hier im Sprachgebrauch der SED und der DKP von Agitation und Propaganda reden will oder die sich heute in der Bundesrepublik immer mehr durchsetzenden modernen Formen der Werbung und Reklame meint, ist dabei nicht entscheidend. Diese Massenbeeinflussung erreicht natürlich ihren Höhepunkt in den Wahlkämpfen. Glaubt man von einem zunehmenden Funktionsverlust der Parteien sprechen zu sollen, so bezieht sich dieser auf ihre Rolle als Vehikel der politischen Dynamik — ihre Position als großzügige Lieferanten von Wahlpropaganda ist hiervon quantitativ keineswegs betroffen.
Der Prozeß der Meinungsund Willensbildung, der Einflußverteilung und Machtverschiebung in der Großpartei ist komplex. In der Regel ist in allen Parteien das Gewicht der Parteiführungen und der hauptamtlichen Funktionäre verhältnismäßig groß. Nicht zufällig hat der Soziologe Roberto Michels sein Gesetz von den oligarchischen Tendenzen im modernen Gruppenleben gerade an Hand der demokratischen Parteien demonstrieren wollen. Immerhin hat es Zeiten gegeben, in denen, wenn schon nicht die große Masse der Mitglieder, eine beachtliche Anzahl von Aktivisten bei der Gestaltung des Programms und der Politik dieser oder jener Partei ein gewichtiges Wort mitgeredet hat. Innerparteiliche Demokratie und Willensbildung von unten nach oben waren insbesondere für sozialistisch-demokratische Massenparteien in Zeiten der Krise oder eines Neubeginns typisch. So haben sich auch in den ersten Jahren nach 1945 in verschiedenen Parteien Stimmung und Meinung der Mitglieder und Funktionäre in dieser oder jener Frage gelegentlich auch gegen erhebliche Widerstände von oben durchgesetzt — in der FDP ebensogut wie in der CSU oder in der DP. Auch in einer Partei, die nach außen hin stets so geschlossen und diszipliniert auftrat wie die SPD, war doch zur Zeit Schumachers und Ollenhauers das Gewicht der unteren Parteiorgane nicht einfach zu ignorieren.
In der einen oder anderen Partei fehlt also das demokratische Element nicht ganz — und doch ist überall ein Trend zur Willensbildung von oben nach unten unverkennbar. In die-sem Punkt unterscheiden sich die Parteien gar nicht so sehr voneinander. Größer sind da schon die Differenzen bei der Verschränkung von Partei und Staat. Am engsten ist diese natürlich bei einer Staatspartei wie der SED. Aber auch eine scheinbar „ewige" Regierungspartei wie die CDU/CSU konnte auf Bundesebene viele Parteifunktionen auf Regierungsstellen übertragen. So hat der Parteiführer Adenauer, solange er noch Bundeskanzler war, immer wieder staatliche Amtsträger wie Minister, Staatssekretäre oder Angehörige der Ministerialbürokratie mit wichtigen Parteiaufgaben betraut. Zwar konnte sich die Fraktion, insbesondere aber die Fraktionsführung, gelegentlich mit Erfolg in die Führung der Partei einschalten; die eigentlichen Führungsgremien der Parteiorganisation sind aber kaum funktionsfähig gewesen. Im lokalen und regionalen Bereich haben allerdings auch CDU-Organe oft wichtige Entscheidungen gefällt — die Landesverbände der FDP waren sogar lange Zeit so gut wie selbständig. Bei der SPD haben die Bezirksleitungen die Landespolitik mitgestaltet — von einer Verschränkung mit der Bundesregierung konnte natürlich vor 1969 nicht die Rede sein.
Gerade in Deutschland befürchtet man immer noch, daß, wenn je Streit und Hader bekannt werden sollten, eine solche Publizität das „Image" einer Partei beeinträchtigen würde. Das Ideal bleibt Geschlossenheit und Einmütigkeit. Freilich ist dieses Vorurteil nicht bei allen Parteien gleich stark. Die Situation bei einer so monolithisch geschlossenen Partei wie der DKP oder SED ist anders als bei einer Partei wie etwa der CSU, wo man die wirklich vorhandenen Gegensätze nicht immer mit Erfolg zu verdecken vermochte; die FDP ist sogar bereit, die immer wieder auftauchende Flügelbildung als ein Lebenselement einer liberalen Partei offen zuzugeben.
Ebenso wie Konflikte in anderen Organisationen weisen auch innerparteiliche Auseinandersetzungen sehr unterschiedliche Erscheinungsformen auf. Die Differenz kann z. B. mehr persönlicher oder mehr sachlicher Natur sein. So kann man zwischen Kämpfen vor allem um die Besetzung von Positionen in der Partei, die Macht und Einfluß, Prestige und Patronage mit sich bringen, und dem Aufeinanderprall entgegengesetzter programmatischer Standpunkte unterscheiden. Hier geht es oft um Struktur und Funktion der Partei überhaupt: Man will die eine oder andere Linie in mehr oder wichtigen Einzelfragen oder auch im Blick auf die gesamte Strategie und Taktik durchsetzen. Sowohl persönliche wie sachliche Gegensätze können wiederum im direkten Kampf gegeneinander ausgetragen werden, bei dem sich die Gegner gegenseitig zu schwächen oder gar zu vernichten suchen; Differenzen können aber auch zu einer Konkurrenz miteinander um die Gunst von Funktionären oder Mitgliedern, Wählern oder öffentlicher Meinung führen. Diese kann sogar die Form eines echten „Leistungswettbewerbs" annehmen, der dem „Parteipublikum" zugute kommt.
Die'innerparteilichen Auseinandersetzungen können sich auf verschiedenen Ebenen abspielen. Der Konflikt kann auf die Gegnerschaft einzelner Mitglieder oder weniger lokaler Verbände gegen die Partei oder die Führungsgruppen beschränkt bleiben. Gegen eine immer noch relativ geschlossene Führung kann sich aber auch eine breite Front von „Abweichlern" formieren; die Opposition kann schließlich auch größere Massen von Funktionären und Mitgliedern mobilisieren; es mag dann zu einem wahren Krieg zwischen größeren Gruppierungen und festen Fraktionen kommen. Jeder innerparteiliche Konflikt kann mit dem Sieg der einen Seite und dem Ausschluß der Unterlegenen enden oder mit einem Kompromiß der Gegner; er kann aber auch zu einer längere Zeit unentschieden schwelenden Parteikrise führen. Nur in diesem Fall dürfte tatsächlich die Gefahr der Schwächung oder gar des Zerfalls der Partei ernst zu nehmen sein; umgekehrt kann eine innerparteiliche Auseinandersetzung, die so oder so relativ rasch gelöst wird, sogar eine Verjüngung und Stärkung, Mobilisierung und Dynamisierung der Partei zur Folge haben. Innerparteiliche Kämpfe haben ein unterschiedliches Gewicht in den verschiedenen Parteien. Vereinfachend kann man wohl sagen, daß ideologische oder programmatische Differenzen in Rechtsparteien weniger Gewicht haben als in Linksparteien. Da konservative Parteien eher dazu neigen, die überlieferten Verhältnisse zu bewahren und die Entwicklung ihrer Eigendynamik zu überlassen, werden bei ihnen die Gegensätze häufig eher personal als programmatisch sein. In den Linksparteien, insbesondere in der sozialistischen Bewegung, hat man dagegen Fragen des Programms fast immer sehr ernst genommen, ja sogar gelegentlich geglaubt, eine programmatische Festlegung sei entscheidend, insofern sie den praktischen Kurs der Partei eindeutig bestimmen würde. Freilich mag sogar bei Parteien, die als Linksparteien angetreten sind, das innerparteiliche Leben so sehr erstarrt sein, daß sie sich von den Rechtsparteien auch in dieser Hinsicht kaum noch unterscheiden.
Der Aufbau und die Willensbildung, d. h. die sogenannte Binnenstruktur der heutigen im Einzelstaat operierenden Parteien, tragen das ihre dazu bei, die Tendenz der Entfremdung der Parteien von den globalen und epochalen Problemen von heute und morgen zu verstärken. Gerade hier stoßen wir auf das, was wir mit dem Begriff „politics" im Sinne von traditioneller Parteipolitik angedeutet haben. Politics als machtorientierte Personalpolitik ist Ausdruck eines fehlerhaften Kreislaufes, der durch diesen wiederum verstärkt wird. Solange sich die so verstandene Politik auf der Ebene antagonistischer Einheiten wie der Staaten oder Parteien abspielt, verleitet diese Form des Kampfes zwischen den Staaten, Parteien, Fraktionen usw. die Machthaber immer wieder dazu, ihre Herrschaft auch gegenüber ihren eigenen Wählern, Parteimitgliedern usw. zu stabilisieren oder gar zu maximieren. In einer solchen Kampfsituation wird die Macht selber zu einer unheimlichen und selbständigen Größe, die in ihrer Entfremdung die gewaltfreie und global orientierte Lösung der Konflikte erschwert. Das Fehlen effektiver und weltweiter Institutionen und Strategien, planetarischer Prognosen und Planungen verführt dazu, daß jede Machtgruppe ihre Macht eifersüchtig hütet und die Initiative zum Machtabbau den anderen zuschiebt. Es ist also immer wieder der andere, der möglichst viele Zugeständnisse an die eigenen parteilichen Interessen und parochialen Vorurteile machen soll. Das ist im Prinzip das gleiche Spiel, ob es sich nun innerhalb der Parteien, der Staaten oder gar zwischen diesen abspielt. Dieser fehlerhafte Kreislauf ist natürlich nur schwer zu durchbrechen.
Sehen wir einmal von einigen relativ kleinen . und wenig aussichtsreichen abstrakt-utopisch ausgerichteten revolutionären Gruppen ab, so geht es ja in allen größeren Parteien immer wieder um die Durchsetzung der unmittelbaren Partikularinteressen der Unternehmer, Angestellten oder Arbeiter, der Produzenten oder Konsumenten, und zwar in den Grenzen der bestehenden Wirtschafts-und Staatsordnung. Selbstverständlich fallen dabei die Interessen der Mächtigen und Besitzenden besonders stark ins Gewicht. Es ist deren Haltung, Mentalität und Ideologie, die die Politik der Parteien weitgehend begrenzt und bestimmt. Daß die oberen Zehntausend in der Regel an der Aufrechterhaltung des Status quo interessiert sind, daß es ihnen besonders schwer fällt, den Sinn weitreichender Innovationen zu verstehen, wenn diese eine Umverteilung von Macht, Besitz und Bildung zur Folge haben, dürfte einleuchten. Daß sie dabei als Menschen und Weltbürger auf längere Sicht gesehen doch von der Neuordnung Nutzen ziehen sollten, ist oft einfach nicht einsichtig zu machen. Es wäre aber illusionär anzunehmen, die sogenannten Unterprivilegierten hätten automatisch das richtige Bewußtsein von den umfassenden langfristigen Interessen ihrer selbst oder gar der Menschheit. Dem wirkt schon auch bei den Benachteiligten ein uralter psychologischer Mechanismus entgegen, der bewirkt, daß allzu häufig Unterdrückung und Ausbeutung von oben als Aggression nach unten oder außen abreagiert werden können und werden. Das ist sicherlich ein wesentlicher Grund dafür, daß die Massen so oft bereit sind, die Privilegien der beati possedentes hinzunehmen und sogar in deren Fußstapfen zu treten. Diese Bereitschaft ist um so größer, je mehr sie immer noch zu verlieren haben und je stärker sie sich folglich zu Recht oder zu Unrecht von anderen — Staaten, Schichten, Parteien usw. — bedroht fühlen.
Gerade heute ist aber nun die Masse der Lohnabhängigen selber in der Bundesrepublik wie in den anderen Industriestaaten durchaus privilegiert gegenüber den Milliarden Massen in der Dritten Welt — ein Grund mehr, sich immer wieder mit den Privilegierten zu identifizieren. In anderen Worten: Der Durchschnittsmensch wird nicht so sehr durch gründliche Kenntnisse, rationale Überlegungen oder umfassende Erfahrungen motiviert, als durch enge Interessen und uralte Vorurteile, unbewußte Antriebe und fixierte Charakterstrukturen. Woher sollten die meisten auch die Zeit und Muße nehmen, umfassend und objektiv zu denken, so lange sie vor allem für sich selber und ihre Familien arbeiten müssen? Solange der Durchschnitt der Menschen ganz von der Sorge für das Heute und Hier erfüllt ist, werden sich allzu viele die meiste Zeit nur recht oberflächlich und gelegentlich für öffentliche Angelegenheiten, die den einzelnen nicht unmittelbar berühren, interessieren. Schließlich qualifizieren auch Ausbildung und Bildung den „Normalbürger" kaum dazu, sich intensiv mit jenen komplexen Fragen auseinanderzusetzen, die räumlich und zeitlich weiter weg liegen. „Nur wenige denken weit voraus in die Zukunft von einem globalen Gesichtspunkt aus“ — „je größer der mit einem Problem verknüpfte räumliche und zeitliche Bereich ist, um so weniger Menschen befassen sich mit der Lösung eines solchen Problems."
Was also bisher stets und überall nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, zweifellos aber gerade auch hier, wie bei den meisten anderen Institutionen unserer Gesellschaft, so auch bei den Parteien, immer wieder zu kurz gekommen ist, ist die Organisierung, Institutionalisierung und Realisierung des von dem Jugoslawen S. Stojanovic so genannten homo universalis oder integralis, der in jedem von uns mehr oder weniger steckt, allzu oft aber von den vielen widersprüchlichen und kurzsichtigen Interessen des homo multiplex verdeckt wird. Das ist ganz augenfällig so in den westlichen pluralistisch-privatistischen Demokratien, wo, um mit Marx zu sprechen, „der Mensch in seiner sinnlichen individuellen nächsten Existenz", dagegen „der wahre Mensch erst in der Gestalt des abstrakten citoyen anerkannt" ist. Alle Versuche der großen Revolutionen — von der französischen bis zur chinesischen —, durch Terror und Diktatur das egoistische Individuum auch nur zugunsten des citoyen, d. h.des Staats-Bürgers, einfach zu beseitigen, haben eigentlich das Übel eher noch vermehrt, zumal auch hier der Bürger kaum je als Weltbürger, vielmehr höchstens als Staatsbürger ins Spiel kommt. Bleiben doch auch die anspruchsvollsten Programme der totalitären Parteien an dem Partikularinteresse von Einzelstaaten ausgerichtet, während die sozialkapitalistisch-spätbürgerlichen Parteien sich sogar recht ehrlich vor allem auf die Vertretung kurzfristiger Sonderinteressen innerhalb des jeweiligen Staates konzentrieren. Daß hier wie dort so die epochalen und globalen Probleme einer in dynamischem Wandel sich befindenden Welt immer wieder zu kurz kommen müssen, bedarf keines Beweises.
Sicher kann in Krisenzeiten eine besonders weitsichtige, tatkräftige und geschickte Partei der Revolution oder Reform die Tagesinteressen transzendieren — die Entwicklungen in Osteuropa seit 1917 und seit 1945 oder in China seit 1911 wären ein Beispiel für die Mög-lichkeiten, aber auch für die Grenzen weitreichender sozio-kultureller Neuordnung — aber auch stets in den Grenzen der einzelnen Staaten. Auch im 19. Jahrhundert (und ähnlich in England nach 1945) konnten wichtige Programmpunkte liberaler, radikal-demokratischer und sozialistischer Parteien wie Parlamentarisierung oder Demokratisierung des Wahlrechts, 8-Stunden-Tag oder Nationalisierung gegen erhebliche Widerstände durchgesetzt werden. Andererseits ist eine Politik noch so rationaler Reformen immer wieder nicht zuletzt auch als Folge nationalstaatlicher Begrenzung auf Schwierigkeiten gestoßen und von Rückschlägen begleitet gewesen. Das Zurückweichen von Reformparteien vor den etablierten Mächten ist ein altes Lied.
Der Bedarf nach Reform und Innovation im Weltmaßstäbe hat heute wahrlich revolutionäre Ausmaße angenommen; die Fähigkeit unserer tragenden Institutionen und Organisationen zur großen Transformation bleibt dagegen hinter den Erfordernissen der Stunde erschreckend zurück. Insofern kann man mit amerikanischen Soziologen von einem Hinterherhinken, einem cultural lag, sprechen, wobei dieses Zurückbleiben nicht zuletzt am Verhältnis von Weltgesellschaft zu nationaler Politik, Wirtschaft und Gesellschaft deutlich wird.
Die Krise, die zumindest seit 1914 offenkundig ist, durchzieht ja erstmals in der Geschichte der Menschheit die dreigeteilte Weltgesellschaft, die zugleich doch schon auch eine Welt ist, als ganzes. Zudem werden die Herausforderungen oder challenges größer und die Zeitspannen für die Lösungen kürzer. Das gilt sicherlich für die globalen Kernfragen — Rüstungswettlauf, Militarisierung und Kriegsgefahr; Bevölkerungsexplosion und Hunger in der Dritten Welt; Umweltbedrohung in den Industriegesellschaften; Macht-konzentration in den Händen antiquierter Staatsbürokratien und engstirniger Wirtschaftsmagnaten; Verunsicherung, Frustration und Aggressivität der Individuen —, um nur die allerwichtigsten Probleme zu nennen.
Wir brauchen nur prinzipiell die Lösungsmöglichkeiten dieser Probleme mit den Stichworten Abrüstung und Weltfriedensordnung, Stabilisierung der Weltbevölkerung und Modernisierung der Dritten Welt, Umweltsanierung, Demokratisierung des Staates und Sozialisierung der Wirtschaft, Humanisierung von Gesellschaft und Mensch anzudeuten, um klar zu machen, daß die große Transformation nichts anderes sein kann als ein permanenter Prozeß tiefreichender Strukturreformen bzw. gewaltfreier Revolutionen von wahrlich planetarischem Ausmaß. Er zielt vor allem ab auch auf die Überwindung der historisch begründeten national-und machtstaatlichen Herrschaftsstrukturen mittels einer neuen globalen Gesellschaftspolitik der Menschheit. Bei dem ganzen Ernst der Situation ist wohl der Vergleich mit einem Weltkrieg nicht übertrieben. Wenn wir uns aber schon heute und noch mehr morgen überall auf der Welt im „Kriegszustand" mit den regressiven Kräften und destruktiven Momenten des Menschen befinden, so wäre zu fragen, ob nicht eigentlich ähnlich wie im Kriege auf Jahre hinaus geradezu ein universaler Notstand der gesamten Menschheit ausgerufen werden müßte? Können wir denn anders die erforderlichen Kräfte auf den verzweifelten Kampf gegen die die Existenz oder zumindest die Kultur der Menschheit bedrohenden Gefahren konzentrieren? Wären wir etwa sonst bereit, auf Rüstung und Raumfahrt, Luxus und Konsummaximierung, ja vielleicht sogar auf die unbeschränkte Vermehrung und so manches andere, an das wir uns schon sehr gewöhnt haben, zu verzichten, wobei zudem anders als in den bisherigen Kriegen gerade die Privilegierten die größeren Opfer zu bringen hätten?
Das heißt aber für unser spezielles Thema, daß gerade die Parteien in Deutschland, Europa und der Welt sich selber grundlegend wandeln müßten, wollten sie fähig werden, die Einzelstaaten in eine Weltföderation zu integrieren, die Verfügungsgewalt über Privat-oder Staatsunternehmen vermittels von Gemeinschaften, die von den Produzenten im Be-trieb bis zur Weltgesellschaft zu reichen hätten, zu „vergesellschaften“, die nationalen Kulturen in einer Weltkultur „aufzuheben".
Daß eine solche Politik für die Rechtsparteien eine ungeheure Umstellung voraussetzen würde, liegt auf der Hand. Bei aller „Konvergenz" von links und rechts mögen die Chancen für die Herausbildung primär planetarisch-progressiv agierender Parteien auf der Linken noch immer größer sein als auf der Rechten, wobei jedes Abgleiten der Linken in einen illusionär-utopistischen Linksextremismus nur von Übel sein könnte.
Es wäre aber doch wohl illusionär anzunehmen, daß traditionsreiche, wohl etablierte Massenparteien, auch auf der Linken, rasch lernen könnten, global und langfristig zu fühlen und zu wollen, zu denken und zu handeln. Schon die große Zahl verleitet zur Anpassung an den Durchschnitt und an die sogenannten Sacherfordernisse der Macht und „Verantwortung". Letztlich wird jede Regierungssuppe, ganz gleich auf welchem Ofen, doch mit viel Wasser gekocht. Je größer eine Partei wird, um so schwerer fällt es ihr auch, die Patronage hinter dem Programm hintanzustellen, die Taktik hinter der Strategie zurücktreten zu lassen. So entsteht ein Vakuum än globaler Politik und langfristiger Planung.
Läßt sich nun aber ein neuer Parteitypus denken, der diesen Leerraum wenigstens teilweise ausfüllen könnte? Sicherlich könnten sich so manche, die sich stärker als Welt-und Zukunftsbürger fühlen und die in der Lage sind, dem homo integralis in ihnen selber den Vorrang einzuräumen, in neuartigen Parteien zusammenschließen. Das hieße aber auch, daß alle die, die vor allem aus persönlichen oder auch sachlichen Erwägungen an der Übernahme von Posten und Positionen interessiert sind, einer solchen Partei fernbleiben und ferngehalten werden sollten. Eine solche Partei sollte für ihre Ideen und Ziele offen werben; sie könnte sich auch an Wahlen beteiligen und versuchen, ins Parlament zu kommen, um dort um so wirkungsvoller ihren Standpunkt zu vertreten. Sie hätte aber deutlich zu machen, daß sie nicht erwartet, zur Mehrheitspartei zu werden. Mit den größeren Parteien würde sie konkurrieren, diese aber zugleich auch komplementieren. Auch dort, wo es zu offenen Konflikten kommen müßte, wäre sie stets bemüht, diese zu rationalisieren, zu humanisieren, zu demokratisieren. In der Opposition wie auch als kritische Stütze der Regierung könnte sie damit eine überlegen gewaltfreie Haltung dokumentieren, über die Tagespolitik hinaus würde sie stets ebenso bestimmt wie sachlich die größeren und schwierigeren Probleme zur Sprache bringen. Eine solche Partei wäre daher ihrer Natur nach eine „ewige“ Minderheitsund Oppositionspartei — nur ausnahmsweise könnte sie einmal eine Regierung bedingt stützen und punktuell tolerieren. Von den bisherigen kleineren Parteien, wie etwa einer Bauern-oder Gewerbepartei, einer Bayernpartei oder einem Zentrum, würde sich diese Partei gerade darin unterscheiden, daß sie nicht die besonderen Interessen einer ökonomischen Schicht oder regionalen Gruppe vertreten würde, sondern umgekehrt die allgemeinsten Interessen und umfassendsten Ideen zu ihrem Sonderanliegen zu machen hätte. Paradoxerweise wäre damit endlich das „Universale" auch als das Spezifisch-Spezielle organisiert.
Neben der Entwicklung eines solchen neuen Parteitypus bliebe nach wie vor die Universa-lierung und Demokratisierung der größeren Parteien auf der Agenda. In Kreisen, die ernsthaft an der Demokratisierung der Gesellschaft wie der Parteien interessiert sind, diskutiert man u. a. auch neue Formen unmittelbarer Demokratie — diese reichen von der Einführung plebiszitärer Verfahren über die Organisierung von Bürgerinitiativen und -bewegungen bis zur Neubelebung von Räten. Nach Theodor Ebert könnte „ein sich verdichtendes Geflecht solcher Bürgerinitiativen im nächsten Jahrzehnt die bewußtseinsmäßige und machtpolitische Basis für Strukturreformen schaffen ... Das zukünftige politische System der Bundesrepublik könnte in dem Prozeß der Strukturreformen so aussehen, daß die reformwilligen Kräfte in den Parteien mit den Basisinitiativen rückgekoppelt werden ... Die basisdemokratische Partei der Zukunft würde sich aus dem Geflecht der außerparlamentarischen Bürgerinitiativen, im Reproduk-tions-und im Produktionsbereich rekrutieren, und die Politiker in den repräsentativen Organen wären nun zu Strukturreformen fähig, da sie um die kämpferische Kapazität der Basisgruppen wüßten und ihre Maßnahmen zur Ablösung traditionaler Herrschaft mit den direkten Aktionen der Basisgruppen koordinieren könnten.“ Zugleich werden sich aber immer mehr Bürger nicht länger nur als Partei-bürger, sondern auch als Staats-, vor allem aber als Weltbürger fühlen und in diesem Sinne „überparteilich" mit Gleichgesinnten in anderen Parteien Zusammenwirken müssen, wie überhaupt die Vielfalt der organisatorischen Ansätze und der politischen Strategie nicht so sehr als Not, denn als Tugend gesehen werden sollte.
Daß sich die tradierten einzelstaatlichen Parteien über Nacht zu Weltparteien vereinigen, ist kaum zu erwarten. Dennoch wird man immer wieder darauf verweisen müssen, daß alle Parteien ganz anders als bisher die langfristigen Interessen der Menschheit ausfindig zu machen und zu berücksichtigen haben werden. So sollten wir illusionslos jeden Ansatz zur Fortentwicklung nationalstaatlicher Parteien in Richtung auf kontinentale und Welt-parteien fördern, übernationale und globale Parteiföderationen können zugegebenermaßen wohl nur funktionieren, wenn wir auf dem Wege zur „Weltinnenpolitik" fortgeschritten sind — sie selber wären aber auch ein wichtiges Mittel zur Überwindung weltbedrohender Staatssouveränitäten und Machtblöcke. Der so verzweifelt dringliche Ausbau der Vereinten Nationen zu einem wirksamen Friedensinstrument müßte wohl nicht nur mit der erheblichen Stärkung der Exekutive und Judikatur eingeleitet werden, er setzt auch die Bildung zumindest eines beratenden Weltparlaments voraus. In-dessen Rahmen könnte aber wohl auch nur ein Mindestmaß an gewaltfreier Koordination der Kontingente und an rationaler Kooperation der Nationen lediglich mittels weltweiter Parteizusammenschlüsse verwirklicht werden. Daß schließlich eine mehr universalistisch orientierte kleinere Partei ganz anders als die auf Mehrheiten ausgehenden Großparteien die nationalen Interessen hinter der internationalen Orientierung zurücktreten lassen könnte, müßte einleuchten.
Das Endziel läßt sich so umschreiben, daß die Parteien wie der Staat ihre allzu engen staatlich-nationalen Schranken in doppelter Richtung zu überwinden haben, einmal durch Übertragung von Funktionen auf kleinere, bürgernähere regionale oder auch lokale Gruppierungen, Bewegungen und Initiativen, zum anderen aber auch durch Delegierung von Kompetenzen auf überstaatliche kontinentale und globale Zusammenschlüsse, Föderationen und „Internationalen".
Das Unbehagen an den Parteien und die In-fragestellung der parlamentarischen Demokratie haben bei uns vielleicht — noch? — nicht den Charakter akuter Krisenerscheinungen. Daß die Mehrparteiensysteme wie der demokratische Parlamentarismus überhaupt recht und schlecht nur in einer recht bescheidenen Zahl von Staaten funktionieren, dürfte aber unleugbar sein. Wenig spricht auch dafür, daß diese „Altersschwäche“ eines Systems und einer Prozedur im Rahmen des überlieferten Einzelstaates in absehbarer Zeit zu korrigieren wäre. Wenn die parlamentarische Demokratie wie die demokratische Partei eine Zukunft haben, so liegt diese wohl in ihrer Ausweitung, d. h.der Übertragung ihrer Strukturen und Funktionen auf neu zu bildende kontinentale und globale Föderationen. Der Rest des Jahrhunderts ist von der Gefahr verheerender Menschheitskatastrophen oder zumindest einer Regression zu neocäsaristisehen Gesellschaftsformen überschattet — die rechtzeitige Entfaltung neuer Formen von Föderation und Partei wäre vielleicht ein nicht unwesentlicher Beitrag zur Verringerung jener Gefahren und damit auch zur späteren Verwirklichung einer liberal-sozialistischen Weltgesellschaft.