Besuche, die Wissenschaftler aus den osteuropäischen Ländern studienhalber in der Bundesrepublik unternehmen, verlieren allmählich ihren Pioniercharakter. Nicht für alle, aber für viele von ihnen ist es — achtundzwanzig Jahre nach Kriegsende — der erste Aufenthalt im Westen. Die Lebensläufe der heute vierzig-bis sechzigjährigen Hochschullehrer und wissenschaftlichen Mitarbeiter an Forschungsinstituten, die als Gäste aus Polen, der Tschechoslowakei, aus Ungarn und Jugoslawien, Rumänien und Bulgarien unser Land besuchen, weisen einschneidende, existenz-verändernde Fakten in den Jahren 1939— 1945 auf, oder aber Lücken, was unausgesprochen dasselbe besagt.
Auch für die deutschen Kollegen, die in umgekehrter Richtung zu Vortrags-und Informationsreisen in jene Länder fahren, ist dies meist ein erster Besuch. Anlaß und Ziel dieser Besuche ist der wissenschaftliche Erfahrungs-und Gedankenaustausch mit Kollegen; dennoch sind für den einzelnen dabei eine Fülle widersprechender Gefühle, Vorurteile, ungelöste Probleme und Erwartungen im Spiel, die selten artikuliert werden, um die man aber wissen sollte. Die Besucher erwarten von uns keine Bekenntnisse der Schuld oder des Bedauerns, können es aber nur schwer begreifen, daß die Vergangenheit scheinbar keine Spuren in dem Bewußtsein der ihnen hier — im allgemeinen durchaus freundlich — begegnenden Menschen hinterlassen hat. Hinzu kommt, daß der osteuropäische Besucher ungleich besser über die Bundesrepublik informiert ist, über ihre politischen Probleme, ihre Wirtschafts-und Sozialstruktur, über den Stand der Forschung und des Ausbildungswesens und die Situation an unseren Universitäten, als dies umgekehrt der Fall ist. Der Wissensstand bei uns über die entsprechenden Fragen der Länder Osteuropas ist, Spezialisten natürlich ausgeschlossen, trotz der Bemühungen der Massenmedien und trotz der umfangreichen Zeitschriften-und Buchliteratur, ungenügend.
Je größer die Zahl derer ist, die hinüber und herüber reisen, desto schneller werden die Barrieren abgebaut werden, desto zügiger wird der angebahnte Prozeß der Normalisierung voranschreiten, zumal jeder einzelne Besucher als Multiplikator der gemachten Erfahrungen innerhalb seines Lebensbereichs gelten kann. Eine Rolle spielt dabei auch der Faktor Zeit: die junge Generation wird durch die aufgezeigten Probleme kaum noch belastet, obwohl sie sich in gewisser Hinsicht vererben — in einigen Ländern mehr als in anderen, am meisten in Polen, dessen Bevölkerung während des Krieges am schlimmsten gelitten hat.
Der wissenschaftliche Austausch vollzieht sich in der Bundesrepublik nicht zentralisiert und ist infolgedessen zahlenmäßig nicht voll erfaßbar. Die Hochschulen, die ihnen angehörenden Wissenschaftler, studentische Organisationen, Gesellschaften und Fachverbände pflegen in eigener Initiative Kontakte zu den osteuropäischen Ländern. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft und die Westdeutsche Rektorenkonferenz haben seit Jahren offizielle Beziehungen zu den ihnen entsprechenden Institutionen. Den personenintensivsten Austausch mit den sozialistischen Ländern pflegen aus öffentlichen Mitteln im Rahmen ihrer sich auf alle Länder erstreckenden Aktivitäten der Deutschen Akademische Austauschdienst und die Alexander von Humboldt-Stiftung in gegenseitiger Abstimmung und Aufgabenteilung.
Im folgenden soll ein Überblick über die Erfahrungen und die Entwicklung des Wissenschaftlichen Austausches des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) mit den osteuropäischen Ländern gegeben werden. Er bezieht sich auf die Länder Jugoslawien, Polen, Bulgarien, Tschechoslowakei, Rumänien und Ungarn. Uber den Austausch mit der Sowjetunion, der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft wahrgenommen wird, wird an anderer Stelle in diesem Heft berichtet.
Der DAAD hat folgende Förderungsmöglichkeiten: — Vergabe von Jahresstipendien an ausländische Studierende und Postgraduierte zu Fortbildungs-und Vertiefungsstudien in der Bundesrepublik. — Vergabe von Jahresstipendien entsprechend an deutsche Studierende und Vermittlung von Gegenstipendien osteuropäischer Länder.
— Kurzstipendien für deutsche Studierende zu einem zwei-bis sechsmonatigen Studienaufenthalt im Ausland, der der Durchführung von Magister-, Diplom-oder Staatsarbeiten dient.
— Stipendien für deutsche Studierende zur Teilnahme an wissenschaftlichen fachorientierten Kursen im Ausland von der Dauer mindestens eines Monats, höchstens von sechs Monaten.
— Einladung ausländischer Wissenschaftler zu Studienaufenthalten bis zu maximal dreimonatiger Dauer.
— Kurzaufenthalte von Wissenschaftlern in beiden Richtungen im Rahmen bilateral mit Partnerinstitutionen im Ausland abgeschlossener quotierter Professorenaustausch-Vereinbarungen. — Einladung von Expertendelegationen bzw. in der Wissenschaftspolitik ihres Landes führenden Persönlichkeiten zu kurzen Informationsaufenthalten in der Bundesrepublik.
— In beiden Richtungen Förderung von Gruppen von Studenten bzw. Jungakademikern zu fachorientierten Studienreisen.
— Stipendien an ausländische Germanistik-Studenten zur Teilnahme an Hochschulferienkursen in der Bundesrepublik.
— Stipendien und Vermittlung von Gegenstipendien zur Teilnahme deutscher Studierender an Hochschulferienkursen im Ausland.
— Vermittlung deutscher Lektoren an ausländische Universitäten (in Osteuropa sind z. Z. nur in Jugoslawien und Rumänien westdeutsche Lektoren tätig).
— Im Rahmen der internationalen Praktikant'enorganisation IAESTE (International Association for the Exchange of Students for Technical Experience) vermittelt das Praktikantenreferat des DAAD als Sekretariat des deutschen Komitees der IAESTE den Austausch von Studenten, vornehmlich der technischen und naturwissenschaftlichen Fächer, zur Ableistung eines Fachpraktikums in Industriebetrieben und anderen Institutionen. Jugoslawien gehört seit 1952, Polen seit 1959 und die CSSR seit 1965 der IAESTE an.
In den jähren 1960 bis 1972 wurden aus den osteuropäischen Ländern über den DAAD 12 332 Personen eingeladen (bzw. im Falle der IAESTE vermittelt). Davon entfallen auf die Studienreisegruppen und die Industriepraktikanten 9 187 Personen. 3 145 waren Wissenschaftler und Studierende der anderen oben genannten Förderungsbereiche.
Im gleichen Zeitraum vermittelte bzw. förderte der DAAD die Aufenthalte von 2 229 Deutschen in die osteuropäischen Länder, davon 1740 im Rahmen von Studienreisegruppen und als lAESTE-Praktikanten sowie 503 Studierende und Professoren. Die Zahlenungleichheit hat z. T. ihren Grund darin, daß zu dreimonatigen Studienaufenthalten vom DAAD nur Ausländer eingeladen werden, aber keine deutschen Wissenschaftler ins Ausland entsandt werden. Hinsichtlich der osteuropäischen Staaten hat gerade diese Aktivität das größte Gewicht.
Obgleich man die sozialistischen Länder in Anbetracht ihrer unterschiedlichen historischen und kulturellen Entwicklung nicht als „Block" bezeichnen sollte, zeichnen sich auf dem Gebiet des wissenschaftlichen Austausches gewisse systemimmanente Praktiken ab, die diesen zuweilen zu einem mühsamen Geschäft machen. In allen o. g. Staaten werden Wissenschaft und Ausbildungswesen weitgehend zentral geregelt. Folgerichtig besteht die Tendenz, die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit dem Ausland zentral zu organisieren. Im Zuge ihrer Planung wünschen die zuständigen staatlichen Institutionen und Kommissionen zu bestimmen, welchen Wissenschaftsbereichen der Erfahrungsaustausch mit dem westlichen Ausland zugute kommen soll und welche Wissenschaftler dorthin entsandt werden. Dieser nicht immer realisierbaren Tendenz liegt der verständliche Wunsch zugrunde, den Vorsprung, den der Westen in der technischen Entwicklung hat, aufzuholen. Infolgedessen wird der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Technik, der Naturwissenschaften, aber auch der Medizin und der Wirtschaftswissenschaften besondere Bedeutung zugemessen, wobei der Austausch auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften in den Hintergrund tritt. Eine Ausnahme macht Polen, wo das Bedürfnis nach Aufarbeitung der polnisch-deutschen Geschichte dazu führt, daß auch die Zahl der polnischen Historiker, die dem DAAD für den Austausch nominiert werden, ins Gewicht fällt.
Der Abschluß von Kulturabkommen mit einer möglichst präzisen Regelung der Art und des Umfangs wissenschaftlicher Zusammenarbeit durch daraus folgende Mehr-Jahresabkommen, kommt dem Bemühen der sozialistischen Staaten entgegen, die Wissenschaftsbeziehungen fest in der Hand zu haben.
Gemeinsam ist den sozialistischen Ländern weiter eine gewichtige, jedoch keineswegs perfekt funktionierende Bürokratie, die sich durch ihre Schwerfälligkeit oft störend auf den Ablauf vereinbarter Planungen und Termine auswirkt. Allerdings muß den osteuropäischen Partnerorganisationen zugute gehalten werden, daß die Korrespondenz in der Regel in deutscher Sprache geführt wird, was für den DAAD von großem Vorteil, für die osteuropäischen Partner aber mit Problemen verbunden ist.
Der Austausch mit Osteuropa begann für den DAAD in der Mitte der sechziger Jahre zunächst mit kleinen Zahlen, entwickelte sich aber bald, einem angestauten und bis heute keineswegs aufgeholten Nachholbedürfnis entsprechend, mit bemerkenswerter Intensität. Mit Jugoslawien ist er durch ein Zweijahresprogramm im Rahmen des Kulturabkommens geregelt. Das Zweijahresprogramm wurde für eine zweite Phase kürzlich in Belgrad unterzeichnet. Im praktischen Vollzug der Zusammenarbeit wirkt sich das Autonomiestreben der einzelnen jugoslawischen Teilrepubliken gelegentlich hemmend aus, jedoch kann über die wissenschaftlichen Beziehungen zu Jugoslawien gesagt werden, daß die vielberufene „Normalisierung" hier nahezu erreicht ist.
Seit 1967 diplomatische Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Rumänien aufgenommen wurden, nahm die wissenschaftliche Zusammenarbeit auch im Rahmen der DAAD-Aktivitäten einen erfreulichen Verlauf. Inzwischen sind drei DAAD-Lektoren an den größten rumänischen Universitäten in Bukarest, Cluj und Jasi tätig. Ein Zweijahresprogramm im Zusammenhang mit dem kürzlich unterzeichneten Kulturabkommen wird demnächst in Kraft treten. In Bukarest wird jährlich ein Sommerferienkurs für deutsche Studierende der rumänischen Sprache veranstaltet, zu dem die rumänische Seite Stipendien verleiht.
In Ungarn wird der Austausch vom Institut für die kulturellen Beziehungen mit dem Ausland in Zusammenarbeit mit dem Landesstipendienrat geregelt. Der Austausch mit der Bundesrepublik hat nach dem mit den USA das zweitgrößte Volumen im Vergleich aller westlichen Staaten.
Mit der Tschechoslowakei hat der DAAD in den sechziger Jahren zwei Austauschprogramme auf der Basis der Gegenseitigkeit abgeschlossen, und zwar mit der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften und der medizinischen J. E. Purkyne-Gesellschaft. Beide Professorenaustauschprogramme verlaufen zur vollen Zufriedenheit aller Beteiligten. Sehr zurückgegangen ist seit etwa 1970 die Zahl der tschechoslowakischen Wissenschaftler, die zu dreimonatigen Studien-aufenthalten in die Bundesrepublik kommen. Bedauerlicherweise wird seitens der tschechoslowakischen Stellen seit ein paar Jahren auch die vom DAAD offerierte Stipendien-quote für Jahresstipendien nicht mehr voll ausgenutzt.
Die wissenschaftlichen Kontakte des DAAD zu Bulgarien haben in den letzten Jahren, nicht zuletzt auch durch den Besuch einiger führender Wissenschaftler und Delegationen des Landes, einen merklichen Auftrieb erfahren. Hier kann an eine alte Tradition früherer enger deutsch-bulgarischer Wissenschaftsbeziehungen angeknüpft werden, die bis heute in Bulgarien bemerkbar ist.
Eine sehr erfreuliche Entwicklung nimmt der Austausch mit Polen, seit die Polnische Akademie der Wissenschaften und der DAAD im Oktober 1970 eine Vereinbarung zur Regelung des wissenschaftlichen Austausches unterzeichneten. Dabei wirkt die Akademie zugleich federführend für den Bereich des Hochschul-und Gesundheitswesens in Polen. Am Rande sollte ein Problem nicht unerwähnt bleiben, das für jeden Besucher aus einem sozialistischen Land, ausgenommen Jugoslawien, eine nicht zu unterschätzende Belastung darstellt: die Nicht-Konvertierbarkeit seiner Landeswährung in westliche Devisen. Nur einen Minimalbetrag an Deutsche Mark kann er zu einem unverhältnismäßig hohen Kurs in seiner Heimat eintauschen. Er ist ganz und gar darauf angewiesen, daß ihm bei der Ankunft in der Bundesrepublik die Mittel zur Verfügung gestellt werden, die es ihm möglich machen, seine Lebenshaltungskosten hier zu bestreiten. Ausgeglichen wird dies häufig durch eine bei uns selten anzutreffende Gastfreundschaft, mit der der Gast aus der BRD bei einem Gegenbesuch empfangen wird.
Es ist noch ein weiter Weg bis zu einer endgültigen Normalisierung der Beziehungen zu den sozialistischen Ländern, aber wir sind auf diesem Weg über die ersten Anfänge bereits hinaus.