Nach dem Besuch des Generalsekretärs der KPdSU in der Bundesrepublik ist die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Osteuropa mit ihren eigenen, d. h.den ökonomischen Aspekten für eine breite Öffentlichkeit interessant geworden. Bis dahin hatte sie zwar auch Beachtung gefunden, jedoch mehr im Gefolge der Diskussion um die Ostpolitik So warnten in der Bundestagsdebatte über die Ostverträge Sprecher der Opposition vor einseitiger Ausnutzung der wirtschaftlichen Möglichkeiten des Westens oder vor Schwächung der westeuropäischen Wirtschaftsintegration. Die Ostpolitik hat nun mit der Ratifizierung der Verträge eine gewisse Vollendung erfahren. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Osteuropa dagegen ist eine sehr viel breitere Aufgabe, an der in einer nur all-
1. Die Möglichkeiten der Zusammenarbeit
Die gegenwärtigen Trends können optimistisch stimmen. Während unser gesamter Außenhandel 1972 nur um 8 °/o zunahm, konnte der Osthandel 3) um 23 °/o gesteigert werden, der Ostexport sog um 23 °/o gesteigert werden, der Ostexport sogar um 32 °/o. Die Unternehmenskooperation umfaßt inzwischen über 200 Fälle echter, langfristiger Zusammenarbeit. Neue Entwicklungen, bei einzelnen Ostländern auch in Form sogenannter gemischter Unternehmen, zeichnen sich ab.
Niemand kann sich indessen auf Trends verlassen. Sehr viel zuverlässigere Faktoren für die weitere Entwicklung sind die Interessen-identitäten zwischen Ost und West, die in den letzten Jahren immer deutlicher geworden sind.
a) Das Interesse an Absicherung des wirtschaftlichen Wachstums
Sowohl unsere östlichen Partnerländer als auch wir selbst können zur Absicherung des mählich zu intensivierenden Entwicklung neben den Regierungen unzählige Wirtschaftseinheiten beteiligt sind. Gebraucht wird ein langer Atem. Breschnew nannte Zeiträume von 40 bis 50 Jahren. Bundeswirtschaftsminister Friderichs spricht von einer langsamen Umstrukturierung unserer außenwirtschaftlichen Beziehungen 2).
Dennoch werden die Ost-Wirtschaftsbeziehungen auch in Zukunft einen erheblichen politischen Stellenwert haben. Das wird völlig klar, wenn man berücksichtigt, wie stark neuerdings selbst unser politisches Verhältnis zu den USA von wirtschaftlichen Problemen belastet ist. Damit stellt sich auch in politischer Hinsicht die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Osteuropa. wirtschaftlichen Wachstums auf die gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen zurückgreifen. In Osteuropa krankt das Wirtschaftswachstum zunehmend an mangelnder Arbeitsproduktivität. So ist die Arbeitsproduktivität in der UdSSR zwischen 1960 und 1972 lediglich um 82 °/o gestiegen. Dennoch konnte durch Mobilisierung vorhandener Arbeitskräfte-reserven eine Steigerung der Industrieproduktion um 160% erreicht werden. Nach Erschöpfung dieser Reserven muß die ungenügende Arbeitsproduktivität auf das Wachstum der Industrieproduktion durchschlagen. In dieser Situation ist nun der Technologie-Import aus dem Westen von erheblicher Bedeutung. Daneben bedienen sich einige Ostländer des Westhandels auch zur Überbrückung heikler Konsumgüterengpässe.
Auch uns kann der Osthandel bei der Absicherung von Stabilität und wirtschaftlichem Wachstum nützlich sein. Konjunkturbewegungen werden durch Austausch mit den anderen Bewegungslinien folgenden Wirtschaften Osteuropas gedämpft. Dementsprechend hat die Bundesregierung bei ihren letzten beiden Stabilitätsprogrammen jeweils eine Steigerung der Osteinfuhrmöglichkeiten vorgese13 hen. Hier erwartet man sich durch Wettbewerb der zu niedrigeren Kosten produzierten und rationell über Großkaufhäuser und Versandhäuser vertriebenen Ostwaren preisdämpfende Effekte, überhaupt kann für unsere Volkswirtschaft Wettbewerb der Wirtschaftssysteme ein Ausweg aus der prekären Situation nachlassenden Intra-System-Wettbewerbs sein. Die Bundesregierung befürchtet immerhin, daß bei Fortsetzung des gegenwärtigen Fusionstrends 1980 nahezu drei Fünftel der deutschen Industrie von den 100 größten Unternehmen beherrscht sein werden In einigen der wichtigsten Branchen beherrschen schon heute jeweils nur vier Unternehmen mehr als die Hälfte der Märkte Diese für Marktwirtschaften bedrohliche Entwicklung findet auch auf internationaler Ebene statt und schwächt damit den Wettbewerbseffekt des Westhandels Was für konjunkturunabhängige Einfuhren gilt, trifft auch für die Ausfuhren zu. Beispiel hierfür ist die Entwicklung des Rezessionsjahres 1967, als die Ausfuhr nach Westen nur noch um 6 0/0 stieg, nach Osten dagegen um 32 °/o.
Ein weiterer Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Ost-Wirtschaftsbeziehungen ist durch die Zwangslage der deutschen Industrie gegeben, in zunehmendem Maße Umweltenge und Arbeitskräftemangel durch Auslandsproduktion zu vermeiden. In diesem Sinne hat Bundeskanzler Brandt davon gesprochen, es sei eher mit Kapitalexporten in die Sowjetunion als durch den Zuzug weiterer Gastarbeiter in die Bundesrepublik etwas herauszuholen.
Diese Aufzählung kann nicht komplett sein. Sie wäre jedoch in einem entscheidenden Punkt unvollständig, wenn nicht der Rohstoff-und Energiebereich erwähnt würde, in dem die — im eigenen Land mehr oder weniger mittellose — deutsche Industrie mit besonderen Hoffnungen nach Osten blicken kann. Allerdings haben die von Breschnew zur Sprache gebrachten Möglichkeiten solche Dimensionen, daß sich die deutsche Industrie fragen muß, ob sie allein genügend Kapital dafür zur Verfügung stellen kann. Im Oktober wird das erste russische Erdgas in die Bundesrepublik kommen, als Gegenleistung für Röhrenlieferungen innerhalb eines über zwanzig Jahre laufenden Vertrages. Wer weiß, wie schwer es heute bereits wird, neue Standorte für Kernkraftwerke aus der bundesdeutschen Umwelt herauszuschneiden, kann sich vorstellen, daß demnächst einmal Strom aus in die UdSSR exportierten Kernkraftwerken bezogen wird. Das sind nur zwei Beispiele für viele andere.
b) Das Interesse an der Überwindung von Nachteilen der Blockbildung
Die in Zeiten akuter Kriegsgefahr entstandenen Militärblöcke NATO und Warschauer Pakt haben im ökonomischen Bereich Nachteile zur Folge, die heute — wenn auch nur sehr vorsichtig — durch Inter-Block-Beziehungen abgebaut werden können. Im Vordergrund stehen die Rüstungskosten, die weltweit auf jährlich fast 600 Mrd. DM geschätzt werden, das heißt auf etwa so viel, wie Asien (ohne VR China und Japan) 1969 zum Leben und Investieren zur Verfügung stand. Der Zusammenhang von Sicherheit und Zusammenarbeit wird durch die so benannte, am 3. Juli 1972 in Helsinki eröffnete europäische Konferenz verdeutlicht. Wirtschaftliche Zusammenarbeit ebnet spannungserzeugende Unterschiede im Lebensniveau der Völker ein und legt kooperierende Wirtschaftspartner auf gleiche Ziele fest. Das heute noch bestehende, äußerst geringe Maß an Osthandelsintensität der Bundesrepublik — z. B. 12DM/Kopf der Bevölkerung der UdSSR gegenüber 2320 DM/Kopf der Bevölkerung in Belgien — ist in sich anormal und kann nicht im Sinne der Entspannungsbemühungen sein. Blöcke haben darüber hinaus wirtschaftlich nachteilige Abhängigkeiten zur Folge, die ebenfalls durch Inter-Block-Beziehungen überwunden werden können. Die Beispiele in Osteuropa sind bekannt; für die Bundesrepublik könnte z. B. das Kernenergieanreicherungsmonopol der USA erwähnt werden.
2. Die Grenzen der Zusammenarbeit
Die wichtigste Grenze wird gegenwärtig durch die noch unbefriedigende östliche Angebotsstruktur gesetzt mit noch sehr niedrigen Anteilen so wichtiger Branchen wie Elektrotechnik 1, 4% (zum Vergleich deutscher Ostexport 5, 8%), Maschinen 3, 8% (26, 3%), Chemie 5, 1 % (15, 7 %). Infolgedessen können die Oststaaten gegenwärtig nur etwa 70 % ihrer Bezüge bei uns durch Gegenlieferungen ausgleichen. In einer längerfristigen Betrachtung sind jedoch vor allem zwei Grenzen festzustellen: die unterschiedlichen Wirtschaftsintegrationen und Wirtschaftsordnungen.
a) Die unterschiedlichen Wirtschaftsintegrationen
Die Europäische Gemeinschaft hat sich auf der Gipfelkonferenz der Staats-und Regierungschefs von 1972 zur Zusammenarbeit mit Osteuropa bereit erklärt. Leider aber hat die Gemeinschaft in bezug auf den Osthandel zwei besonders nachteilige Schwächen. Erstens rangiert die äußere Solidarität vor der inneren. Das bedeutet, daß eine gemeinsame Handelspolitik ohne Rücksicht auf eine gemeinsame Wirtschafts-und Regionalpolitik vorgeschrieben wird. Will z. B. die Bundesrepublik, deren Osteinfuhren effektiv noch zu etwa der Hälfte kontingentiert sind, Beschränkungen aufheben, so ist sie hieran unter Umständen durch den Widerstand eines anderen Mitgliedslandes gehindert, dessen Industrie aus nationalem Interesse geschützt werden muß. Es ist daher auch nicht sicher, ob sich der Osthandelsteil des 2. Stabilitätsprogramms ungeschmälert über die Brüsseler Hürden bringen läßt. Gemeinsame Vorstellungen über die schutzbedürftigen Industriezweige sind jedenfalls nur sehr schwer zu entwikkeln. Der zweite handelspolitische Nachteil liegt im Agrarmarkt, durch den praktisch der landwirtschaftliche Bereich einer sinnvollen Arbeitsteilung mit Europa — wie auch mit anderen Teilen der Welt — entzogen wird. Der Anteil der Ostländer an der deutschen Agrareinfuhr ging bis 1971 auf 4, 2 % zurück. Auch der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) ist nicht sehr westhandelsfreundlich strukturiert. Der Intrablock-Handel beträgt hier 60— 80%. Das Komplexprogramm von 1971 sieht eine weitere Verstärkung vor, die nur zu Lasten des Wachstumsspielraums im Westhandel gehen kann. Außerdem zeigt sich eine wachsende Tendenz zur Kontrolle der Außenbeziehungen der Mitgliedsländer. In diesem Sinne ist von Bedeutung, daß der RGW im Frühjahr 1973 ein erstes Abkommen mit einem Drittland, nämlich mit Finnland, abgeschlossen hat.
b) Die unterschiedlichen Wirtschaftsordnungen
In den unterschiedlichen Wirtschaftsordnungen liegt für die Zukunft wahrscheinlich die eigentliche Grenze der Wirtschaftsbeziehungen mit Osteuropa. Beide Seiten können nur ein bestimmtes Maß an Wirtschaftsverflechtung zulassen, wollen sie nicht den eigenen Wirtschaftsmechanismus in Schwierigkeiten bringen. Die Ostwirtschaften werden in den wesentlichen Daten nach wie vor von Fünfjahresplänen bestimmt; liberalisiert wurden in einigen Ostländern lediglich die Mittel zum Planvollzug. Jede Planung kann aber nur in begrenztem Umfang unbekannte Außenfaktoren akzeptieren. So ist die französische Planification alten Stils auch an unbestimmbaren EWG-Einflüssen gescheitert. Westhandel wirkt auf östliche Planwirtschaften notwendigerweise desintegrierend. Konjunkturelle Knappheitsmesser westlicher Marktwirtschaften wie Preise und Zinsen machen nicht vor dem Außenhandel halt. Wenn z. B. die Bundesbank — wie gegenwärtig — die Investitionstätigkeit durch eine Hochzinspolitik bremst, so wird davon auch der Anlagenexport nach Osteuropa betroffen. Auf der letzten Jahresversammlung der UN-Wirtschaftskommission für Europa haben die Ostländer allgemein über schädliche Einflüsse der westlichen Preissteigerungen auf ihr Planungssystem geklagt. Der Versuch der UdSSR, von ihren Westpartnern einen festen, konjunktur-unabhängigen Zinssatz von 6 % zu erhalten, ist bekannt. Die Bundesregierung hat sich diesem Wunsch bisher widersetzt, weil Zins-subventionen mit dem eigenen Wirtschaftssystem nur schwer in Einklang zu bringen sind.
Für die deutsche Volkswirtschaft stellt sich die Frage, was vorteilhafter ist: ein schwer zu bestimmendes Minus an Geldentwertung oder ein Plus an Osthandel; dies immer unter der Voraussetzung, daß die Subvention nicht einfach das Einkommen der Exporteure steigert. Auch die Marktwirtschaft ist gegenüber Planwirtschaftseinflüssen nicht indifferent. Früher hat man die Gefahren für so groß gehalten, daß damit die mengenmäßigen Beschränkungen aller Osteinfuhren begründet wurden. Inzwischen sind zwar 90% aller Beschränkungen beseitigt worden; gleichzeitig aber wurde das sog. Preisprüfungsverfahren ständig verbessert Mit seiner Präventivwirkung erschwert es den Ostländern, eine günstigere Kostensituation in wesentlich niedrigere Preise und damit erheblich verstärkten Absatz umzuwandeln. Das andere Wirtschaftssystem Osteuropas begründet noch immer die Vermutung, daß dort die Preisbildung nicht stets nach ökonomischen Grundsätzen erfolgt.
Neuerdings hat sich ein weiteres Problem da-zugesellt. Besonders die UdSSR versucht, westliche Handelspartner in ihre Planung zu integrieren. So hat sie bei der letzten Tagung der deutsch-sowjetischen Wirtschaftskommission im Februar 1973 ein auf mindestens zehn Jahre berechnetes „Komplexprogramm für die Entwicklung der langfristigen Zusammenarbeit" vorgeschlagen. Auf ähnlichen Vorstellungen beruht der Vorschlag für ein europäisches „Programm der Zusammenarbeit", den sie bei der Vorbereitung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa eingebracht hat. Es ist sehr fraglich, ob und wieweit sich unsere im Prinzip auf die jeweilige Marktentwicklung reagierenden Unternehmen auf einen Flexiblitätsverlust durch so langfristige Verplanung in Osteuropa einlassen können.
Nimmt man Möglichkeiten und Grenzen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Osteuropa zusammen, so ergibt sich als Schlußfolgerung: Die Wirtschaftsbeziehungen werden noch erheblich intensiviert werden können. Sollte es jedoch — wider gegenwärtiges Erwarten — nicht zu einer Konvergenz der Wirtschaftssysteme kommen, so werden sie nur einen begrenzten, für beide Wirtschaftssysteme komplementären Umfang haben können.