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Die Vermittlerrolle Großbritanniens während der Reparationskonferenz von Lausanne 1932 | APuZ 45/1973 | bpb.de

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APuZ 45/1973 Der amerikanische Einfluß auf die Weimarer Republik in der Dawesplanphase. Elemente eines „penetrierten Systems" Die Vermittlerrolle Großbritanniens während der Reparationskonferenz von Lausanne 1932

Die Vermittlerrolle Großbritanniens während der Reparationskonferenz von Lausanne 1932

Hans Günther Bickert

/ 27 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit einem außenpolitischen Aspekt der wirtschaftlichen Gründe für die Machtergreifung Hitlers. Am Beispiel der vertraglichen Lösung des Reparationskonflikts wird die Haltung der Entente-Mächte überprüft. Es zeigt sich, daß diese insofern eine Mitschuld an der Machtergreifung des Nationalsozialismus trifft, als sie ihre unter dem Eindruck des gewonnenen Krieges konzipierte, ökonomisch widersinnige und politisch verhängnisvolle Reparationspolitik nicht rechtzeitig revidierten und es somit unterließen, die demokratischen Kräfte in Deutschland zu stärken. Die in Lausanne gefundene Lösung war das Ergebnis einer veränderten Mächtekonstellation, nicht zuletzt eines englisch-französischen Interessengegensatzes. Während die französische Politik weitgehend vom Vergeltungsprinzip und dem Streben nach Hegemonie in Europa bestimmt blieb, setzte sich in England allmählich die Einsicht durch, daß ein friedlicher Ausgleich mit Deutschland nötig sei. Die Londoner Regierung verfolgte dabei eine Politik der freien Hand nach allen Seiten. Sie widersetzte sich ungeachtet ihrer Anerkennung des französischen Sicherheitsverlangens einer gegen das Reich gerichteten Blockbildung und war in richtiger Einschätzung der militärischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten auf die Beilegung gefährlicher Krisen bedacht. Der Lausanner Kompromiß ist das Verdienst des britischen Chairman MacDonald und fügt sich in die Appeasement-Politik der Londoner Regierung ein, deren Haltung man erst jetzt richtig zu verstehen beginnt.

I. Vorbemerkung

Am 9. 11. 1973 jährt sich zum 50. Mal der Tag, an dem Adolf Hitler in München seinen ersten Versuch unternahm, die Macht in Deutschland zu ergreifen. Der Putsch, der am Vorabend des 5. Jahrestages der gescheiterten November-Revolution übereilt im Bürgerbräukeller inszeniert wurde, führte bekanntlich noch nicht zum Erfolg. Dieser stellte sich erst knapp zehn Jahre später ein. Nachdem der staatenlose Ausländer im Februar 1932 in Braunschweig, wo er mit Hilfe von Parteigängern in den öffentlichen Dienst eingeschleust wurde und das Amt eines Regierungsrats erhielt, deutscher Staatsbürger geworden war, erreichte er durch seine Ernennung zum Reichskanzler am 30. 1933 auf „legale" Weise sein Ziel.

Die Vorgeschichte dieses Ereignisses ist inzwischen eingehend untersucht worden, aber „noch ist die Erforschung der tatsächlichen Zusammenhänge unzureichend" 1). Bislang konzentrierte sich das Interesse vornehmlich auf die innenpolitischen Prämissen. Dieser Trend wurde vor allem durch die Gesellschaftswissenschaften aufgenommen und verstärkt. Ihre Herausforderung haben nun auch viele westdeutsche Historiker akzeptiert und ihre Aufmerksamkeit mehr und mehr den wirtschaftlichen Bedingungen politischen Handelns im allgemeinen und den Pressure Groups im besonderen zugewendet, deren Einfluß von der marxistischen Forschung seit eh und je betont wurde und nach aufsehenerregenden Arbeiten vor allem von DDR-Autoren, unter denen E. Czichon mit an erster Stelle zu nennen ist, hinreichend erhellt schien Seit aber der amerikanische Stresemann-Biograph H. A. Turner jr. nach Auswertung deutscher Firmenarchive neue Fakten beibrachte ist Zweifel an der Verläßlichkeit der Angaben Czichons angezeigt, dessen Wertungen ohnehin umstritten sind. Die Diskussion hat inzwischen ergeben, daß Hitler früher, als bisher vermutet, Kontakte zur Industrie geknüpft hat. Dies beweist sein von E. Kirdorf angeregter und insgeheim an führende Männer der Wirtschaft verteilter Aufsatz „Der Weg zum Wiederaufstieg" von 1927. Sicher ist aber auch, daß sich die Großindustriellen ungeachtet der Aktivitäten von F. Thyssen und von Kepplers Freundeskreis sehr reserviert verhielten. Zwar zahlten sie ab 1930 auch an den neuen politischen Faktor NSDAP „Rückversicherungs" -Beträge, doch nehmen sich die Summen im Rahmen der Zuwendungen an andere Parteien bescheiden aus. Die Geschichte der faschistischen Bewegung und ihrer deutschen Variante, speziell aber die bewußt unklar gehaltenen Aussagen des „Führers", legten diese Zurückhaltung nahe. Von ihm war angesichts seiner unverkennbaren Sympathien für die Großagrarier auf lange Sicht kaum eine Protektion des Industriekapitalismus zu erwarten. Da sich Hitler die gesamte „Ökonomie unterwerfen" wollte, was auch Austro-Marxist Hilferding früh erkannte und dieses Ziel ungeachtet der Tatsache, daß sich die Industrieverbände gegen die totale Gleichschaltung zu wehren vermochten, auch erreichte, war er für die Rolle eines „Agenten" des „Monopolkapitals" denkbar ungeeignet. Auch hat „das Kapital" seine Partei nicht gegen den Sozialismus in Dienst genommen, wie dies F. L.

Neumann im „Behemoth" unterstellt, und die „Bewegung" war auch nicht notwendiges Produkt eines in eine Krise geratenen Kapitalismus, denn in Ländern mit großen Wirtschaftsnöten wie USA und England war der Faschismus ohne Chance. Die Nationalsozialisten begnügten sich nicht mit Hilfsdiensten und Reaktionen, sondern sie erstrebten die totale Transformation von Staat und Gesellschaft. Neben der Ausrottung des Marxismus betrieben sie speziell die Unterdrückung des Individuums und die Vernichtung des Liberalismus und bedrohten damit Werte, die gerade in der Unternehmer-Ideologie gern hervorgekehrt werden. Goebbels hat den Anspruch der neuen Herren in seiner Rundfunkrede vom 1. 4. 1933 auf die Formel gebracht, das Jahr 1789 sei nunmehr aus der Geschichte gestrichen.

Der Anteil der ökonomischen Elite an der Zerstörung der Weimarer Republik besteht in der grundsätzlichen Ablehnung des „Systems", weniger in der insgesamt nur partiellen Förderung Hitlers, der erst in der Endphase akzeptabel wurde, als sich im Zuge der Deflationspolitik sozialrevolutionäre Kräfte zu potenzieren begangen. Die bekannte Eingabe von Bankiers, Industriellen und Großagrariern, in der die Berufung des „Führers der größten nationalen Gruppe" von Hindenburg verlangt wird, erfolgte erst im November 1932 nach dem Scheitern Papens.

Der Sieg Hitlers ist nicht monokausal zu erklären. Will man die wirtschaftlichen Gründe der Machtergreifung richtig beurteilen, muß man auch den außenpolitischen Aspekt des Problems berücksichtigen. Dieser ist bislang wohl in der Sorge vernachlässigt worden, der Versuch, die Haltung der Sieger zu beschreiben, könne negativ vermerkt werden. So jedenfalls möchte man die Bemerkung aus dem Vorwort zu L. Zimmermanns erst posthum publizierten Werk über die französische Deutschlandpolitik auffassen, die Veröffentlichung sei immer wieder zurückgestellt worden, „um keine alten Wunden aufzureißen".

Als Einstieg scheint die Frage der Reparationen vorzüglich geeignet. Zum einen wurde ihre Relevanz für die innere Entwicklung des Reiches längst nachgewiesen. Man weiß, daß die drückenden Zahlungsverpflichtungen den Erfolg Hitlers wesentlich begünstigten denn die Not trieb viele Menschen, nicht zuletzt Ar-beiter, den Nazis in die Arme. Zum andern gehörte die Bewältigung des Reparationsproblems zu den vordringlichsten Aufgaben der letztlich auf Revision des Versaillers Vertrages abzielenden Außenpolitik der deutschen Regierungen. Während wir über die diesbezüglichen Details recht gut unterrichtet sind, könnte der allgemeine Informationsstand über die Haltung der Sieger und die ihr zugrunde liegenden Motive besser sein. Vor allem muß Klarheit auch darüber gewonnen werden, was die Alliierten getan oder unterlassen haben, um die demokratischen Kräfte in Deutschland gegen die Herrschaftsansprüche der Nationalsozialisten zu unterstützen.

Nachstehend soll mit Blick auf diese Fragestellung das Zustandekommen einer abschließenden Regelung des Reparationsproblems skizziert werden. Dabei bleiben wichtige Stationen auf dem Weg dahin wie die Londoner Tagung vom 16. bis 1 8. 1924 über die Durchführung des Dawes-Plans und die beiden Haager Konferenzen vom 6. bis 31. 8. 1929 und vom 3. bis 20. 1. 1931 über den Young-Plan außer Betracht. Dafür konzentriert sich die Arbeit auf die noch wenig untersuchte Reparationspolitik zur Zeit Papens 6a). Bei der Charakterisierung der Einstellung seines Vorgängers kann die noch immer wertvolle Studie von W. J. Helbich 7) herangezogen werden, die jedoch ergänzt und teilweise korrigiert werden muß. Es wird sich zeigen, in welchem Maß der Weimarer Staat in das internationale Kräftespiel einbezogen war und daß die Beendigung der Reparationen als Folge der Veränderung der Mächtekonstellation zu interpretieren ist. Eine Sonderstellung nehmen die USA ein, deren mit wirtschaftlicher Expansion einhergehende Stabilisierungspolitik W. Link beschrieben hat 8). Auf das amerikanische Engagement, dessen Wechselhaftigkeit für die Erklärung der Auflösungsphase der Republik nicht unerheblich ist, kann im folgenden nur beiläufig hingewiesen werden. Die Darstellung muß sich darauf beschränken, die Politik der Entente-Mächte und Deutschlands in den Grundzügen vorzustellen und dabei insonderheit die englische Vermittlung zu würdigen 8a).

II. Die Verhandlungspositionen

1. Deutschland

Die Möglichkeiten des Reichs, seine bedrükkende Lage zu ändern, waren zunächst äußerst gering. Als einer der ersten rang sich Stresemann zu einer realistischen Einschätzung der Situation durch. Auch er arbeitete konsequent an der „Überwindung der Ketten" von Versailles. Er erstrebte nicht weniger als eine Abschüttelung der finanziellen Lasten, die Revision der Ostgrenzen und den Anschluß Österreichs. Diese Ziele sollten durch Verständigung mit den Kriegsgegnern und weltumspannende WirtschaftsVerflechtung erreicht werden. Am Anfang mußten die Anerkennung der durch den verlorenen Krieg entstandenen Tatsachen und sodann der Ausgleich mit Frankreich stehen. Den Franzosen sollte die Furcht vor den Deutschen genommen und Polen als Partner entbehrlich gemacht werden. Die Isolierung Polens war neben einem guten Einvernehmen mit der an einem Heraushalten Deutschlands aus einer möglichen Einheitsfront aus USA, Frankreich und England vital interessierten UdSSR Prämisse für eine Änderung der Ost-grenzen

Die Annäherung an Frankreich diente letztlich nicht, wie man lange gemeint hat, der Schaffung eines vereinten Europa, sondern dem Wiederaufstieg Deutschlands als Großmacht. Ein solcher Plan hatte nur Chancen, wenn die Wirtschaftskraft entscheidend gesteigert werden konnte. Die in manchen Kreisen genährte Hoffnung, England werde in mechanischer Anwendung seiner traditionellen Gleichgewichts-strategie Frankreich zügeln und zum natürli-eben Verbündeten werden, erwies sich als trügerisch, da man in London das französische Sicherheitsbedürfnis anerkannte. So boten sich die USA als Partner an, denen Deutschland einen expansionsfähigen Markt öffnete. Das Engagement konnte nach dem Scheitern der französischen Ruhrpolitik beginnen und hatte um so größere Erfolgsaussichten, je unnachgiebiger sich Frankreich in der Reparationsfrage zeigte.

Stresemanns Tod, vor allem aber die Weltwirtschaftskrise, setzten dieser Politik ein Ende. Sie wurde z. T. mit veränderten Methoden nach den Septemberwahlen von 1930, in denen die NSDAP 107 Sitze errang und die somit zu einem innen-wie außenpolitischen Kurswechsel führten, wieder aufgenommen. Brüning, der die erhoffte Mehrheit verfehlt hatte, geriet zunehmend in Abhängigkeit vom Präsidenten und von den Militärs. Wohl behielt er Stresemanns revisionistischen Kurs mit seiner wirtschaftlichen Akzentuierung bei, er verschärfte ihn jedoch. Hatte sich Stresemann für eine Erfüllung der französischen Forderungen entschieden, die er schrittweise so zu verringern trachtete, daß ein Ende der Reparationen noch vor 1988 möglich schien, so beabsichtigte Brüning eine kurzfristige und totale Lastenabschüttelung und noch dazu die militärische Gleichstellung, die die deutsche Wiederaufrüstung einleiten sollte

Schon am 6. 10. 1930 traf sich der Kanzler mit Frick, Hitler und Strasser. Es war zu erkennen, daß er seine Revisionspläne, die auf eine Restauration der inneren Zustände des Kaiserreichs und die Wiedergewinnung außen-politischer Handlungsfreiheit hinausliefen, durch Verstärkung der Wirtschaftskrise zu verwirklichen suchte. Seine Taktik erinnert an die von Wirth und Rathenau, die Reparationen leisteten, um die Unmöglichkeit weiterer Zahlungen zu demonstrieren. Brüning hielt sich zunächst an den frisch unterzeichneten neuen Plan, nannte ihn aber schon am 1. 3. 1930 vor Parteifreunden ein „Diktat". Den Angriff auf das Abkommen ließ er seinen Außenminister Curtius in seiner Erklärung am 20. 11. 1930 einleiten. Die Kampagne erreichte ihren Höhepunkt dann im folgenden Jahr. Am 6. 6. 1931 stellte der Kanzler die deutsche Zahlungsunfähigkeit fest. Daraufhin beschleunigte sich der Abfluß des ausländischen Kapitals, und Hindenburg richtete ein dringliches Telegramm an Präsident Hoover.

Die USA spielten als Hauptgläubiger bei der Lösung des Problems eine entscheidende Rolle, auch wenn das Reich dem Nichtunterzeichner des Versailler Vertrags keine Reparationen schuldete. Hoover verkündete zunächst ein Moratorium, das die Zahlungen für die Zeit vom 31. 7. 1931 bis 30. 6. 1932 aussetzte, und übte wohl auch Druck auf die Entente aus. In Amerika wuchs, offenbar in Fortsetzung der schon länger praktizierten Stabilisierungspolitik, die Neigung zu Konzessionen. Während Parker Gilbert, der Generalbevollmächtigte für Reparationsfragen, eine Verlängerung des Moratoriums in Aussicht stellte, trat Senator Borah am 23. 10. 1931 während des Besuchs einer französischen Delegation unter Leitung Lavals öffentlich für eine Annullierung der deutschen Kriegsschulden ein. Ein Verzicht auf die Forderungen kam angesichts der eigenen Wirtschaftslage nicht in Frage. Die Auslagen sollten notfalls von den Alliierten eingetrieben werden. In London wirkte die Rede des Senators Reed vom 9. 1. 1932 denn auch als Alarmsignal, in der England verdächtigt wurde, die Depression ausnutzen zu wollen, um sich der Verpflichtungen zu entledigen. Hier sah man dann auch zuerst ein, daß ein Ausgleich mit Deutschland gefunden werden müsse.

Im Juni 1931 reiste Brüning nach England, doch führten seine Sondierungen noch zu keinem befriedigenden Ergebnis. Während seines Aufenthalts spitzte sich die innere Krise im Reich durch die 3. Notverordnung und den „Tributaufruf" weiter zu. Außenpolitisch führten beide Maßnahmen insofern zum Erfolg, als die nach Schließung der deutschen Banken am 14. 7. 1931 eingesetzte Wiggin-Kommission die Zahlungsunfähigkeit bescheinigte, doch war der Preis, die weitere Radikalisierung der Auseinandersetzung im Innern, sehr hoch. Die Deflationspolitik traf besonders die Arbeitnehmer, während Industrie und vor allem die Agrarier von den Stützungsmaßnahmen der Regierung profitierten. Der Kanzler bezeichnete die Lage SPD-Führern gegenüber als „nicht so unwillkommen" und gab damit zu erkennen, daß er die Not in Kauf nahm, wenn er nur seinen Zielen näherkam. In einem am 9. 1. 1932 gewährten Interview steckte der Kanzler die Marschroute für die bevorstehende Reparationskonferenz ab. Er sprach sich gegen weitere* Zahlungen aus und versicherte, seine Regierung werde nichts anderes tun, „als die gegebene Sachlage darzustellen und an die anderen beteiligten Regierungen die Aufforderung zu richten, daß sie auch ihrerseits dieser Sachlage Rechnung trügen und nicht nach Kompromißlösungen suchten, für die eine reale Möglichkeit nicht mehr gegeben sei". Auf diese Erklärung hin wurde die für den 18. 1. 1932 vorgesehene Konferenz vertagt, damit die Alliierten ihr weiteres Vorgehen noch einmal abstimmen konnten. Brüning hatte seine Rechnung jedoch ohne die ihn stützenden Kräfte gemacht, die ihn fallen ließen, als er die Kontrolle über die Entwicklung im Innern zu verlieren drohte. Die Verhandlungsführung in Lausanne fiel seinem Nachfolger von Papen zu, was sich als eine Schwächung der deutschen Position erweisen sollte.

2. Frankreich

Obwohl die Frage der Wiedergutmachung auch nach Auffassung von Lloyd George nicht beim Abschluß des Waffenstillstands, sondern erst bei Friedensverhandlungen zur Debatte stehen sollte, hatte Clemenceau deutsche Verpflichtungen im Abkommen von Compiegne vom 11. 11. 1918 zu verankern gewußt. Am Quai d’Orsay unterstellte man nahezu offiziell die deutsche Haupt-oder gar Alleinschuld am Krieg und machte sich die Ansicht des Finanzministers Klotz zu eigen: „Le Boche payera tout". Ein Beispiel für die Härte des Kurses ist die Politik der „produktiven Pfänder", die ihren Höhepunkt in der Besetzung des Ruhrgebietes erreichte und in Deutschland große Empörung auslöste. Laut Zimmermann verfolgte Poincare ein doppeltes Ziel: Er wollte den östlichen Nachbarn endgültig in die Knie zwingen und zugleich den britischen Einfluß auf dem Kontinent eindämmen. Dieses Vorhaben scheiterte, da sich Frankreich finanziell übernahm. Die Okkupation erwies sich als unrentabel, und die Währung geriet in Gefahr. Die Franc-Krise zwang dazu, um englische Kredite nachzusuchen. Diese waren aber nur um den Preis des Einlenkens in der Reparationsfrage zu haben, an deren Regelung England interessiert war. Das Ergebnis der erfolglosen französischen Deutschlandpolitik war einmal die Verschärfung der materiellen Lage auch des deutschen Mittelstandes, der sich bald als besonders empfänglich für Hitlers Parolen erweisen sollte, zum anderen aber auch — und dies wird oft übersehen — eine Erschütterung in Frankreich selbst, wo angesichts zunehmender wirtschaftlicher Schwierigkeiten die Linke erstarkte. Die Kommunisten z. B. machten die Reparationsleistungen für die Arbeitslosigkeit verantwortlich.

Die französischen Regierungen fuhren indes unbeirrt fort, die „Heiligkeit der Verträge" zu beschwören und auf dem „Recht auf Reparationen" zu beharren Eine solche Politik ließ sich um so leichter rechtfertigen, je offenkundiger Brüning mit Stresemanns Methode taktischer Konzilianz brach. Da die französischen Akten noch geheimgehalten werden, läßt sich vorerst nicht ermitteln, ob in Paris Brünings Ziele bekannt waren. Es läßt sich jedoch unschwer erkennen, daß die Franzosen diesen praktisch entgegenarbeiteten. Ein geschickter Schachzug war die Offerte eines Milliarden-kredits im Sommer 1931, der an die Bedingung geknüpft war, die Reparationspflicht grundsätzlich zu bejahen und andere revisionistische Forderungen für zehn Jahre zu suspendieren. Der Kanzler lehnte dieses Angebot aus außen-politischen Erwägungen ab Frankreich torpedierte nun die deutsch-österreichischen Zollunionspläne. Laval reiste vom 20. bis 26. 10. 1931 zu Sondierungen nach Washington, mußte sich aber mit einem Kommunique zufriedengeben, in dem die Regelung des Reparationsproblems als europäische Angelegenheit ausgewiesen wurde. Daraufhin kam es zu Konsultationen mit dem Entente-Partner. Der britische Botschafter Lord Tyrell befürwortete eine Übereinkunft, wollte sich aber nicht zum französischen Erfüllungsgehilfen machen lassen und sprach sich für einen echten Interessenausgleich aus Die Franzosen hielten aber an ihrem Standpunkt fest und ließen nicht zuletzt mit Hinweisen auf deutsche Hegemoniebestrebungen im Februar 1932 die Genfer Abrüstungskonferenz scheitern. An dieser Haltung änderte sich auch nach dem Sieg der Linken bei den Kammerwahlen am 8. 5. 1932 und angesichts der Tatsache nichts, daß sich die öffentliche Meinung zu ändern begann und der These der Regierung die Grundlage entzog, eine Streichung der Reparationen müsse zu inneren Unruhen mit unabsehbaren Folgen führen Herriot war jedenfalls fest entschlossen, sich in Lausanne unnachgiebig zu zeigen.

3. England

Die britische Regierung hatte im Gegensatz zur französischen die Unumgänglichkeit einer Revision der Reparationsauflagen schon frühzeitig begriffen. Schon bald nach Versailles war sie zur vertrauten Balance-of-Power-Strategie zurückgekehrt, die sich auch gegen den alten Waffengefährten richten konnte: So schloß sich der englische Vertreter am 26. 12. 1922 der Auffassung seiner Kollegen nicht an, die eine vorsätzliche Nichterfüllung der deutschen Verpflichtungen behaupteten und Frankreich den Vorwand zur Ruhrbesetzung lieferten. Sicherlich waren die Absichten Poincares nicht unbekannt geblieben; die Neubewertung des Reparationsproblems entsprang aber nicht politischem Kalkül, sondern hatte ökonomische Ursachen. Da war einmal zu bedenken, daß Deutschland seine Schulden durch Ausfuhrüberschüsse zu tilgen trachtete. Dies aber führte zu erhöhten Exportanstrengungen der deutschen Industrie, wodurch den englischen Produzenten eine ärgerliche Konkurrenz entstand Zum anderen konnten sich die privaten Geldgeber der Insel einen Profit nur von einer möglichst raschen Überwindung der deutschen Wirtschaftskrise versprechen. Grundbedingung dafür war aber die Befreiung von Reparationszahlungen.

Ein dauerhafter Meinungsumschwung vollzog sich gleichwohl erst spät. Noch in der Debatte über den Young-Plan lehnte Lloyd George am 25. 7. 1929 eine Änderung des Reparationsverteilungsplans ab. Immerhin mehrten sich schon 1930 die Stimmen derer, die für eine Reduzierung der Forderungen plädierten. Bot-schaftsrat Bernsdorff zog in einem Telegramm vom 27. 10. 1930 den Schluß, England werde zu gegebener Zeit ein deutsches Revisionsbegehren unterstützen. Beim Besuch Brünings vom 20. bis 23. 7. 1931 gab sich die Regierung jedoch noch betont reserviert Erst nach dem Gegenbesuch v bis 23. 7. 1931 gab sich die Regierung jedoch noch betont reserviert 17). Erst nach dem Gegenbesuch von MacDonald und Henderson in Berlin änderte sich das Klima. Die Berufung des Engländers Sir Walter Layton zum Schriftführer der Baseler Wiggin-Kommission, die die deutsche Wirtschaftslage prüfen und deren Gutachten der vorgesehenen Reparationskonferenz vorgelegt werden sollte, erwies sich jetzt als günstig. Der britische Sachverständige unterstützte in einer Stellungnahme des Beratenden Sonderausschusses der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) zusammen mit dem Italiener Beneduce den deutschen Standpunkt.

In England machte sich angesichts der empfindlichen Störungen der Weltwirtschaft zunehmend auch politisch eine gemäßigtere Einstellung gegenüber dem Reich bemerkbar. Gefördert wurde sie durch die Bestrebungen, aus dem Sog Frankreichs freizukommen, das Gold-hortung großen Stils betrieb. Vom 20. 9. 1931 an verweigerte die Bank von England den Umtausch von Pfundnoten in Gold und erhöhte den Diskont von 41/2 0/0 auf 6 °/o. Im Herbst war die öffentliche Meinung derart umgeschlagen, daß es sich der Labour-Politiker MacDonald in einem Wahlaufruf vom 15. 10. 1931 leisten konnte, die Streichung der Reparationen zu verlangen. Die Regierung, die er nach seinem Wahlsieg bildete, legte sich jedoch nicht fest. Der neue Außenminister Simon, der möglicherweise auch die Interessen privater Gläubiger vertrat, setzte sich nämlich wiederholt für deutsche Restzahlungen ein.

Bestärkt wurde Simon durch die vom amerikanischen Kongreß abgegebene Stellungnahme, seine am 22. 12. 1931 erklärte Zustimmung zum Hoover-Moratorium schließe nicht den Verzicht auf Zahlungen der Schuldner der USA ein. Diese Feststellung diente zunächst Frankreich, dann aber auch England als Begründung für den Vorschlag, bei anhaltender deutscher Zahlungsunfähigkeit das Moratorium zu verlängern. Beide Staaten waren durch die Kriegs-anleihen Schuldner der USA und beglichen deren Forderungen aus deutschen Reparationsleistungen. Deutschland war aber nur zahlungsfähig, weil die deutsche Wirtschaft mit erheblichen Summen amerikanischer und englischer Privatleute angekurbelt wurde. Die Bevorzugung der privaten Kapitalinteressen gegenüber den staatlichen Ansprüchen begründete den Zahlungsaufschub. Für England war das gesamte Reparationsproblem wegen seiner Kapitalverflechtung mit Deutschland zu einer zweischneidigen Sache geworden, während Frankreich noch immer mehr Vorteile als Nachteile daraus zu erwachsen schienen.

Die Reichsregierung schätzte Englands Zwangslage richtig ein und blieb hart. Sie konnte darauf hinweisen, daß sich die kritischen Stimmen aus allen politischen Lagern mehrten und britische Beobachter beipflichteten. So wies der englische Botschafter in Berlin am 31. 12. 1931 Simon darauf hin, daß die nationalsozialistische Propaganda gefährlichen Nutzen aus den fortdauernden Reparationsleistungen zog und auch Gewerkschaftler wie Th. Leipart die Streichung verlangten 18). Schließlich schloß sich auch die Nachrichtenagentur Reuter in ihren Leitartikeln der amtlichen deutschen Situationseinschätzung an 19).

Die Haltung Englands wurde von weltwirtschaftlichen Erwägungen bestimmt. Die Erschütterung des internationalen Kredit-und Zahlungssystems schadete nicht nur Deutschland, sondern traf auch den englischen Handel empfindlich. Ungeachtet der großen Sympathien, die vor allem Simon für Frankreich hegte, waren die Interessen der Entente-Mächte nicht identisch. Die Londoner Regierung begann notgedrungen mit der Sanierung der Wirtschaft, auch wenn dies zu Schwierigkeiten mit Paris führte. Ohne sich nach einer Seite hin festlegen zu lassen, nahm sie in der einer Lösung zudrängenden Reparationsfrage eine Stellung zwischen den extremen Positionen Deutschlands und seines Hauptkontrahenten ein. Damit fiel England nach dem Verzicht der USA fast automatisch jene Schiedsrichterrolle zu, die seit dem Memordandum von Lloyd George vom 25. 3. 1919 von britischen Politikern zur Lösung der vom Ersten Weltkrieg hinterlassenen Probleme oft erwogen wurde 20).

III. Der Kompromiß von Lausanne

In Übereinstimmung mit Ziffer 119 des Young-Plans hatte die Reichsregierung in der Note vom 19. 11. 1931 die Einberufung des Beratenden Sonderausschusses der BIZ verlangt. Sie hatte erklärt, daß die deutsche Wirtschaft durch die Zahlungen ernsthaft gefährdet sei, und ihr Urteil auf das Gutachten der Sachverständigenkommission der BIZ gestützt, die am 8. 8. 1931 in Basel zusammengetreten war, um die Kreditlage zu prüfen. Der unter Vorsitz des Amerikaners H. A. Wiggin vom britischen Delegierten Layton entworfene Bericht war nach Konsultation der Bankenvertreter am 18. 8. unterzeichnet worden. Die Sachverständigen beschäftigen sich darin hauptsächlich mit der Stabilisierung der Deutschland zu gewährenden Kredite und beziffern das Ausmaß der Verschuldung. Ausdrücklich erkennen sie die deutschen Bemühungen an, die Finanzen zu ordnen, und treten für die Beendigung der Zahlungen ein, um die Kreditfähigkeit des Reichs in vollem Umfang wiederherzustellen.

Auf deutschen Antrag hin war vom Beratenden Ausschuß ein zweites Gutachten ausgearbeitet worden, das den Namen des italienischen Vorsitzenden Beneduce trägt. Auf Betreiben des französischen Delegierten Rist sind hierin alle die Zahlungsunfähigkeit Deutschlands begründenden Feststellungen abgeschwächt. In Ziffer II. 3 wird z. B. dargelegt, daß die Daten einer Tiefkonjunktur nicht zur Grundlage der Prognose künftiger Entwicklungen gemacht werden dürften. In gesonderten Noten ließ die Pariser Regierung später ergänzend erläutern, ihrer Auffassung nach sei nicht zu beweisen, daß eine Fortsetzung der Reparationen den Krisenzustand im Reich zementieren werde. Der Bericht nennt aber auch die Gründe für das Scheitern des Young-Plans. Dieser gehe von einem Ansteigen des weltwirtschaftlichen Gesamtvolumens aus, doch sei dieses tatsächlich geschrumpft. Zudem hätten sich durch das Sinken des Goldpreises die in Gold zu begleichenden Reparationen erhöht. Die weltwirtschaftliche Verflechtung drohe nunmehr auch die Gläubiger in den Sog der Krise zu ziehen.

Die Reparationskonferenz begann am 16. 6. 1932 im Hotel „Beau Rivage" in Lausanne; es war die 35. Tagung, die diesem Komplex galt. In der 1. Plenarsitzung einigte man sich darauf, den Layton-und den Beneduce-Bericht als Arbeitsgrundlagen zu akzeptieren; in der 2. Plenarsitzung legten die Delegationen ihre Standpunkte dar. Die Entente-Mächte hatten während eines Treffens am 11. 6. 1932 in der englischen Botschaft in Paris ihre Meinungsverschiedenheiten offenbar nicht beilegen können. MacDonald hatte seinen Gesprächspartnern vergeblich klarzumachen versucht, daß die Streichung der deutschen Schulden das Gebot der Stunde sei und davor gewarnt, entgegen den Gutachten weiterhin eine deutsche Zahlungsfähigkeit zu unterstellen, zumal die USA dann ihre Forderungen an England und Frankreich beschleunigt beglichen haben wollten. Da Frankreichs Reparationseinnahmen seine Kriegsschulden schon jetzt übertrafen, konnte dieses letzte Argument Herriot nicht beeindrucken. Er machte geltend, daß ein von der Schuldenlast befreites Reich ein ernst zu nehmender Konkurrent auf den Weltmärkten zu werden drohe. Da es zu keiner Annäherung der Standpunkte kam, konnten die Entente-Mächte in Lausanne auch nicht geschlossen auftreten. Mit Rücksicht auf Frankreich unterließ es Chamberlain aber zunächst, sich für die Einstellung der deutschen Leistungen auszusprechen; dafür setzte sich dann sein italienischer Kollege Mosconi ein. Herriot trug den offiziellen Standpunkt seiner Regierung vor und nannte ein neues Motiv für ihre Unnachgiebigkeit: Die Deutschen müßten lernen, Verträge zu achten. Diese moralisierende Polemik veranlaßte Chamberlain, unter Anspielung auf die wahren Absichten Frankreichs zu erklären, er werde sich dem Ruin Deutschlands widersetzen. Nach dieser Kontroverse griff der Konferenzvorsitzende MacDonald einen von englischen und amerikanischen Politikern schon oft diskutierten Gedanken auf und schlug eine Restzahlung vor, die allerdings nicht, wie es die Franzosen sogleich begehrten, den Charakter einer Buße haben dürfte.

Der sich hier abzeichnede Kompromiß hätte schon früh geschlossen und von deutscher Seite durch geschicktes Ausnutzen der englisch-französischen Differenzen vorteilhaft gestaltet werden können. Die deutsche Delegation wurde aber nicht von Brüning geführt, weil dieser am 30. 5. 1932 gestürzt worden war, sondern von Papen. Der neue Kanzler sorgte für eine Sensation, als er für den Wegfall der Reparationen deutsche Wirtschaftshilfe und enge Kooperation mit Frankreich in Politik und Generalstab anbot. Diese Offerte entzog der von Brüning aufgebauten Verhandlungsposition die Grundlage und erwies sich als politisch sehr unklug. Denn da Papen im Gegensatz zu seinem Vorgänger Zahlungsfähigkeit signalisierte, gab er Herriot recht, ohne dafür etwas einzuhandeln, und desavouierte MacDonald und Chamberlain, die sich als bessere Sachwalter deutscher Interessen erwiesen hatten als der deutsche Regierungschef. Der nach zweijähriger Tätigkeit als Botschafter in London zum Außenminister avancierte Neurath hatte sogleich durch Unterschrift das Einverständnis zu einer Restzahlung zu bestätigen. Damit aber nicht genug: Die deutschen Unterhändler boten 2 Mrd. Mark ohne Bedingungen an und erschütterten damit die Glaubwürdigkeit auch früherer Kabinette. Als dann Papen seine Kooperationspläne auf Weisung aus Berlin fallenließ, hatte er ohne Not beträchtlichen Schaden angerichtet. Sein Vorpreschen mußte als Versuch aufgefaßt werden, die Entente zu sprengen; auch ein späteres Dementi konnte den Argwohn nicht zerstreuen.

Das deutsche Angebot zwang MacDonald, die Konferenz-Strategie zu ändern. Bisher hatte man, wie Brünings Außenminister J. Curtius formuliert, nach den Regeln des „Als-obSpiels" gespielt, d. h. so getan, als hätten die USA nichts mit den Reparationen zu schaffen. Daher nahmen die USA auch nicht an der Lausanner Konferenz teil. Rechtlich war das Reich in der Tat nicht ihr Schuldner, wohl aber faktisch, den es mußte, sieht man von einem „surplus" ab, so viel an die Alliierten abführen, wie diese in die USA transferierten. Da es die USA nicht gestattet hatten, die Erfüllung ihrer Ansprüche von der deutschen Zahlungsfähigkeit abhängig zu machen, lag es in ihrem Ermessen, die in Lausanne getroffenen Vereinbarungen zu akzeptieren oder zu verwerfen. Chamberlain hatte in Kenntnis dieser Sachlage zu Beginn der Konferenz vorgeschlagen, die Versammelten sollten zuerst über die Reparationen befinden und dann die Verpflichtungen den USA gegenüber regeln. Dies schien nun nicht mehr möglich. MacDonald befürchtete Rückwirkungen auf die Haltung der USA, als unvermutet deutsche Gelder zugestanden wurden, und schlug vor, die weiteren Verhand-hingen nunmehr mit Blick auf Amerika zu führen.

über diese Anregung kam es zu einer weiteren Kontroverse. Belgien, England, Frankreich und Italien verabredeten das sog. „Gentlemen Agreement", in dem sich diese Länder eine Ratifizierung der in Lausanne getroffenen Vereinbarungen erst nach einer befriedigenden Übereinkunft mit den USA zusagten. Sollte diese nicht zustande kommen, wurde eine erneute Inkraftsetzung des Young-Plans vorgesehen. Als diese Abmachung bekannt wurde, wies Papen darauf hin, daß sie im Widerspruch zu einer offiziellen Mitteilung Mac-Donalds zu Konferenzbeginn stehe. Die Delegierten nahmen zur Kenntnis, daß die deutsche Seite diese Aussage als verbindlich betrachte. Das deutsche Vorgehen trug nicht unerheblich zur Verlängerung der Verhandlungen bei. MacDonald mußte zwischen der 3. und 4. Plenarsitzung, d. h. vom 17. 6. bis 8. 7. 1932, nicht weniger als 60 getrennte Beratungen durchführen lassen, um überhaupt eine Abmachung zu erzielen. Am 9. 7. 1932 konnte er endlich den Abschluß eines Vertrages bekanntgeben, der nunmehr an die Stelle der Haager Beschlüsse vom 20. 1. 1930 und des Hoover-Moratoriums trat und laut Präambel die Reparationen beendete sowie die Bereinigung aller wirtschaftlichen und politischen Probleme in ihrem Gefolge vorsah. Der Inhalt der 11 Artikel läßt sich vereinfacht so zusammenfassen: „Ablösung der deutschen Reparationsschuld durch eine einmalige Abfindungssumme von 3 Mrd. Reichsmark. Diese soll durch eine frühestens 1935 Juli 09 zu begebende, mit 5 °/o zu verzinsende Schuldverschreibung bezahlt werden. Daneben bleiben noch Restzahlungen sowie der Dienst für die Dawes-und Young-Anleihe." Die Verbindlichkeiten nach dem deutsch-belgischen Markabkommen und die „mixed Claims“, die Entschädigungen der USA für Besatzungskosten und private Kriegsverluste, waren auch weiterhin nach Sondervereinbarungen zu regeln.

IV. Die Beurteilung des Abkommens

Der Vertrag wurde nicht ratifiziert, trat aber de facto in Kraft. Wie die folgende Aufstellung zeigt, brachte er einen erheblichen Fortschritt. Nach den Pariser Beschlüssen hatte das Reich bis 1963 223 Mrd. Goldmark zu entrichten. Dieser Betrag wurde nach der deutschen Zahlungsverweigerung im Londoner Ultimatum vom 5. 4. 1921 auf 123 Mrd. Mark zuzüglich 26 °/o des Wertes der deutschen Ausfuhren reduziert. Nach dem Zusammenbruch der deutschen Währung suchten Dawes-und Young-Plan die Forderungen der deutschen Leistungsfähigkeit anzupassen. Im Lausanner Abkommen verblieb den Alliierten noch 1/11 der Young-Summe, die 1947 abgetragen sein sollte. Davon hat nach der Statistik Frankreich rund 20 Mrd. Goldmar °/o des Wertes der deutschen Ausfuhren reduziert. Nach dem Zusammenbruch der deutschen Währung suchten Dawes-und Young-Plan die Forderungen der deutschen Leistungsfähigkeit anzupassen. Im Lausanner Abkommen verblieb den Alliierten noch 1/11 der Young-Summe, die 1947 abgetragen sein sollte. Davon hat nach der Statistik Frankreich rund 20 Mrd. Goldmark und damit über die Hälfte des durch die Verteilerschlüssel von Spa (1920) und Paris (1921) zugewiesenen Betrags kassiert, wohingegen sich die tatsächlichen Kosten für den Wiederaufbau der kriegszerstörten Gebiete nach Anlage IV zum französischen Etat-Entwurf für 1932 nur auf rund 13, 5 Mrd. Mark oder 79, 6 Mrd. Papier-Franc beliefen 23). Rechnet man die Abfindung hinzu, dann wird noch deutlicher, ein wie gutes Geschäft die Franzosen gemacht hatten. Insgesamt hat Deutschland nach alliierter Auffassung 20, 781 Mrd. Mark aufgebracht, nach deutscher aber 67, 673 Mrd. 24). Hinzuzufügen sind noch die aus dem Lausanner Vertrag stammenden und nicht abgegoltenen Ansprüche, die in das Londoner Schuldenabkommen von 1953 übernommen wurden und von der Bundesrepublik Deutschland befriedigt werden müssen.

Obwohl sich die Vorteile nicht leugnen ließen, wurde der Lausanner Vertrag nicht allseits begrüßt, denn das Reparationsproblem, das er aus der Welt schaffen sollte, stand auch im Bewußtsein der Öffentlichkeit in engem Zusammenhang mit der Frage der deutschen Kriegsschuld. Diese wurde nicht nur von deutscher Seite, sondern auch von ausländischen Experten sogleich bestritten. Es sei hier nur auf die Verneinung einer internationalen Strafverantwortlichkeit durch die Amerikaner Scott und Miller in ihrem Bericht vom 21. 1. 1919 hingewiesen 25) und an das Urteil des britisehen Juristen E. Pollock erinnert, der als einziges Mitglied der am 25. 1. 1919 gegründeten „Commission des responsibilites des auteurs de la guerre" der Mehrheitsauffassung der Sieger widersprach: „Jede Untersuchung zur Festsetzung der verantwortlichen Urheber des Krieges muß sich, wenn sie nämlich die Frage erschöpfend klären soll, zwangsläufig auf Ereignisse erstrecken, die während einer Reihe von Jahren in verschiedenen europäischen Ländern eingetreten sind; sie wird unbedingt zahlreiche schwierige und verwickelte Probleme aufwerfen, die viel mehr in den Kompetenzbereich des Geschichtsforschers und der Staatsmänner als in den Rahmen der Zuständigkeit eines Gerichtes fallen würden, das berufen wäre, über die Verletzer der Kriegsgesetze und -gebräuche ein Urteil zu fällen." 26)

Die Historiker waren so kurz nach Kriegsende außerstande, die Wahrheit zu ermitteln. Die Schwierigkeit dieser Aufgabe läßt sich ermessen, wenn man bedenkt, daß die Diskussion noch ein halbes Jahrhundert später weitergeht, nachdem sie sich an der von F. Fischer in seinem Buch „Der Griff nach der Weltmacht" aufgestellten und in der „Zeit" vom 3. 9. 1965 pointiert formulierten These neu entzündet hatte: „Der Krieg war im Sommer 1914 geistig, militärisch, politisch-diplomatisch und wirtschaftlich wohl vorbereitet. Er mußte nur noch ausgelöst werden." So entschieden die Politiker, und sie trafen eine Reparationsregelung, deren wirtschaftlicher Widersinn schon in Paris von Keynes kritisiert wurde, der auch eine Zerrüttung der Weltwirtschaft vorhersagte. Die deutsche Auflehnung gegen das Versailler Diktat und die konsequente Revisionspolitik der Regierungen waren sachlich gut begründet. Der diskriminierende Artikel 231, der nach einer später auch in Frankreich vertretenen Auffassung nur die Haftung des Reichs für die entstandenen Kriegsschäden, nicht aber eine kriminelle Schuld festlegen sollte, wurde zwar in Lausanne stillschweigend fallengelassen, doch blieb dies ohne Rückwirkung auf das bereits hoffnungslos vergiftete innenpolitische Klima in Deutschland.

Das Reparationsproblem erwies sich von Anfang an als ein schweres Hindernis für die Normalisierung der internationalen Beziehungen. Die unterschiedlichen Interessen der Sie-ger führten dazu, daß auch sie uneins wurden. Zuerst zerstritten sich die USA mit ihren Verbündeten, dann wurden auch England und Frankreich unterschiedlicher Meinung, obwohl sie sich einst eng unterstützt hatten, auch wenn von englischer Seite oft Bedenken laut wurden: Die britische Regierung schloß sich der in den Pariser Vorverträgen geltend gemachten Forderung nach Reparationen an. Bei der Friedenskonferenz suchte Lloyd George, der kurz zuvor noch zum „knock out" Deutschlands aufgerufen hatte, dann bereits eine Mittlerposition zwischen Clemenceau und Wilson zu beziehen. Die Labour-Regierungen trieben eine relativ gemäßigte Politik, rückten jedoch nicht von den Ansprüchen ab. Ein Umschwung zeichnete sich erst Ende 1931 ab, als MacDonald die Streichung der Reparationen forderte. Ihm ist auch der Kompromiß von Lausanne zu verdanken. Die Leistung ist besonders darum anzuerkennen, weil die Extravaganzen Herriots, die Opposition im englischen Lager (Simon) und die unerwartete deutsche Haltung ein Höchstmaß an Verhandlungsgeschick erforderten, um die nach Layton schlecht organisierte Konferenz nicht scheitern zu lassen. Zu einer grundlegenden Verbesserung der zwischenstaatlichen Beziehungen hat sie nicht mehr geführt.

Unklar bleiben die Gründe für Papens Verhalten. Den Kooperationsplan mit Frankreich darf man ihm persönlich zuschreiben, denn ein politisches oder gar militärisches Zusammengehen mit dem Initiator des Versailler Vertrags wurde weder von Hindenburg noch von der Reichswehr ernsthaft erwogen. Ohne deren Zustimmung konnte Papen aber nicht regieren, da er weder bei einer Partei noch im Parlament einen Rückhalt hatte, und so mußte er sich dem Druck der ihn stützenden Kräfte beugen und seinen politisch nicht realisierbaren und verhandlungstaktisch verfehlten Vorschlag zurückziehen. Das finanzielle Angebot konnte er angesichts der durch internationale Gutachter festgestellten deutschen Zahlungsunfähigkeit kaum ohne vorherige Zusicherung privater Geldgeber unterbreiten. Da nach übereinstimmender Auffassung die Industrie besondere Vorteile durch die Beendigung der Reparationen zu erwarten hatte, ist die Vermutung nicht abwegig, daß sie die Mittel bereitstellen wollte. Auch die Hochfinanz kann beteiligt gewesen kein, denn zu ihr Unterhielt Papen gute Beziehungen, wie sein auf Vermittlung des Kölner Bankiers v. Schröder zustande gekommenes Gespräch mit Hitler vom 4. 1.

1933 zeigt. Die finanzielle Offerte war diplomatisch sehr unklug, auch wenn sie sich rechtfertigen läßt, denn sicher hat Neurath während seiner zweijährigen Tätigkeit als Botschafter in London die Absicht gekannt, eine Abstandssumme zu fordern. Möglicherweise hat Papen versucht, durch seinen überraschenden Vorstoß seine Gegenspieler auf einen nicht zu hohen Betrag festzulegen. Da er Erfolg hatte, konnte die Industrie zufrieden sein und benötigte nicht etwa Hitler. Ihr Eintreten für dessen Kanzlerschaft erfolgte denn auch erst nach Papens Sturz und hatte andere Gründe als die Durchsetzung von Interessen, die mit dem Reparationsproblem im Zusammenhang standen.

Die Mitschuld deutscher Industrieller und Bankiers an der Machtergreifung Hitlers, die in Nürnberg festgestellt wurde darf nicht den Blick für die Tatsache verstellen, daß auch die Alliierten Verantwortung tragen. Sie haben durch Aufbürden einer maßlosen Reparationslast der jungen Republik Schwierigkeiten bereitet, die auch andere Staaten mit längerer demokratischer Tradition schwerlich hätten meistern können. Nicht zuletzt in dem Kampf gegen den Artikel 231 und die daraus abgeleiteten Folgen hat Hitler Zustimmung auch bei der lohnabhängigen Bevölkerung als der am härtesten betroffenen Gruppe gefunden und in dem Maße eine Massenbasis zu gewinnen vermocht, in dem die Regierung spürbare und nachhaltige Erleichterungen nicht zuwege brachte. Die Allierten waren durch ihre Botschafter gut genug über die innere Entwicklung in Deutschland unterrichtet, zogen jedoch keine Konsequenzen. Bis zuletzt fehlte es an der nötigen internationalen Solidarität der Demokraten. Schließlich waren es wirtschaftliche, nicht politische oder gar humanitäre Erwägungen, die das Abkommen von Lausanne herbeiführten. Dieses brachte bei aller Fragwürdigkeit eine akzeptable Lösung. Für Deutschland kam sie leider zu spät.

Fussnoten

Fußnoten

  1. K. D. Bracher, Die nationalsozialistische Machtergreifung, Köln und Opladen 19622, S. 4/5.

  2. Vgl. Wer verhalf Hitler zur Macht? Zum Anteil der deutschen Industrie an der Zerstörung der Weimarer Republik, Köln 1967 (Enthält einen wertvollen Anhang schwer zugänglicher Dokumente). — Vgl. auch: Der Bankier und die Macht. Hermann Josef Abs in der deutschen Politik, Köln 1970.

  3. Vgl. Faschismus und Kapitalismus in Deutschland. Studien zum Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und Wirtschaft, Göttingen 1972. — Turner weist z. B. nach, daß die Quittung der IG Farben über 100 000 RM, die nach Czichon 1932 an die NSDAP gezahlt wurden, erst aus dem Jahr 1944 datiert. Auch gibt es keinen Beweis für die These, das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat, dessen Aufsichtsratsvorsitzender E. Kirdorf bis 1925 war, habe pro verkaufte Tonne 5 oder gar 50 Pfg. an die NSDAP entrichtet.

  4. Vgl. Das historische Problem, in: ZfPol N. F. l, 1954, S. 298.

  5. Vgl. Frankreichs Ruhrpolitik. Von Versailles zum Dawesplan, hrsg. v. Walther Peter Fuchs, Göttingen 1971.

  6. Vgl. M. Göhring, Bismarcks Erben 1890— 1945, Wiesbaden 1958, S. 207, und L. Zimmermann, Deutsche Außenpolitik in der Ära der Weimarer Republik, Göttingen 1958, S. 474.

  7. Vgl. Die Reparationen in der Ära Brüning. Zur Bedeutung des Youngplans für die deutsche Politik 1930— 1932, Berlin 1962.

  8. Vgl. Die amerikanische Stabilisierungspolitik in Deutschland 1921 — 1932, Düsseldorf 1970.

  9. Vgl. M. -O. Maxelon, Stresemann und Frankreich. Deutsche Politik der Ost-West-Balance, Düsseldorf 1972.

  10. Vgl. Rede vor dem Reichstag vom 24. 5. 1932 und Memoiren, Stuttgart 1970, S. 556. Appeasement-Politik Englands zukommt, kann hier leider nicht erörtert werden. Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß Lenin schon während des Ersten Weltkrieges die Friedenswünsche der „englischen pazifistischen Millionäre" richtig auf ökonomische Interessen dieser Kreise zurückführte (Werke, Bd. 21, Berlin 1960, S. 183 f.). In der Tat benötigte die Nation der „shopkeeper" (Eden) friedliche Verhältnisse zur wirtschaftlichen Expansion. Zudem hätte eine konsequente Gleichgewichtspolitik die Mittel einer Weltmacht erfordert. Diesen Rang hatte England jedoch eingebüßt und war daher gezwungen, sein weltweites Engagement zu begrenzen. — Zur Neubeurteilung des Appeasement-Problems vgl. die Literaturberichte von G. Niedhart (NPL 13, H. 2, 1968, S. 233— 241 und NPL 17, 1972, H. 4, S. 451— 470) und R. Tamchina (NPL 17, 1972, H. 4, S. 471 ff.).

  11. Vgl. Memoiren S. 286 f.

  12. Vgl. Schultheß'Europäischer Geschichtskalender Bd. 73, S. 278— 282.

  13. Vgl. H. Graml, Präsidialsystem und Außenpolitik, in: Vierteljahrshefte f. Zeitgesch. 21. Jg., H. 2, April 1973, S. 138, Anm. 9.

  14. Vgl. Documents on British Foreign Policy 1919 to 1939, 2nd series, vol. 3, London 1948, No. 54, p. 59. — Der Quellenwert dieser Akten wird dadurch geschmälert, daß nicht mehr alle wichtigen Entscheidungen im Foreign Office gefaßt wurden. Der „decision-making-process" erfolgte verstärkt per Telefon und während privater Gespräche der politischen Elite und läßt sich daher nicht in allen Details nachzeichnen.

  15. Vgl. G. Jeze im „Journal de France" vom 13. 5. 1932. — Weitere Stimmen sind zitiert bei E. Meier, Zeittafel der deutschen Reparationen von 1918 bis 1932, Erlangen 1932, S. 132.

  16. Vgl. A. Ppy, Le Glas des Reparations, Grenoble 1932, p. 154, die die Gründe der britischen Revisionsbereitschaft nennt. — Vgl. auch M. Ehrhardt, Deutschlands Beziehungen zu Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Frankreich vom Mai 1930 bis zum Juni 1932, Diss. Hamburg 1952.

  17. Vgl. J. Curtius, Der Young-Plan, Stuttgart 1950, S. 121.

  18. Vgl. H. Ronde, Von Versailles bis Lausanne. Der Verlauf der Reparationsverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg, in: Göttinger Studien zum Völkerrecht und internationalen Privatrecht, Köln und Stuttgart 1950, S. 20.

  19. Vgl. Der Young-Plan, 1950, S. 117.

  20. Zitiert nach Konferenzen und Verträge, Vertrags-Ploetz Teil II, Bd. 4, Würzburg 1959, S. 113. Vgl.den Wortlaut in: Materialien zur Reparationsfrage (Lausanner Konferenz). Deutsches Weißbuch, Berlin 1932, S. 7 ff.

  21. Essen 1939, Bd. II, S. 1245.

  22. Vgl. z. B. das Flick-Urteil vom 22. 12. 1947, das IG-Farben-Urteil vom 29. /30. 7. 1948 und das Krupp-Urteil vom 31. 7. 1948 sowie die Materialien der Publikation „Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg", Nürnberg 1947— 1949.

Weitere Inhalte

Hans Günther Bickert, Dr. phil., geb. 1937, Studium der Geschichte, Politik und Germanistik, Oberstudienrat, Lehrbeauftragter für Deutsch als Fremdsprache und Mitglied der Kommission der Beratergremien für Gemeinschaftskunde und Wirtschafts-und Sozialwissenschaften beim Referat für Lehrerweiterbildung an der Philipps-Universität Marburg. Veröffentlichungen u. a.: Studien zum Problem der Exposition im Drama der tektonischen Bauform, Marburg 1969 (= Marburger Beiträge zur Germanistik Bd. 23); Poeta rhetor, in: Dialog. Literatur und Literaturwissenschaft im Zeichen deutsdi-französisdier Begegnung, Berlin 1973: Expositionsprobleme im tektonischen Drama, in: Ars Interpretandi Bd. 6, Darmstadt (erscheint 1974); Heinrich das Kind von Brabant und die Souveränität Hessens, Darmstadt (erscheint 1974).