Beidem folgenden Aufsatz handelt es sich um eine Fortführung der von Gerhard Wettig begonnenen Auseinandersetzung („MBFR: Motor der Aufrüstung oder Instrument der Friedenssicherung?", B 24/73) mit der Studie von Dieter Senghaas, Volker Rittberger und Burkhard Luber: „MBFR: Aufrüstung durch Rüstungskontrolle?", B 13/73. Die Redaktion.
„Der Denkrahmen oder das Paradigma des Denkens lenkt den Denkprozeß. Paradigmen sind fundamental, tief verwurzelt, und es bedarf einer besonderen Übung, um die Struktur des eigenen Intellekts zu erkennen. Anstrengungen, deren Prämissen offenzulegen, wird gewöhnlich Widerstand geleistet, weil sie so eng mit den eigenen Grundinteressen verbunden sind und weil man fürchtet, daß das gesamte Denkgebäude wie ein Satz Dominosteine zusammenfällt, wenn diese Prämissen erst einmal in Frage gestellt werden."
Die im März des Jahres in dieser Zeitschrift veröffentlichte Studie „MBFR: Aufrüstung durch Rüstungskontrolle?" der Autoren Dieter Senghaas, Volker Rittberger und Burkhard Luber stellt für die Bundesrepublik den ersten Versuch „kritischer Friedensforschung" dar, sich in praktischer Absicht auf ein Problem aktueller Rüstungskontrollpolitik einzulassen. Er bietet Anlaß und Möglichkeit, die wissenschaftliche Tragfähigkeit
I. Vorbemerkung
und die politische Eignung des von dieser „Schule" entwickelten Forschungsansatzes — seiner Prämissen, Konzepte und Methoden — an einem konkreten Beispiel zu prüfen.
Kritische Friedensforschung verfolgt zugleich zwei Stoßrichtungen: Zum einen wendet sie sich gegen „herkömmliche Sicherheitspolitik" (und als deren Komponente: Rüstungskontrollpolitik). Diese ist nach ihrer Auffassung aufgrund bisheriger Erfahrung nicht nur außerstande, die Dynamik des Wettrüstens im Sinne tatsächlicher Abrüstung zu brechen, sondern sucht im Gegenteil dieses Wettrüsten voranzutreiben und gegen Kritik abzusichern. Die zweite Stoßrichtung gilt „herkömmlicher Wissenschaft", insoweit sie in Kategorien „herkömmlicher Sicherheitspolitik" arbeitet und dadurch zur Rationalisierung und Legitimierung, Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung bisheriger Rüstungspraxis beitragen soll. Das Verdikt, sich der „Indoktrination" im Sinne „manipulativ verdummender Politik" zu befleißigen, trifft dabei selbstverständlich zunächst die als „diensttuende Forschung" apostrophierte sicherheitsstrategische Analyse der politikberatenden Forschung, daneben jedoch auch die herkömmliche Wissenschaft von der internationalen Politik und die an der Erhaltung „negativen Friedens" orientierte „konservative" Fraktion der Friedensforschung. Kritische Friedensforschung lebt von der Hoffnung und Suggestion, durch eine einschneidende Änderung herkömmlicher Wissenschaft eine radikale Änderung politischer Praxis bewirken zu können. Diese Hoffnung stützt sich auf die Annahme, daß das durch Wissenschaft mit vermittelte Bild der Realität die Handlungsorientierung politischer Akteure und damit die politische Realität selbst mitbestimmt. Der Ansatz kritischer Friedens-forschung zielt deswegen darauf, jene Wissenschaft zu bekämpfen, zu diskreditieren und nach Möglichkeit zu ersetzen, die ihrer Ansicht nach ein wichtiges Glied in der Kette einer sich laufend reproduzierenden unvernünftigen und gefährlichen politischen Praxis bildet.
Deshalb erscheint den Vertretern dieser Schule „eine Diskussion aktueller arms-controlProbleme unter den Vorzeichen herkömmlicher strategischer Überlegungen vom Ansatz her analytisch fragwürdig und unter praxeologischen — auch tagespolitischen — Erfordernissen politisch höchst untauglich" Sie sind davon überzeugt, „daß das herkömmliche Rüstungskontrollparadigma (von ihnen auch „Paradigma der offiziellen Politik" genannt) einer sehr prinzipiellen Neubestimmung bedarf, um überhaupt von politischer Bedeutung für eine Friedenspolitik zu sein" Verlangt und betrieben wird offenbar ein „Paradigmawechsel" eine „wissenschaftliche Revolution"
II. Vom Umgang mit Paradigmen
Ohne daß beabsichtigt wäre, an dieser Stelle umfassend und genau zu definieren, was unter einem Paradigma zu verstehen ist, sind einige Bemerkungen zu dessen praktischer Bedeutung im Prozeß wissenschaftlicher Forschung notwendig: Dieser Begriff umfaßt alle Faktoren, die das mehr oder minder bewußte und strukturierte Vorverständnis ausmachen, das ein Wissenschaftler seinem Forschungsgegenstand entgegenbringt 83). Er bezeichnet jenes vortheoretische Erklärungsschema oder das vom erkenntnisleitenden Interesse -modell, des Wissenschaftlers geprägt wird und darüber bestimmt, welche Aspekte des zu untersuchenden Realitätsausschnitts er für wichtig hält und welche er ignoriert, nach welchem Kategorienschema er seine Informationen einordnet und bewertet.
Das jeweils gewählte Paradigma ist von entscheidender Bedeutung dafür, wie Realität wissenschaftlich erklärt wird. Die meisten Phänomene sind auf der Grundlage unterschiedlicher Paradigmen auf recht unterschiedliche Weise — und jeweils plausibel — zu begreifen und erklären Daraus folgt als wichtige Aufgabe wissenschaftlicher Tätigkeit, über das jeweils zugrunde gelegte Paradigma Rechenschaft zu legen und seine Bevorzugung gegenüber gebräuchlichen oder vorstellbaren konkurrierenden Paradigmen zu begründen.
Schwierig ist dabei, daß diese Begründung nicht bereits zum Zeitpunkt der Wahl zu haben ist, sondern erst als Bewährung in einer länger dauernden Praxis „normaler Wissenschaft" die das Paradigma empirisch-analytisch als realitätsadäquat ausweisen muß. Eine zusätzliche Schwierigkeit tritt bei solchen Wissenschaften auf, die sich — wie manche Sozialwissenschaften unter Einschluß kritischer Friedensforschung — zugleich als empirisch-analytische und praktische verstehen. Sie betrachten ihren Forschungsge-genstand nicht als objektiv „gegeben", sondern als durch wissenschaftlich geleitete Praxis veränderbar. Ihr Paradigma kann und wird deswegen häufig einen Vorgriff auf eine nicht vorhandene, aber in Zukunft für möglich gehaltene wünschbare Realität beinhalten; Seine „Gültigkeit" setzt insofern eine bestimmte, von ihm implizierte Weiterentwicklung der Realität voraus.
Die Bewährung eines derartigen Paradigmas erfolgt deswegen weniger im Raum wissenschaftlicher Forschung als in der Weiterentwicklung der politisch-sozialen Verhältnisse. Entsprechend kann sich eine ihm geltende wissenschaftliche Kritik nicht mit dem empirisch-analytischen Befund zufriedengeben, daß es die heute gegebene Realität nicht adäguat erkläre und, an ihr gemessen, für unrealistisch zu halten sei. Sie hat darüber hinaus darzulegen, daß es auf einer implausiblen Prognose beruht, weil es jene Determinanten historischer Entwicklung und gegenwärtiger Realität verfehlt; die auch die politisch-soziale Realität der Zukunft bestimmen dürften. Kontroversen um die wissenschaftliche Tragfähigkeit derartiger Paradigmen, die ihrer Zeit in praktischer Absicht vorausgreifen, müssen sich deswegen vor allem an der Fräge der Retilisierungswahtscheinlichkeit/Realisierbarkeit des vön ihnen vorweggenommenen politisch-sozialen Wandels entzünden. Die wissenschaftshistorische Arbeit Thomas Kuhns hat für den Bereich der Naturwissenschaften gezeigt; daß Paradigmen in vielerlei Hinsicht politischen Weltanschauungen gleichen. Sie machen den Forschungskonsens aus, mit dem sich Sozialgruppen von Wissenschaftlern als „Schulen" verstehen und voneinander abgrenzen. Der jeweilige Ausschließlichkeitsanspruch steht tendenziell einer wissenschaftlichen Koexistenz konkurrierender Paradigmen im Sinne offener Bewährung in der Forschüng entgegen: „Der Wettstreit zwischen Paradigmata kann nicht durch Beweise entschieden Werden." „In dem Maße, . . . in dem die Auffassungen zweier wissenschaftlicher Schülön däfüber, was ein Problem und was eine Lösung ist, auseinandergehen, werden sie zwangsläufig aneinander Vorbeireden, wenn sie über die relativen Vorzüge ihrer jeweiligen Paradigmata debattieren. In den sich regelmäßig ergebenden, teilweise im Kreis laufenden Argumenten wird für jedes Paradigma gezeigt, daß es mehr oder weniger den Kriterien, die es sich selbst vorschreibt, gerecht wird und einigen jener Kriterien, die ihm von seinen Gegnern zudiktiert werden, nicht völlig genügt." Die Entscheidung zwischen konkurrierenden Paradigmen wird deswegen de facto häufig aus „Glaübens" -Gründen getroffen
Ein Rückblick in die Wissenschaftsgeschichte mag manche Züge der aktuellen Argumentation kritischer Friedensforschung erklären, vor allem ihr mit betontem Selbstwertgefühl vertretenes, entschiedenes Abgrenzüngsbemü-hen gegenüber ihr vorhergehenden Forschungsansätzen und -ergebnissen, mitsamt der naheliegenden Konsequenz, ein „retraining, and often replacement, of government delegates, negotiators, politicians, journalists, peace researcher, etc. who are incapable of introducing changes in their paradigms of thinking" vorzusehen.
Bevor man sich jedoch darauf einläßt, die Auseinandersetzung um das zukünftiger Rü-* stungskontroll-und Abrüstungspolitik angemessene Paradigma in Form eines Glaubens-streits zu führen, sollte man sich über die möglichen 'wissenschaftlichen und politischen Kosten klar werden. Schließlich geht es um mehr als das Renomme dieser oder jener akademischen „Schule": um die Ausrichtung und Qualität einer Politik, die das zukünftige persönliche Schicksal sehr vieler Menschen bestimmen kann und sich entsprechend zu verantworten hat.
Paradigmawechsel bedeuten nach häufiger Erfahrung „Verlust und Gewinn, und Wissenschaftler neigen dazu, gegenüber dem Verlust besonders blind zu sein" Sie führen leicht zu Erfahrungsschwund. Bewährte Fragestellungen und Erklärungen werden verdrängt, weil sie nicht mehr in den Rahmen des — dem neuen Paradigma eigenen — „begrifflichen und instrumentalen Rüstzeugs" hineinpassen. Inwieweit dies auch für die Argumentation kritischer Friedensforschung gilt, ist im folgenden nüchtern und kritisch in der Überzeugung zu prüfen, daß verantwortliche Sicherheitspolitik jede Form von Blindheit vermeiden sollte.
III. Wettstreit der Paradigmen? „Balance of Power" gegen „Primat der Innenpolitik"
1. Zur Kritik des Paradigmas „herkömmlicher Sicherheitspolitik“
Wie kritische Friedensforschung das von ihr bekämpfte Paradigma sogenannter gängiger strategischer Doktrinen versteht, ist nicht einfach zu erfassen. Als Prämissen dieses Paradigmas führt sie folgende, miteinander verbundene Annahmen an: Der seit über zwanzig Jahren andauernde Rüstungswettlauf der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion sei aus dem Bemühen zu erklären, auf tatsächliche oder erwartete Rüstungsinitiativen der jeweils anderen Seite mit angemessenen Gegen-schritten zu antworten, um einen Zusammenbruch des für das Funktionieren der Abschreckung angeblich notwendigen militärischen Gleichgewichts zu verhindern. Durch eine diesem Aktions-Reaktions-Prinzip ent1 sprechende Strategie rational gesteuert, erscheine Militärpolitik als Funktion außengerichteten (außenpolitischen) Handelns.
Auf welche Weise versucht kritische Friedensforschung, die wissenschaftliche Unzulänglichkeit dieses Paradigmas zu erweisen?
Abgesehen von wenigen Ansätzen empirisch-analytischer Kritik, die später zur Sprache kommen werden, operiert sie dabei normativ, praktisch-politisch. Weniger seine Unzulänglichkeit als Instrument zur wissenschaftlichen Erklärung der gegebenen Realität wird erwiesen, als die Unzulänglichkeit dieser Realität selbst. Kritisiert wird vor allem der ihm zugeschriebene friedenspolitisch negative Einfluß auf die Handlungsorientierung der Macht-eliten gegenüber Rüstungskontroll-und Abrüstungsvorhaben.
Ohne die prinzipielle Berechtigung und teilweise Bedeutung dieser Kritik leugnen zu wollen, ist darauf hinzuweisen, daß der Nachweis politisch nachteiliger Wirkungen allein nicht zur „Widerlegung" dieses Paradigmas ausreichen kann. Hinzukommen muß der Nachweis, daß es die gegebene Realität verfälscht und daß es seiner nicht bedarf, um diese Realität adäquat zu erklären und eine realistische Strategie zu ihrer Veränderung zu entwerfen. Beides ist nur durch empirisch-analytisch gestützte Argumentation zu bewerkstelligen.
Ihre Behauptung, daß die Prämissen des Paradigmas „herkömmlicher Sicherheitspolitik" (außenpolitisch-strategische Funktion, Interaktion als Entscheidungsstruktur und Orientierung am militärischen Gleichgewicht
weder die historische noch die aktuelle Wirklichkeit zutreffend erfassen, stützt kritische Friedensforschung so gut wie ausschließlich auf eine selektive Analyse nuklearstrategischer Doktrinen der USA im Zusammenhang mit der Rüstungsentwicklung im nuklearstrategischen Bereich. Diese Analyse soll nachweisen, daß „gängige analytische und praktische Orientierungspunkte innerhalb strategi’ scher Analyse, wie beispielsweise Stabilität, Gleichgewicht, Überlegenheit, Parität, Genügsamkeit und dergleichen" als Ausformungen vorgeblicher (am Verhalten des Gegners orientierter) Bemühung um „militärisches Gleichgewicht" ohne nennenswerten realen Einfluß auf Entwurf und Durchführung von Rüstungsprogrammen geblieben seien. Aus der in der Rückschau deutlichen Einsicht, daß die Administration der Vereinigten Staaten im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte die Kriterien nuklearstrategischen Gleichgewichts, je nach politisch-militärischer Zweckmäßigkeit, mehrfach unterschiedlich definiert und zur Grundlage unterschiedlicherstrategischer Doktrinen gemacht hat, wird auf die „leerformelhafte Beliebigkeit" und relative operative Bedeutungslosigkeit des Gleichgewichtskonzepts geschlossen.
Ohne zusätzliche empirisch-analytische Absicherung wird dann die Gültigkeit dieses Schlusses (über den Sektor nuklearstrategischer Rüstung hinaus) für den gesamten militärpolitischen Anwendungsbereich „des" Gleichgewichtskonzepts behauptet Aktions-Reaktions-Konzept und Gleichgewichts-doktrin sollen angeblich die wirklichen, innerstaatlich autonomen Antriebe von Militär-politik und Rüstung verkennen und verdekken. Sie sollen Motivationen und Kalkulationen vortäuschen, denen für die tatsächliche Entwicklungsdynamik des Abschreckungssystems keine wesentliche Bedeutung zukomme, da Militärpolitik keine relevante außengerichtete Funktion habe.
Eine Kritik dieser Thesen könnte es sich leicht machen und auf den offenen Widerspruch zu einem von Dieter Senghaas an anderem Ort publizierten analytischen Befund zur Funktion von Rüstung hinweisen Dort wird immerhin die Interpretation für „brauchbar" gehalten, „daß der Militärapparat (sc.der USA) über unmittelbare wirtschaftliche Funktionen hinausgehende, allgemeine politische Funktionen in der weltweiten Konkurrenz von Kapitalismus und Sozialismus hat" Die Größe des amerikanischen Militärapparates korreliere „mit gesamtstrategischenpolitischen Zielsetzungen: der politischen Sicherung einmal erreichter Einflußsphären sowie dem Versuch, alte nicht zu verlieren und neue zu gewinnen. Diese Bestrebungen sind im Rahmen der gesamten Rüstungspolitik von erheblicher Relevanz" Freilich wird dieser analytische Befund wegen paradigmatischer Unverträglichkeit rasch verdrängt. Ein am selben Ort gedrucktes Schema zu „Ursachen und Interdependenz der Funktionen von Rüstung" vermag — im Kontrast zu der sonst für kritische Friedensforschung typischen Apodiktik — nurmehr „hypothetische Annahmen" zu verzeichnen, und der begleitende Text kulminiert in der Mahnung an den Leser, „die in der politischen Öffentlichkeit propagierten politischen und militärischen Ziele und Funktionen von Rüstungspolitik, wie z. B. Verteidigung, Sicherheit, Abschreckung, Offensive bzw. die Bewahrung und Erweiterung von Einflußsphären, politische Kontrolle und dergleichen mehr", nicht zu „verharmlosen". Immerhin leite sich aus ihnen die Legitimität der Militär-apparate in der Öffentlichkeit ab. „Auch haben sie in gewissen Zusammenhängen vor allem politische Funktionen, beispielsweise innerhalb von Allianzen, wo sie als Druckmittel der stärkeren Partner gegenüber den schwächeren 'eingesetzt werden; die Geschichte der Beziehungen zwischen den USA und der Bundesrepublik Deutschland bietet hierfür ein breites Anschauungsmaterial."
Obwohl es reizt, der (in diesem ungewollten Widerspruch offenkundigen) analytischen Rationalisierung 27a) eines Vorurteils durch Verdrängung ihm entgegenstehender Tatbestände in ihren z. T. kuriosen Konsequenzen nachzugehen, ist zunächst die Auseinandersetzung mit der zentralen, vorgeblich empirisch gestützten Beweisführung kritischer Friedens-forschung gegen die Gültigkeit des Paradigmas herkömmlicher Sicherheitspolitik wichtiger.
Um ihre Behauptung der leerformelhaften Beliebigkeit und relativen operativen Bedeu-tungslosigkeit nuklearstrategischer Gleichgewichtskriterien und -doktrinen plausibel erscheinen zu lassen, können die Autoren nur mit einem bewußt schlichten analytischen Ansatz arbeiten. Die naheliegende und für die Bewertung entscheidende Frage, ob trotz des mehrfachen Wechsels amerikanischer Nuklearstrategien und der sie tragenden Annahmen und Stabilitätskriterien nicht ein allen gemeinsamer, unveränderter, „doktrinärer" Kernbestand zu erkennen ist, der eine durchgehende sicherheitspolitische Minimalfunktion abdeckt, wird überhaupt nicht gestellt, geschweige denn empirisch-analytisch geprüft. Die Autoren machen keinerlei Versuche, zwischen Konstantem und Variablem, zwischen Wesentlichem und Marginalem zu unterscheiden. Vor allem ignorieren sie die tatsächliche und notwendige Plurifunktionalität nuklearstrategischer Doktrinen im gesamt-strategischen Zusammenhang des Abschrekkungssystems und die dadurch bedingten komplexen Vermittlungsbeziehungen zwischen den wechselnden Versionen nuklearer Strategie und ihren verschiedenen, nur zum Teil variierenden sicherheitspolitischen und militärischen Zielsetzungen.
Die Folgen dieser Vereinfachung sind an der Behandlung zu erkennen, die den Konzepten des Gleichgewichts und der Interaktion zuteil wird: „Gleichgewicht" im nuklearstrategischen Kontext wird von den Autoren offenbar im Sinne primär quantitativer Gleichheit/Symmetrie des Waffenpotentials der konkurrierenden Supermächte verstanden. Es ist nicht verwunderlich, wenn sich vor dem Hintergrund eines derartigen Verständnisses das bisherige strategische Denken und die bisherige Rüstungspolitik der USA inkonsequent und unverständlich ausnehmen; denn das Streben nach „Gleichgewicht" in dieser militärisch auf Waffenpotentiale verengten Bedeutung ist niemals bestimmendes Moment amerikanischen strategischen Denkens gewesen. Dieses orientierte sich vielmehr an der Zielsetzung, die Wirksamkeit von Abschreckung aufrechtzuerhalten und politisch zu instrumentieren, das heißt, militärische und politische Un-gleichgewichte zu vermeiden oder sie so zu balancieren, daß Abschreckung nicht gefährdet erschien. Dies ließ und läßt sich offensichtlich mit unterschiedlichen — wenn natürlich auch nicht beliebigen — strategischen Doktrinen und Potentialen erreichen. Wesentlich war und ist deren erwartete Wirkung auf die verhaltensbestimmende Nutzen-Kosten/Risiko-Kalkulation der konkurrierenden Super-macht, der eigenen Verbündeten und anderer wichtiger Akteure im internationalen System. Im Interesse dieser Wirkung haben Doktrin und „Posture" entsprechend den sich verändernden globalen und regionalen politischen, militärstrategischen und rüstungstechnologischen Gegebenheiten und Entwicklungen zu variieren.
So wäre es z. B. offensichtlich unsinnig, die mit dem Namen McNamara verbundene amerikanische „counter force" -Strategie der frühen sechziger Jahre, die eine qualitative und quantitative Überlegenheit des amerikanischen strategisch-nuklearen Potentials über das sowjetische voraussetzte, am Maßstab eines an potentialmäßiger Gleichheit orientierten Gleichgewichtskonzepts beurteilen zu wollen. Zu verstehen ist diese Strategie nur, wenn man die unter anderem mit ihr verfolgte militärische Funktion berücksichtigt, die Geiselrolle des von sowjetischen Mittelstrekkenraketen abgedeckten westeuropäischen NATO-Territoriums zu relativieren. Im Falle eines Krieges sollten diese Waffen durch einen selektiven strategischen Entwaffnungsschlag weitgehend ausgeschaltet werden können, ohne dadurch die Zweitschlagskapazität der USA in Frage zu stellen. Politische Ratio dieser militärischen Strategie war u. a., den europäischen Verbündeten trotz erwarteter sowjetischer Rüstungsfortschritte die unverminderte Glaubwürdigkeit ihres nuklearstrategischen Schutzes zu demonstrieren, ohne den jeder Versuch westeuropäischer Verteidigung sinnlos erscheinen mußte. Auf diese Weise sollte eine andernfalls sicher zu erwartende psychologisch-politische Destabilisierung des in Europa gegebenen „Gleichgewichts" zwischen NATO und Warschauer Pakt verhindert werden. Eine wichtige politisch-operative Funktion nuklearer Strategien liegt demnach im psychostrategischen Bereich, so wie eine wichtige militärische Funktion darin liegt, eine konventionelle Verteidigungsoption durch deren realistische Auftragsbegrenzung überhaupt erst zu ermöglichen. Sie sind deswegen nur im Rahmen eines Konzepts zu begreifen und zu beurteilen, das „Gleichgewicht" auf den jeweiligen Zustand und die ihm entsprechenden Forderungen des politisch-strategischen Gesamtsystems bezieht. Eine adäquate Funktionsanalyse strategischer Doktrinen setzt eine adäquate militärisch-politische Struktur- und Kontextanalyse voraus — eine Aufgabe, der sich die Autoren konsequent entziehen.
Derselbe Mangel beeinträchtigt ihre Behandlung des Konzepts von Interaktion als Strukturfaktor nuklearstrategischer Politik. Sie meinen offenbar, Aktion und Reaktion in der Entwicklung von Rüstungen und Doktrinen hätten sich mechanistisch in Form unvermittelter, auf Symmetrie (im Sinne potentialmäßigen Gleichstands) ausgerichteter Interaktionsschritte vollziehen müssen. Andernfalls könne man der Interaktionsbehauptung herkömmlicher Sicherheitspolitik nur ideologisch verschleiernde, aber keine nennenswerte real-politische Bedeutung zubilligen. Berücksichtigt man jedoch die tatsächliche Plurifunktionalität nuklearer „Postures" im Hinblick auch auf die nichtnukleare militärische und die psychologisch-politische Dimension des Sicherheitsproblems, vor allem ihre Aufgabe, die Wirkung geostrategischer, konventionell-militärischer, bündnispolitisch-struktureller und anderer Asymmeterien in verschiedenen Regionen im Interesse dauerhaft funktionierender Abschreckung und ihrer politisch vorteilhaften Instrumentierung zu neutralisieren oder zu relativieren, so muß man diese Vorstellung von Interaktion naiv und den auf ihr gründenden Rückschluß auf operative Bedeutungslosigkeit unbegründet nennen. Interaktion in der nuklearstrategischen Politik der USA und der Sowjetunion ist als jeweils systempolitisch vermittelte zu erwarten, und es fällt nicht schwer, in dieser Form ihre historische und gegenwärtige Wirksamkeit nachzuweisen. Freilich ist zuzugeben, daß eine so umfassend verstandene Gleichgewichts„doktrin" leicht als „Mittel zur Rechtfertigung beliebiger Maßnahmen (im Sinne der Eskalation von Rüstungswettläufen)" zu mißbrauchen ist, „da die Konzeption zum Arsenal politisch-militärischer Psychostrategien gehört, das seinerseits sich kaum an Maßstäben wissenschaftlicher Präzision und analytischer Eindeutigkeit orientiert, sondern als politisch einsetzbares Instrument, ja als propagandistische Waffe fungiert" Aber es ist angesichts dieser Tatsache sicherlich die untauglichste Lösung, deshalb kurzerhand pauschal die realhistorische Wirksamkeit und realpolitische Notwendigkeit gleichgewichtsorientierter Rüstungsstrategien und Einsatzdoktrinen zu bestreiten, nur „um nicht selbst in ein Diskussionfeld, das von beliebigen politischen Optionen besetzt werden kann, hineingezogen zu werden" Da in Wirklichkeit nuklear-strategische Doktrinen auch wesentlich unter dem Aspekt ihrer politischen Instrumentierbarkeit formuliert und ausgewählt wurden und werden, muß jeder Versuch, sie entpolitisiert auf nuklearstrategische Modellrationalität reduziert zu betrachten, zu wirklichkeitsfremden Erwartungen und Beurteilungen führen. Als vorläufiges Fazit der bisherigen Kritik bleibt festzuhalten:
Die Autoren versuchen, die allgemeine wissenschaftliche Unzulänglichkeit des Paradigmas „herkömmlicher Sicherheitspolitik" durch Analyse nur eines Teilbereichs zu erweisen. Zusätzlich stilisieren sie die realen Prämissen dieser Politik, das heißt, sie behaltn deren Begriffe äußerlich unverändert bei, nehmen sie jedoch aus ihrem herkömmlichen Begriffskontext heraus und verändern sie inhaltlich im Sinne ihres forschungs-strategischen Interesses. Kritisiert und „widerlegt" wird auf diese Weise ein Paradigma, das in dieser konstruierten Form tatsächlich niemals realpolitische Bedeutung gewonnen hat, das aber offensichtlich auch niemals das Paradigma amerikanischer oder sowjetischer Sicherheitspolitik gewesen ist.
Den empirisch-analytischen Nachweis, daß das „Paradigma der offiziellen Politik", „the old doctrine of security through military means, balance of power in one Version or the other" der historischen Entwicklung des Abschreckungssystems, seiner gegenwärtigen Realität und künftigen Entwicklung inadäquat sei, führen deshalb die Autoren nicht. Zwar können sie zeigen, daß dieses Paradigma allein nicht alle Züge des west-östlichen Rüstungsverlaufs und seiner spezifischen Dynamik plausibel erklären kann, daß es dazu vielmehr zusätzlicher Hypothesen bedarf, die auf die innerstaatlich „autonomen" Antriebs-komponenten von Rüstungsdynamik abstellen müssen. Aber sie begehen einen schwerwiegenden analytischen Mißgriff, indem sie verkennen, daß diese Komponenten im politischen Prozeß überhaupt nur dann Einfluß gewinnen können, wenn sie durch die reale politische Wirksamkeit der „herkömmlichen" Sicherheitsprämissen gedeckt werden. Sie ist die notwendige Voraussetzung dafür, daß die von den Autoren hervorgehobenen sozialen und ökonomischen Antriebsfaktoren den Rüstungsprozeß beeinflussen und mehr oder minder stark prägen können. Verneint man diese realpolitische Wirksamkeit (die unter dem Aspekt ihrer Faktizität, nicht ihrer möglicherweise ideologischen oder manipulativen Begründung zu betrachten ist), kann man nicht ernsthaft zugleich die Wirksamkeit „innengeleiteter" Rüstungsdynamik behaupten.
Jede derartige Behauptung impliziert vielmehr die Anerkennung, daß das Paradigma „herkömmlicher Sicherheitspolitik" wesentliche Komponenten der historischen Entwicklung und der gegebenen Realität im Bereich der Rüstungspolitik adäquat erfaßt und erklärt und insofern wissenschaftlich unverzichtbar bleibt, solange sich diese Realität nicht einschneidend verändert. Die SALT-Gespräche von Genf zeigen ebenso anschaulich wie die Vorverhandlungen in Wien und Helsinki, daß die herkömmlichen Erklärungsschemata der Interaktion und Gleichgewichtsorientierung— vorausgesetzt, man versteht sie richtig — unverändert wichtige Determinanten im Denken und Verhalten der die politische Realität bestimmenden politischen Akteure in Ost und West bezeichnen.
2. „Autismus“ und Interessenleitung im Rüstungsverhalten
Ist eine empirische Falsifizierung des kritischer Friedensforschung inakzeptablen „balance of power“ -Paradigmas überzeugend nicht zu erreichen, so gibt es doch die Möglichkeit, ihm ein eigenes Paradigma entgegenzustellen, dessen Prämissen den „eigenen analytischen Befund" stützen können, demzufolge „in Wirklichkeit nationale Rüstungspolitik und internationaler Rüstungswettlauf viel eher (!) durch jeweils interne Faktoren als von außen bedingt sind"
Die Autoren bedienen sich dazu einer Kombination zweier recht unterschiedlicher Erklärungschemata, denen allerdings gemeinsam ist, daß sie einen uneingeschränkten Primat der Innenpolitik voraussetzen
Das von Dieter Senghaas für die Friedensforschung formulierte Schema autistischen Ver haltens soll erweisen, daß „die Außenorientierung in einer Abschreckungsbeziehung", als die der Ost-West-Konflikt zu sehen ist, „ebenso real, wie sie gleichzeitig fiktiv ist: real, weil es den Gegner gibt, und fiktiv, weil die Konflikte, die man mit diesem Gegner erwartet, in einem großen Ausmaß diesseits der Frontlinien formuliert werden" So verbreite das Abschreckungssystem den Schein höchster Interdependenz und Außenorientiertheit, obgleich es in wesentlichen Komponenten „Ausdruck unvergleichlicher Abkapselung und Isolierung" sei. Es stelle ein Kommunikationsmuster dar, „in welchem die Umweltbilder, wie sie im Innensystem eines Akteurs entstehen, die tatsächlichen, realitätsadäquaten Informationen aus der Umwelt selbst dominieren" Der Konflikt nehme deshalb eine Schärfe an, „die durch die Absichten und das wirkliche Verhalten der jeweiligen Gegenspieler in der internationalen Politik nicht mehr zu erklären ist" Ergebnis ist „eine lernpathologische Erzeugung von Konflikterwartungen, die nicht an tatsächlichen und wahrscheinlichen, sondern an denkbaren Konflikten orientiert sind" Abschreckungspolitik reduziere „die Fähigkeit zu angemessener Realitätsprüfung", fördere damit „politische Selbsttäuschung, Verblendung und Blindheit mit möglicherweise katastrophalen Folgen". Eine „durch fiktive Konflikterwartungen und paranoide Feindbilder gehemmte und eingeschränkte Wirklichkeitserfassung" gehe einher mit „einer im Grunde unkritisch affektorientierten, kollektive psychologische Aggressionsreservoirs manipulierenden politischen Strategie"
Uber die Eigenarten dieses Erklärungsschemas ist viel geschrieben worden Dem ist hier deswegen nichts hinzuzufügen, weil die politische Entwicklung der vergangenen Jahre seine Übertreibungen und Unzulänglichkeiten überzeugender offengelegt hat, als dies irgendeine wissenschaftliche Kritik könnte. Der komplexen Verbindung und Überlagerung von Elementen der Kooperation, der Konkurrenz und des Konflikts in der Politik der Vereinigten Staaten, der Sowjetunion, Chinas und anderer wichtiger Akteure der Weltpoli-tik ist dieses Modell nicht adäquat. Ein sowjetischer Hauptsprecher auf der Verbands-tagung amerikanischer Industrieller spricht nicht gerade für die Wirksamkeit paranoider Feindbilder, und die Politik Henry Kissingers 'oder Leonid Breschnews im Sinne „objektloser Aggressivität" interpretieren zu wollen, wäre wohl purer Unsinn.
Vielleicht bewegt ein Gefühl für die politische Deplaziertheit ihres Autismus-Konzepts die Autoren in jüngster Zeit dazu, ein anderes, plausibleres Erklärungsmodell in den Vordergrund zu rücken: Nicht mehr „politische Selbsttäuschung, Verblendung und Blindheit" treiben die Rüstung voran, sondern das vielfältige Eigeninteresse sicherheitspolitischer Machteliten Regierungen erscheinen als „die Gefangenen ihrer eigenen Geschöpfe von gestern, der Rüstungsapparate" die einen „politisch-ideologischen, militärischen, wissenschaftlichen, technologischen, industriellen Komplex" darstellen. Die „Auffächerung der Aufgaben in Militär-apparaten" habe zu einer „parallelen Auffächerung der Interessenbasis der herkömmlichen Sicherheitspolitik" geführt. Sie führe „zu einer interessentheoretisch und organisationssoziologisch erklärbaren Entwicklungsdynamik dieser Apparate, deren Impulse kaum als Reaktion auf Vorgänge jenseits der eigenen Grenzen beim sogenannten potentiellen Gegner begreifbar sind"
Die diesen Komplex dominierende Elite indoktriniert die Bevölkerung und manipuliert deren Einstellung für oder gegen Rüstungspolitik Dies sei wenig problematisch, „weil diese Einstellungen im Rahmen der überkommenen Sicherheitspolitik über Bedrohtheitsvorstellungen und Feindbilder sich leichter formieren lassen als nüchterne, aufgeklärte Selbst-und Umweltbilder in einer kooperativen Politik" Daß der skizzierte vielseitige und umfassende Forschungsansatz fruchtbar ist und wesentliche Faktoren des realen Rüstungsverhaltens erfaßt und adäquat erklären kann, steht außer Frage. Zu prüfen ist aber, ob der von Seiten kritischer Friedensforschung mit ihm verknüpfte Anspruch zu halten ist, Rüstungsverhalten vollständig erklären zu können. Zum anderen ist zu fragen, ob er bereits als ein theoretisches Modell zu betrachten ist, das konkretes Rüstungsverhalten ohne empirisch-analytisch-gestützte Begründung zureichend erklären könnte, oder ob er im Grunde nur allgemeine Hypothesen formuliert, die für die Forschung operationaler Spezifizierung und empirischer Überprüfung bedürfen.
In diesem Zusammenhang liegt die Frage nach der Vereinbarkeit der beiden Erklärungsschemata des Autismus und der Interessenleitung nahe. Lassen sich ihre Prämissen integrieren? Passen interessenkalkulierte Manipulation und paranoide Verblendung zusammen? Mag dies vorerst noch zweifelhaft erscheinen — die Problemlösung winkt in Gestalt der von kritischer Friedensforschung in Angriff genommenen Entfaltung des Interessenbegriffs Was subjektivem Interesse eines Politikers, Militärs oder Wissenschaftlers als Kalkulation und Manipulation zuzurechnen ist, erscheint, gemessen an seinem objektiven Interesse als Mensch und Weltbürger als Selbsttäuschung und Verblendung.
Eine wichtigere Frage ist, ob die Tatsache, daß im Abschreckungssystem die Bedrohung „diesseits der Frontlinien" im jeweils eigenen politischen System definiert wird, so bedeutend ist, wie es kritische Friedensforschung wahrhaben will, oder schlicht banal. Wenn sie an sich bereits der Beweis für das Vorliegen von Autismus und Manipulation wäre, so müßte man sich mit beidem als unvermeidlichem Übel abfinden. Die Autoren operieren offensichtlich unreflektiert mit der unrealistischen Unterstellung, als könnten die amerikanischen und sowjetischen Führungszirkel, die sich in Wirklichkeit unverändert als politische Konkurrenten und potentielle Konflikt-gegner empfinden, einvernehmlich ihre wechselseitige Bedrohung aushandeln und gemeinsam entsprechende Rüstungsprogramme verabschieden. Suggeriert wird, es gebe ein internationales System, das derartiges Verhalten zulasse und vernünftigerweise erfordere.
Die unter heutigen Bedingungen unvermeidliche Situation, daß Rüstungspolitik national formuliert und entschieden wird, läßt „Autismus" im Senghaas’schen Sinne ebenso zu wie interessenbestimmt verzerrte Darstellungen der gegnerischen Bedrohung, bedingt sie aber keineswegs und kann sie deshalb nicht beweisen. Auch die vermeintliche Orientierung der Bedrohungsanalyse an den jeweils eigenen Rüstungsmöglichkeiten kann keineswegs als Beweis für „Innenorientierung" gelten. Sie stellt vielmehr die einzig verfügbare Beurteilungsmethode dar, solange USA und Sowjetunion rüstungstechnologisch und rüstungswirtschaftlich über annähernd gleiche Leistungsfähigkeit verfügen, die zugänglichen Informationen über die tatsächlichen Absichten, Forschungs-, Entwicklungs-und Beschaffungsprogramme der jeweils anderen Seite wegen sorgfältiger Geheimhaltung und möglicher Täuschung für eine hinreichend verläßliche Beurteilung nicht ausreichen und der politische Wille des Konkurrenten und potentiellen Gegners zur Fortsetzung seiner Rüstungsanstrengungen und zur offensiven Instrumentierung seines militärischen Potentials keinen hinreichend effektiven und verläßlichen Restriktionen unterworfen ist.
Da es zu dem (durch die Struktur des gegebenen internationalen Systems bedingten) kritisierten rüstungspolitischen Entscheidungskontext noch keine Alternative gibt, hätte kritische Friedensforschung ihre apodiktisch formulierten Behauptungen der 'Manipulation und Indoktrination, der Unterbewertung tatsächlicher, realitätsadäquater Information, der lernpathologischen Orientierung an fiktiven, statt an tatsächlichen und wahrscheinlichen Konflikten etc. im Rahmen seiner Prämissen zu belegen. Dann könnte man eine empirisch gesättigte Analyse erwarten, die subjektive Annahme und objektiven Tatbestand, vorgebliche Bedrohung und tatsächliche Interessen, Absichten und Verhaltensweisen der Sowjets und Amerikaner einander gegenüberstellt, um die behauptete unzureichende Realitätsprüfung jeweils konkret nachzuweisen.
3. Eigentlichkeit und Empirie in der Argumentation kritischer Friedensforschung
Diese Erwartung geht freilich fehl. Sie vergißt das paradigmatisch bedingte Vorurteil kritischer Friedensforschung, demzufolge innerhalb des west-östlichen Abschreckungssystems Rüstungspolitik innengesteuert wird, will sagen a priori außenpolitisch Objekt-und funktionslos zu sein hat. Wenn es keine „tatsächlichen" außengerichteten Zielsetzungen und Absichten gibt, muß zwangsläufig jede, dem jeweiligen Konkurrenten nachgesagte Zielsetzung oder Absicht dem Ideologieverdacht verfallen. Empirische Analyse erübrigt sich. Man kann sich mit einigen vagen Andeutungen darüber begnügen, daß es den „jeweils herrschenden monopolkapitalistischen, staats-sozialistischen und wie immer gearteten" Machteliten darum gehe, „überkommene Ordnungen" zu sichern, „Militärapparate als ein geeignetes Mittel zur Eindämmung gesellschaftlichen Wandels (einschließlich revolutionärer Bewegungen) zu begreifen" Sowjetische und amerikanische Führung in emanzipationsfeindlicher Komplicenschaft, entschlossen, die in ihrer militärischen Macht liegenden „Erzwingungsstrategien" nur noch konservativ-defensiv zur Sicherung des jeweils eigenen Imperiums zu gebrauchen, nicht mehr jedoch offensiv gegeneinander. Nach Auffassung kritischer Friedensforschung haben beide ein für allemal (und dies seit langen Jahren) auf die Zielsetzung verzichtet, den weltpolitischen Status quo gegeneinander zu verändern.
Wie versuchen die Autoren, diese grundlegende Prämisse ihrer gesamten wissenschaftlichen und politisch-praxeologischen Argumentation zu sichern? Da diese Frage später, im Zusammenhang mit der MBFR-Thematik, noch einmal aufzugreifen ist, soll sie an dieser Stelle nur kurz angesprochen werden. Wie üblich verzichten sie auf den Versuch einer diskursiven Begründung und operieren mit Evidenzbehauptungen, mit dem Mittel der Suggestion. Sie äußern die nicht näher erläuterte „Überzeugung", daß der zwischen Ost und West bestehende „Interessenantagonismus" (der in schöner Scheinkonkretion als „gesellschaftspolitische(r) Systemantagonismus" näher bestimmt wird) nicht „zwingenderweise als militarisierter ausgetragen werden muß. Sie halten es vielmehr für historisch relativ zufällig (doch im einzelnen Schritt für Schritt erklärbar), daß dieser Systemantagonismus im wesentlichen zu einer militärischen Konfrontation sich hocheskalierte, was zu einer Überlagerung des eigentlichen gesellschaftspolitischen Konfliktpotentials führte" Sie fordern die Unterscheidung grundlegender und nicht grundlegender Widersprüche im Ost-West-Konflikt. Grundlegend ist das „eigentliche" gesellschaftspolitische Konfliktpotential (welch eine Zauberformel!), das auf kommode, amilitärische Weise in öffentlicher „Auseinandersetzung über gesellschaftspolitische Alternativen" ausgetragen werden kann und soll. Nicht grundlegend, „historisch relativ zufällig" ist jegliche machtpolitisch-ideologische „Überlagerung" dieses, seiner Natur nach eigentlich friedlichen (wohl gesellschafts-philosophisch zu denkenden) Antagonismus. Da das geschickte Hantieren mit formalen Soziologismen nun einmal zum Handwerk des modernen Politologen gehört, sollte man nicht altmodisch sein und politisch allzu konkrete Begriffsinhalte erwarten. Warum also nicht von Systemen reden, ohne sie in irgendeiner Weise zu charakterisieren, warum sich nicht auf den Antagonismus von „Interessen" berufen, ohne sie je beim Namen zu nennen, warum nicht Grundlegendes von Nicht-Grundlegendem unterscheiden, ohne auch nur ein einziges inhaltliches Kriterium für diese Unterscheidung beizubringen?
Da ohne Begründung vorgetragene Überzeugungen entweder geteilt oder nicht geteilt werden können, aber keine wissenschaftliche Überprüfung zulassen, kann sich der Leser lediglich selbst, in Kenntnis der europäischen Nachkriegsgeschichte, die Frage stellen, welche Rechtfertigung die hier vorgenommene Entkoppelung von sicherheitspolitischer Dimension und „eigentlichem" Inhalt des Ost-West-Konflikts in der Realität findet. Wenn man sich vergegenwärtigt, in welcher Weise de facto die diplomatische und psychopolitische Instrumentierung militärischen Potentials seit Beginn des Kalten Krieges bis in die laufenden Ost-West-Verhandlungen hinein ein wesentliches, integrales Moment im Kalkül und Verhalten der einander gegenüberstehenden Regierungen und Bündnisse gewesen ist, muß eine derartige Trennung als willkür-liehe, unrealistische Konstruktion erscheinen. überall dort, wo die Autoren sich Problemen zuwenden, die durch den realen oder potentiellen politischen Gebrauch militärischer Macht im Kontext der ost-westlichen Sicherheitsdiplomatie gekennzeichnet sind, offenbaren sie eine zunächst schwer verständliche analytische Schwäche und Plumpheit, die nur aus einer fundamentalen Konzept-und Orientierungslosigkeit zu erklären ist. Dies gilt für die unglaublich naive und oberflächliche Darstellung und Wertung, die rückblickend die bisherige „entspannungspolitische Aktivität der sozialistischen Staaten" erfährt, wie für die gänzlich unpolitische Bewertung des de facto hochpolitischen MBFR-Vorhabens.
Die Autoren urteilen hier offensichtlich über eine Dimension der politischen Realität, die auf der Grundlage ihres Paradigmas überhaupt nicht sinnvoll zu analysieren ist und eigentlich ausgeblendet bleiben müßte. Sie konzentrieren sich unglücklicherweise auf ein Problem, das ihrer Auffassung nach wissenschaftlich nicht mehr als ein Scheinproblem sein kann. Aus friedenspolitischem Engagement sind sie gezwungen, sich mit Fragestellungen und Tatsachen herumzuschlagen, für die sie weder ernsthaftes wissenschaftliches Interesse noch intellektuelle Sensibilität besitzen. Das Ergebnis ist eine Beweisführung, die vor allem durch ihr praktisch-polemisches Interesse bestimmt ist: Suggestion so viel wie möglich, empirische Analyse so viel wie im Hinblick auf Außenwirkung unbedingt nötig. Politische Motivation und paradigmatische Trübung bewirken zusammen einen Modus der Realitätsprüfung, dessen „autistische" Züge unschwer zu erkennen sind.
IV. „Analytischer Befund" und widerstrebende Praxis — ein Dilemma kritischer Friedensforschung
Die von kritischer Friedensforschung zur Erklärung der Rüstungsdynamik im Ost-West-Konflikt beigebrachten Argumente verfolgen die Funktion, die herangewachsenen militärischen Potentiale als Produkt eines Rüstungswettlaufs der Staaten „mit sich selbst" erscheinen zu lassen. Zieht man die Konsequenz dieser Darstellung, so ging und geht von diesen Potentialen keinerlei außengerichtete objektive Bedrohung aus. Die generelle Nicht-Anwendbarkeit militärischer Macht im Ost-West-Verhältnis erscheint bewiesen. Man erliegt der Suggestion, es gäbe — unabhängig von der Wirkung militärischer Abschreckung — irgendeine realpolitische Struktur, die auch bei Entstehung eines militärischen Un-gleichgewichts dessen an und für sich mögliche politische oder militärische Effektuierung mit hinreichender Sicherheit ausschlösse. Daß kritische Friedensforschung das Vorhandensein einer derartigen Struktur nur suggerieren, nicht jedoch belegen kann, erklärt sich einfach daraus, daß diese nicht existiert, ehe nicht die gerade anlaufenden Rüstungskontroll-und Kooperationsverhandlungen in Genf, Wien und Helsinki substantielle und tragfähige Ergebnisse bringen. Bis dahin wird kritische Friedensforschung fortfahren müssen, die Realität zu stilisieren und sie — im Vorgriff auf die von ihr angestrebte transnationale Friedensordnung — im Sinne einer objektivierten Wunschvorstellung von Realität zu interpretieren.
Es liegt auf der Hand, daß eine derart suggestiv verfahrende Argumentation den Vorwurf verzerrter Realitätswahrnehmung, das heißt wissenschaftlicher Unzulänglichkeit, fast ebenso leicht auf sich ziehen wird, wie sie ihn zurückweisen kann. Gegen eine Falsifizierung ihrer Aussagen hat sich kritische Friedensforschung vollständig immunisiert. Gerät ihr eigener analytischer Befund in Widerspruch zur Wirklichkeit, so erlaubt diese Abweichung noch keinerlei Rückschluß auf die analytische Qualität ihrer Beweisführung, sondern zeigt allenfalls, daß es mit der praxeologischen Vermittlung des Befundes hapert
Da ihre wissenschaftlichen Bemühungen nach eigenem Verständnis einen bewußten politisehen Bezug haben müssen, wird wissenschaftlicher „Erfolg oder Mißerfolg auch immer im Lichte der tatsächlich betriebenen Politik interpretiert werden. Wissenschaftler können die Selbstkorrektur (und damit gewöhnlich auch den Fortschritt) ihrer Forschung und Disziplin betreiben. Ob ihre Analysen ... auf fruchtbaren Boden fallen, ist nur zum Teil von ihrer eigenen Arbeit abhängig"
Diese Feststellungen sind sicherlich ebenso zutreffend wie geeignet, jedes Produkt wissenschaftlichen Utopismus vor notwendiger und berechtigter Kritik zu bewahren. Widerlegt die Entwicklung der Politik den eigenen Vorgriff in die Zukunft, so fehlte dem Boden die Fruchtbarkeit. Die Fruchtbarkeit des Samens wird unterstellt — mag auch die dem Vorgriff zugrunde liegende Analyse unvollständig, unausgewogen, unlogisch, kurzum unrealistisch gewesen sein und die wesentlichen Determinanten der Politik verfehlt haben. Ausweis und Kontrolle der wissenschaftlich-analytischen Qualität kritischer Friedens-forschung können nach Lage der Dinge offenbar nur im praxeologischen Bereich, bei der von ihr entwickelten Transformationsstrategie, ansetzen.
Da es deren Aufgabe ist, die gegenwärtige politische Realität in die intendierte neue Ordnung zu überführen, hat sie die wissenschaftliche und politische Berechtigung der skizzierten suggestiven Hereinnahme möglicher Zukunft in die Erklärung von Vergangenheit und Gegenwart plausibel zu machen. Die Begründung für die Realisierbarkeit des prognostizierten und geforderten politischen Transformationsprozesses hat nicht nur die Praktikabilität der intendierten Friedensordnung auszuweisen und die geschilderte eigenwillige Darstellung des Ost-West-Konflikts zu rechtfertigen, sondern die gesamte Kritik kritischer Friedensforschung an herkömmlicher Sicherheitspolitik zu tragen. Nur die begründete Aussicht auf eine radikal veränderte Zukunft kann eine radikale Kritik gegenwärtiger Praxis, die zweifellos noch nicht die schlechteste aller Welten darstellt, wissenschaftlich und politisch legitimieren. Wenn im folgenden die spezifische Rolle untersucht wird, die die Autoren dem MBFR-Projekt im Rahmen ihrer Transformationsstrategie zuweisen, so sollte man diese forschungsstrategisch bedingte gewaltige Beweislast nicht aus dem Auge verlieren. Die Rüstungskontrollprogrammatik kritischer Friedensforschung ist in der Absicht entworfen, in Europa einen möglichst rasch ablaufenden, dynamischen Entmilitarisierungsprozeß in Gang zu setzen, der die Überflüssigkeit und Unsinnigkeit gängiger Sicherheitspolitik erweisen soll. Im Rahmen dieser Zielsetzung wird die instrumentelle Bedeutung von MBFR gesehen. Ob dies die angemessene Perspektive ist oder ob hier die skizzierte Beweislast problemfremde Bewertungskriterien hervor-treibt, bleibt zu prüfen.
Daß der eigene analytische Befund offenbar nicht ausreicht, um allein eine hinreichend realistische Transformationsstrategie zu tragen, so daß die Autoren aus Gründen der „Praxis" auf das „Paradigma der offiziellen Politik" zurückgreifen, „so falsch die Handlungsperspektiven sind, die sich aus .. . (ihm) ergeben" ist bezeichnend. Allerdings erweist sich dieser Rückgriff als vordergründige Konzession, die die Behandlung von MBFR allenfalls formal, nicht inhaltlich-analytisch beeinflußt. An Belegen für diese Behauptung ist kein Mangel:
V. MBFR als Vehikel unilateraler Transformation?
1. Entpolitisierung als analytisches Prinzip
Da wird ernsthaft geschrieben, die „langfristige eigentliche Aufgabe des MBFR-Projekts, den Abbau der sich in Formen der Hochmilitarisierung vollziehenden intersystemaren Konfrontation zu gewährleisten", sei über dem Versuch der Bundesregierung und ihrer Verbündeten „ins Hintertreffen" geraten, den Beginn der multilateralen Ost-West-Sicherheitsverhandlungen an eine sie befriedigende vorherige Regelung des Berlin-Problems und der deutsch-deutschen Beziehungen zu binden. Die „Hochmilitarisierung" ist diesen Analytikern offensichtlich etwas von Politik völlig Unabhängiges; ihr Abbau setzt nicht etwa die Ausräumung der die „intersystemare Konfrontation" verschärfenden und symbolisierenden politischen Streitfragen voraus, sondern wird im Gegenteil durch sie behindert. Die zitierte Erfahrung, daß in der Vergangenheit Pläne über Rüstungskontrollmaßnahmen daran gescheitert seien, daß sie mit politischen Junktims verknüpft worden sind führt die Autoren anscheinend dazu, MBFR a priori als unpolitisches Unternehmen bewahren zu wollen, um Schaden von ihm zu wenden.
Diese Abstinenz von politischen Fragestellungen, Beurteilungen und Bewertungen hat kuriose Folgen:
Die kurioseste liegt wohl darin, daß die Autoren übersehen, in wie entscheidender Weise die Realisierbarkeit ihrer eigenen, durch innergesellschaftliche Dynamik zu tragenden Rüstungskontrollstrategie von den politischen Ergebnissen der KSZE-und MBFR-Verhandlungen abhängt. Was als perspektivische Verlängerung in eine unbekannte Zukunft abgewertet wird, die das MBFR-Projekt „zum diplomatischen Allzweck-Instrument" machen würde, stellt in Wirklichkeit nur erste Schritte dar, um auch für den Warschauer Pakt-Bereich die politisch-vertragsmäßigen und innergesellschaftlichen Voraussetzungen zu schaffen, ohne die überhaupt keine auf gesellschaftlicher Selbstkontrolle basierende Rüstungskontrollstrategie vorstellbar ist. Die den Autoren offenbar verborgenen politischen Implikationen ihrer Rüstungskontrollprogrammatik sind mit ihrer bewußt unpolitischen Behandlung des MBFR-Themas logisch nicht zu vereinbaren. Freilich wird dieser Widerspruch nicht allzu deutlich, solange die Darstellung der entwickelten neuen Rüstungskontrollstrategie intuitiv-impressionistisch zu halten ist und jeder ernsthaften Realisierbarkeits-Analyse enthoben bleibt.
Ein zumindest gleichwertiger Ausweis unpolitischer Analyse ist das den MBFR-Verhandlungen zugeordnete Erfolgskriterium. Es beinhaltet die Konsequenz der angeblichen Erfahrung vergangener Rüstungskontrollverhandlungen, „daß das Prinzip der Gleichgewichtig-keit und Symmetrie in der Tendenz einer in die Verhandlungen eingebauten Obstruktion möglicher Erfolge gleichkommt" Die Autoren konstatieren, daß im Zusammenhang mit MBFR in Ost und West keine Überein-stimmung über die Grundkriterien eines gleichgewichtigen Zustandes, keine Überein-stimmung über Symmetrie und demzufolge auch keine Übereinstimmung über die Ausgewogenheit einer möglichen Truppenreduzierung bestehe. Da man sich trotzdem ausgewogene und symmetrische Reduzierungen zum Ziel setze, sei mit dieser Prämisse, „die maßgebliche unilaterale Maßnahmen der einen oder anderen Seite als Vorgabe für ein gesamteuropäisches Rüstungskontrollabkommen ausschließt", sichergestellt, daß MBFR kurzfristig zu keinem „Erfolg" führen könne, sondern eine langwierige Angelegenheit darstelle
Erfolgskriterium für MBFR hat nach Ansicht der Autoren primär Umfang und Schnelligkeit der Entmilitarisierung zu sein. Zusätzliche politische Erfolgskriterien bleiben außer Betracht. Diese Entmilitarisierung ist durch eine einseitige, nicht nur symbolische, sondern „effektive" Abrüstungsvorgabe in Gang zu setzen, für deren Leistung nach Meinung kritischer Friedensforschung nur die NATO in Frage kommen kann, da im Hinblick auf den (in Mitteleuropa konventionell überlegenen [P. S. ]) Warschauer Pakt bereits die westliche Forderung nach asymmetrischen Reduzierungen „von der Gegenseite als Zumutung hätte empfunden werden müssen" Wer wollte da einseitige Vorgaben der Gegenseite erwarten!
Man lese die zitierte Passage als Illustration für eine vollendet polemische Verwendung des Begriffs Realismus, der hier durchgehend einseitig die bisherige sowjetische MBFR-Verhandlungsposition deckt: Das NATO-Verhandlungsziel, ein in Mitteleuropa vorhandenes regionales militärisches Ungleichgewicht zu ihren Gunsten zu verringern, führt zu „offensichtlichen Ungereimtheiten" einer „rein militärischen Betrachtungsweise" und ist für die sozialistischen Staaten „von vornherein unannehmbar" Die offensichtlich nicht minder militärische Betrachtungsweise des Warschauer Pakts, der seine militärische Überlegenheit gegenüber Westeuropa konservieren möchte, ist demgegenüber von Ungereimtheiten offensichtlich frei. „Realismus" besteht darin, ihm diese Überlegenheit zuzugestehen und sie durch einseitige Abrüstungsvorgaben noch zu verschärfen.
Dem westlichen Bündnis diese Vorgabe zu empfehlen, fällt den Autoren darum leicht, weil sie sich von der „Beschränktheit des herkömmlichen , arms-control’-Denkens" vollständig gelöst haben. Gegenüber den Kriterien einer „echten" Rüstungskontrollpolitik sind ihnen die Probleme „der Symmetrie und Gleichgewichtigkeit von Maßnahmen, die Probleme von Inspektion und Verifikation und die Probleme von geographisch oder politisch definierten Rüstungskontrollzonen und dergleichen mehr" ... „von sekundärer Natur" Abgesehen davon, daß es gerade diese Probleme sind, über die nach Auffassung aller Beteiligten in Wien zu verhandeln sein wird, stellt sich die Frage, wie die Autoren diese bemerkenswerte Behauptung begründen.
Der de facto maßgebliche Grund wurde oben bereits erkennbar: die Bedeutung derartiger „ herkömmlicher" Rüstungskontroll-Kriterien muß geleugnet oder verkleinert werden, weil sie jener einseitigen Abrüstungsvorgabe entgegenstehen, die die Autoren für unbedingt notwendig halten, um einen Prozeß wechselseitiger, dynamischer Rüstungsverminderung in Gang zu setzen. Die Zielsetzung ist hier der Vater der Bewertung.
Eine weitere Begründung formulieren die Autoren ausdrücklich selbst, wenn sie betonen, daß eine derartige Politik einseitiger Vorgaben „selbst unter Zugrundelegung herkömmlicher sicherheitspolitischer Kriterien keinerlei Risiken enthält, da die Zerstörungskapazität der Militärapparate ohnehin längst übersättigt ist. Außerdem gibt es für das Zentrum Europa, allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz, keine Militärstrategien mehr, welche die Substanz (Bevölkerung, Produktionsstätten, Umwelt) dieses politischen und geographischen Bereichs während eines militärischen Konflikts unberührt ließe(!)" Zum Verständnis des letzten Satzes, dessen Formulierung Rätsel aufgibt, muß wohl die von den Autoren im Anhang angeführte Weizsäcker-Studie herangezogen werden. Dieser Studie zufolge ginge angeblich die Bundesrepublik „aus einer noch so geringen konventionellen (sic) wie nuklearen Auseinandersetzung als ein verwüstetes, verkrüppeltes und unbewohnbares Land hervor“ Abgesehen davon, daß diese Aussage objektiv falsch ist, gibt sie auch die Weizsäcker-Studie falsch wieder, die dergleichen nirgendwo behauptet. Richtig wiedergegeben wird die Behauptung der Studie, „daß die Bundesrepublik weder mit konventionellen noch gar nuklearen Mitteln zu verteidigen ist" mag man auch über die ihr für diese Aussage zugesprochene „wissenschaftliche Genauigkeit" sehr unterschiedlicher Meinung sein. „Herkömmlicher" sicherheitspolitischer Analyse unverständlich ist, wie es die Autoren fertigbringen, die akzeptierte Gültigkeit dieses Urteils mit dem unmittelbar vorher geäußerten Vertrauen auf die Abschreckungswirkung der „ohnehin" übersättigten Zerstörungskapazität der Militärapparate zu vereinbaren. Es bedeutet schon ein Kunststück, die Anwendbarkeit des nuklearstrategischen Potentials der USA zu verneinen, sich jedoch zugleich auf seine sicherheitsgarantierende Funktion zu berufen.
Die Unbekümmertheit, mit der hier widersprüchlich argumentiert wird, läßt vermuten, daß gar keine ernsthafte Risikoanalyse beabsichtigt ist. Es geht lediglich um eine Rationalisierung des Vorschlags einseitiger Abrüstungsvorleistung, um eine möglichst mühelose Abwehr skeptischer Einwände von Seiten derer, die noch nicht wissen, daß Sicherheitspolitik im Grunde nur mit Scheinproblemen umgeht. Was kümmert es kritische Friedens-forschung, wenn die vorgebliche „Zugrundelegung herkömmlicher sicherheitspolitischer Kriterien" zur Karikatur sicherheitsstrategischer Analyse gerät?
Auf vergleichbarem Niveau bewegt sich ein weiterer Begründungsversuch für die behauptete Risikolosigkeit einseitiger Abrüstungsvorleistungen: Ohne auch nur den Schatten eines empirischen Belegs für ihre Überzeugung beizubringen, formulieren die Autoren, „daß jene Nation und jene Staatengruppe, die eine derartige echt friedensfördernde Rüstungskontrollstrategie verfolgt, einen viel größeren diplomatischen Spielraum und eine viel größere politische Manövrierfähigkeit erringen würde, als es ihr im Falle herkömmlicher Handlungsmodelle möglich wäre. Auszugehen ist davon, daß jene Seite, die die Initiative für eine national durchgeführte Rüstungskontrollpolitik ergreift, mit großer Wahrscheinlichkeit die eigenen Verbündeten und insbesondere auch die Gegenseite in einen echten Zugzwang setzt — eine Situation, die von der Diplomatie, bei geschickter Inszenierung, meisterhaft politisch genutzt werden könnte."
Diese optimistischen Behauptungen übernehmen im Argumentationszusammenhang die entscheidende Funktion, jene „friedenspolitische Dynamik" plausibel zu machen, die die wesentliche Voraussetzung für die suggerierte Realisierbarkeit der von den Autoren vorgeschlagenen Transformationsstrategie darstellt. Um so unverständlicher bleibt ihre politikferne Abstraktion. Woher rührt die Erwartung, eine autistisch geprägte Diplomatie, die sich bisher regelmäßig in die „Sackgassen" herkömmlicher Rüstungskontrollpolitik verrannte, sei zu derartigen meisterhaften Inszenierungen befähigt? Welcher Art ist jener echte „Zugzwang", in den „insbesondere auch die Gegenseite" zu setzen ist? Was ist sein konkreter politischer Ansatzpunkt? Immerhin haben sich seit 1966 die SACEUR für die Verteidigung Mitteleuropas verfügbaren NATO-Streitkräfte einseitig erheblich verringert, ohne daß dieser Zugzwang auch nur spürbar wurde.
Diese Fragen stellen heißt verdeutlichen, wie unzulänglich und unsinnig zwangsläufig jeder Versuch geraten muß, die Aussicht auf eine interaktionsgetragene, durch einseitige Vorleistung anzustoßende Abrüstungsdynamik (und die Risikolosigkeit dieser Vorleistung) zu begründen, ohne sich auf eine Analyse der politischen und militärischen Absichten und Optionen der in Europa engagierten Mächte, d. h. auf eine politisch-militärische Gefährdungs- und Risikoanalyse überhaupt einzulassen. Ohne derartige Analyse bestimmen zu wollen, wie der Warschauer Pakt auf weitere einseitige Reduzierungen des in Europa stationierten NATO-Streitkräftepotentials reagieren würde, ist schlicht unseriös.
2. Zur Problematik einseitiger Abrüstungsvorgaben
Ohne die hier von den Autoren vermiedene Betrachtung und Bewertung sowjetischer Weststrategie und der Funktion, die in ihrem Rahmen militärisches Potential erfüllt und zukünftig erfüllen könnte, nachholen zu wollen, sind doch einige Anmerkungen erforderlich: Eine Vielzahl von Zeugnissen deutet darauf hin, daß die sowjetische Führung und ihre Verbündeten der Überzeugung sind, die NATO-Staaten vor allem durch zunehmende militärische Stärke in den Entspannungsprozeß hineingezwungen zu haben. Sie ordnen ihrer Rüstungs-und Militärpolitik also offensichtlich außenpolitisch positive Leistungen und Funktionen zu. Weit davon entfernt, „Erzwingungsstrategie''und Friedensförderung für unvereinbar zu halten, wie dies kritische Friedensforschung tut, betrachten sie militärische Rüstung als gesetzmäßig geforderte Komponente ihrer globalen und regionalen Politik.
Ohne ihnen übertriebenes Gewicht beizumessen, sollte man in diesem Zusammenhang die folgenden Wertungen bedenken, die im vergangenen Jahr im Militärverlag der DDR publiziert worden sind „Wir heben noch einmal hervor: Die Überlegenheit der sozialistischen Militärmacht ist eine entscheidende Grundlage für die initiativreiche politische Offensive unserer von der Sowjetunion geführten Staatengemeinschaft und ein spezifischer Ausdruck für den bestimmenden Einfluß des sozialistischen Weltsystems auf die geschichtliche Entwicklung in unserer Epoche. Die militärische Macht des Sozialismus garantiert wesentlich den weiteren erfolgreichen Vormarsch der Kräfte des gesellschaftlichen Fortschritts und gewährleistet den Frieden und die Freiheit der Völker." „Die von der Sowjetunion geführte sozialistische Staatengemeinschaft entwickelt die überlegene Kraft ihrer Vereinten Streitkräfte mit dem Ziel, künftig alle Versuche des aggressiven Imperialismus, den Gang der Geschichte gewaltsam aufzuhalten, bereits im Keime erstikken zu können. Die fortschrittliche Menschheit soll damit die Möglichkeit erhalten, den geschichtlich notwendigen Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft relativ friedlich, mit einem Minimum an Opfern und Leiden, zu vollziehen." Mag man über die detaillierte Bewertung dieser allgemeinen programmatischen Sätze unterschiedlicher Ansicht sein, in jedem Falle lassen sie wenig Zweifel daran, daß die politisch offensive Instrumentierbarkeit militärischer Stärke verstanden und gesucht wird
Sie erweisen, daß die oben zitierte Überzeugung kritischer Friedensforschung von der „historisch relativ zufälligen" Militarisierung des „eigentlichen gesellschaftspolitischen Konfliktpotentials" die Funktion bewaffneter Macht im historisch gewachsenen Selbstverständnis kommunistischer Politik verkennt.
Eine Betrachtung der bisherigen sowjetischen Position in der Frage von Reduzierungsverhandlungen bestärkt dieses Urteil: Entscheidendes Element dieser Position ist die dezidiert vertretene Auffassung, „daß eine Reduzierung der Streitkräfte von Staaten, die den mächtigsten militärischen Gruppierungen angehören, nicht nur ein regionales europäisches Problem, sondern auch ein globales Problem ist. Es handelt sich um die Verringerung von Streitkräften, die unmittelbar mit militärischen Systemen und militärisch-strategischen Problemen von Weltbedeutung verbunden sind"
Es ist diese weltpolitische und globalstrategische Dimension europäischer Rüstungskontrolle, die in der hier kritisierten Studie, trotz offensichtlicher und von sowjetischer Seite wiederholt betonter Bedeutung, überhaupt nicht angesprochen, geschweige denn analytisch verarbeitet wird. Europa ist den Autoren anscheinend ein abstrakt einheitliches, politisch konturenloses, aus allen Umweltbezügen herausnehmbares Gebilde. Die sich hierin offenbarende, unrealistische Verzerrung ihres analytischen Bezugsrahmens stellt die wohl gravierendste Schwäche der Arbeit dar.
Übergangen wird, daß die sowjetische Führung vermutlich vor allem deswegen auf einer strikten Beibehaltung ihrer gegebenen militärischen Überlegenheit in Zentraleuropa besteht („Prinzip der gleichen Sicherheit ohne Benachteiligung eines Teilnehmers" ), weil sie dieses regionale Ungleichgewicht als unverzichtbare Komponente des globalen Gleichgewichts gegenüber ihrem bleibenden Hauptwidersacher, den USA, betrachtet, denen sie das militärische Potential der NATO und Chinas zuzurechnen scheint
Die unbeschadet aller gesamteuropäischen Entspannungs-und Kooperationsinitiativen aufrechtzuerhaltende konventionelle Angriffs-option des Warschauer Pakts gegenüber Westeuropa gibt der sowjetischen Führung ein gewichtiges, vielleicht das gewichtigste, Druckmittel in die Hand, um im Falle außereuropäischer Krisenlagen die amerikanische Politik zu beeinflussen.
Ein vielleicht nicht unerwünschter politischer Nebeneffekt der dazu notwendigen regionalen militärischen Überlegenheit liegt in dem politischen Schatten, den diese auf das sicherheitsmäßig unverändert schwache und bündnisabhängige Westeuropa wirft. Sicherlich ist sie unter den gegebenen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen weder militärisch noch politisch zu effektuieren. Der Schatten „wiegt“ gegenwärtig leicht. Er könnte jedoch schwerer wiegen, wenn sich diese Rahmenbedingungen im Zuge fortschreitender europäischer Entspannungspolitik im Sinne einer einseitigen militärischen Schwächung und politischen Erosion des westlichen Bündnisses verändern würden.
Wenn kritische Friedensforschung überhaupt nicht zu begreifen scheint, daß ein regionales militärische« Übergewicht unter diesen — gar nicht so unwahrscheinlichen — Voraussetzungen auf vielfältige Weise wirksam zu instrumentieren wäre, so findet dies eine paradoxe Erklärung: Die scharfe und klare politische und militärische Konfrontation der Bündnisse in Europa während der Zeit des Kalten Krieges schuf eine Lage, die dort jeden Versuch, militärische Macht offensiv politisch umzusetzen, zum Mißerfolg verurteilte. Jede Form direkter Pression und Krisenmanipulation engagierte unmittelbar die Führungsmacht des gegnerischen Bündnisses (und war deshalb in hohem Maße eskalationsträchtig) und bewirkte seine innere politische und militärische Stärkung. Obgleich kritische Friedensforschung nach Kräften die Ablösung der Politik des Kalten Krieges betreibt, scheint sie unreflektiert davon auszugehen, daß diese politischen und strategischen Strukturbedingungen des Kalten Krieges, die die Anwend-barkeit militärischer Macht für Europa aus-schlossen und noch ausschließen, unverändert wirksam bleiben werden. Ihre Forschung nach dynamischer Überwindung des Abschrek-kungssystems hindert sie somit nicht daran, auf der Grundlage einer (von ihren realhistorischen Voraussetzüngen abgelösten) für selbstverständlich genommenen Statik der Abschreckungswirkung zu argumentieren. Auch in dieser fundamentalen logischen Inkonsistenz ist eine schwerwiegende analytische Schwäche zu sehen.
Nicht anders als „strategische Forschung" wird kritische Friedensforschung sich von der Phantasielosigkeit lösen müssen, die unter den einfacheren Verhältnissen zurückliegender Jähre für politische Analyse nicht nur erlaubt; sondern angemessen gewesen sein mag.
Wenn vor kurzem der sowjetische Botschafter in der Bundesrepublik, Valentin Falin, vor sachverständigem Publikum seine Vorstellung einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung in ausdrückliche Analogie zum amerikanischen System der OAS stellte und diese für Westeuropäer befremdende Perspektive mit dem sowjetischen Sicherheitsbedürfnis rechtfertigte, so spricht auch dies gegen die Vermutung, daß es selbst einer meisterhaft agierenden westeuropäischen Diplomatie in Zukunft gelingen könnte, der Sowjetunion gegenüber durch einseitige Abrüstungsvorleistungen „einen viel größeren diplomatischen Spielraum und eine viel größere politische Manövrierfähigkeit" zu erringen, als sie bisher hat. Wahrscheinlicher ist, daß eine derartige Politik, die die Kriterien herkömmlicher Sicherheitspolitik risikolos in den Wind schlagen zu können glaubte, Westeuropa in jene „strukturelle Abhängigkeit" führen würde, die kritische Friedensforschung in anderen Weltgegenden mit Aufmerksamkeit analysiert, in unseren Breiten jedoch anscheinend a priori für unmöglich hält.
Ein letzter kritischer Punkt wurde oben bereits angesprochen Obgleich die Autoren ausdrücklich ankündigen die Bedingungen für die Erfüllbarkeit der friedenspolitischen Kriterien für ihre Auffassung von Rüstungskontrollpolitik zu behandeln, geschieht eben dies nicht: Kernstück ihrer Strategie und Prinzip der von ihnen als erreichbar suggerierten Friedensdynamik ist die „Rückkoppelung" von Abrüstungsschritten „mit innenpolitischen Interessengruppierungen" Kontrolle von Abrüstungsmaßnahmen soll im wesentlichen auch eine Angelegenheit gesellschaftlicher Selbstkontrolle werden. „Solche Selbstkontrolle kann im nationalen Rahmen natürlich nur dann wirkungsvoll sein, wenn eine Politik der selbst auferlegten Rüstungskontrollbeschränkungen interessenbesetzt wird, das heißt, wenn eine derartige Politik eigene Interessengruppierungen hinter sich zu vereinigen vermag. Letzteres wird um so einfacher möglich sein, je mehr die gesellschaftspolitische Alternative von herkömmlicher Sicherheits-und Rüstungspolitik und einer nicht mehr auf Rüstungs-und Militärapparaten basierenden Friedenspolitik deutlich in das Bewußtsein der Öffentlichkeit eindringt, und insofern die enormen sozialen Kosten der einen und der mögliche soziale Nützen der anderen als konkrete Orientiefungspunkte ih die Interessendefinition konkreter gesellschaftlicher Gruppierungen und ihrer Repräsentanten eingeht."
Die sich aufdrängenden Fragen, um welche „Interessengruppierungen", welche „Repräsentanten" und welche „Öffentlichkeit" es sich im Hinblick auf die Staaten des War-schauer Pakts handeln könnte und inwieweit man von ihnen eine Kontrolle von Partei und Staat im Sinne von Gegenmacht erwarten dürfte werden weder gestellt noch beantwortet, Die Autoren verzichten, vermutlich bewußt, darauf, ihre Transformationsstrategie auf die Bedingungen ihrer Machbarkeit hifi zu analysieren. Dies ist aus mehreren Gründen verständlich. Die Vorstellung einer Rückkopplung von Verifikation und Kontrolle an das Eigeninteresse gesellschaftlicher Gruppierungen und an die Wirksamkeit einer autonom handlungsfähigen politischen Öffentlichkeit entstammt der Anschauung politisch-gesellschaftlicher Systeme liberaler westlicher Demokratien. In den Staaten des Warschauer Pakts findet eine derartige Vorstellung bisher überhaupt keine politisch-gesellschaftliche Basis. Diese müßte erst geschaffen werden, andernfalls fände die von der kritischen Friedensforschung suggerierte Rückkopplung weder soziale Träger noch eine staatsrechtliche oder soziale Existenzberechtigung. Dieses Basis zu schaffen, bedingt jedoch nach dem bisherigen Verständnis der kommunistischen Führungen nichts weniger als Konterrevolution.
Vermutlich liegt es an dieser unangenehmen, aber zwingenden politischen Implikation ihres „gesellschaftlichen" Abrüstungsansatzes (die die Autoren in ungewollte Nachbarschaft zu politisch konservativen Forderungen nach einem inneren Wandel „des" Sozialismus führen muß), daß sie in unverbindlicher Abstraktion verbleiben und ihre Strategie auf die Fiktion einer politisch-gesellschaftlichen Struktursymmetrie offener und staatssozialistischer Gesellschaften gründen. Diese, jedem empirisch-analytischen Befund widersprechende Fiktion ersetzt die an und für sich geforderte Realisierbarkeitsanalyse. Die vorgeblich konkreten und realistischen „first steps" ihrer Abrüstungsprogrammatik erweisen sich, gemessen an der heutigen Wirklichkeit, als ebenso unpolitisch abstrakt wie unrealistisch. Die Autoren formulieren ihre Abrüstungsstrategie als Bedingung der Möglichkeit einen echten Friedensordnung (deren politische Qualität — als abstrakte Negation des Gegebenen — noch unanschaulicher bleibt als die skizzierte „Friedensdynamik"); aber sie ignorieren die Bedingung der Möglichkeit dieser Strategie selbst, das heißt, deren politische Verknüpfung mit der gegebenen Realität.
Auf die Behandlung des MBFR-Themas wirkt sich diese wissenschaftliche Abkapselung von der Wirklichkeit besonders widersinnig aus. Die Autoren verzichten darauf, das in diesen Verhandlungen liegende, in ihrem Interesse nutzbare Potential aufzugreifen. Immerhin könnte MBFR die Möglichkeit bieten, durch die vertragliche Vereinbarung von Beschränkungen gegenüber jeder offensiven Instrumentierung militärischer Macht in Mitteleuropa erste Voraussetzungen für die von kritischer Friedensforschung angestrebte gesellschaftliche Selbstkontrolle zu schaffen. Die enge Fixierung der Autoren auf den quantitativen Abrüstungsaspekt steht jedoch offenbar dem Nachdenken über derartige politische Erfolgskriterien für MBFR entgegen.
VI. Schlußbemerkung
Um die Vielzahl der vorgehend aufgewiesenen Ungereimtheiten und Unzulänglichkeiten zu erklären, die sich insgesamt zu einer systematischen Problemvermeidungsstrategie fügen, bleibt nur das spezifische politische Engagement kritischer Friedensforschung: Jene „spezifische methodische Blickwendung'', von der Fritz Vilmar in seinem . Systematischen Entwurf zur kritischen Friedensforschung’ schreibt . weg von der weitgehend . außenpolitischen'Fixierung der Kriegs-und Friedenswissenschaft auf den äußeren Feind, hin zu den Feindschaften und Feindideologien produzierenden aggressiven Tendenzen im eigenen Gesellschaftssystem selbst. Dies wiederum nicht im Sinne einer Leugnung oder Verharmlosung aggressiver Tendenzen und Projektionen in anderen (konkret: den . östlichen') Gesellschaftssystemen, sondern lediglich aufgrund der praxeologisch realistischen Voraussetzung, daß Friedensforschung sich jeweils vor allem an diejenigen Addressaten wenden muß, die von ihr tatsächlich mit Informationen und im politischen Willensbildungsprozeß erreicht werden können."
Am Maßstab wissenschaftlicher Kritik gemessen, vertritt kritische Friedensforschung — so wie sie sich bisher darbietet — einen zwar äußerlich theoretisch imponierend gewandeten, aber im Kern nach wie vor unkritischen Pazifismus, der überzeugt die Notwendigkeit einseitiger Abrüstung propagiert, ohne die wahrscheinlichen oder möglichen Konsequenzen einer derartigen Politik ernsthaft zu erwägen und offen anzunehmen. Sie bestätigt die Gültigkeit ihrer eigenen, als Eingangsmotto zu dieser Kritik gewählten Diagnose.