„Widerspruch ist zu erwarten." Das kündigte nicht nur die Redaktion von „Aus Politik und Zeitgeschichte" bei der Veröffentlichung der Standortbestimmung vorsorglich an; damit hat auch der niederländische Interkirchliche Friedensrat (IKV) von vorneherein gerechnet. Ja, er hat sogar darauf gehofft. Denn die Weisheit für sich gepachtet zu haben, beansprucht der IKV keineswegs. Mit seinem Positionspapier hat er lediglich beabsichtigt, die Diskussion über die Zukunft Europas anzuregen. Kritik ist deshalb erwünscht, Widersprich willkommen. Im Verlauf einer engagiert geführten Sachdebatte, und nur so, mag es vielleicht gelingen, die in der Standortbestimmung aufgeworfenen Fragen hieb-und stichfest zu beantworten.
I
So wird es dankbar begrüßt, daß Herr von Merkatz das niederländische Diskussionsangebot aufgegriffen hat. Daß dieser erste schriftliche Diskussionsbeitrag in der Bundesrepublik zur Standortbestimmung des IKV von einem erfahrenen Politiker stammt, ist besonders erfreulich. Wie in den Niederlanden bereits gelungen, sucht der IKV nämlich auch in der Bundesrepublik gerade mit denen, die politisch eine besondere Verantwortung tragen, ins Gespräch zu treten; handelt es sich doch bei dem angeschnittenen Problemfeld um ein eminent politisches Thema.
Deshalb haben sich die Autoren des IKV davor gehütet, mit erhobenem Zeigefinger als pazifistische Moralisten oder weltfremde Christen, mithin unpolitisch, zu argumentieren. Mit Herrn von Merkatz stimme ich darin überein, daß das Gebot „Liebet eure Feinde", im Kontext einer politischen Kontroverse pauschal in die Debatte geworfen, nichts beweist. Kurz-schlüssig auf irgendein aus dem Zusammenhang gerissenes Bibelzitat, in welcher Über-setzung auch immer, sich zu berufen — diesen Fehler hat der IKV jedenfalls vermieden. Der politischen Verantwortung des Christen trachtet der IKV vielmehr dadurch gerecht zu werden, daß er sich darum bemüht, zu der allen, Christen wie Nichtchristen, gemeinsam gestellten Aufgabe, eine dauerhafte Friedensordnung zu errichten, vernünftige Stellung zu beziehen. Adäquater Prüfstein der Standortbestimmung ist mithin nicht eine der rationalen Kritik enthobene Friedensbotschaft, sondern die der kritischen Nachprüfung aller zugängliche Vernunft. Darum wundert es mich, daß Herr von Merkatz das letzte Wort über die in der Standortbestimmung entwickelte Konzeption dem „Lehramt" vorbehalten will. Entweder überschätzt er die Kompetenz kirchlicher Gremien in politicis oder er unterschätzt den genuin politischen Charakter der von Christen erarbeiteten Standortbestimmung.
II
Bevor ich auf die Kritik eingehe, die Herr von Merkatz an der Standortbestimmung übt, scheint es mir ratsam, den umgekehrten Weg einzuschlagen und dem nachzugehen, inwieweit seine Überlegungen mit denen des IKV inhaltlich übereinstimmen:
— Ebenso wie der IKV hält Herr von Merkatz den Einsatz von Atomwaffen moralisch immer für verwerflich; das Absurde der Abschreckungsstrategie hebt er ebenfalls klar hervor: einer Strategie, die im Ernstfälle — dem nuklearen Krieg — das vernichtet, was es wenigstens zu erhalten gilt: unsere nackte Existenz.
— Die Abschreckungsstrategie, so folgert Herr von Merkatz daraus, „reicht als Instrument der Friedenserhaltung auf die Dauer nicht aus und muß durch eine Friedensstrategie ergänzt werden, deren Konturen sich erst allmählich herausbilden" — ein Satz, der genauso in der Standortbestimmung stehen könnte.
— Wie eine solche Friedensstrategie aussehen müßte, deutet Herr von Merkatz dankenswerterweise an: die Konfliktsituation in Europa sei durch eine Vertrauen schaffende Kooperation abzubauen. Insoweit stimmt er der Standortbestimmung ausdrücklich zu.
Offenbar sind Herr von Merkatz und der IKV sich in entscheidenden Punkten einig. Beide gehen davon aus, daß der Einsatz nuklearer Waffen sittlich nicht zu rechtfertigen ist. Als Ausweg aus der Sackgasse der Abschreckungsstrategie (von beiden gewogen und als Dauerlösung zu leicht befunden) schlagen sie eine Friedenspolitik vor, genauer: eine Politik, die darauf zielt, durch Kooperation Vertrauen zu wecken und auf dieser Grundlage die bestehenden Spannungen allmählich aus dem Wege zu räumen. Angesichts dieser Übereinstimmung zwischen beiden Positionen überrascht es eigentlich, daß Herr von Merkatz, wie ich dem Ton und Unterton seiner Ausführungen entnehme, der Standortbestimmung dennoch eine so schroffe Absage erteilt. Und damit komme ich zu den Differenzen zwischen ihm und dem IKV.
III
Der Gegensatz zwischen beiden liegt, wie gezeigt, nicht auf der Ebene der Zielsetzung, sondern der einzuschlagenden Strategie. Wie so oft in der Politik ist strittig, welcher nächste und übernächste Schritt zum allgemein akzeptierten Fernziel, dem Frieden, führt. Wenn ich es recht sehe, richtet sich Herrn von Mer-katz'Kritik vor allem auf die folgenden beiden Punkte, die der Sache nach miteinander Zusammenhängen:
1. En detail wendet er sich gegen die vom IKV vorgeschlagende Politik einseitiger Entspannungsmaßnahmen Westeuropas.
2. En gros wirft er der Standortbestimmung, deren Ernsthaftigkeit und Niveau der Argumente er zugleich lobend und mißfällig hervorhebt, vor, daß sie sich nahtlos in die sowjetische Hegemonialstrategie Westeuropa gegenüber einfügt.
Beide Einwände, die, sollten sie sich als stichhaltig erweisen, überaus schwerwiegen, gilt es näher zu untersuchen. Aber zuvoi sei wenigstens noch auf zwei weitere, en passant erhobene Gravamina eingegangen: 3. Die Standortbestimmung sei in ihrer geistigen Haltung von der Gleichsetzung des Imperialismus mit dem Kapitalismus durchtränkt. 4. Außerdem wirft Herr von Merkatz der Standortbestimmung vor, daß sie mit der Bejahung der Kriegsdienstverweigerung als eines fundamentalen Menschenrechtes moralisch die Kriegsdienstverweigerung propagiere. Dann habe der militärisch überlegene Gegner den politischen Sieg schon im Frieden gewonnen.
Zu 3. Ohne dies anhand des Textes auch nur im geringsten zu beweisen, behauptet Herr von Merkatz schlichtweg, daß der IKV Kapitalismus mit Imperialismus gleichsetze. Statt, wie angekündigt, sachlich zu argumentieren, baut er hier, an Emotionen appellierend, einen Popanz auf. Daß die plumpe Gleichsetzung Kapitalismus—Imperialismus nicht stimmt, trifft sicherlich zu. Unzutreffend ist es jedoch, dem IKV eine solche Identifizierung zu unterstellen. Charakteristisch für den nüchternen und pragmatischen Denkstil der niederländischen Autoren ist es, daß sie Begriffe wie Kapitalismus oder Imperialismus, ideologische Reizworte linker Systemkritiker, gar nicht verwenden. Statt in einem verschwommenen Jargon drückt der IKV sich klar und deutlich aus. Ihm geht es darum, daß Westeuropa nicht neben den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion und China den Status einer „Supermacht alten Stils" ansteuert — einen Status, der impliziert, „daß man kleine Länder beherrscht, indem man sie zum eigenen Vorteil mißbraucht". Die Standortbestimmung identifiziert, um diese von Herrn von Merkatz benutzten Termini aufzugreifen, Imperialismus also gerade nicht mit Kapitalismus, sondern mit „Großmacht alten Stils", wozu der IKV ebenso das kapitalistische Amerika wie die sozialistische Sowjetunion oder das maoistische China zählt.
Zu 4. Anders als Herr von Merkatz offensichtlich meint, macht die Standortbestimmung keineswegs Propaganda für Kriegsdienstverweigerung. Vielleicht ist ihm die entscheidende Stelle entgangen: „Der IKV hat nie zur Wehrdienstverweigerung aufgerufen, sondern immer nur zu einer bewußten Wahl. Bequemlichkeit und undurchdachter Konformismus müssen bekämpft werden, aber die durchdachte Gewissensentscheidung, sowohl jener, die den Dienst verweigern, als auch jener, die ihren Wehrdienst leisten, verdient Respekt." (S. 24). Der IKV propagiert mithin, daß eine durchdachte Gewissensentscheidung getroffen wird. Schließlich wendet er sich konsequenterweise der Frage zu, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit der Wehrpflichtige eine derartige Entscheidung, die genaue Kenntnis der internationalen Probleme voraussetzt, zu treffen vermag. Daß Herr von Merkatz an dieser Stelle die Standortbestimmung mißversteht, ist vielleicht verständlich. Wie aber steht es mit seinem hier implizit anklingenden Verständnis des Grundgesetzes? In Artikel 4 Abs. III erkennt auch dieses das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht an. Sollte Herr von Merkatz daraus tatsächlich folgern, daß das Grundgesetz die Kriegsdienst-verweigerung moralisch propagiere? Und weiter: Kann deshalb von Abschreckung keine Rede sein, und hat die Sowjetunion damit schon den politischen Sieg im Frieden gewonnen? Diese Behauptung klingt absurd, und doch hat Herr von Merkatz, wenn ich ihn beim Wort nehmen darf, sie aufgestellt.
Zu 1. Nach diesen Korrekturen, wichtig aber nicht entscheidend, nun zum harten Kern der von Herrn von Merkatz geübten Kritik: Eine Politik einseitiger Schritte betrachtet er gewissermaßen als eine in Raten vollzogene Totalkapitulation. Damit verkennt er jedoch das vom IKV vertretene Konzept. Mit der Politik einseitiger Schritte meint der IKV nämlich keineswegs, daß Westeuropa, ohne auf sowjetische Gegenleistungen zu achten, sukzessive abrüsten sollte. Es geht vielmehr darum, daß Westeuropa, dessen Sicherheit momentan von der amerikanischen Supermacht abhängt, die augenblicklich bestehende Chance nutzt, eine limitierte Entspannungsmaßnahme vorzunehmen, ohne dadurch das zur Zeit noch unersetzliche Abschreckungsgleichgewicht der Supermächte zu gefährden. Einer solchen sachlich genau dosierten . Vorleistung'käme eine Signalfunktion zu. Nur wenn die Gegenseite das Signal erwidert, dürfte der Westen den nächsten Schritt tun. Das Risiko bleibt mithin streng begrenzt. Um es an einem Beispiel zu exemplifizieren: Die in Westeuropa aufgestapelte overkill-capacity nuklearer Mittelstreckenraketen ließe sich reduzieren, ohne damit der Sowjetunion einen Vorsprung einzuräumen. Ob man den Gegner drei-oder viermal tödlich vernichten kann, bleibt sich schließlich gleich. Eine Reduzierung der overkill-capacity könnte allerdings sehr wohl das psychologische Klima zwischen West und Ost verbessern. Auf der Grundlage des dadurch gewonnenen Vertrauens würde ein wohlbemessener nächster Schritt möglich. Daß diese Prozedur großes diplomatisches Fingerspitzengefühl und machtpolitischen Takt erfordert, ist unbestritten. Aber, wie der IKV meint, bietet sich hier eine mit geringem Risiko belastete Möglichkeit, das auch von Herrn von Merkatz betonte Risiko der Abschreckungsstrategie im Interesse aller Beteiligten schrittweise zu reduzieren. Seit der Haager Friedenskonferenz von 1899 wissen wir, daß die gern erhobene Forderung nach allgemeiner Abrüstung solange eine Ausrede bleibt, nichts zu tun, als nicht einer bereit ist, vorsichtig einen ersten Schritt auf das weitgesteckte Ziel hin zu wagen.
Zu 2. Wie steht es schließlich mit Herrn von Merkatz'These, die Standortbestimmung füge sich nahtlos in die sowjetische Hegemonialstrategie ein — ein Vorwurf, den er mit der Behauptung begründet, daß der Tenor des IKV auf Auflösung der NATO, auf Abrüstungsvorleistungen Westeüropas sowie auf Bremsung der Integrationsvorgänge hinauslaufe. Diese Aufzählung gibt freilich nur den halben Standpunkt der Standortbestimmung wieder und ist deshalb zur Gänze falsch.
Richtig ist vielmehr folgendes: •— „Der IKV plädiert nicht für den Austritt Hollands aus der NATO" (S. 16). Einer einseitigen Auflösung der NATO hat der IKV keineswegs das Wort geredet. Das von der Standortbestimmung anvisierte Ziel heißt vielmehr, darauf hinzuwirken, daß NATO wie Warschauer Pakt allmählich überflüssig werden und deshalb absterben können (S. 15).
— Wie bereits oben gezeigt, sollten die vom IKV intendierten „Abrüstungsvorleistungen" Westeuropas gewiß nicht dazu führen, daß die Sowjetunion ein militärpolitisches Übergewicht der NATO, also einschließlich den USA, gegenüber erlangt.
Wie der amerikanische Verteidigungsminister Schlesinger kürzlich nochmals versichert hat, besteht ein solches Übergewicht zur Zeit nicht. Damit ist Herrn von Merkatz’ Befürchtung widerlegt, Moskau habe auf dem Gebiet überlegener Rüstung schon fast ein politisches Weltübergewicht erreicht. — Daß Herr von Merkatz Galtung richtig gelesen hat, bestreite ich nicht;
den IKV dagegen hat er falsch verstanden.
Im Unterschied zu Galtung ist der IKV nämlich der Meinung, „daß die westeuropäische Integration, im Gegensatz zur NATO, prinzipiell eine gute Sache und sogar eine Vorbedingung für die erfolgreiche Lösung von Problemen ist, die nur im internationalen Rahmen gelöst werden können" (S. 19). Die Bedenken des IKV richten sich lediglich dagegen, daß die Europäische Gemeinschaft ein protektionistischer, nach innen gerichteter Block werden könnte, der sich gegen die Außenwelt abschirmt und nicht mehr auf sie Rücksicht nimmt. Wenn Herr von Merkatz diese Bedenken nicht teilt, sollte er es sagen. Irreführend ist es jedoch, den IKV zu verdächtigen, sich einfach gegen die westeuropäische Integration zu richten. Glücklicherweise drückt der IKV sich nuancierter aus, als es Herrn von Merkatz'Stellungnahme suggeriert.
Kann man angesichts des differenzierten Standpunkts, den der IKV bezieht, ernsthaft behaupten, die Standortbestimmung füge sich nahtlos in die sowjetische Hegemonialstrategie ein? Wohl kaum! Vergleicht man die Zustimmung, die Herr von Merkatz den Fern-zielen der Standortbestimmung zollt, mit seiner Kritik an den einzelnen, vom IKV vorgeschlagenen Maßnahmen, dann drängt sich der Eindruck auf, daß er entweder die auch von ihm vertretenen Fernziele nicht ernst genug nimmt oder aber die vom IKV vertretenen Schritte nicht richtig interpretiert.
Mit einer letzten Bemerkung möchte ich diese Widerrede beschließen. Zu Recht warnt Herr von Merkatz vor den mörderischen Machtkämpfen, die aus dem Machtzuwachs vieler Länder der Dritten Welt, die im Besitz von Rohstoff-und Energieressourcen sind, entstehen könnten. Wäre es dann aber umgekehrt nicht ebenfalls angemessen, mit dem IKV davor zu warnen, daß Westeuropa, größter Handelspartner auf dem Weltmarkt, im Besitz erheblicher Kapitalressourcen und unentbehrlichen technischen know-how, sich zu einer Supermacht alten Stils mitsamt eigenen nuklearen Waffen entwickeln könnte? Oder sollte nur die Macht der anderen mörderisch, die eigene dagegen immer vernünftig sein? Wie sagt Herr von Merkatz: Der Politiker muß vor dem Wölfischen im Menschen auf der Hut sein. Dem stimmt der IKV zu. Allerdings nicht nur hinsichtlich etwa der arabischen Erdölproduzenten, sondern auch im Hinblick auf die möglichen Gefahren einer westeuropäischen Großmacht, die sich alter Machtmittel bedienen könnte.