Es kann heute kaum noch ein Zweifel darüber bestehen, daß die Sowjet-Führung zu einer flexibleren und gemäßigteren Außenpolitik, vor allem in ihrer Beziehung zu den Westmächten, übergegangen ist. Schon wird von einer „Öffnung nach dem Westen" gesprochen. Der Kurswechsel in der sowjetischen Außenpolitik, der offensichtlich im Frühjahr 1969 eingeleitet wurde, fand seinen Ausdruck u. a. im deutsch-sowjetischen Vertrag vom August 1970, im Berlin-Abkommen 1971, im Besuch Präsident Nixons in Moskau und in den dort abgeschlossenen sowjetisch-amerikanischen Verträgen (Mai 1972) und schließlich, besonders deutlich, in den jüngsten Reisen des Generalsekretär Breshnjews sowohl in die Bundesrepublik als auch in die USA. Die abgeschlossenen Übereinkommen machen deutlich, daß es sich offensichtlich um eine Kursschwenkung für eine längere Periode handelt. Auch der weitaus gemäßigtere Ton in sowjetischen Publikationen gegenüber dem Westen ist zu deutlich, als daß er ignoriert werden könnte.
Eine Beurteilung oder gar Analyse der neuen Phase in der sowjetischen Außenpolitik
Die gescheiterte Entstalinisierung
Die innenpolitische Entwicklung der Sowjetunion wird seit Stalins Tod durch einen entscheidenden Widerspruch bestimmt: Das von Stalin übernommene bürokratisch-diktatorische System erweist sich immer deutlicher als Hemmschuh für die weitere sowjetische Entwicklung. Der tiefe Widerspruch zwischen dem veralteten Herrschaftssystem und den-neuen Bedingungen, Erfordernissen und Aufgaben der entstehenden modernen sowjetischen Industriegesellschaft ist nicht mehr zu übersehen. Die Notwendigkeit von weitreichenden Reformen im Sinne einer Liberalisierung und Demokratisierung, der Auflockerung überlebter Herrschaftsstrukturen, um das System den neuen Aufgaben einer modernen Gesellschaft anzupassen, wird (zumindest scheint jedoch kaum möglich zu sein, ohne den innenpolitischen Hintergrund der Sowjetunion zu berücksichtigen. Auf den ersten Blick wird dabei ein seltsames Phänomen sichtbar, das wie ein Paradox anmutet: die seit 1969 einsetzende flexiblere und gemäßigtere sowjetische Außenpolitik hat sich im innenpolitischen Bereich nicht widergespiegelt. Der härtere innenpolitische Kurs der UdSSR, der seit Chruschtschows Sturz alle entscheidenden Lebensbereiche der Sowjetgesellschaft erfaßt hat, ist in den letzten Jahren sogar verschärft worden. Die gleichzeitige flexiblere und gemäßigtere Außenpolitik gegenüber dem Westen auf der einen und der harte Kurs in der sowjetischen Innenpolitik auf der anderen Seite sind zum entscheidenden Merkmal der gegenwärtigen Sowjetunion geworden. Es erscheint daher notwendig und berechtigt, in einigen Zügen die innere Entwicklung seit Chruschtschows Sturz und den gegenwärtigen innenpolitischen Zustand der UdSSR zu charakterisieren, um davon ausgehend die möglichen Ursachen und Zielsetzungen aufzuzeigen, die die Sowjet-Führung zu ihrer gemäßigteren Politik gegenüber dem Westen bewogen haben. teilweise) selbst von einigen Kräften in der führenden Schicht erkannt. Es gilt, den Wirtschaftsmanagern, Ingenieuren und Wissenschaftlern größere Betätigungsfreiheit zu gewähren, Wirtschaft und Wissenschaft von den Fesseln bürokratischer, parteilicher und ideologischer Vormundschaft zu befreien, den Übergang zu moderneren, rationelleren, elastischeren und liberaleren Herrschaftsformen zu finden. Dies bedeutet nicht nur eine Über-windung der verbleibenden terroristischen Komponenten des Systems, sondern auch eine Abkehr von dem allumfassenden Eingriffs-recht des Parteiapprates. Terror muß durch Rechtsstaatlichkeit ersetzt, Dekrete von oben müssen durch Mitwirkung und Initiativen der Gesellschaft von unten ergänzt werden. Alle Versuche, solche Reformen zu verwirklichen, stießen (und stoßen) jedoch auf den hartnäckigen Widerstand bürokratisch-autoritärer Kräfte (vor allem im Parteiapparat und im Staatssicherheitsdienst), die sich an ihre Machtpositionen und Privilegien klammern, und deren einziges politisches Ziel ist, soviel Stalinismus wie möglich zu erhalten und sich allen, auch noch so bescheidenen Reformen hartnäckig zu widersetzen.
Der Widerspruch zwischen der notwendigen Reform auf der einen und den Machtinteressen bürokratischer Apparate auf der anderen Seite wurde besonders in der elfjährigen Periode der Entstaiinisierung (1953— 1964) deutlich. Wenn wir hier von den damaligen machtpolitischen Auseinandersetzungen und der Außenpolitik absehen und uns auf die innenpolitische Grundfrage beschränken, so läßt sich nicht bestreiten: in diesen elf Jahren wurde zumindest der Versuch unternommen, durch eine Reihe von „Reformen von oben" das System zu modernisieren und den neuen Aufgaben der entstehenden sowjetischen Industriegesellschaft anzupassen.
Die als „Transformation von oben" konzipierte Entstaiinisierung Chruschtschows endete jedoch mit einem Fehlschlag. Ein wichtiger Grund dafür waren der Führungsstil und die Methoden, mit denen Chruschtschow die Entstaiinisierung durchsetzen wollte. Chruschtschows Experimentiersucht, seine hektischen, oft schlecht vorbereiteten Reorganisationen, seine ständig neuen „Kampagnen", seine überoptimistischen, manchmal ans Utopische grenzenden Aufgabenstellungen, seine überstürzten, oft ohne Vereinbarung mit anderen Mitgliedern des Parteipräsidiums (seit 1966: Politbüro) verkündeten Maßnahmen führten nicht selten zu einem heillosen Durcheinander und brachten selbst solche Kräfte gegen Chruschtschow auf, die im Prinzip seine Entstaiinisierung billigten und auf die er sich unter anderen Umständen hätte stützen können.
Nicht weniger wichtig war ein zweiter Grund: Die durch „begrenzte Reformen von oben" durchgeführte Entstaiinisierung war zu widerspruchsvoll und vor allen Dingen in zu engen Grenzen gehalten, um zu einem Erfolg zu führen. Für die Lösung der dringenden Aufgaben des Sowjetsystems, für die Wekkung neuer progressiver Kräfte der Gesellschaft reichten die begrenzten Reformen nicht aus; den autoritär-stalinistischen Kräften (vor allem im Parteiapparat, im Staatssicherheitsdienst und teilweise in der Armeeführung) gingen sie jedoch bereits viel zu weit. Es waren diese Kräfte, die auf eine Beendigung der Entstaiinisierung, auf einen härteren Kurs und auf eine Anknüpfung an die Stalin-Tradition drängten und beim Sturz Chruschtschows die entscheidende Rolle spielten.
Der Kurswechsel nach Chruschtschows Sturz
Die erste — relativ weniger wichtige — Veränderung nach dem Sturz Chruschtschows im Oktober 1964 betraf die Führungsmethoden. Chruschtschows hektische Reorganisationsmanie und seine utopischen Zielsetzungen wurden sofort verurteilt. Die neue Führung, damals noch unter dem gleichberechtigten Duumvirat Breshnjew-Kossygin, versprach, in Zukunft die Mängel nüchtern zu analysieren und die Anstrengungen auf jene Aufgaben zu konzentrieren, die in nächster Zukunft zu lösen seien.
Chruschtschows utopische Vorstellungen, darunter sein Versprechen, bereits in nächster Zeit die USA in der Produktion pro Kopf der Bevölkerung einzuholen und zu überholen und bis 1980 in das Endstadium der kommunistischen Gesellschaft einzutreten, traten in den Hintergrund. Die Abkehr von den Zukunftsvorstellungen Chruschtschows war ein deutliches Zeichen dafür, daß die gegenwärtige Führung nicht mehr der Meinung war (und ist), dieses Ziel bald zu erreichen.
Der seit Chruschtschows Sturz eingeführte sachlichere, realistischere und gegenwartsbezogenere Führungsstil ist seitdem unverändert geblieben und für die gesamte Nach-Chruschtschow-Periode typisch. Anstelle des spontanen, vorschnellen und temperamentvollen Volkstribunen Chruschtschow waren nüchterne, bürokratische Machtpolitiker getreten. Nicht überoptimistische, utopische Zukunftsvisionen stehen im Vordergrund, sondern reale Aufgaben der unmittelbaren Gegenwart. Viel problematischer und wichtiger erwies sich dagegen die Frage über die politische Richtung, die nun, nach Chruschtschows Sturz, einzuschlagen sei. In den ersten Monaten, etwa von Oktober 1964 bis Frühjahr 1965, vollzog sich ein Tauziehen zwischen jenen, die einen Übergang zu einem härteren Kurs und eine Anknüpfung an die Stalin-Tradition erstrebten, und anderen Kräften (vorwiegend im Staats-, Wirtschafts-und einem Teil des modernen Flügels des Parteiapparats), die ge23 neigt waren, die Entstalinisierungsreformen fortzusetzen — allerdings in einer ruhigeren, sachlicheren Form (etwa nach der Losung „Chruschtschowismus ohne Chruschtschow").
Tatsächlich ging in den ersten Monaten nach Chruschtschows Sturz die Entstalinisierung zunächst weiter, wenn auch weniger forciert und in einer ruhigeren Form. Diese Entwicklung wurde jedoch im Frühjahr 1965 überraschend gestoppt und der Übergang zu einem härteren Kurs eingeleitet.
Die Kritik an Stalin wurde zunächst eingeschränkt und bald darauf fast völlig eingestellt. Im April 1965 erschienen erstmals Memoiren sowjetischer Heerführer, in denen Stalin positiv dargestellt wurde, und zur Siegesfeier im Mai 1965 wurde Stalin auch von Breshnjew erstmals wieder in einem positiven Zusammenhang erwähnt. Im Sommer 1965 begann eine Kampagne zur Erhöhung des Rüstungsbudgets und im Herbst des gleichen Jahres erfolgten die ersten Verhaftungen liberaler Intellektueller sowohl in der Ukraine als auch in Moskau. Haftentlassungen und Rehabilitierungen wurden eingestellt. Vor allem der Prozeß gegen die Schriftsteller Sinjawski und Daniel im Februar 1966 (beide Schriftsteller wurden zu hohen Strafen verurteilt) erinnerte bereits bedenklich an die Stalin-Ära.
Der Härtekurs in der sowjetischen Innenpolitik
Mit dem innenpolitischen Kurswechsel im Frühjahr 1965 waren die Weichen gestellt worden: Schritt um Schritt wurden die Entstalinisierungsreformen rückgängig gemacht und ein härterer Kurs in allen entscheidenden Lebensbereichen der Sowjetgesellschaft eingeleitet.
Die wichtigsten innenpolitischen Veränderungen seit Frühjahr 1965 bis heute lassen sich in folgenden Punkten zusammenfassen: 1. Der Staatssicherheitsdienst, während der Entstalinisierung in seiner Machtstellung beschnitten und auch oft kritisiert, wurde wieder aufgewertet und erhielt neue Vollmachten. Die Zahl der Prozesse und Verhaftungen, darunter auch von Personen, die oft nur milde Kritik an der gegenwärtigen Politik äußerten, hat seit Chruschtschows Sturz beträchtlich zugenommen. Die Ergänzung zum Paragraphen 190 (September 1966), wonach jegliche Verunglimpfung der sowjetischen Staats-und Gesellschaftsordnung in Wort und Schrift mit Gefängnisstrafen bis zu drei Jahren geahndet wird, hat die Verfolgung von Kritikern erleichtert. Besonders bedenklich ist die zunehmende Zahl jener Oppositionellen, die in psychiatrische Kliniken, im Volksmund „Psychuschki" genannt, eingewiesen werden. Das zentrale sowjetische Innenministerium (unter Chruschtschow im Jahre 1960 aufgelöst) wurde im Sommer 1966 wieder als „Ministerium für öffentliche Ordnung" hergestellt und heißt seit 1968 wieder „Ministerium für innere Angelegenheiten" („MWD") — genauso wie einst unter Stalin. Mit der Einbeziehung von Jurij Andropow in das Politbüro (Ende April 1973) gehört zum erstenmal wieder seit Berijas Sturz der Chef des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes dem obersten Führungszentrum an.
2. Das „Tauwetter" in der Kulturpolitik ist durch einen harten Kurs ersetzt worden. Die Zensur hat wieder fast Stalinsche Ausmaße erreicht. Bücher, die unter Chruschtschow (teilweise sogar mit seiner ausdrücklichen Billigung) legal erschienen, sind aus dem Verkehr gezogen, und die Autoren wurden nachträglich ihretwegen scharf kritisiert, öffentliche Prozesse gegen Schriftsteller — wie gegen Sinjawski und Daniel im Februar 1966, gegen Ginsburg, Galanskow, Dobrowolskij und Laschkowa im Januar 1968 — und harte Strafen gegen angeklagte Dichter unterstrichen diese Tendenz ebenso wie die öffentliche Hetzkampagne gegen den bedeutenden Schriftsteller Alexander Solschenyzin. Durch die Säuberung der Redaktion der literarischen Zeitschrift „Novy Mir", die während der Entstalinisierung bedeutsame literarische Werke publiziert hatte, waren die begabtesten sowjetischen Schriftsteller zum Schweigen verurteilt worden. Die Erklärung Breshnjews auf dem 24. Parteitag (30. März bis 9. April 1971), die Entwicklung der Kultur, Literatur und Kunst vollziehe sich in einem Bereich, wo der „ideologische Kampf mit besonderer Schärfe geführt wird", und daher würden „keine Versuche geduldet, unsere ideologische Waffe stumpf zu machen", zeugen davon, daß der harte kulturpolitische Kurs fortgesetzt werden soll. 3. Im Rahmen der Partei ist das von Chruschtschow im Oktober 1961 eingeführte Rotationssystem wieder abgeschafft worden. Das Parteipräsidium wurde in „Politbüro" umbenannt, und Breshnjew erhielt den Titel „Generalsekretär" — ein Titel, den vorher nur Stalin hatte. Chruschtschows Konzeption von der „Partei des ganzen Volkes" und der Öffnung der Partei (in den letzten Jahren der Chruschtschow-Ära wurden durchschnittlich 760 000 Menschen pro Jahr in die Partei aufgenommen) wurde öffentlich gerügt. Die Partei, so erklärte Breshnjew auf dem 24. Parteitag, dürfe „keine versöhnliche Haltung gegenüber denjenigen dulden, die sich falsch verhalten", und es komme nunmehr darauf an, „sich entschlossener von denjenigen zu trennen, die die Partei-und Staatsdisziplin verletzen". Die Schranken zwischen der Partei und der übrigen Bevölkerung sind durch eine erschwerte Aufnahme verstärkt worden, innerhalb der Partei ist die zentralistische Struktur deutlicher zutage getreten.
4. Die unter Chruschtschow begonnene Wirtschailsretorm ist bedeutend verwässert und abgeschwächt worden. Die während der Entstalinisierung aufgelösten zentralen wirtschaftlichen Fachministerien wurden wieder hergestellt; die Wirtschaftsreform im September 1965 verkündete die abgeschwächte Synthese zwischen zentraler Planung und Leitung auf der einen und der Autonomie der Unternehmen auf der anderen Seite. Gewiß wurden im organisatorischen Bereich manche überflüssige Detailanweisungen verringert, aber anstelle der ursprünglich vorgesehenen weitreichenden Reform geht es nun darum, den zentralen Planungsapparat lediglich technisch zu vervollkommnen — ein Vorhaben, das in manchen sowjetischen Wirtschaftskreisen ironisch als „Stalinismus mit Computern" bezeichnet wird. Auch bei der im Frühjahr 1973 beschlossenen Bildung der „Produktionsvereinigungen" handelte es sich mehr um Korrekturen des Systems als um die ursprünglich vorgesehene Wirtschaftsreform.
5. Der Einfluß der Armee und des Offizierskorps auf das öffentliche Leben hat sich seit dem Sturz Chruschtschows beträchtlich verstärkt. Dies kommt vor allem in der „militärisch-patriotischen Erziehung" deutlich zum Ausdruck. Sowjetische Geschichts-und Literaturbücher der Schulen und Hochschulen wurden mit der Zielsetzung umgeschrieben, militär-patriotische Gesichtspunkte stärker in den Vordergrund zu rücken. Regelmäßige Pflichtbesuche von Schülern zu den Schlacht-feldern des Zweiten Weltkrieges (in der Sowjetunion „Großer Vaterländischer Krieg" genannt) unterstreichen diese Tendenz. Auch auf dem 24. Parteitag wurde die Pflege der militär-patriotischen Tradition deutlicher betont als je zuvor.
6. Eng damit verbunden ist die stärkere Hin-wendung zum russischen Nationalismus. Die
Angehörigen der nichtrussischen Unionsrepubliken werden immer wieder aufgerufen, außer ihrer Muttersprache auch freiwillig Russisch zu lernen, während umgekehrt Sowjet-funktionäre russischer Nationalität, die dort wirken, es ablehnen, die Sprache der Gastrepubliken zu erlernen. Absolventen von Schulen mit Russisch als Unterrichtssprache wurden und werden eindeutig bevorzugt. Die bewußte planmäßige und oft politisch motivierte Umsiedlung von Russen in nichtrussische Gebiete und Unionsrepubliken vervollständigt das Bild. Zwischen den Volkszählungen von 1959 und 1970 übersiedelten mehr als 1, 5 Millionen Russen nach Mittelasien, mehr als 1 Million in die Ukraine und mehr als 1/4 Million in die baltischen Republiken. In der sowjetischen Entwicklung habe „vor allem das große russische Volk eine entscheidende Rolle gespielt", erklärte Breshnjew auf dem 24. Parteitag. Die besonderen Eigenschaften der Russen — Breshnjew nannte die revolutionäre Energie, die Selbstlosigkeit, den Fleiß und den tiefen Internationalismus — hätten dem russischen Volk „zu Recht den tiefen Respekt aller Völker unseres sozialistischen Vaterlandes gewonnen“. Damit wurde erstmals seit Stalins Trinkspruch vom Mai 1945 das russische Volk über die anderen Nationalitäten der UdSSR gestellt — ein Zeichen dafür, daß man auch in den nächsten Jahren mit einer verstärkten Russifizierung zu rechnen haben wird. 7. Alle diese innenpolitischen Veränderungen spiegeln sich auch in der Ideologie wider. Die ideologischen Doktrinen Chruschtschows zur Vorbereitung und Rechtfertigung der Entstalinisierung sind in den Hintergrund gedrängt worden — darunter die „sozialistische Gesetzlichkeit", der „Staat des ganzen Volkes", die „Partei des ganzen Volkes" und vor allem die „Überwindung des Personenkults". An die Stelle einer selbstkritischen Betrachtung der Stalin-Ära und des Stalin-Terrors ist eine positive Betrachtung der Stalinschen Vergangenheit getreten, wobei Stalin als großer Heerführer gepriesen wird. Dies wurde vor allem in den ideologischen Dokumenten des Zentralkomitees zu den Jubiläen deutlich, die in den letzten Jahren mit größerem Prunk begangen werden als je zuvor. In den Resolutionen des Zentralkomitees zum 50-jährigen Jubiläum der Oktoberrevolution (November 1967), zu der 100. Wiederkehr des Geburtstages von Lenin (April 1970) und zum 50jährigen Jubiläum der Gründung der UdSSR (Dezember 1972) fiel es auf, daß der Stalin-Terror entweder überhaupt nicht oder in völlig abgeschwächter Form in Nebensätzen erwähnt wurde. In der Regel wird heute Stalin stets in einem positiven Zusammenhang genannt; die 90. Wiederkehr seines Geburtstages (21. Dezember 1969) wurde in einem Gedenkartikel gewürdigt; im Juni 1970 wurde an der Kreml-Mauer ein Gedenkstein zu Ehren Stalins angebracht.
Die Aufwertung Stalins ist keineswegs nur von historischem Interesse, sondern auch von aktueller politischer Bedeutung. Längst ist in der UdSSR die Stellung zu Stalin und zur Stalin-Herrschaftzu einem wichtigen Kriterium für die gegenwärtige und zukünftige Politik der Sowjetunion geworden. Genauso wie die Verurteilung des Stalin-Terrors der entscheidende Ausgangspunkt für die Begründung, Vorbereitung und Rechtfertigung der Entstalinisierung war, so bedeutet die zunehmend positive Bewertung des früheren Sowjet-Diktators die ideologische Rechtfertigung für den inzwischen eingetretenen härteren autoritären Kurs in der sowjetischen Innenpolitik.
Die Ursachen für Moskaus gemäßigtere Westpolitik
Auf dem Boden dieser innenpolitischen Entwicklung vollzog sich etwa seit Frühjahr 1969 der Übergang zu einer flexibleren und gemäßigteren sowjetischen Außenpolitik, mit der offensichtlichen Zielsetzung, die Beziehungen zu den industrialisierten Ländern der westlichen Welt zu verbessern. Der erste und wohl entscheidende Grund für diesen außenpolitischen Kurswechsel war das Zurückbleiben der sowjetischen Wirtschaft. Seit Frühjahr 1969 begann die Sowjet-Führung immer deutlicher zu erkennen, daß ihr wichtigstes Ziel, die Produktion der USA pro Kopf der Bevölkerung in relativ kurzer Zeit einzuholen und zu überholen, nicht zu verwirklichen war. Damit bestand (und besteht) für die SowjetFührung die große Gefahr, daß die UdSSR während der jetzt vor sich gehenden wissenschaftlich-technischen Revolution zurückfällt. Völlig logisch — vom Standpunkt der SowjetFührung aus — beschloß die Kreml-Führung daher, eine weitreichende und langfristige wissenschaftlich-technische Kooperation mit den hochentwickelten Industriestaaten (in erster Linie Deutschland, Japan, USA) einzuleiten. Um die gewünschte langfristige und störungsfreie Kooperation zu ermöglichen, galt es von Seiten der sowjetischen Führung aus, die Voraussetzungen dafür herzustellen. Dies konnte aber nur durch eine maßvollere Politik erreicht werden, um dadurch die Verhandlungen mit den wichtigsten Industriestaaten zu ermöglichen und die langfristige wissenschaftlich-technologische Kooperation durch völkerrechtliche Verträge zu festigen und zu zementieren. Dieser Trend verstärkte sich, als sich Ende 1970 herausstellte, daß auch der neue, von der Breshnjew-Kossygin-Führung Anfang 1966 verkündete, vorsichtigere und realistischere Fünfjahresplan (1966— 1970) in den
wichtigsten Industriezweigen nicht erfüllt worden war. Zu dieser Zeit dürfte in der Sowjet-Führung der Gedanke aufgetaucht sein, die gewaltigen Rohstoffvorkommen, vor allem in Sibirien, mit Hilfe westlicher Industriekapazität ausbeuten zu lassen — ein Vorhaben, das, wenn es etwa die tschechoslowakischen Politiker des Prager Frühlings versucht hätten, ihnen als schlimmstes Verbrechen und als Verrat vorgeworfen worden wäre.
Ein zweiter entscheidender Grund für die maßvollere Politik gegenüber dem Westen ist der sowjetische Konflikt mit China. Die Hoffnungen der Sowjet-Führung in den Jahren 1966— 1968, die chinesische Volksrepublik würde durch die Kulturrevolution an den Rand des Chaos gebracht oder zumindest sehr geschwächt werden, erfüllten sich nicht. Bei den harten Grenzzwischenfällen zwischen der Sowjetunion und der chinesischen Volksrepublik am Ussuri-Fluß im Frühjahr 1969 mußte die Sowjet-Führung erkennen, daß die Volksrepublik China durchaus in der Lage ist, auch militärisch ihre Unabhängigkeit und Souveränität zu verteidigen.
Seit 1969 gelang es der chinesischen Volksrepublik, neben der innenpolitischen Normalisierung sich wirtschaftlich und militärisch zu stärken und vor allem auch im internationalen Bereich große Erfolge zu erzielen: Im November 1971 erfolgte die Aufnahme der Volksrepublik China in die Vereinten Nationen und in den Sicherheitsrat, im Februar 1972 die Reise des US-Präsidenten Nixon nach Peking — ein Ereignis, das in der Sowjetunion beträchtliche Nervosität hervorrief. Die chinesischen Kommunisten setzten ihren eigenständigen und selbständigen Kurs fort und machten keinerlei Konzessionen an die Sowjetunion.
Alle Versuche der sowjetischen Führung, eine Aussöhnung oder zumindest eine Norma-lisierung mit der Pekinger Führung zu erreichen, schlugen fehl. Damit bestand für die Führung der UdSSR die Gefahr eines politischen Zweifrontenkampfes. Um so verständlicher war (und ist) das Bestreben der Kreml-Führung, durch eine maßvollere Politik gegenüber dem Westen und weitreichenden Vereinbarungen dieser Gefahr auszuweichen.
Gleichzeitig sieht die Sowjet-Führung im Rahmen der neuen Außenpolitik die Chance, ihren Einfluß allmählich und schrittweise in Europa stärker zum Ausdruck zu bringen. An die Stelle der Chruschtschowschen Drohungen und Ultimaten trat eine auf einer realistischeren Einschätzung begründete, gemäßigtere, vorsichtigere und langfristigere Politik. Besonders wichtig ist dabei die seit langem von der Sowjet-Führung gewünschte Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit Europas, die offensichtlich dazu dient, den Status quo in Europa zu legitimieren und damit den dominierenden sowjetischen Einfluß, vor allem auf Osteuropa, offiziell zu bestätigen. Eine solche Konferenz sollte nach sowjetischem Wunsch ein ständiges Gremium für europäische Sicherheit und Zusammenarbeit einsetzen, das laufend neue Konferenzen der gleichen Art einberufen soll. Dabei ist es offensichtlich das langfristige Ziel der Sowjet-Führung, auf diesem Weg Schritt für Schritt dem westeuropäischen Integrationskonzept ein neues, gesamteuropäisches Konzept entgegen-zusetzen und damit zu versuchen, die westeuropäische politische Integration zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen.
Es sind also nüchterne, realistische Gründe, die die Sowjet-Führung bewogen haben, gegenüber dem Westen eine maßvollere Politik einzuschlagen: die Zementierung einer langfristigen wissenschaftlich-technologischen und ökonomischen Kooperation mit den wichtigsten Industriemächten, die Verhinderung eines politischen Zweifrontenkampfes und die allmähliche, vorsichtige, Schritt für Schritt zu erfolgende Verstärkung des sowjetischen politischen Einflusses in Europa.
Der Umfang der bereits abgeschlossenen Verträge (und vor allem auch die Dauer ihrer Gültigkeit) sowie das entscheidende Interesse der Sowjetunion, ihre wirtschaftlichen Probleme durch eine solche Zusammenarbeit zu lösen, deuten darauf hin, daß es sich hier um eine langfristige außenpolitische Zielsetzung handelt. So begrüßenswert dieser Wandel der sowjetischen Außenpolitik und die damit gewonnene Möglichkeit einer Ost-West-Entspannung ist, so bedauerlich erscheint es, daß das Verhältnis der Sowjetunion zu den osteuropäischen Ländern davon bisher nicht berührt worden ist. Die gemäßigtere sowjetische Politik gegenüber dem Westen ist mit dem Bestreben gekoppelt, die eigene Vorherrschaft über die osteuropäischen Länder zu festigen und auszubauen. Der sowjetische Druck auf diese Länder hat sich in den letzten Jahren nicht verringert, sondern eher verstärkt.
Eine zunehmende Kooperation mit der Sowjetunion auf Kosten der eigenständigen Interessen der osteuropäischen Länder und Völker würde, vor allem langfristig gesehen, kaum einer Ost-West-Entspannung dienlich sein. Bei aller Anerkennung der entscheidenden Rolle der Sowjetunion sollten daher die eigenständigen Interessen der osteuropäischen Länder und Völker als wesentlicher und notwendiger Bestandteil einer echten Ost-West-Entspannung beachtet und berücksichtigt werden.
Das Tauziehen in der Sowjetführung
Die sowjetische Politik der siebziger Jahre zeichnet sich somit durch den Versuch der Führung aus, eine harte, autoritäre Innenpolitik mit einer flexibleren, gemäßigteren Politik gegenüber dem Westen nach außen zu verbinden. Man wird in der Annahme nicht fehl-gehen, daß es um die Generallinie ein hartes „Tauziehen" zwischen den verschiedensten Gruppierungen in den führenden Apparaten gegeben hat und der gegenwärtige Kurs somit einen Kompromiß verschiedener Kräfte darstellt.
Das erste Messen der Kräfte (bereits während der Chruschtschow-Periode, aber vor allem in den ersten Monaten nach seinem Sturz) entzündete sich besonders an der innenpolitischen Frage, ob und inwieweit das überlebte, von Stalin übernommene bürokratisch-diktatorisch-terroristische System abgewandelt, liberalisiert und den neuen Bedingungen der entstehenden modernen sowjetischen Industriegesellschaft angepaßt werden sollte. Die dringende Notwenigkeit weitreichender Reformen wurde dabei nicht nur von maßgebenden Kreisen der sowjetischen Intelligenz, sondern auch von Flügeln innerhalb des Parteiapparates selbst erkannt. Aber diese Kräfte blieben in der Minderheit. Die Furcht, Reformen, einmal in Gang gekommen, nicht mehr unter Kontrolle halten zu können und damit eigene Machtinteressen gefährdet zu sehen, erwies sich als stärker als die rationalen Erkenntnisse. Das Resultat war die Rückgängigmachung der Entstalinisierungs-Reformen, der härtere innenpolitische und kulturpolitische Kurs, die militär-patriotische Kampagne, der zunehmende russische Nationalismus, die Abkehr von der Entstalinisierung auch in der Ideologie und vor allem die Wiederaufwertung Stalins. Diese Entwicklung machte deutlich, daß nicht mehr Reformen im Vordergrund stehen, sondern Disziplin, Ordnung, Autorität und Macht, wobei die Anknüpfung an die Stalin-Tradition als ideologische Legitimation dient.
Diese politische Entwicklung war aber — und dies ist seit 1969 wohl das entscheidende Problem der sowjetischen Führung — nicht imstande, die ökonomischen Probleme des Landes zu lösen. Da in der Sowjetunion Wirtschaftsfragen untrennbar mit entscheidenden und langfristigen politisch-ideologischen Zielsetzungen verknüpft sind, schlug dies ganz besonders ins Gewicht.
Das ökonomische Einholen und Überholen der USA — erstmals 1928 von Stalin verkündet und seitdem die entscheidende Grundlosung des Regimes — rückte in immer weitere Ferne und mußte als Zielsetzung zurückgezogen werden.
Die Gefahr, daß die Sowjetunion in der wissenschaftlich-technischen Revolution zurückbleibt, war dabei gekoppelt mit der Furcht, daß der immer noch erschreckende Mangel an Konsumgütern zu ernster Unzufriedenheit in der Bevölkerung führen könnte.
Die naheliegenden Schlußfolgerungen, durch eine weitreichende Wirtschaftsreform und eine grundsätzliche Modernisierung des völlig überlebten bürokratisch-zentralistischen Wirtschaftssystems neue Wege zu beschreiten und neue ökonomische Perspektiven zu eröffnen, wurden von der Sowjet-Führung (zumindest von der Mehrheit der Führung) offensichtlich unter dem Eindruck des „Prager Frühlings" aus politischen Gründen abgelehnt. So blieb dann nur die „Öffnung nach dem Westen" — die Politik einer Mäßigung gegenüber den Westmächten und einer weitreichenden wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technologischen Kooperation.
Damit hat die Sowjet-Führung sicher völlig bewußt die Politik einer außenpolitischen Entspannung eingeleitet, um einer innerpolitischen Liberalisierung auszuweichen. Diese Entscheidung, offensichtlich im Frühjahr 1969 konzipiert und seit dieser Zeit zunächst vorsichtig, aber dann immer deutlicher, klarer und konzentrierter vollzogen, ist sicher den maßgebenden Führern des Politbüros nicht leicht gefallen. Auch hier gab es, nach einer Vielzahl von indirekten Zeichen zu urteilen, längere Auseinandersetzungen und ein „Tauziehen" zwischen verschiedenen Richtungen.
Das eigentümliche Plenum des Zentralkomitees im Dezember 1969, das sich mit den schwierigen Wirtschaftsproblemen befaßte und auf dem Breshnjew das Hauptreferat hielt (das nicht veröffentlicht wurde), sowie die anschließende Verschiebung des 24. Parteitages, der eigentlich laut Statut im März 1970 stattfinden sollte und dann aber erst im März 1971 einberufen wurde, waren dafür nur einige Zeichen unter vielen. Hinzu kam, daß neostalinistische Kreise im Herbst 1970 gegen den deutsch-sowjetischen Vertrag auftraten und Anfang 1971 einige sowjetische Diplomaten und Journalisten im Ausland sogar Interviews mit kritischen Bemerkungen über den deutsch-sowjetischen Vertrag gaben, die bald darauf in Moskau offiziell als nicht autorisiert zurückgewiesen wurden. Man wird mit Sicherheit annehmen müssen, daß umgekehrt in manchen Kreisen des Staats-und Parteiapparates die Wendung in der Außenpolitik mit der Hoffnung auf eine Liberalisierung in der sowjetischen Innenpolitik verbunden wurde.
Beide Tendenzen aber waren vom Standpunkt der Führung aus gleichermaßen gefährlich und nicht tragbar. Auf dem — um ein Jahr verschobenen — 24. Parteikongreß Ende März 1971 verkündete Breshnjew nun die entscheidende Generallinie: Sein „Friedensprogramm" und die gemäßigte außenpolitische Zielsetzung wurde mit der Forderung nach einem scharfen Kampf gegen alle Reform-Gruppierungen der Sowjetunion verbunden, und dabei nicht nur der ideologische Kampf, sondern sogar der ideologische Krieg gegen Andersdenkende verkündet. „Wir leben unter den Bedingungen eines nicht nachlassenden ideologischen Krieges", erklärte der sowjetische Parteiführer wörtlich, und daher sei es die Pflicht, „ideologischen Ausfällen eine rechtzeitige, entschlossene und wirksame Abfuhr zu erteilen".
Damit war der verschärfte ideologische und politische Kampf im Innern und die Entspannungspolitik nach außen als Generallinie der Partei proklamiert und beschlossen. Noch aber gab es zwischen 1971 und 1973 manche Probleme zu lösen und Widerstände zu überwinden. Noch nie zuvor in der sowjetischen Geschichte seit 1918 hatte sich das Zentralkomitee so viel mit außenpolitischen Fragen beB faßt. Statt zu den sonst üblichen innenpolitischen und wirtschaftlichen Fragen trat das Zentralkomitee im November 1971 und im Mai 1972 zusammen, um ausschließlich die Außenpolitik zu beraten.
Im Anschluß an die Tagung des Zentralkomitees im Mai 1972 — am Vorabend des Besuches Präsident Nixons — wurde das Politbüro-Mitglied Schelestj seines Postens als ukrainischer Parteiführer enthoben und Woronow, der im Staatsdienst tätig ist, degradiert; beide blieben jedoch zunächst noch Mitglieder des Politbüros — eine höchst ungewöhnliche Situation, die auf ungelöste Fragen und Meinungsverschiedenheiten hinwies.
Ende April 1973 trat schließlich das Zentralkomitee noch einmal zu einer außenpolitischen Tagung zusammen — unmittelbar vor der Reise Breshnjews in die Bundesrepublik Deutschland und in die USA. Nun erst wurden Schelestj und Woronow „in den Ruhestand versetzt". Obwohl beide Degradierungen mit der Außenpolitik verbunden waren — Schelestj war als Verfechter eines harten Kurses bekannt —, dürften bei diesem Führungswechsel auch andere Aspekte eine Rolle gespielt haben. Die Absetzung Woronows hing mit Auseinandersetzungen über die Wirtschaftspolitik zusammen, und Schelestj soll Gruppierungen in der Ukraine unterstützt haben, die, nach Moskauer Sprachregelung, als „nationalistisch" gelten. Offensichtlich hatte Schelestj versucht, den ukrainischen Einfluß gegen die Russifizierungspolitik Moskaus stärker zur Geltung zu bringen. An die Stelle von Schelestj und Woronow traten drei neue Mitglieder in das Politbüro ein: Marschall Gretschko, seit April 1967 Verteidigungsminister und damit der führende Repräsentant der Armeekreise, Juri Andropow, der Chef des Staatssicherheitsdienstes, der früher viele Jahre in der Parteiführung für die Beziehungen zu den sozialistischen Ländern verantwortlichwar und sich dabei dafür eingesetzt hatte, die sowjetische Vorherrschaft in Osteuropa zu festigen und auszubauen, und schließlich der langjährige Außenminister Andrej Gromyko.
Auf dieser Tagung des Zentralkomitees im April 1973 wurde deutlicher als je zuvor die neue außenpolitische Linie einer „Öffnung nach dem Westen" verkündet. Breshnjew wurde dabei persönlich gewürdigt und erhielt nunmehr „grünes Licht" für seine Verhandlungen mit Bonn und Washington. Zwar bedeutet das April-Plenum eine beträchtliche Unterstützung für Breshnjews Außenpolitik, aber er mußte dafür einen Preis zahlen: die Aufnahme des Staatssicherheitschefs und des Verteidigungsministers in das Politbüro. Die Armee und der Staatssicherheitsdienst hatten nun ein Vetorecht in allem, was ihrer Auffassung nach „zu weit gehen" könnte — besonders bei vorgesehenen Maßnahmen, die von ihrem Standpunkt aus die Einheitlichkeit des Blocks, die Verteidigungsfähigkeit der UdSSR und die absolute Kontrolle über die innere Entwicklung gefährden könnten.
Die Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen über Ausmaß und Grenzen der neuen sowjetischen Außenpolitik setzen sich sogar nach dem Besuch Breshnjews in der Bundesrepublik Deutschland und den USA fort. Die Einheit der sowjetischen Hierarchie war und ist nicht so monolithisch, wie häufig angenommen wird. Versteckte Hinweise in jüngsten sowjetischen Veröffentlichungen deuten drauf hin, daß neostalinistische Befürworter eines härteren Kurses die Auffassung vertreten, die Sowjetunion habe bisher erfolgreich ihre Industrialisierung ohne Hilfe westlicher Kapitalisten vollzogen; einige scheinen sogar eine Verbesserung der Beziehungen zu China der gegenwärtigen „Öffnung nach dem Westen" vorzuziehen. Andere zweifeln, ob die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen wirklich so schnell Früchte zeigen werde, wie manche sowjetische Führer, vor allem Breshnjew selbst, offensichtlich hoffen. Eine plötzliche drastische Veränderung in den internationalen Beziehungen — etwa eine (unwahrscheinliche) rasche Verbesserung der sowjetisch-chinesischen Beziehungen oder ein entscheidender Rückschlag in der wirtschaftlichen Kooperation mit dem Westen — würde sehr wahrscheinlich die Gegner der jetzigen Außenpolitik stärken, was sich bald auf die offizielle sowjetische Stellung gegenüber dem Westen auswirken würde.
Andererseits aber existieren in der Sowjet-hierarchie, vor allem in staatlichen und wirtschaftlichen Behörden, auch gemäßigte Gruppierungen, die die gegenwärtige „Öffnung nach dem Westen" mit bestimmten, wenn auch begrenzten Reformen im Inneren der UdSSR ergänzt sehen wollen — im Sinne einer größeren Autonomie und Initiative, weniger Detail-Kontrollen von oben, einer größeren Effektivität und einer pragmatischen Betrachtungsweise. Hier wie dort hat die Breshnjew-Führung offensichtlich mit Neostalinisten auf der einenund gemäßigten Kräften auf der anderen Seite zu rechnen.
Entspannungsbereitschaft und innere Kontrolle
Es gibt jedoch nichts, was die gegenwärtige Sowjet-Führung mehr fürchtet als eine offene Auseinandersetzung unterschiedlicher Tendenzen und Gruppierungen, d. h. eine Entwicklung, die zu einem politischen Pluralismus in der Sowjetunion führen könnte. Dies ist auch der entscheidende Grund für die Sowjetführung, Außenpolitik mit ihre gemäßigte Innenpolitik zu
einer harten koppeln. Gewiß wurde es einigen tausend Sowjetbürgern, meist jüdischer Abstammung, gestattet, die Sowjetunion zu verlassen. Aber dies war eine einmalige Konzession, zu der sich die Sowjetführung durch den starken Druck von außen genötigt sah. Selbst in diesem Fall ist es übrigens noch keineswegs sicher, ob, nachdem die sowjetische Führung ihre gewünschten außenpolitischen Ziele erreicht hat, diese Konzession in Kraft bleibt oder aber das Regime zu einer kompromißlosen Haltung zurückkehren wird.
Für alle übrigen Sowjetbürger — sowohl Russen wie auch Angehörige der nichtrussischen Nationalitäten, vor allem progressive Intellektuelle — hat sich die Unterdrückung in den letzten Jahren, also in der Periode der außenpolitischen Entspannung, nicht verringert, sondern im Gegenteil beträchtlich verschärft. Führende Repräsentanten der innersowjetischen Opposition sprachen bereits 1970/71 die Befürchtung aus, daß, so bald die außenpolitischen Verträge abgeschlossen seien, die sowjetische Führung zu einem Großangriff gegen die demokratische Bewegung, wie sich die innersowjetische Opposition selbst bezeichnet, ausholen wird. Diese Befürchtungen haben sich leider bewahrheitet. Zur gleichen Zeit, da die Sowjetführer freundliche Erklärungen gegenüber den Westmächten abgeben und weitreichende Verträge abschließen, finden in der Sowjetunion Verhaftungen, Haus-durchsuchungen und politische Prozesse statt, selbst gegenüber jenen, die keineswegs sowjetfeindlich sind, sondern lediglich kritische Gedanken oder Reformvorschläge zum Ausdruck bringen.
Das Ziel der Sowjetführung besteht offensichtlich darin, alle möglichen Vorteile aus den Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen und der technologischen Kooperation zu erzielen, zur gleichen Zeit aber die Unterdrükkung des eigenen Volkes zu verschärfen, um dadurch alle Hoffnungen auf eine freiere Entwicklung im Keim zu ersticken.
Die häufig diskutierte Frage, ob der Westen unter diesen Umständen Handel und Technologie als Verhandlungshebel benutzen kann oder soll, um die Situation in der Sowjetunion und Osteuropa zu beeinflussen, läßt sich schwer generell beantworten; dies hängt offensichtlich von der jeweiligen internationalen Situation und den Möglichkeiten des betreffenden Landes in der betreffenden Zeit ab. Das sowjetische Entgegenkommen bei der Ausreise der Juden war sicher ein Sonderfall, der jedoch ähnliche Vorgänge in anderen Bereichen nicht ausschließt.
Unzweifelhaft aber kann sich die öffentliche Meinung der Welt gegenüber dem Schicksal der sowjetischen Bevölkerung, besonders der liberalen Intellektuellen, nicht gleichgültig verhalten. Den Menschen in der Sowjetunion in ihren Leiden und Schwierigkeiten zu helfen, ihnen die Information zu vermitteln, die sie suchen, darunter durch die russisch-sprachigen Sendungen westlicher Rundfunkstationen, bedeutet nicht, die Entspannung zwischen Ost und West zu gefährden, sondern vielmehr die Grundlage zu schaffen, für jenen freien Austausch von Ideen und Kulturgütern, die der Entspannung erst ihren wirklichen Inhalt und ihre Bedeutung gibt.
So notwendig es ist, die Wandlungen der sowjetischen Außenpolitik zu erkennen und zu nutzen und neue Wege in der Ost-West-Entspannung zu beschreiten, so wichtig erscheint es auch, die innere Situation in der UdSSR dabei nicht zu vergessen. Die Normalisierung der Ost-West-Beziehungen kann sich nicht auf Verträge zwischen Regierungen beschränken; um zu einer echten und dauerhaften Entspannung zu gelangen, müssen die Beziehungen zwischen den Völkern enger werden. Gerade darin liegt der eigentliche Prüfstein, denn eine Ost-West-Entspannung sollte nicht nur nach der Zahl der Gipfeltreffen und dem Umfang von Wirtschaftsabkommen gemessen werden, sondern in erster Linie danach, ob und inwieweit sie den Weg ebnet für einen freien Verkehr zwischen Menschen, Ideen und Kulturgütern von Ost und West.