In den letzten vier Jahren sind die Vereinigten Staaten von Amerika, ihre Verbündeten im euro-amerikanischen Raum und Japan zu den wichtigsten Gesprächs-und Verhandlungspartnern der Volksrepublik China (hin-fort: VR China) geworden. Der gegenwärtige außenpolitische Kurs der Pekinger Regierung, der gekennzeichnet wird von einem starken Interesse an der Herstellung allseitiger zwischenstaatlicher Kontakte und von der intensiven Einflußnahme auf die internationale Diplomatie, ist eine Politik der Öffnung zur Welt und damit eine Politik der Westorientierung. Mit ihr hat sich vor allem in Ostasien, aber auch in der Weltpolitik allgemein eine Wende vollzogen, die in ihrer Bedeutung zwei anderen Zäsuren in der Nachkriegsentwicklung des internationalen Staatensystems gleichkommt: dem Eintritt Chinas in die sozialistische Staatenwelt nach der kommunistischen Machtergreifung 1949 und dem faktischen Bruch der Pekinger Führung mit dem sowjetischen Bundesgenossen im Frühjahr 1961.
Aus der Sicht der außenpolitischen Entwicklung der VR China läßt die Politik der Westorientierung die Konturen einer neuen außen-politischen Konzeption erkennen. Sie scheint sich sowohl nach ihren Motiven und Zielsetzungen als auch nach den Methoden ihrer Verwirklichung erheblich von früheren Vorstellungen und Aktionsprogrammen der Pekinger Führung im Bereich der Außenpolitik zu unterscheiden.
Bei dem Versuch, die wichtigsten Charakteristika dieser neuen Konzeption zu erfassen, erweist es sich als sinnvoll, auf die außenpolitischen Grundsatzprogramme Pekings in früheren Jahren zurückzugreifen. Fernab von allen Argumenten, mit denen die Regierung in Peking so legitim wie jede andere Regierung die Konsistenz und Folgerichtigkeit eines gleichwohl recht wechselvollen außenpolitischen Entwicklungsganges zu belegen sucht, bilden sie den analytischen Rahmen, der das Ausmaß des Wandels in der gegenwärtigen Politik der VR China besonders deutlich werden läßt. Mit ihnen können zugleich auch Überlegungen entwickelt werden, die sich bei einer längerfristigen Beurteilung dieser Politik ergeben und das Bild des Wandels kritisch durchleuchten müssen. Zwei solcher Grundsatzprogramme lassen sich im Rückblick auf die Außenpolitik der VR China in den fünfziger und sechziger Jahren unterscheiden: das Programm eines anti-westlichen Bündnisses mit der Sowjetunion sowie das Programm der revolutionären Eigenständigkeit im simultanen Konflikt mit der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten von Amerika.
I. Das anti-westliche Bündnis mit der Sowjetunion
Untersucht man die chinesische Außenpolitik in der ersten Dekade nach der Gründung der Volksrepublik, so findet man in ihr drei Grundsätze bestätigt, die der Vorsitzende der KP Chinas, Mao Tse-tung, bereits im Sommer 1949 in einer Gedenkrede zum 28. Jahrestag der Gründung seiner Partei zu den außenpolitischen Leitlinien der zukünftigen Regierung in Peking dargestellt hatte
1. China werde sich an eine Seite anlehnen, an die Seite der Sowjetunion; China werde den Kampf gegen den Westen im eigenen Lande und in der internationalen Politik aufnehmen;
3. China werde sich für die Weiterentwicklung der Weltrevolution einsetzen.
Aus der gleichen Rede sowie aus einer Reihe von zeitgenössischen Darlegungen anderer Parteiführer 2) lassen sich die wichtigsten Motive, die zu diesen drei Leitlinien führten, deutlich ablesen. Die chinesischen Kommunisten waren beeindruckt von dem wirtschaftlichen und machtpolitischen Aufstieg Rußlands nach der Oktoberrevolution. In diesem Aufstieg, der Chinas unmittelbaren Nachbarn innerhalb von weniger als dreißig Jahren aus dem Dasein eines innen-und außenpolitisch gelähmten Entwicklungslandes herausgehoben und an die Spitze der Großmächte gestellt hatte, sahen sie ihre eigenen Entwicklungschancen durch die Praxis bereits belegt
Die nicht unberechtigte Hoffnung, daß die sowjetische Regierung ein besonderes Interesse an dem sozialistischen Aufbau Chinas und seiner Zusammenarbeit innerhalb der sozialistischen Staatenwelt habe sowie die schwierigen außenpolitischen Existenzbedingungen der VR China rieten zu einem engen Bündnis mit der Sowjetunion. Sie war die stärkste raumnahe Macht in Asien nach der militärischen Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg und nach der wenig später erfolgten Auflösung des britischen Kolonialreiches auf dem Indischen Subkontinent. Sie war eine der beiden Führungsmächte im Kalten Krieg zwischen Ost und West und zudem die einzige Großmacht, die noch wirtschaftlich und militärisch wichtige Sonderrechte im Nordosten Chinas genoß Die Behauptung Mao Tsetungs, die Sowjetregierung sei als einzige bereit, China auf der Grundlage der Gleichheit zu behandeln war dabei zweifellos mehr eine die chinesische Bündnispolitik motivierende Hoffnung als eine historisch belegbare Tatsache.
Diese Hoffnung konnte sich aus chinesischer Sicht vor allem darauf gründen, daß es zwischen den zukünftigen Bündnispartnern eine alle nationalen Gegensätze der Vergangenheit überwölbende ideologische Interessengemeinsamkeit gab. Diese ideologische Gemeinsamkeit stellte einen eigenständigen Faktor in der chinesischen Option für die Sowjetunion dar Ihr wohnte von vornherein die antiwestliche Komponente des ersten außenpolitischen Programms der Pekinger Regierung inne. Sie erklärte sich zugleich auch aus dem wesentlich tiefergehenden anti-westlichen Affekt, den Kolonialismus, Imperialismus und kultureller Expansionismus der europäischen Mächte im 19. und frühen 20. Jahrhundert in China bewirkt hatten Zu diesem ideologisch-emotionellen Aspekt trat die praktisch-politische Tatsache der amerikanischen Präsenz im Westpazifik Sie wurde von der Pekinger Regierung nicht zuletzt deshalb als bedrohlich angesehen weil die Rückkehr der vor den Kommunisten nach Taiwan geflohenen nationalchinesischen Truppen auf das Festland und das Wiederaufflammen des chinesischen Bürgerkriegs wesentlich von der Frage der amerikanischen Unterstützung für die Regierung Chiang Kai-sheks abhing.
Während ideologische und pragmatische Gesichtspunkte gleichermaßen die Bündnispolitik gegenüber der Sowjetunion und die Konfrontationspolitik gegenüber den USA und ihren Bündnispartnern bestimmten, war das revolutionäre Engagement der Pekinger Regierung ausschließlich durch die Ideologie motiviert. Ihm lag die später durch die Praxis falsifizierte Hypothese zugrunde, daß der nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Entkolonialisierungsprozeß in Asien direkt in eine die Weltrevolution fortsetzende Entwicklung geleitet werden könne. Dabei nahm man an, daß die kommunistischen Bewegungen innerhalb der entkolonialisierten Staaten die reale Chance hätten, schon in der Phase der Nationalstaatwerdung ihrer Länder die politische Führungsrolle zu übernehmen. Die revolutionären Erfahrungen in China hatten bei diesem Gedankengang deutlich Pate gestanden
Die außenpolitischen Ziele, die sich die Pekinger Regierung in den ersten Jahren ihrer Herrschaft gesetzt hatte, können folgendermaßen zusammengefaßt werden:
In erster Linie ging es der chinesischen Führung um die außenpolitische Absicherung des Landes, die mit der Unterzeichnung eines klassischen Verteidigungsbündnisses am 14. Februar 1950 in Moskau vollzogen wur-de Der hohe Stellenwert dieses Bündnisses für die chinesische Seite wird besonders durch die Tatsache deutlich, daß der Vertragsabschluß nicht mit einer sofortigen Ablösung der sowjetischen Sonderrechte einher-ging, sondern diese nur in Aussicht stellte. Auch die Anerkennung der Souveränität der Äußeren Mongolei, die von keiner chinesischen Regierung jemals freiwillig geleistet worden ist, mußte die VR China als Opfer bringen.
Das zweite Ziel lag in der Durchsetzung der völligen Unabhängigkeit des Landes. Sie schien den chinesischen Kommunisten nur dadurch realisierbar zu sein, daß sich China von westlichen Einflüssen jeder Art lossagte und seine diplomatische Kooperationsbereitschaft mit den westlichen Staaten an die Aufgabe aller von Peking als imperialistisch empfundenen Positionen knüpfte
Das Ziel einer Kommunisierung der Staaten in der unmittelbaren Nachbarschaft der VR China unterstrich das Unabhängigkeitsstreben der chinesischen Kommunisten nochmals auf einer anderen Ebene
Eine Zielvorstellung, die nach dem Übergang der KP Chinas von einer revolutionären Aufstandsbewegung zu einem allein durch die Tatsache der Machtergreifung legitimierten Herrschaftsträger hätte erwartet werden können, fehlte hingegen: die Zielvorstellung der universellen diplomatischen Kontaktaufnahme. Hierin ist wohl der entscheidende Grund dafür zu sehen daß die Forderung nach internationaler Anerkennung der Pekinger Regierung über fast zwei Jahrzehnte hindurch bei der Mehrzahl der Regierungen in der Welt kein Gehör fand.
Weder die Theorie noch die Praxis der chinesischen Außenpolitik ließen die Diplomatie und die zwischenstaatliche Kontaktpflege als einen Wert oder ein sich selbst tragendes außenpolitisches Interesse erscheinen. Beides maßen die chinesischen Kommunisten allein jener angeblich im Verhältnis der sozialistischen Staaten untereinander herrschenden besonderen Form des Parteikontaktes zu, dem Proletarischen Internationalismus Ein Blick auf den Entwicklungsgang, den die Außenpolitik der VR China vom Herbst 1949 bis zum Frühjahr 1961 nahm, läßt dies im einzelnen deutlich werden. Die dabei gewählte Systematik geht von einem jeweils erkennbaren oder auch offiziell proklamierten Kurswechsel der Pekinger Regierung aus und unterscheidet vier Entwicklungsphasen
Die erste Phase umfaßt den Zeitraum von der Gründung der Volksrepublik im Oktober 1949 bis zum Jahresende 1951 und wird gekennzeichnet von einer Politik des Primats der Weltrevolution Die chinesischen Kommunisten übernahmen die Aufgabe, ihre revolutionären Erfahrungen an die kommunistischen Parteien und Aufstandsbewegungen des süd-ost-und ostasiatischen Raumes weiterzugeben und die Bereitschaft zum bewaffneten Kampf gegen die alten Kolonialmächte oder aber die neuen nationalen Führer ihrer Länder zu stärken. Sie folgten damit der 1947 beschlossenen Linie des Kommunistischen Informationsbüros, nach der es den kommunistischen Parteien der westlichen Industrieländer oblag, für die Erhaltung des Friedens auf der Grundlage des Anti-Amerikanismus zu kämpfen, die kommunistischen Bewegungen in Asien hingegen den bewaffneten Kampf aufnehmen sollten. Diese von Stalin und seinen Mitarbeitern ersonnene Strategie schloß die diplomatische Zusammenarbeit mit den bürgerlich-nationalen Regierungen der entkolonialisierten Staaten aus und bedeutete gleichzeitig die Eröffnung einer neuen Front des Kalten Krieges in Asien, nachdem sich die Konfrontation zwischen Ost und West in Europa verfestigt hatte.
In Korea begann im Sommer 1950 an dieser neuen Front die direkte militärische Offensive Als die chinesische Regierung im Herbst des gleichen Jahres umfangreiche Truppenverbände auf den koreanischen Kriegsschauplatz entsandte, um eine Vernichtung des kommunistischen Regimes im Norden Koreas durch die amerikanischen und UN-Interventionstruppen zu verhindern, war diese Offensive längst gescheitert. Für die nichtkommunistische Weltöffentlichkeit schien jedoch festzustehen, daß Mao Tse-tung quasi ein Statthalter Stalins, das kommunistische China nicht weniger gefährlich als die Sowjetunion sei.
Die sowjetisch-chinesischen Bundesgenossen sahen sich damit in der internationalen Diplomatie isoliert, ohne daß eine Aussicht bestand, die mit einer Übernahme Südkoreas erhoffte Abrundung des kommunistischen Herrschaftsbereiches auf dem asiatischen Kontinent durchsetzen zu können. Hinzu trat die Einsicht, daß die chinesische Revolutionsstrategie in den meisten anderen asiatischen Ländern vorläufig keinen Erfolg hatte Beide Bündnispartner waren sich deshalb einig, daß eine außenpolitische Kurskorrektur durchzuführen sei. Auf chinesischer Seite kündigte sich diese Kursberichtigung im Herbst 1951 an, als die Pekinger Führung begann, die ultralinke Linie des bewaffneten Aufstandes zu kritisieren Der an die kommunistischen Parteien gerichtete Aufruf, die Annäherung an die bürgerlich-nationalen Kräfte ihrer Länder zu suchen und möglichst mit ihnen Koalitionsregierungen zu bilden, fand fast gleichzeitig auf der diplomatischen Ebene der chinesischen Außenpolitik seine Entsprechung.
Eine zweite Phase, in der die sogenannte Politik der friedlichen Koexistenz eingeleitet wurde setzte mit der Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlungen in Korea ein.
Von 1952 bis 1954 gelang es mit dieser neuen Politik nicht nur, den Korea-Krieg zu liquidieren, sondern auch, einen Frieden in Indochina auszuhandeln Der chinesische Ministerpräsident Chou En-lai wurde trotz der diplomatischen Isolierung seines Landes zu einem geachteten Verhandlungspartner des Westens und zur gleichen Zeit auch ein hochwillkommener Gast in Indien In einem ersten Vertrag zwischen der VR China und der Indischen Union wurden im Frühjahr 1954 die Prinzipien dessen festgelegt, was die Politik der friedlichen Koexistenz beinhalten sollte gegenseitige Achtung der territorialen Integrität und Souveränität; gegenseitigen Nichtangriff; gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines jeden Landes; Gleichberechtigung und Streben nach gemeinsamen Nutzen; und friedliche Koexistenz. Der Hinwendung der chinesischen Außenpolitik zur Methode der zwischenstaatlichen Verhandlung und der Diplomatie in der Zeit von 1952 bis 1954 folgte in den Jahren 1955 bis zum Herbst 1957 eine weitere, dritte Phase. Jetzt sollte sich die Politik der friedlichen Koexistenz voll entfalten.
Ein erster Anlaß zur Intensivierung der chinesischen Diplomatie bot sich mit der Solidaritätskonferenz afro-asiatischer Staaten in Bandung im Frühjahr 1955, auf der es Chou Enlai gelang, manche Vorbehalte und Befürchtungen kleinerer asiatischer Staaten hinsichtlich des revolutionären Engagements der VR China zu zerstreuen Hier sprach Chou nicht nur Einladungen zum Besuch der Volksrepublik aus, sondern zum ersten Male auch von der Bereitschaft seiner Regierung, auf dem Verhandlungswege nach Möglichkeiten der Entspannung im chinesisch-amerikanischen Verhältnis zu suchen. Wenig später kamen die chinesisch-amerikanischen Verhandlungen in Form von regelmäßigen Botschaftergesprächen tatsächlich zustande.
Die VR China öffnete sich jetzt dem Ausland. Gleichzeitig bot sich die Pekinger Regierung als ein neuer Partner auf verschiedenen Gebieten der internationalen Zusammenarbeit an. Auch gegenüber dem in Taiwan residierenden Rivalen der Pekinger Regierung wurde zu erkennen gegeben, daß es Wege einer friedlichen Wiedervereinigung gäbe.
In all diesen Initiativen sahen die chinesischen Kommunisten keinen Widerspruch zu ihrem erklärten Grundsatz, den kapitalistisch-imperialistischen Westen bekämpfen und für die Weiterentwicklung der Weltrevolution arbeiten zu wollen. Peking erfüllte damit seine Bündnispflicht gegenüber der Sowjetunion, deren Führer seit dem Tode Stalins in wachsendem Maße nach Wegen zur Entspannung im Verhältnis zur westlichen Welt suchten Die diplomatischen Aktivitäten der VR China in Asien entsprachen dem Bemühen Moskaus, die diplomatischen Kontakte mit verschiedenen Ländern dieses Kontinents aufzubauen und zu festigen. Allerdings war nach Ansicht der chinesischen Bundesgenossen zum Herbst 1957 der Zeitpunkt für eine neuerliche Wende gekommen, denn eine langfristige außenpolitische Strategie hatten sie mit der Politik der friedlichen Koexistenz nicht beabsichtigt
Die vierte Phase der chinesischen Außenpolitik im Bündnis mit der Sowjetunion, die den Zeitraum vom Herbst 1957 bis zum Frühjahr 1961 umfaßt, sollte nach den ursprünglichen Vorstellungen Mao Tse-tungs von einer neuen Offensive der sozialistischen Staatenwelt gegenüber dem imperialistischen Lager gekennzeichnet sein. Der chinesische Parteivorsitzende ging in dieser Vorstellung von der Annahme aus, daß der Sozialismus mit dem damals ersten erfolgreichen Start eines sowjetischen Erdsatelliten, mit der numerischen Stärke der sozialistischen Völker sowie mit der wachsenden Zahl von Sympathisanten unter den um nationale Unabhängigkeit kämpfenden Völkern in der Welt eine klare Überlegenheit über den Imperialismus gewonnen habe. Sie sollte nun zum Einsatz gebracht werden Die Sowjetregierung widersprach dieser Lageeinschätzung und bestand auf der Fortsetzung der Politik der friedlichen Koexistenz, die knapp eineinhalb Jahre zuvor auf dem XX. Parteitag der KPdSU zur Generallinie der sowjetischen Außenpolitik erklärt worden war Die Wende, die sich in der chinesischen Außenpolitik dennoch vollzog, vermochte zwar nicht in eine Offensive überzuleiten, aber sie bedeutete die Abkehr von der Politik der friedlichen Koexistenz. Die Kanonade auf die nationalchinesische Insel Quemoy im Herbst 1958 und der Beginn offener Grenzauseinandersetzungen zwischen der VR China und der Indischen Union im darauffolgenden Jahr ließen neben militant-aggressiv klingenden Propaganda-Erklärungen und ersten Streitschriften an die sowjetische Adresse diese Abkehr klar erkennen
Aus der Retrospektive läßt sich sagen, daß die zentrale Bedeutung des neuerlichen Kurswechsels weniger in den Rückwirkungen auf jenen Teil der Welt lag, mit dem sich die chinesischen Kommunisten verfeindet sahen, als vielmehr auf die Staatenwelt und die Macht, mit der sie sich verbündet hatten. Vor die Wahl gestellt, dem eigenen außenpolitischen Grundsatzprogramm oder aber dem des sowjetischen Bundesgenossen zu folgen, war eine erste Entscheidung gegen die Sowjetunion gefallen und gleichzeitig das Kernstück dieses Grundsatzprogramms, das sowjetisch-chinesische Bündnis, in Frage gestellt worden. Unter einer Vielzahl von Anzeichen bleiben die von chinesischer Seite referierten Worte des sowjetischen Ministerpräsidenten Chruschtschow auf dem XXII. Parteitag der KPdSU im Frühjahr 1961 dafür das markante-ste Signal. Chruschtschow gab Chou En-lai damals die Versicherung mit auf den Weg nach Peking zurück, daß die Sowjetunion ihren eigenen Weg gehen werde, ob mit oder ohne China
II. Revolutionäre Eigenständigkeit im simultanen Konflikt mit der Sowjetunion und den USA
Chronologie und Polemik des sowjetisch-chinesischen Konflikts zeigen, daß die Pekinger Führung in der zweiten Dekade ihrer Herrschaft erst allmählich und mehr im Zugzwang einer sich mit dem Konflikt entwickelnden Eigendynamik als in bewußter Zielstrebigkeit zu einer veränderten außenpolitischen Konzeption gelangte Dies gilt es zu berücksichtigen, wenn man die Motive und Ziele eines in sich geschlossenen Grundsatzprogrammes sowie die Methoden seiner Verwirklichung in der praktischen Politik erkennen will. Die chinesischen Kommunisten wollten im Grunde ihren Bündnispartner nicht verlieren, sie waren jedoch andererseits nicht bereit, einem drohenden Bruch mit der Sowjetunion aus dem Wege zu gehen. So hätten die drei Grundsätze, die sich aus den umfangreichen Streitschriften der KP Chinas in den Jahren 1963/64 zur Charakterisierung ihrer außen-politischen Plattform herauskristallisieren lassen aus chinesischer Sicht durchaus eine Basis der Einigung mit der Sowjetunion darstellen können, auch wenn in ihnen die außen-politische Alternative der revolutionären Eigenständigkeit der VR China im simultanen Konflikt mit den beiden Weltmächten deutlich zu Tage trat. Die chinesischen Kommunisten forderten, daß 1.dem Kampf gegen die kapitalistisch-imperialistischen Staaten, gegen den Westen also, der Vorrang vor konfliktdämpfenden Vereinbarungen gegeben werden müsse; 2.dem erkennbaren und zu erwartenden Umwälzungsprozeß in den unterentwickelten Kontinenten Asien, Afrika und Lateinamerika das Hauptinteresse der sozialistischen Staaten, den Fragen des Übergangs zum Sozialismus in den westlichen Industriestaaten hingegen erst an zweiter Stelle Aufmerksamkeit geschenkt werden solle; 3. parallel mit dem Kampf gegen den Imperialismus der Kampf gegen den Revisionismus im eigenen Lager zu führen, also ein Kampf an zwei Fronten gleichzeitig aufzunehmen sei
In den ersten beiden Forderungen spiegelten sich zwar alte, jedoch jetzt mit stärkerer Dringlichkeit vorgebrachte Anliegen der chinesischen Außenpolitik wider.
Zu den sie anfänglich motivierenden Faktoren war die doppelte Erfahrung getreten, daß es zwischen der VR China und den USA keine beide Seiten befriedigende Entspannungsmöglichkeit gab und daß die revolutionären Veränderungschancen in der Nachkriegswelt wesentlich von den Lagebedingungen in Europa, von den hier herrschenden Konflikten und den hier gebotenen diplomatischen Rücksicht-nahmen bestimmt wurden
In ihren Gesprächen mit der amerikanischen Regierung war der Pekinger Führung deutlich geworden, daß die USA aller Wahrscheinlichkeit nach keine direkten Aggressionspläne gegen die VR China hegten und daß auch eine indirekte Aggression über die Ermutigung einer nationalchinesischen Offensive gegen das chinesische Festland nicht zu erwarten war Ebenso deutlich war ihr je-doch auch geworden, daß an der amerikanischen Eindämmungspolitik gegenüber der VR China und an der Entschlossenheit Washingtons, den Status quo in Südost-und Ostasien durch die eigene militärische Präsenz sicherzustellen, nicht gerüttelt werden konnte.
In der Frage Vietnams, für deren endgültige Lösung nach der Genfer Vereinbarung von 1954 im Jahre 1956 gesamtvietnamesische Wahlen vorgesehen waren, sah Peking einen unmittelbaren Anlaß, gegen das europazentrierte Weltgeschehen zu protestieren. Denn hier hatten die USA eine Vereinbarung übergangen, ohne daß dadurch das Verhältnis zu dem entspannungswilligen sowjetischen Gegner sonderlich getrübt wurde. Chruschtschow sympathisierte sogar eher mit dem Gedanken einer Befestigung der Spaltung Vietnams als mit der Möglichkeit, wiederum einen nationalen Befreiungskampf aufflammen zu sehen
Dies war nach Ansicht der chinesischen Kommunisten nur ein Beispiel von vielen, die zeigten, daß vor dem Hintergrund des auf Europa konzentrierten Gegensatzes der beiden Weltmächte das Schicksal außereuropäischer Völker zum Verhandlungsobjekt degradiert wurde.
Die Forderung nach der Aufnahme des Zwei-Fronten-Kampfes gegen Imperialismus und Revisionismus zugleich enthielt theoretisch die Möglichkeit einer gemeinsamen sowjetisch-chinesischen Abkehr vom Weg der Entspannung. Praktisch bedeutete sie den außen-politischen Kampf Pekings gegen die USA und die Sowjetunion gleichzeitig, solange sich die sowjetische Politik nicht änderte. Drei Motivketten müssen bei der Analyse dieser Forderung, mit der die Sowjetunion aus chinesischer Sicht jetzt zumindest auf Zeit eine ähnliche, wenngleich zweitrangige Feindqualität annahm, wie sie für die USA gegeben war, unterschieden werden: 1. Die chinesischen Kommunisten standen in Opposition zu einer Reihe theoretischer und praktisch-politischer Neuerungen, die von drei Parteitagen der KPdSU in fortlaufender Weiterentwicklung während der Amtszeit Chruschtschows beschlossen worden waren. Soweit sie den außenpolitischen Bereich betrafen, zog die KP Chinas aus ihnen die Schlußfolgerung, daß in der sowjetischen Politik der revolutionäre Kampfgeist einem reinen Machtstaatdenken gewichen war
2. Die Pekinger Regierung war nicht ganz zu Unrecht unzufrieden mit den außenpolitischen Ergebnissen, die das Bündnis mit der Sowjetunion bisher eingetragen hatte: Der Moskauer Regierung war es in den ersten Monaten des Bündnisses nicht gelungen, den Einzug der Pekinger Regierung in die UN durchzusetzen Im Verlaufe der diplomatischen Verhandlungen über die Beilegung des Korea-Krieges gab sie ihre Bemühungen um die UN-Repräsentation der VR China praktisch auf
Die gescheiterte Offensive in Korea hatte überdies im Vergleich mit der Sowjetunion die größten Nachteile für Peking gebracht: die Wende von der zunächst wesentlich ideologischen zur praktisch-politischen Konfrontation mit den USA, die von nun an die Chiang Kaishek-Regierung massiv unterstützten und die militärische Kontrolle über die Taiwan-Straße ausübten die Gründung des anti-chinesischen SEATO-Paktes und nicht zuletzt auch eine außerordentlich hohe Zahl an Verlusten im Korea-Krieg
Die sowjetische Regierung hatte der chinesischen Seite jede Unterstützung bei dem Versuch einer militärischen Eroberung Taiwans versagt und setzte sich damit nicht anders als die USA für die Erhaltung des territorialen Status quo in Ostasien ein. Zu all dem trat die Enttäuschung über die sowjetische Entwicklungshilfe für China, die weniger reichlich floß, seit die Moskauer Regierung um die Gunst einer Reihe nichtkommunistischer Staaten in Asien warb 3. Schließlich waren die chinesischen Kommunisten beunruhigt über die langfristigen Perspektiven der sowjetischen Koexistenzpolitik Die sowjetisch-amerikanischen Gespräche über Abrüstung, Schließung des Atomclubs und Begrenzung von Atomtests bedeuteten für die Pekinger Führung den Versuch der Sowjetunion, ihre Hegemonialstellung zusammen mit den USA auszubauen und der VR China jene Entwicklungsmöglichkeiten vorzuenthalten, durch die ihre gleichberechtigte Mitwirkung in der Weltpolitik und eine machtpolitisch überzeugende Interessenvertretung Pekings gegenüber den USA in eigener Sache hätte erreicht werden können.
Fragt man nach den Zielen, die die Regierung in Peking mit der Aufnahme des Zwei-Fronten-Kampfes und ihrer als revolutionär verstandenen Eigenständigkeit im simultanen Konflikt mit den beiden Weltmächten verfolgte, so werden drei Hauptinteressen erkennbar: Das erste Ziel lag in dem Versuch, die Sowjetunion auf die weltrevolutionäre Linie der KP Chinas zu zwingen und mit ihr auf eine gewaltsame Veränderung des Status quo zu drängen. Unmittelbar verbunden damit waren das zweite und dritte Ziel: eine De-Europäisierung der Weltpolitik zu erreichen und zum anderen eine neue Qualität von außen-politischer Unabhängigkeit zu gewinnen. Von einer stärkeren Berücksichtigung des revolutionären Kampfes in den Ländern der unterentwickelten Kontinente erwartete man geradezu die Freilegung neuer „Sturmzentren" der Weltrevolution Mit ihrem Kampf gegen den sowjetischen Revisionismus suchte die VR China gleichzeitig die Unabhängigkeit von den souverän über die Politik der gesamten sozialistischen Staatenwelt entscheidenden Parteitagsbeschlüssen der KPdSU Von der Programmatik wie von der Zielsetzung her betrachtet scheint hier ein Zusammenhang mit der außenpolitischen Konzeption der Pekinger Regierung in den fünfziger Jahren zu bestehen. Dieses Bild ändert sich jedoch radikal, wenn man sich vor Augen hält, daß jetzt die bisher im Bündnis und in der engen Koordinierung mit der Sowjetunion garantierte außenpolitische Sicherheit der VR China aufs Spiel gesetzt wurde. Die chinesischen Kommunisten gingen ohne hinreichende Sicherheitsreserven zur Strategie des doppelseitigen Konfliktes über. Die Politik mußte jetzt dem Anspruch der klassischen maoistischen Revolutionsstrategie folgen und die Defensive im Angriff leisten
Wiederum lassen sich für die Dauer der Gültigkeit der in revolutionärer Eigenständigkeit betriebenen neuen Politik vier Entwicklungsphasen unterscheiden:
Die erste Phase beginnt nach dem durch einen offenen Zusammenstoß zwischen der sowjetischen und der chinesischen Parteiführung gekennzeichneten XXII. Parteitag der KPdSU und reicht bis zum Sommer 1963. Das zentrale Ereignis dieser Phase bildete die internationale Doppelkrise vom Herbst 1962, die zeitlich fast parallel verlaufenden Konfrontationen zwischen der Sowjetunion und den USA um die Frage der sowjetischen Raketeninstallationen in Kuba sowie zwischen der VR China und der Indischen Union um die Frage der gemeinsamen Grenzlinien im Himalaya.
Zum ersten Male wurde hier für die westlichen Staaten deutlich, daß die außenpolitische Kooperation und Koordinierung zwischen der Sowjetunion und der VR China aufgehört hatte zu existieren. Die um die Jahreswende 1962/63 einsetzenden innerkommunistischen Diskussionen über diese Doppelkrise zeigten den eskalierenden Faktor den die offenen chinesischen Störaktionen gegenüber der sowjetischen Diplomatie in der Kuba-Krise in sich getragen hatten Nicht weniger problematisch war für die Sowjetregierung der indisch-chinesische Grenzkrieg gewesen. Er sollte die Moskauer Regierung zur Option zwingen für den chinesischen Bündnispartner oder für ein aus sowjetischer Sicht befreundetes Land, mit dem sich langfristige außenpolitische Interessen der UdSSR verbanden. Eine solche Option erwies sich als um so problematischer, als chinesische Truppen zwar weit auf indisches Gebiet vorgedrungen waren, Chou En-lai dann jedoch einseitig, nach einem eigenen Friedensplan vorgehend, den militärischen Rückzug vornehmen ließ und die Krise ebenso souverän, wie friedensbewußt liquidierte Heftigen Polemiken folgte im Frühjahr 1963 der gemeinsame sowjetisch-chinesische Beschluß, eine Klausurtagung zur Beilegung aller Streitigkeiten zu veranstalten.
Das scheinbare Einlenken beider Seiten wurde aber bald durch eine neue chinesische Attacke gestört. Noch vor Beginn der Parteiberatungen veröffentlichte die Pekinger Führung einen Katalog von politisch-ideologischen Positionsbestimmungen und erklärte sie als das einzig akzeptable Ergebnis der kommenden Verhandlungen Die Forderung, daß sich die Sowjetregierung der chinesischen Weitsicht zu unterwerfen habe, war mit aller Deutlichkeit formuliert worden.
Eine zweite Phase umfaßt den Zeitraum vom Sommer 1963 bis zum Herbst 1965. Intensiver als je zuvor betonte die chinesische Regierung jetzt ihre außenpolitische Eigenständigkeit, ihre revolutionäre Entschlossenheit sowie ihren anti-imperialistischen und anti-revisionistischen Kampfgeist. Zusammen mit den Regierungen Indonesiens und Pakistans versuchte Peking, die Solidarität der afro-asiatischen Staaten auf einer neuen Bandung-Konferenz zu festigen und zu radikalisieren, um eine Einheitsfront zu bilden, die den amerikanischen Imperialismus einkreisen und die Sowjetunion isolieren sollte Die chinesische Propaganda rief zum nationalen Befreiungskampf, zum revolutionären Bürgerkrieg zum revolutionären Volkskrieg und endlich zur Einkreisung der Industrieländer Europas und Nordamerikas als den Weltstädten durch die Länder der unterentwickelten Kontinente als den Weltdörfern auf Bei allem ließ die gleiche Propaganda jedoch keinen Zweifel daran, daß diese Kämpfe allein Sache eines revolutionären Volkes im eigenen Lande seien, mit einer kriegerischen Verwicklung Chinas selbst also nicht gerechnet werden könne.
Der Sturz Chruschtschows im Oktober 1964 und die fast gleichzeitig erfolgende Zündung einer ersten chinesischen Atombombe hatten die Praktikabilität der neuen außenpolitischen Konzeption für die VR China scheinbar bestätigt. Chou En-lai begab sich im November 1964 nach Moskau, wo er allerdings keine Einigung mit den neuen Führern der Sowjetunion erzielen konnte. Das darauffolgende Jahr wurde zu einem Jahr katastrophaler außenpolitischer Rückschläge. Die VR China verlor zunehmend an Einfluß bei den Staaten der afro-asiatischen Solidaritätsbewegung, das Projekt der Bandung-Konferenz scheiterte, der indisch-pakistanische Krieg vom Herbst 1965 gab der neuen Sowjetregierung die Chance, zum Friedensvermittler in Asien zu werden und nun die VR China von der Entwicklung auf dem Indischen Subkontinent zu isolieren. Ende September 1965 wurde in Indonesien ein kommunistischer Aufstand niedergeschlagen. Das Militär übernahm die Regierungsgewalt, um die bis dahin bestehende Achse zwischen Djakarta und Peking zu brechen und die kommunistische Partei Indonesiens organisatorisch und physisch zu vernichten. Das Kommunisten-Pogrom in Indonesien weitete sich schnell zu einem Chinesen-Pogrom aus. Im Ergebnis stand die chinesische Regierung im Herbst 1965 vor einer wesentlich selbstverschuldeten, umfassenden Isolierung. Als auf lange Sicht verläßlicher Partner war ihr allein das kleine Albanien geblieben. Im November 1965 wurde die Sowjetunion in einem Grundsatzartikel der „Volkszeitung" zum Klassenfeind der VR China erklärt — eine Maßnahme, mit der die chinesischen Kommunisten eingestanden, daß ihre außen-politische Konzeption gescheitert war, die Moskauer Regierung also nicht auf die chinesische Linie der revolutionären Offensive gezwungen werden konnte.
Die dritte Phase, von Winter 1965/66 bis zum Herbst 1967, fällt mit der Kulturrevolution zusammen. Sie überschattete die Außenpolitik der VR China in einem Maße, das es gerechtfertigt erscheinen läßt, von der völligen außenpolitischen Handlungsunfähigkeit des Landes in dieser Phase zu sprechen
Eine vierte Phase, deren Kennzeichen vor allem eine erneute Mäßigung der politischen Propaganda im In-und Ausland war, begann im Herbst 1967 und hielt bis zum IX. Parteitag der KP Chinas im April 1969 an. In diese Phase fielen zwei für die außenpolitische Lage der VR China alarmierende Entwicklungen: der Einmarsch von Streitkräften des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei im August 1968 sowie zwei schwere kriegerische Zusammenstöße zwischen den Grenztruppen der UdSSR und der VR China am Ussuri im März 1969
Die Grenzauseinandersetzungen bedeuteten einen neuen Höhepunkt im sowjetisch-chinesischen Konflikt. Die Krise selbst wurde von einer auf beiden Seiten vorherrschenden Unsicherheit darüber bestimmt, ob der Gegner genügende Rationalität aufbringen würde, um einen regelrechten Krieg zu verhindern.
Anders stand es hingegen mit der tschechoslowakischen Krise, die von der Sowjetunion schon bald mit der Breshnew-Doktrin von der begrenzten Souveränität sozialistischer Staaten gerechtfertigt wurde Mit ihr hatte die Sowjetregierung eine langfristig geltende Warnung an alle unbotmäßigen Vasallen ausgesprochen und die theoretische Grundlage dafür geschaffen, zu einem beliebigen, Moskau günstig erscheinenden Zeitpunkt auch im Falle der VR China militärisch zu intervenieren. Diese Art der Bedrohung ging einseitig von der Sowjetunion aus und war zudem von einer klaren machtpolitischen Berechnung gekennzeichnet. Wenige Tage nach der Intervention in der CSSR erklärten die chinesischen Kommunisten die Sowjetunion unter der Führung von Ministerpräsident Kossygin und Parteichef Breshnew deshalb zu einer sozial-imperialistischen Macht, die sozialistisch nur dem Namen nach, imperialistisch aber in ihren Taten sei
III. Die Westorientierung der VR China
Die Tatsache der langfristigen Bedrohung durch die Sowjetunion veränderte die außen-politische Lage der VR China im Herbst 1968 entscheidend. Die Pekinger Führung reagierte darauf dennoch nicht unmittelbar, sondern erst nach einer fast zweijährigen Verzögerung — mit einer Annäherung an die USA Zu einem Teil erklärte sich diese Verzögerung aus der völligen Lähmung der chinesischen Diplomatie während der Jahre der Kulturrevolution und aus der Notwendigkeit einer generellen Reaktivierung der Außenpolitik. Es gibt jedoch eine Reihe von Anzeichen dafür, daß sich der außenpolitische Kurs, der gegenwärtig gültig ist, zunächst gegen erhebliche Widerstände innerhalb der chinesischen Führung durchzusetzen hatte und daß er auch heute noch von seinen Befürwortern verteidigt werden muß.
So fiel der Sturz des ehemaligen Verteidigungsministers und Mao-Nachfolgers Lin Piao im September 1971 zeitlich zusammen mit der sich über das Maß früherer chinesisch-amerikanischer Verhandlungen hinaus intensivierenden Annäherung zwischen der westlichen Weltmacht und der VR China. Die Ausschaltung Lins mag nicht ursächlich und allein in einem Konflikt über die Außenpolitik begründet gewesen sein, doch spielten außenpolitische Meinungsverschiedenheiten mit Sicherheit eine bedeutende Rolle
Auch der politische Bericht, den Ministerpräsident Chou En-lai, der eigentliche Architekt des neuen Kurses, auf dem X. Parteitag der KP Chinas vom 24. bis zum 28. August 1973 verlas, spricht von der Existenz einer starken Opposition gegen die von ihm vertretene Linie. Chou vergleicht hier seine Westpolitik mit der beim Abschluß des Vertrages von Brest-Litowsk von Lenin verfolgten Politik Dieser Vergleich ist von doppelter Aussagekraft, weil er sowohl an die Unpopularität Lenins in der Frage dieses Vertragsabschlusses innerhalb der damaligen Räteregierung als auch an die außenpolitische Zwangslage der Sowjetunion zu jener Zeit erinnert.
Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Chou En-lai und seinen Mitarbeitern einerseits und der innerparteilichen Opposition andererseits konzentrieren sich nach allem Anschein auf die Frage, ob und wie zwischen der Sowjetunion und den USA, die vom ideologischen Standpunkt als gleichwertige Feinde der VR China gelten, unterschieden werden könne, sowie auf die Frage der revolutionären Kontinuität der chinesischen Politik
Die Opposition lehnt eine Differenzierung zwischen den beiden Weltmächten ab und drängt damit eher auf die Fortsetzung der Strategie des simultanen Konflikts. In der Sicht des Ministerpräsidenten unterscheiden sich die Sowjetunion und die USA hingegen deutlich im Grad ihrer Gefährlichkeit gegenüber der VR China: Während von der Führungsmacht des westlichen Imperialismus ein ihrer Natur eigener und deshalb schon seit mehr als zwanzig Jahren erwarteter Aggressionskrieg drohe, bestehe seitens der sozial-imperialistischen Sowjetunion die „besondere" Gefahr eines Überraschungsangriffs. Aus dieser Differenzierung entwickelte Chou En-lai die folgende außenpolitische Konzeption. 1. China muß sich auf den Krieg vorbereiten den nationalen Sicherheitserwägungen muß der Vorrang vor allen anderen außen-politischen Erwägungen eingeräumt werden. 2. Die Weltmächte müssen in erster Linie als machtpolitische Gefahren und erst dann als die Führungskräfte von ideologischen Antagonismen, von Imperialismus und Revisionismus, behandelt werden 3. China muß sich für die Staaten im Kampf um die Unabhängigkeit, für die Nationen im Kampf um die Revolution einsetzen
Erst im Zusammenhang der allgemeinen Lage-analyse, von der die Pekinger Regierung nach wiederholten offiziellen Darstellungen ausgeht, wird die Bedeutung des ersten Grundsatzes in vollem Umfang erkennbar In der ideologisierten Sicht der eigenen Umweltbedingungen wird nach Auffassung der chinesischen Kommunisten nicht nur die VR China, sondern die ganze Welt von der Gefahr des Krieges bedroht. Da aber ein Krieg die welt-revolutionäre Entwicklung fördern und der Revolution schließlich zum Durchbruch verhelfen würde, bleibt jedoch der Gefahr des Krieges gegenüber die Revolution die Haupttendenz der gegenwärtigen Welt. In der Macht der Revolution, ausgedrückt durch die revolutionäre Militanz aller Völker, steht es angeblich, einen Krieg zu verhindern
In engem Zusammenhang damit steht der zweite Grundsatz, nach dem die Weltmächte in erster Linie als machtpolitische Gefahren anzusehen sind. Mit dieser Forderung, die sich besonders deutlich in der Parteitagsrede Chou En-lais ausgeprägt findet, jedoch auch schon früheren Stellungnahmen chinesischer RegierungsVertreter zu entnehmen war wird davon ausgegangen, daß das Weltgeschehen von einem „großen Aufruhr" gekennzeichnet wird Dieser Aufruhr beschreibt den globalen Gegensatz zwischen den beiden mächtigsten Staaten im Zweikampf um die Weltherrschaft.
Während die Kollaboration der beiden Weltmächte in früheren Jahren den heftigen Protest der Pekinger Führung hervorrief, soll sie heute nur noch eine „oberflächliche Erscheinung" darstellen, die die rivalisierenden Hegemoniebestrebungen beider Seiten nicht zu verdecken vermag Diese Hegemoniebestrebungen aber, und nicht, wie in den sechziger Jahren das diplomatische Zusammenspiel, tragen die größten Gefahren in sich. Denn Peking projiziert das Handeln der USA und der Sowjetunion nicht mehr auf die revolutionären Bewegungen in allen Teilen der Welt, sondern vielmehr vorrangig auf das real bestehende Staatensystem.
So nehmen Staaten und Nationen folgerichtig die Prioritäten in dem dritten Grundsatz ein, mit dem sich die Pekinger Regierung verpflichtet sieht, alle Entwicklungen, die der Machtkonzentration der beiden Supermächte entgegenwirken können, zu unterstützen. In diesem Sinne konsequent ist nicht nur die Tatsache, daß sich die chinesische Regierung praktisch-politisch und verbal für die Erhaltung einmal bestehender staatlicher Integrität und Legitimität sowie für die Wiedervereinigung unfreiwillig geteilter Nationen einsetzt, sondern auch ihren Sprachgebrauch im Hinblick auf die Länder der unterentwikkelten Kontinente änderte. Asien, Afrika und Lateinamerika, die Kontinente, die die chinesischen Kommunisten in den sechziger Jahren vor allem als das Terrain der nationalen Befreiungsbewegungen und als die „Sturmzentren der Weltrevolution" verstanden, erscheinen heute als die „Dritte Welt", als eine Staatenwelt also Die revolutionären Elemente sind zwar nicht gänzlich aus dem von Chou En-lai konzipierten Grundsatzprogramm verschwunden, aber sie sind stark in den Hintergrund gerückt. Wiederum ist der politische Bericht des Ministerpräsidenten dafür das beste Zeugnis. In ihm findet mit der Ausnahme der „Völker Indochinas" und der palästinensischen Befreiungsbewegung keine einzige nationale Befreiungsbewegung mehr eine namentliche Erwähnung
Im außenpolitischen Zielkatalog der chinesischen Regierung steht die nationale Absicherung zweifellos an erster Stelle. Dabei ist zum ersten Male in der außenpolitischen Entwicklung der VR China die universelle Aufnahme von zwischenstaatlichen Beziehungen zu einem eigenen außenpolitischen Ziel geworden. Dies ist sowohl an dem generellen Durchbruch der VR China auf die Ebene der internationalen Politik ablesbar als auch an der Tatsache, daß Beziehungen zu einer Reihe von Staaten aufgenommen wurden, deren Regime weder die Mehrzahl der westlichen Länder noch die osteuropäischen Regierungen ihre moralische Billigung aussprechen Die Rivalität Pekings mit der Regierung in Taipei, die faktische Bündnislosigkeit der VR China im Konflikt mit der Sowjetunion und schließlich die Notwendigkeit, alle Versuche einer diplomatischen Einkreisung des Landes abzuwehren, sind hierfür die ausschlaggebenden Gründe.
Als weiteres allgemeines Ziel zeigt sich auch weiterhin der Wunsch nach einer De-Europäisierung der Weltpolitik. Diesen Gedanken verbindet die chinesische Führung jedoch gegenwärtig nicht mit dem Wunsch nach einer revolutionären oder gewaltsamen Veränderung des Status quo in allen Teilen der Welt, sondern vielmehr mit dem Wunsch nach einer Verselbständigung aller unter der Kontrolle der Weltmächte stehenden Sphären Globale Entspannungskompromisse der Weltmächte in und um Europa, dem eigentlichen Streitobjekt zwischen Ost und West, sind für die Regierung in Peking ein Trauma geblieben, jedoch ein Trauma mit neuem Inhalt. Solche Kompromisse stehen nicht mehr dem unbedingten Revolutionsverlangen der chinesischen Kommunisten entgegen, sie bedeuten vielmehr die Gefahr, daß die Sowjetunion freie Hand gegenüber der VR China gewinnen könne weil ihr westlicher Gegenpart, die USA, keine bodenständige europäische Macht ist.
Die Politik der Westorientierung der VR China läßt sich bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt in drei Entwicklungsphasen aufgliedern. Anders als in der Vergangenheit heben sich diese Phasen jedoch nicht durch Kurskorrekturen und -Veränderungen voneinander ab, sondern vielmehr durch das Hervortreten neuer, die allgemeine außenpolitische Entwicklungsrichtung verstärkender Elemente.
So ist die erste Phase, die unmittelbar nach der Beendigung des IX. Parteitages der KP Chinas beginnt, vor allem gekennzeichnet durch Maßnahmen zur Reaktivierung und Ausweitung der chinesischen Diplomatie -Bis zum Frühjahr 1971 blieben diese Maßnahmen die bedeutendsten Bestimmungsmerkmale der auswärtigen Politik. Die Wiederbelebung der zwischenstaatlichen Kontakte der VR China setzte mit der Besetzung der seit den Jahren der Kulturrevolution vakanten Botschafterposten Pekings im Ausland ein. Während sich Anfang 1969 nur in einem der insgesamt 47 Länder, mit denen die VR China bereits diplomatische Beziehungen unterhielt, ein Botschafter befand waren Ende des Jahres 17 Botschafterposten wieder besetzt und Ende 1970 bereits 32.
Diese diplomatische Neubelebung setzte einmal bei Ländern der sozialistischen Staaten-welt ein, mit denen die VR China gegenüber der Sowjetunion ein gemeinsames Interesse verband oder um deren Gunst beide Seiten offen rivalisierten (Albanien, Rumänien und Nordvietnam), zum anderen bei Ländern, mit denen das Verhältnis auch während der Kulturrevolution relativ ungetrübt geblieben war (Kambodscha, Pakistan, Nepal und Afghanistan in Asien, Sambia, Tansania, Guinea, Kongo (B) und Mauretanien in Schwarz-Afrika, Algerien, Syrien und Yemen im arabischen Raum sowie Frankreich und Schwe-den). Im Frühjahr 1970 begann die Entsendung von Botschaftern in solche Länder, die in Abhängigkeit von Moskau stehen, von denen sich Peking jedoch für kurze Zeit eine besondere Einwirkungsmöglichkeit gegen die Sowjetunion versprach: Nordkorea, Finnland, Ungarn, Polen und die DDR.
Erst im November 1970 traf ein neuer chinesischer Botschafter in Moskau ein und im Frühjahr 1971 wurden dann auch die Beziehungen zu den kommunistisch regierten Ländern reaktiviert, die als Hochburgen des sowjetischen Einflusses gelten konnten: Bulgarien, die CSSR und die Mongolische VR.
Parallel dazu vollzog sich mit der zweiten Jahreshälfte 1969 ein Prozeß der Ausweitung der diplomatischen Kontakte Pekings, die Annäherung der VR China an einzelne Länder des NATO-Bündnisses, der EWG (Kanada, Belgien und die Türkei) und der pan-afrikanischen Bewegung (Äthiopien). Aufsehen erregte vor allem der Botschafteraustausch zwischen der VR China und Jugoslawien im August 1970, mit dem das Eis einer bis in die Anfänge des sowjetisch-chinesischen Konfliktes zurückreichenden Entzweiung gebrochen wurde. Die Pekinger Regierung trug damit der Tatsache Rechnung, daß Jugoslawien sich ähnlich wie die VR China einer möglichen sowjetischen Intervention zu erwehren hatte. Vor dem Hintergrund der massiven Kritik, die die chinesischen Kommunisten in der Vergangenheit an der These Titos geübt hatten, daß sich ein sozialistisches Land neutral zwischen den Führungsmächten von Sozialismus und Imperialismus verhalten könne und sogar Möglichkeiten einer Zusammenarbeit mit den USA gegeben seien, lag in diesem Schritt bereits eine erste offene Ankündigung eines grundlegenden Richtungswechsels der nachkulturrevolutionären Außenpolitik.
Dieser Richtungswechsel bestimmt den Charakter der zweiten Phase. Im Frühjahr 1971 begann mit der sogenannten Ping-Pong-Diplomatie der Prozeß der offenen chinesisch-amerikanischen Annäherung. Am 15. Juli des gleichen Jahres wurde von der Nachrichtenagentur „Neues China“ eine Meldung über die offizielle Einladung Chou En-lais an den amerikanischen Präsidenten veröffentlicht. Vom 20. bis zum 27. Februar 1972 fanden dann in Peking chinesisch-amerikanische Gespräche auf höchster Regierungsebene statt.
Der Besuch Präsident Nixons in der VR China — nach mehr als zwanzig Jahren erbitterter Feindschaft zwischen den chinesischen Kom43 munisten und den wechselnden Administrationen in Washington — bildete den Abschluß dieser Phase.
Versucht man den Prozeß der chinesisch-amerikanischen Annäherung im einzelnen zurückzuverfolgen, so findet man, daß seine Ansätze auf chinesischer Seite bereits in den Wintermonaten des Jahres 1968 liegen Der eigentliche Durchbruch im Verlauf des Jahres 1971 bedeutete dabei das Ergebnis zweier aufeinander zulaufender Entwicklungen. So hatte Präsident Nixon 1969 erste Maßnahmen zur Erleichterung der amerikanischen Embargo-Bestimmungen gegenüber der VR China ergriffen Gleichzeitig ließ er mit der Verkündung der Guam-Doktrin und der Unterzeichnung des Nixon-Sato-Kommuniques über den amerikanischen Abzug von Okinawa die Bereitschaft der USA zum Abbau ihrer militärischen Präsenz in Südost-und Ostasien deutlich werden.
Im Herbst 1970 war der engste Mitarbeiter und frühere Sekretär Mao Tse-tungs, Ch'en Po-ta, seines Amtes enthoben worden. Er gehörte wie der ein Jahr später gestürzte offizielle Nachfolger Maos, Lin Piao, zu jener Gruppierung innerhalb der chinesischen Parteispitze, die zwar eine außenpolitische Defensiv-strategie, nicht jedoch eine völlige Revision der Politik der VR China gegenüber den USA befürwortete. Chou En-lai konnte jedoch mit dieser für die Welt plötzlich eintretenden Revision und ihrer psychologischen Wirkung auf eine Vielzahl von westlichen Regierungen und Regierungen der unterentwickelten Staaten-welt unmittelbar die Politik, der diplomatischen Kontaktausweitung beschleunigen. Im Herbst 1971 zog die Pekinger Regierung, in ihrem Anspruch der legitimen Vertretung Chinas weltweit bestätigt, in die UN ein.
Die Annäherung an die USA und der Einzug der VR China in die Weltorganisation stellten zwei Entwicklungen dar, die eine spätestens im Frühjahr 1971 deutlich werdende neue Offensive der Sowjetunion abschwächen sollten. Nachdem es der Moskauer Regierung in den Jahren nach der Friedensvermittlung zwischen der Indischen Union und Pakistan im Winter 1965/66 nicht gelungen war, beide Kontrahenten freundschaftlich und möglichst vertraglich an sich zu binden, hatte sich ihr mit dem beginnenden Zerfall Pakistans im März 1971 eine Alternative geboten, die den sowjetischen Einfluß auf dem Indischen Subkontinent auf jeden Fall stärken mußte.
Als sich in Ostpakistan eine Autonomiebewegung gegen den Westteil des Landes erhoben hatte und als diese Bewegung blutig niedergeschlagen worden war, fand sich die indische Regierung zu einem Bündnis mit der Sowjetunion bereit. Im August 1971 wurde ein indisch-sowjetischer Vertrag unterzeichnet, der es der Regierung in Neu Delhi mit der Rückendeckung Moskaus ermöglichte, in Pakistan zu intervenieren und die Spaltung dieses Landes praktisch zu vollziehen. Die chinesischen Kommunisten mußten dieser neuen Kräfteverschiebung zugunsten der Sowjetunion tatenlos zusehen. Lediglich in den UN konnten sie Anfang Dezember 1971 bei der Behandlung des indisch-pakistanischen Krieges an einer empfindlichen Abstimmungsniederlage der Sowjetunion mitwirken
Beim Empfang des amerikanischen Präsidenten im Februar 1972, der diplomatisch eine Einzigartigkeit darstellte, weil zwischen der VR China und den USA keine offiziellen zwischenstaatlichen Beziehungen vereinbart worden waren, stand die chinesische Regierung also unter dem Eindruck eines weiteren bedrohlichen Vordringens der Sowjetunion. Aus dieser Lage lassen sich die faktischen Kompromisse, die zwischen der amerikanischen und der chinesischen Regierung geschlossen wurden, erklären: Pekings Unterstützung für die Beendigung des Vietnam-Krieges, der Verzicht auf den in früheren Jahren ständig geforderten völligen Abzug der USA aus der südost-und ostasiatischen Region, die Anerkennung einer von den Vorstellungen Pekings abweichenden Politik der USA gegenüber Taiwan und der chinesischen Nationalregierung.
Die Leistungen der amerikanischen Seite bestanden in der Zusage ihres militärischen Abzuges aus dem indochinesischen Raum, in dem verbalen Verzicht auf eigene Hegemoniebestrebungen und in der Absage an fremde Hegemoniebestrebungen, schließlich in der Bestätigung, daß das Schicksal Taiwans ein innerchinesisches Problem darstellt, über das infolgedessen weder die USA noch die UN befinden dürfen. Diese Punkte stellten mit der Ausnahme des letzteren Leistungen dar, zu denen sich die Nixon-Administration schon vor Beginn der chinesisch-amerikanischen Annäherung bekannt hatte. Allein in der Taiwan-Frage, in der Präsident Truman beim Ausbruch des Korea-Krieges beschieden hatte, daß der Status der Insel neu festzulegen sei, war eine Position revidiert worden. So läßt das Kommunique, das beide Seiten zum Abschluß des Nixon-Besuches in Shanghai unterzeichneten deutlich erkennen, daß die Führer der VR China mehr an der westlichen Welt-macht selbst als an der Einlösung der zu früheren Zeiten an sie gestellten Forderungen interessiert waren.
Die dritte Phase, die für die Zeit nach dem Nixon-Besuch anzusetzen ist und die fortdauert, kann als eine Phase der Konsolidierung der zum Westen hin orientierten Politik verstanden werden.
Sie wird allgemein gekennzeichnet durch eine Öffnung des Landes für Auslandskontakte in kulturell-wissenschaftlicher, wirtschaftlicher und verkehrstechnischer Hinsicht. Von besonderer Bedeutung waren dabei jedoch die Aussöhnung der VR China mit Japan im Herbst 1972, die gleichzeitige Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland sowie der Austausch inoffizieller Botschafter zwischen den USA und der VR China.
Bei der Aussöhnung mit Japan verzichtete die Regierung in Peking wiederum auf die wichtigsten ihrer früheren Bedingungen: die Neutralisierung des benachbarten Inselreiches und die Einstellung aller Kontakte zu Südkorea und Taiwan. Während Japans Kontakte zu beiden Teilstaaten weiter bestehen blieben, mußte die japanische Regierung allerdings ihren Friedensvertrag mit der Chiang Kai-shek-Regierung für nichtig erklären Japan wurde zwar nach geltendem Völker-recht vertragsbrüchig, jedoch im wesentlichen um den Preis innerchinesischer Interessen Die Möglichkeit einer Neutralisierung Japans gilt in Peking heute als eine Gefahr, weil sie den Aggressor von einst in die Arme der Sowjetunion treiben könnte.
Die Unterstützung des japanischen Bündnisses mit den USA ist hingegen ein integraler Bestandteil der in der Politik der Westorientierung zum Ausdruck kommenden Suche nach Sicherheit.
Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Bonn brachte die Pekinger Regierung in näheren Kontakt zu einem Land, das im Hinblick auf seine nationale Interessenlage mit der VR China viel verbindet. Aber gerade auch wegen der von der derzeitigen Bundesregierung vertretenen Entspannungspolitik, die in den Augen Chou En-lais stärker die Gefahr des Krieges als die Möglichkeit des Friedens in sich birgt, war diese Entwicklung für die chinesische Seite bedeutsam.
Die Einrichtung von Verbindungsbüros der USA und der VR China stellt jedoch die wichtigste Evidenz für den Konsolidierungscharakter der gegenwärtigen Phase der chinesischen Außenpolitik dar. Damit und mit der Entsendung des ehemaligen Botschafters in Frankreich, der bis zum X. Parteitag der KP Chinas als einziger Diplomat Vollmitglied des Zentralkomitees der Partei war bekundete die Pekinger Regierung nochmals die zentrale Bedeutung, die die USA für die außenpolitische Entwicklung, aber auch für die wirtschaftliche und wissenschaftlich-technische Entwicklung des Landes heute haben. Chou En-lai verzichtete auf die formale Aufnahme diplomatischer Beziehungen, die er anläßlich des Nixon-Besuches gefordert hatte, und auch auf den Abbruch der diplomatischen Beziehungen der amerikanischen Regierung zur nationalchinesischen Regierung. Damit scheint ein Schritt getan worden zu sein, hinter den man in Peking kaum mehr zurückweichen kann. Daß der chinesische Ministerpräsident dies zur Zeit auch keineswegs beabsichtigt, wird aus der Behandlung des Taiwan-Problems in seinem Parteitagsbericht deutlich. Die USA werden nicht mehr bezichtigt, Taiwan besetzt zu halten. Die Eingliederung Taiwans in den gesamtchinesischen Staatsverband erscheint als „... die heilige Pflicht der Volkskraft aller Nationalitäten unseres Landes einschließlich der Landsleute auf Taiwan"
Der Bruch der nachkulturrevolutionären Außenpolitik mit der Vergangenheit scheint deutlich. Er liegt in der Abkehr von Strategien, in denen die anti-westliche, anti-amerikanische Komponente prägend war, und in dem Übergang zu einer Konzeption, die zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt starke Züge einer chinesischen „Anlehnung" an die USA trägt. Die chinesischen Kommunisten fordern heute nicht mehr den völligen militärischen Abzug der USA aus Südost-und Ostasien, sondern sie begünstigen vielmehr die amerikanische Präsenz durch stillschweigende Duldung. Eine Ausnahme stellen die beiden Fälle dar, in denen eine solche Haltung die Stellung der Sowjetunion stärken könnte: Korea und der indochinesische Raum. Das chinesische Interesse an westlichen Technologien und an wirtschaftlichen Kontakten mit dem Westen hat sich in einem Maße verstärkt, daß diese Aussage nicht nur für den direkten außenpolitischen Bereich, sondern in umfassendem Sinne gültig erscheinen läßt.
Wie aber steht es um die langfristigen Perspektiven der chinesischen Politik der Westorientierung?
Bei der Beantwortung dieser Frage wird man von zwei alternativen Voraussetzungen ausgehen müssen. Die erste Möglichkeit besteht darin, daß die Politik Chou En-lais und seiner Mitarbeiter heute intern von einer weltpolitischen Analyse bestimmt wird, in der die Existenzbedingungen der VR China nicht nur in Relation zu den politisch-ideologischen Konflikten des Landes mit seiner Umwelt und den sich daraus ergebenden außenpolitischen Prioritäten, sondern auch — und langfristig in überwiegendem Maße — im Verhältnis zu konfliktdämpfenden weltpolitischen Kombinationen gesehen werden. Eine andere Möglichkeit dagegen wäre, daß die politischen Entscheidungsträger in Peking auch weiterhin ihre Analysen auf das Bild einer wesentlich durch die VR China zu verwirklichenden kommunistischen Menschheits-und Völkerfamilie projizieren und damit das Maß der internationalen Zusammenarbeit weniger an den objektiv gegebenen Möglichkeiten als an der eigenen weltrevolutionären Entschlossenheit bestimmen.
Geht man von der ersten Möglichkeit aus, so wird die Pekinger Regierung ihre Politik des faktischen Zweckbündnisses mit den westlichen Ländern durch Versuche ergänzen, ihr Verhältnis zur Sowjetunion zu konsolidieren und zu verbessern. Ohne Frage ist es die Sowjetregierung, die hier den großen Unsicherheitsfaktor darstellt. Als äußerst hinderlich erweist sich bisher jedoch auch die aus dem gleichen ideologischen Grundbekenntnis hervorgehende intime Kenntnis, die beide Seiten voneinander haben.
Letztlich bleibt es aber eine Frage des pragmatischen Kompromisses, ob beide Seiten im Verhältnis zueinander verwirklichen können, was ihnen jeweils in den Beziehungen zur westlichen Welt gelang: die Anerkennung der zwischenstaatlichen Gleichberechtigung auf der Basis der machtpolitischen Konkurrenz. Die VR China müßte dann versuchen, innerhalb des bestehenden Staatensystems und zusammen mit den beiden Weltmächten einen diplomatisch abgesicherten Platz zu finden. Ihre Rolle würde nicht in derjenigen des Kampfes gegen die Hegemonialmächte, sondern vielmehr in der Rolle der Balance zwischen beiden liegen. Für ein Land, das mit Entwicklungsproblemen von besonders großen Dimensionen zu kämpfen hat und dessen Nuklearrüstung tatsächlich nur dann gerechtfertigt scheint, wenn es der nationalen und allenfalls noch regionalen Machtbehauptung dienen soll, wäre damit die Stellung eines weltpolitisch zwischen den Supermächten stehenden neutralistischen Staates aufgezeigt. Die zweite Möglichkeit würde hingegen bedeuten, daß die Führer der VR China heute gegenüber den USA versuchen, was ihnen im Verlaufe des Konflikts mit der Sowjetunion mißlang: die westliche Weltmacht auf einen Kurs zu zwingen, der in Pekinger Sicht als der einzig richtige gilt.
Wenn die chinesische Führung die Entspannung gegenüber den USA unabdingbar an die Erwartung eines Abbaus der amerikanischen Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion geknüpft hat so wird man davon ausgehen müssen, daß die kommenden Jahre chinesischer Außenpolitik eher von kurskorrigierenden als von kursverstärkenden Maßnahmen bestimmt sein werden. Diese Annahme muß sich aus der Erfahrung ergeben, daß die amerikanische Regierung der Sowjetunion weltpolitisch Priorität einräumt, ähnlich wie dies die Sowjetregierung bei der Abwägung ihrer Entspannungsinteressen und des Bündnisses mit der VR China gegenüber den USA tat
Die VR China wird auf eine Reihe von sowjetisch-amerikanischen und sowjetisch-westlichen Vereinbarungen keinen gegenläufigen Einfluß ausüben können und damit zu wählen haben zwischen dem Weg eines sich wie zur Zeit der Kulturrevolution in sich kehrenden revolutionären Protests oder aber dem Weg, der sich aus der ersten hier aufgeführten Alternative ergab. Für beide Wege gibt es in der praktischen Politik der VR China heute gleichermaßen Evidenzen. Die Möglichkeit, daß die chinesische Führung — insgesamt enttäuscht über die Entspannungspolitik der westlichen Weltmacht gegenüber der Sowjetunion — zu einer die revolutionäre Kontinuität wieder stärker betonenden Linie zurückkehrt oder daß es auch nur einer oppositionellen Gruppierung innerhalb der Führung gelingt, eine derartige Enttäuschung zur neuen außenpolitischen Entscheidungsgrundlage zu machen, scheint ebenso real wie die Möglichkeit, daß ein neuer Kontinuitätswille die Oberhand gewinnt: derjenige der Diplomatie.
Damit relativiert sich das Augenblicksbild des Wandels. Es ist bei allem Pragmatismus, der sich heute in der chinesischen Außenpolitik zeigt, mindestens noch solange fragwürdig, wie die Nachfolger Maos noch mit den Nachfolgern Chou En-lais und der ihn stützenden Kräfte um die Führung Chinas rivalisieren.