Theoretisch-ideologisch ist die Haltung der Sowjetunion seit der ersten grundsätzlichen Stellungnahme der KPdSU nach der Gründung der EWG in den sog. 17. Thesen von 1957 eindeutig festgelegt: Darin wird die EWG als Absprache der Monopole über den gemeinsamen Kampf um die Absatzmärkte, um die Rohstoffquellen und um die Investitionssphären in der Welt bezeichnet. Sie bilde deshalb die kriegswirtschaftliche Grundlage der „kapitalistischen" Länder und wirke infolgedessen in jeder Hinsicht gegen die Interessen der Arbeiter auf wirtschaftlichem, sozialem und politischem Gebiet. Diese Einstellung zur EWG gilt bis heute ohne Einschränkung nicht nur für die KPdSU, sondern auch für alle anderen kommunistischen Parteien und die von ihnen regierten Staaten, ja selbst für diejenigen, die nicht zu den sog. „Moskautreuen" zu rechnen sind. Je mehr sich aber der tatsächliche Erfolg der Integrationsbestrebungen der westeuropäischen Länder zeigte, um so stärker sahen sich die Sowjetunion und ihre Partner-staaten gezwungen, diese Realität anzuerkennen und ihr in der politischen Praxis, d. h. in ihrer Europapolitik, Rechnung zu tragen. In der Diskussion um die Form und um die Zielsetzungen dieser Politik wurden allerdings noch bis Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre z. T. höchst kontroverse Auffassungen zwischen der Sowjetunion und ihren Partnerstaaten vertreten. Die massive Stellungnahme Chinas zu EWG-Problemen seit Anfang 1971 im Sinne einer Unterstützung sowohl des wirtschaftlichen als auch des politischen Zusammenschlusses Westeuropas nicht nur gegen die USA, sondern auch und vor allem gegen die Hegemonialbestrebungen der Sowjetunion in Europa, hat neue Akzente gesetzt. Die Sowjetunion sieht sich seither einerseits gezwungen, im Interesse der Abwehr der chinesischen EuropaPolitik wieder zunehmend auf die Ebene der ideologischen Argumentation zurückzukehren, wie sie in allen grundsätzlichen, theoretisch-ideologischen Stellungnahmen der KPdSU seit 1957 formuliert worden sind. Andererseits aber muß sie ihre pragmatische Westeuropa-Politik fortführen und ausbauen. Diese läuft darauf hinaus, aus den Beziehungen zu den westeuropäischen „kapitalistischen" Ländern höchstmögliche wirtschaftliche Vorteile zu ziehen, zugleich aber die Anerkennung der Europäischen Gemeinschaft als völkerrechtliches Subjekt zu vermeiden.
In der Sowjetunion und in den anderen kommunistisch regierten Ländern Europas sind die wirtschaftlichen Integrationsbestrebungen Westeuropas bis in das Jahr 1962 hinein weitgehend bagatellisiert worden. Weithin wurde deren Bedeutung für die gesamte europäische Entwicklung kaum einmal voll erkannt Die Gründe dafür müssen vor allem im starren Festhalten insbesondere der sowjetischen Parteiführung an der ideologischen Wertung jeder Zusammenarbeit zwischen den „kapitalistischen" Ländern gesucht werden.
Dafür hatte bereits Lenin 1915 mit seinem Aufsatz „Uber die Losung der Vereinigten Staaten von Europa" die Maßstäbe gesetzt Unter kapitalistischen Verhältnissen, so erklärte er darin, sei die Bildung der „Vereinigten Staaten von Europa" entweder unmöglich oder reaktionär. Er hielt zwar zeitweilige Übereinkommen zwischen den Kapitalisten und den Mächten für durchaus möglich. Doch konnte nach seiner Auffassung der Zusammenschluß der europäischen Staaten im Sinne solcher Übereinkommen nur den Sinn und das Ziel haben, „mit vereinten Kräften den Sozia-lismus in Europa zu unterdrücken" und „mit vereinten Kräften die geraubten Kolonien gegen Japan und Amerika" zu verteidigen.
Lenin hielt sich damit klar auf der von Marx und Engels vorgezeichneten Linie. Bereits in ihrem kommunistischen Manifest hatten sie geschrieben: „Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel ...
Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarktes Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet ... An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander."
I. Ideologische Kritik am europäischen Zusammenschluß
Die erste grundsätzliche Stellungnahme der Sowjetunion zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die 1957 in Form von 17
Thesen veröffentlicht wurde, ließ jedenfalls die unbedingte Dogmentreue erkennen, die 42 Jahre nach der grundsätzlichen Stellungnah-me Lenins noch immer den allgemeinen Maßstab für die Beurteilung aller ökonomischen und politischen Entwicklungsvorgänge in den Staaten der „kapitalistischen" Welt bildete
Die EWG wird in diesen Thesen als Absprache der Monopole über den gemeinsamen Kampf um die Absatzmärkte, die Rohstoffquellen und die Investitionssphären bezeichnet. Sie bilde die kriegswirtschaftliche Grundlage der NATO und richte sich damit zwangsläufig gegen die sozialistischen Länder. Die Schaffung eines geschlossenen „kapitalistischen" Blocks führe notwendigerweise zur Zerstörung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Die Ausweitung des inneren Marktes dieses Blocks sei zwar nicht ausgeschlossen. Die daraus resultierenden Vorteile würden jedoch durch die Verschärfung der Marktprobleme, die sich zwangsläufig aus dem Widerspruch zwischen den Produktionsmöglichkeiten und der zu engen monetären Nachfrage ergeben müßten, mehr als aufgewogen. Die zunehmende Konzentration verleihe überdies den Monopolen die Möglichkeit, in erhöhtem Maße gegen die Interessen der Arbeiter auf wirtschaftlichem, sozialem und politischem Gebiet zu wirken. Senkung des Reallohns, Vergrößerung der Arbeitslosigkeit, Erhöhung der Steuern und Beschneidung der politischen Rechte seien die zu erwartenden Folgen dieser Politik.
Der nationale Kolonialismus werde mit der geplanten Assoziierung der afrikanischen Staaten durch den kollektiven Kolonialismus ersetzt. Auf internationaler Ebene werde die Abhängigkeit einer Reihe von westeuropäischen Ländern von den Vereinigten Staaten und von der nach Hegemonie in Europa strebenden Bundesrepublik gefördert, während gleichzeitig die nationale Souveränität und die Rechte der nationalen Parlamente beschränkt werden.
Schließlich kommen die Verfasser der 17 Thesen zu folgendem Ergebnis: „Was die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ... betrifft, so ist vollkommen unzweifelhaft, daß die vollständige Verwirklichung der in diesem Zusammenhang vorgesehenen Schritte (die allein schon höchst unwahrscheinlich ist), nicht zu einer Änderung des europäischen Kapitalismus führt und nicht die Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftssystems garantieren kann." Es lasse sich mit Gewißheit voraussagen, daß die Spannungen und Gegensätze zwischen den Mitgliedern der EWG den Prozeß der kapitalistischen Selbstzerfleischung nur noch schneller vorantreiben würde. Bis Ende 1961 und sogar bis weit in das Jahr 1962 hinein hat diese „Dogmentreue" die Argumentation der maßgeblichen Führer des Kommunismus gegen die EWG weitgehend beherrscht. Das ist u. a. auch daran zu erkennen, daß noch das am 31. Oktober 1961 gebilligte neue Parteiprogramm der KPdSU die in den 17 Thesen enthaltenen zentralen Gedankengänge wiederholt
IL Auseinandersetzung mit der Realität der EWG
Abbildung 2
I. Ideologische Kritik am europäischen Zusammenschluß II. Auseinandersetzung mit der Realität der EWG 1. Chruschtschows grundsätzliche Äußerungen 2. Die 32 Thesen von August 1962 III. IV. V. INHALT Ursachen und Auswirkungen des Wandels der EWG-Beurteilungen 1. Die Haltung der Kommunistischen Partei Italiens 2. Rückwirkungen auf Osteuropa 3. Der politische Aspekt der sowjetischen EWG-Kritik Ziele der sowjetischen EWG-Politik Sowjetisch-chinesische VI. Ideologie und Pragmatismus
I. Ideologische Kritik am europäischen Zusammenschluß II. Auseinandersetzung mit der Realität der EWG 1. Chruschtschows grundsätzliche Äußerungen 2. Die 32 Thesen von August 1962 III. IV. V. INHALT Ursachen und Auswirkungen des Wandels der EWG-Beurteilungen 1. Die Haltung der Kommunistischen Partei Italiens 2. Rückwirkungen auf Osteuropa 3. Der politische Aspekt der sowjetischen EWG-Kritik Ziele der sowjetischen EWG-Politik Sowjetisch-chinesische VI. Ideologie und Pragmatismus
Allerdings war schon zu dieser Zeit ein gewisses Maß an Unsicherheit hinsichtlich der unbedingten Anwendbarkeit dieser dogmatischen Prinzipien bei der Beurteilung der westlichen Integrationsvorgänge zu registrieren.
Sie hatten ihre Ursachen — einerseits in dem schon zu dieser Zeit sichtbar werdenden tatsächlichen Erfolg der Integrationsbestrebungen der westeuropäischen Länder; er fand nicht nur in einer schnellen wirtschaftlichen Entwicklung der EWG selbst sondern auch in den zahlreichen Beitritts-und Assoziationsanträgen anderer westeuropäischer und afrikanischer Länder konkreten Ausdruck und — andererseits darin, daß etwa gleichzeitig die wirtschaftliche Zusammenarbeit der ost-und südosteuropäischen Länder im Rahmen des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RgW) einer schweren Krise zutrieb
Auf diese Faktoren vor allem war es zurückzuführen, daß die Diskussion um die Existenz des Gemeinsamen Marktes einige bemerkenswerte Veränderungen aufwies. Auf ihrem Höhepunkt fand vom 28. August bis 30. September 1962 in Moskau eine Konferenz von Wirtschaftswissenschaftlern aus 23 kommunistischen Ländern und Parteien zu dieser Problematik statt Den Beratungen dieser Konferenz lagen zugrunde:
— ein Grundsatzaufsatz von Chruschtschow über „die Entwicklung des sozialistischen Weltsystems" und die — unmittelbar vor Beginn der Konferenz veröffentlichten sog. 32 Thesen „über die imperialistische Integration in Westeuropa" , 1. Chruschtschows grundsätzliche Äußerungen Angesichts der bis dahin gültigen sowjetischen Haltung mußten die Äußerungen von Chruschtschow in seinem Aufsatz einigermaßen schockierend wirken, denn mit ihnen wurde klargemacht, daß es sich beim Gemeinsamen Markt um eine starke und dauerhafte Organisation, ja, um eine der wichtigsten wirtschaftlichen und politischen Erscheinungen der Gegenwart handelt. Die EWG wird als eine Realität dargestellt, die sich vor allem in einem schnellen und nachhaltigen Wirtschaftswachstum ihrer sechs Mitgliedsländer niederschlägt. Diese Feststellung war auch deshalb von großer Bedeutung, weil mit ihr die Gültigkeit des bis dahin unangefochtenen Postulats-, hohe wirtschaftliche Wachstumsraten seien allein im Rahmen eines sozialistischen Wirtschaftssystems möglich, wenn auch nicht in Frage gestellt, so doch zumindest erheblich eingeschränkt wurde.
Selbstverständlich dürfte man, so stellte Chruschtschow weiter fest, die Möglichkeit dieser internationalen Vereinigung nicht überschätzen. Aber: „die Kräfte des Gegners nicht überschätzen heißt nicht, sie zu ignorieren. Es wäre unvorsichtig und kurzsichtig, würde man die Pläne und Handlungen der Wortführer der europäischen . Integration'nicht beachten. Die Kommunisten kämpfen gegen die Versuche, den Gemeinsamen Markt und ähnliche Vereinigungen zur Vorbereitung eines neuen Krieges und zum Wettrüsten, zum Zwecke des ökonomischen und politischen Drucks auf andere Länder, insbesondere aber auf die jungen, sich entwickelnden Nationalstaaten, auszunutzen ... Gleichzeitig berücksichtigen wir die objektiven Tendenzen zur Internationalisierung der Produktion, die in der kapitalistischen Welt wirken, und gestalten dementsprechend unsere Politik und unsere wirtschaftlichen Maßnahmen."
Chruschtschow ging sogar noch einen Schritt über diese Feststellung hinaus und stellte die Frage nach der Möglichkeit einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Ost und West. Der von ihm dafür zusammengestellte Katalog war zwar nicht neu, seine Wiederholung in diesem Zusammenhang aber doch bemerkenswert, da er die kritischen Bereiche innerhalb des RgW widerspiegelte: Förderung rarer Rohstoffe, Vermehrung der Energiequellen, Nutzung der Wasserstraßen, Erweiterung der gegenseitigen Handelsbeziehungen, Schaffung einer internationalen Handelsorganisation, Durchführung einer internationalen Handelskonferenz. Er erklärte nachdrücklich, daß er diese Vorschläge nicht zuletzt wegen der Gefahr unterbreite, „die das Bestreben der imperialistischen Kreise in sich birgt, die Vorteile der westeuropäischen Integration zur Bildung abgeschlossener zwischenstaatlicher ökononmischer Gruppierungen ... auszunutzen".
Schließlich erwog Chruschtschow in seinem Aufsatz sogar die Möglichkeit, zwischen den bereits bestehenden Wirtschaftsgruppen in Europa — dem RgW und der EWG — Verträge abzuschließen und damit die wirtschaftliche Zusammenarbeit und einen friedlichen Wettbewerb über die Ebene der Staaten hinaus auf die der Wirtschaftsvereinigungen mit unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen zu heben. 2. Die 32 Thesen von August 1962 Nicht weniger deutlich spiegelt sich in den „ 32 Thesen" die Erkenntnis wider, daß der Gemeinsame Markt inzwischen zu mächtig geworden und schon zu erfolgreich gewesen sei, als daß er noch länger von der kommunistischen Führung ignoriert werden könnte.
Die EWG wird in ihnen „als ökonomische und politische Realität" anerkannt. Ihr wird außerdem auch bescheinigt, daß sie nicht etwa nur die arithmetische Summe von nationalen Märkten darstelle: Selbst in ihren entstellten kapitalistischen Formen, heißt es in den Thesen, „kann die wirtschaftliche Integration zu einer Erweiterung des Produktionsumfanges und des Binnen-und Außenhandels führen".
Das Dilemma, in das die sowjetischen Analytiker damit geraten waren, spiegelte sich vor allem in dem Bemühen wider, den erfolgreichen Integrationsvorgang in Westeuropa dennoch in die vorgegebene ideologische Konzeption einzuordnen. Denn nur durch Rückgriffe auf Lenin ist es möglich, die „imperialistische Integration" als einen „sich in der Wirtschaft des modernen Kapitalismus vollziehenden Tiefenprozeß" zu kennzeichnen, der Ausdruck einer „objektiven Tendenz ist, die sich mit der Entwicklung der Weltwirtschaft und des Weltmarktes verstärkt und für den reifen und seiner Umwandlung in eine sozialistische Gesellschaft entgegengehenden Kapitalismus typisch ist", und — auf dieser Grundlage schließlich — in der gegenwärtigen Entwicklung Westeuropas typische Merkmale der dritten Phase des Kapitalismus zu erkennen.
Strukturveränderungen, die sich im Rahmen jeder wirtschaftlichen Großraumbildung (also auch der östlichen) zwangsläufig für einzelne Wirtschaftszweige ergeben müssen, können deshalb auch als Monopolisierung und Aufteilung der „kapitalistischen" Welt unter den großen Trusts begriffen werden, die — trotz aller zugegebenen großen wissenschaftlich-technischen Fortschritte (oder gerade deswegen) — zu „einer weiteren, noch stärkeren Ausbeutung der Arbeiterklasse, zu einem Angriff auf das Lebensniveau der Werktätigen", kurzum zu einer weiteren Verelendung der proletarischen Massen führen muß, die ja Marx schon Mitte des 19. Jahrhunderts nachdrücklich postuliert hatte.
Der circulus vitiosus des Denkens, in den der Rückgriff auf die leninistische Theorie die sowjetischen Analytiker drängt, zwingt diese geradezu, den Gemeinsamen Markt als „einen Knoten von Widersprüchen zwischen den Imperialisten" zu interpretieren: zwischen den Klassen selbst, zwischen den wirtschaftlichen Interessengruppen, zwischen den Ländern der EWG, zwischen der EWG und der EFTA, zwischen Westeuropa und Amerika, zwischen dem imperialistischen Kapitalismus und den schwach Entwickelten usw.
Sie können deshalb auch einen unversöhnlichen Widerspruch zwischen den objektiven Tendenzen zur Internationalisierung des Wirtschaftslebens und den imperialistischen Methoden, sie zu verwirklichen, feststellen, weil eben „der Imperialismus nicht ohne Gewalt und Willkür existieren kann, ohne daß die einen Länder durch andere unterjocht werden". Nur der Sozialismus könne infolgedessen alle Schranken für eine wirtschaftliche Annäherung der Länder und Völker beseitigen und die Gewähr für die Bildung eines von Antagonismen freien ökonomischen Systems bieten. Wie sehr sich jedoch die sowjetische Analyse trotz solcher ideologischen Bemühungen schon zu dieser Zeit mit der Realität des Gemeinsamen Marktes abgefunden hatte, macht das Schlußreferat Arzumanjans bei der erwähnten Moskauer Konferenz deutlich „... Wir stehen", so heißt es darin u. a., „in den meisten kapitalistischen Ländern einer wahren technisch-wissenschaftlichen Revolu-tion gegenüber, was eine Steigerung und Erneuerung des fixen Kapitals — und darum des Marktes — hervorruft. Man kann sich hier nicht einer abstrakten Analyse der aktuellen Probleme hingeben, so wie wir uns nicht denken können, daß andere Länder auf der Stelle treten, während wir in Richtung auf den Kommunismus voranschreiten."
III. Ursachen und Auswirkungen des Wandels der EWG-Beurteilung
Die Bedeutung dieses Wandels in der sowjetischen EWG-Beurteilung muß darin gesehen werden, daß wesentlichen Anteil an ihm einige mit der Realität des Gemeinsamen Marktes unmittelbar konfrontierte Kommunistische Parteien Westeuropas hatten. Auf der Moskauer Konferenz trat dies besonders deutlich hervor, wie die Konferenzberichte in „L'Unita"
(Rom), in „Le Drapeau Rouge" (Brüssel) und dann vor allem die ausführliche Dokumentation in „Mirovaja ekonomika i mezdunarodnye otnosenija" (Moskau) deutlich machten. 1. Die Haltung der Kommunistischen Partei Italiens Bereits am letzten Tage der Konferenz hat Arzumanjan dies mit bemerkenswerter Offenheit bestätigt, als er feststellte daß „wir sowjetischen Wissenschaftler den Darlegungen aus den kommunistischen Bruderparteien viel Neues entnommen haben". In seinen Diskussionsbeiträgen und seinem Abschlußreferat wies er immer wieder vor allem auf die Übereinstimmung mit den Auffassungen der Repräsentanten der Kommunistischen Partei Italiens (vor allem Sereni) hin.
Die italienischen Experten hatten ihre Haltung zum Gemeinsamen Markt u. a. mit folgender Auffassung präzisiert „. . . In der Gesamtheit hat die Integration eine produktive Ausbreitung von erheblicher Weitläufigkeit begünstigt und die Manifestation und die Wirkung der strukturellen Krisen, die jeden Sektor betroffen haben, geschwächt. Heute, da die Kommunistischen Parteien ihre Opposition gegen den Integrationsprozeß verstärken, muß man sich fragen, ob die einfache Aufforderung zur Auflösung des . Gemeinsamen Marktes'oder zur Kündigung des dazu gehörigen Vertrages genügen würden. Der Wert einer solchen Forderung in reiner und präziser Form steht bei der Opposition gegen den . Gemeinsamen Markt'außerhalb jeder Diskussion. Aber nach unserer Meinung kann die Aktion der Kommunistischen Parteien sich nicht darauf beschränken, jene Forderungen vorzutragen, und dies grundlegend aus zwei Gründen: 1. Weil der . Gemeinsame Markt’ eine bemerkenswerte Lebensfähigkeit beweist und eine Sachlage geschaffen hat, die nicht ohne schwerwiegende Folgen beseitigt werden kann; 2. weil der . Gemeinsame Markt’ auf der Grundlage einer realen Forderung, verursacht durch die Entwicklung der produktiven Kräfte, geboren worden ist."
Mit vergleichbarer Nüchternheit wurde der Gemeinsame Markt im übrigen aber auch von den belgischen Experten beurteilt. Ihre Auffassung formulierten sie u. a. wie folgt „Wenn eine Vielzahl relativ kleiner, durch Zollschranken voneinander getrennter nationaler Absatzmärkte vorhanden ist, stößt die Einführung moderner Techniken auf wachsende Hindernisse, da diese nur in solchen Betrieben gewinnbringend eingesetzt werden, die eine hohe Arbeitskapazität aufweisen und folglich auch gewaltige Absatzmärkte beliefern. Der Gemeinsame Markt ist ein Versuch, diesen tatsächlich vorhandenen Erfordernissen der Entwicklung der produktiven Kräfte und des technischen Fortschritts Genüge zu leisten." 2. Rückwirkungen auf Osteuropa Zu einem Problem für die Sowjetunion ist diese offenkundige Versachlichung der EWG-Beurteilung aber vor allem dadurch geworden, daß mit ihr auch eine zunehmende Versachlichung und Differenzierung der Auffassungen bei den Mitgliedsländern des RgW bewirkt wurde. Als symptomatisch soll hier nur ein polnischer Artikel zum 10. Jahrestag der Gründung der EWG angeführt werden Darin heißt es u. a.: „. . . Hauptsächlich in vielen politischen und Wirtschaftskreisen war man skeptisch, ob solch ein künstliches Gebilde, wie der Gemeinsame Markt, gut funktionieren bzw. sich auf längere Sicht bewähren könne. Aber diese Organisation bestand manche Feuerprobe. Obwohl ihre Existenz mehrere Male an einem Haar hing, scheint die EWG zu einem dauerhaften Faktor der heutigen Wirklichkeit geworden zu sein. . . . Vor 10 Jahren mußte man schon viel Phantasie haben, um sich vorzustellen, daß dieses mit dem Segen Washingtons geschaffene Gebilde in einer so kurzen Zeit auf eigenen Füßen zu stehen vermag und mit Erfolg eine Politik zu führen beginnt (z. B. in Handelsangelegenheiten . . .), die die amerikanischen Pläne so sehr durchkreuzt [gemeint hier v. a. die Kennedy-Runde] . . . Die EWG war auf dem Gebiet der Handelspolitik in der Tat erfolgreich. Das Harmonogramm des Abbaus der inländischen Zölle und der allmählichen Bildung eines gemeinsamen Zolltarifs für den Außenhandel wurde um vieles übertroffen.
Völlig abgebaut werden die inländischen Zölle bereits Mitte 1968 und nicht erst am Ende der Übergangszeit, d. h. im Dezember 1969 . . .
Unserer Meinung nach genügt schon diese Tatsache, um vor allem in bezug auf unsere Handelspolitik weitgehende Schlüsse zu ziehen. Als Handelsunion ist die EWG eine In-stitution von Dauer, die in zunehmendem Maße auf unsere wirtschaftlichen Beziehungen zu Westeuropa einwirken wird. Wir müssen also danach streben, alle Nachteile, die uns durch die Entstehung einer geschlossenen Gemeinschaft der sechs westeuropäischen Länder entstehen, auf ein Minimum einzuschränken." Es wurde deutlich, und zwar nicht nur im Schrifttum, sondern auch in der Praxis der internationalen Wirtschaftspolitik, daß nicht nur Polen, sondern auch die CSSR, Ungarn und Rumänien solche nüchternen Analysen mit konkreten Überlegungen hinsichtlich des Ausbaus ihrer wirtschaftlichen Beziehungen zum Gemeinsamen Markt insgesamt und zu den Mitgliedsländern der EWG im einzelnen verbanden 3. Der politische Aspekt der sowjetischen EWG-Kritik Daß die Realisierung solcher Zielsetzungen nicht ohne politische Rückwirkungen auf das „innere" Gefüge der wirtschaftlichen Zusammenarbeit innerhalb des RgW bleiben konnte, lag und liegt auf der Hand.
Auf die damit verbundenen Probleme ist es nicht zuletzt zurückzuführen, daß die Sowjetunion ihre Bewertung der wirtschaftlichen Integration Westeuropas wieder in zunehmendem Maße auf deren politische Konsequenzen konzentrierte und damit auch Maßstäbe und Grenzen für die Überlegungen ihrer Partner setzte. In einem gleichfalls zum zehnjährigen Bestehen der EWG (drei Wochen nach dem zitierten polnischen Artikel) erschienenen Grundsatzartikel kam dies mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck „Nach außen hin nahm sich der Vertrag über die wirtschaftliche Zusammenarbeit Europas ziemlich harmlos aus . . . Hinter dieser honorigen Fassade aber verbargen die Gründer von , Klein-Europa'weitgesteckte politische Ziele. Ihren Handlungen lag das Bestreben zugrunde, die SpaD tung Europas zu vertiefen, die einen Staaten den anderen Staaten entgegenzustellen und die Normalisierung der Beziehungen zwischen den Ländern des Ostens und des Westens zu verhindern. Die großen Monopole der industriell am stärksten entwickelten Länder des Kontinents waren natürlich an einer Beseitigung der für sie lästigen Zollschranken außerordentlich interessiert. Aber die Taufväter des . Gemeinsamen Marktes', die für die . Freizügigkeit von Waren, Kapital und Arbeitskräften'eintraten, wollten vor allem eine Art ökonomisches Fundament für den atlantischen Block schaffen (zumal ja alle Länder der Gemeinschaft auch der NATO angehörten). Nicht zufällig leisteten die Vereinigten Staaten, die — sollte man meinen — die vereinten Anstrengungen ihrer potentiellen Konkurrenten auf dem europäischen Mutterland hätten fürchten müssen, auf jede Art Geburtshilfe für den . Gemeinsamen Markt'. Sie betrachteten ihn als wichtiges Instrument der Politik des . kalten Krieges', als Mittel zur Spaltung Europas und zur Verschärfung der Spannungen auf dem Kontinent, was nach den Berechnungen Washingtons die Abhängigkeit der westeuropäischen Länder von den USA verstärken mußte."
IV. Ziele der sowjetischen EWG-Politik
Mit den in diesem Artikel — der hier nur als Beispiel für viele andere angeführt wurde — vertretenen grundsätzlichen Auffassungen wurden die Linien für weitere Analysen der westeuropäischen Integration und für die sich auf sie stützende sowjetische EWG-Politik gezogen:
Die Realität des Gemeinsamen Marktes wurde keineswegs wieder in Frage gestellt. Man kann im Gegenteil sogar davon ausgehen, daß die ganze weitere Auseinandersetzung mit ihm ihre eigentliche Ursache in der Einsicht hatte und bis heute hat, daß an einem Erfolg der wirtschaftlichen Integration Westeuropas nicht mehr gezweifelt werden kann.
Auch und gerade in der sowjetischen Analyse und Kritik wird dieser Realität Rechnung getragen. Theoretisch-ideologische Argumente, wie sie in den 17 Thesen von 1957 und in den 32 Thesen von 1962 verbindlich formuliert worden sind, spielen in ihnen natürlich nach wie vor eine nicht unbedeutende Rolle. Aber sie sind eindeutig politisch-pragmatischen Überlegungen und einer entsprechenden Politik untergeordnet. Sie laufen darauf-hinaus — einmal den Fortgang des wirtschaftlichen und politischen Integrationsprozesses zu stören und zu diesem Zweck alle von nationalen Interessen bestimmten „antagonistischen" Bestrebungen unter den Mitgliedsländern mit bilateralen Mitteln zu fördern, und — zum anderen, so weit wie möglich zu verhindern, daß der Kreis der an der Integration teilnehmenden Länder durch Beitritts-und Assoziationsabkommen vergrößert wird.
Dabei geht es, um hier nur einige wenige „Felder" summarisch zu umreißen, darum, — die tatsächlichen nationalen Interessen der einzelnen EWG-Länder (etwa Agrarprobleme, Währungsprobleme, Konjunkturprobleme usw. usf.) im Sinne von wirtschaftlichen und politischen Differenzierungen zwischen ihnen, oder richtiger: im Sinne von sowohl gegeneinander als auch gegen die Interessen der Gemeinschaft gerichteten Divergenzen zu qualifizieren und politisch auszunutzen; — die Erweiterungsbestrebungen durch Beitrittsabkommen europäischer Länder in ihren negativen nationalen und internationalen Aspekten sowohl für die beitrittswilligen Länder selbst (unter weitgehender „Benutzung" der Argumente der jeweiligen nationalen „Beitritts-Opposition"; z. B. hinsichtlich der Commonwealths-Problematik Großbritanniens) als auch für die Gemeinschaft (unter Nutzung der Widerstände in ihr: etwa de Gaulle 1963 und 1967 gegen die Aufnahme Großbritanniens) zu kennzeichnen und durch bilaterale politische Aktivitäten zu stören; — die Assoziationsbegehren nichteuropäischer (insbesondere afrikanischer) Länder diesen gegenüber als machtpolitische Bestrebungen der europäischen „kapitalistischen" Länder mit wirtschaftlichen Mitteln im Sinne der modifizierten Imperialismus-Theorie als Neokolonialismus einzuordnen; — die enge Zusammenarbeit der Gemeinschaft mit den nordamerikanischen Ländern als Bestrebungen der USA zu qualifizieren, dem Gemeinsamen Markt die Rolle des wirtschaftlichen Fundaments der NATO zuzuweisen und alle die gegen die USA und die NATO gerichteten Strömungen zu fördern (z. B. Austritt Frankreichs aus der militärischen Integration der NATO), gleichzeitig aber die USA auch durch Verstärkung der bilateralen Be9 Ziehung UdSSR—USA soweit wie möglich von Europa zu isolieren.
Dieser Katalog könnte erweitert werden; der vorstehende sollte nur einige Aspekte der sowjetischen EWG-Kritik und Westeuropa-Politik aufzeigen. Obwohl sie bis heute mit großer Intensität betrieben worden ist, hat sie aber — weder den Integrationsprozeß in Westeuropa behindern oder auch nur beeinflussen können (krisenhafte Erscheinungen in der Entwicklung der Gemeinschaft hatten ihre Ursache ausschließlich in EWG-internen Problemen) — noch die Ausweitung des Gemeinsamen Marktes durch Abschluß von Beitrittsabkommen — Großbritannien, Irland, Dänemark — verhindern können (auch das Scheitern des Beitritts von Norwegen ist nicht, ja nicht einmal teilweise „dem Konto" der EWG-Politik der Sowjetunion oder dem ihrer Norwegen-Politik „zuzuschreiben").
Erfolgreich ist die sowjetische EWG-Kritik und -Politik allenfalls insofern gewesen, als die Partner im RgW heute ihre Bereitschaft, der Realität der EWG durch handelspolitische Maßnahmen der Gemeinschaft als Institution gegenüber Rechnung zu tragen, wenn überhaupt noch, so doch wesentlich zurückhaltender und unverbindlicher äußern.
V. Sowjetisch-chinesische EWG-Divergenzen
Von nicht unwesentlicher Bedeutung für die heutige sowjetische EWG-Politik ist das seit Anfang 1971 zunehmende Interesse der Volksrepublik China an der Entwicklung des Gemeinsamen Marktes, zumal dabei nicht wirtschaftspolitische, sondern nahezu ausschließlich politische Motivationen die beherrschende Rolle spielen. Einige Äußerungen beider Seiten aus dem letzten Jahr sollen die Bedeutung dieses Aspekts der östlichen EWG-Diskussion zeigen:
In einem anläßlich der Unterzeichnung der Beitrittsabkommen mit Großbritannien, Irland, Dänemark und Norwegen verbreiteten Artikel der chinesischen Nachrichtenagentur heißt es u. a. „Die Verhandlungen über den Beitritt Großbritanniens, Dänemarks, Irlands und Norwegens wurden am 18. 1. in voller Übereinstimmung abgeschlossen . .. Das ist ein neuer Schritt, den die westeuropäischen Länder getan haben, um sich den gegen die Hegemonie der Supermächte ... gerichteten Kräften anzuschließen. Die Unterzeichnung dieses Vertrages ist das Resultat langer und mühsamer Verhandlungen der westeuropäischen Länder ... Die verstärkte Durchsetzung und Kollusion der beiden Supermächte, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, in den letzten Jahren in Europa haben in verstärktem Maße die lebenswichtigen Interessen der europäischen Länder bedroht. Das hat die Einigung unter ihnen im Widerstand gegen die beiden Supermächte gefördert ... Der westeuropäische Gemeinsame Markt wurde 1958 gegründet. Er ist vom westeuropäischen Monopolkapital ... auch zur Stärkung der wirtschaftlichen Behauptung gegenüber den Vereinigten Staaten ... benutzt worden. Die sechs Länder ... verstärken auch ihre Zusammenarbeit in politischen und außenpolitischen Angelegenheiten. Noch für dieses Jahr ist eine Gipfelkonferenz des Erweiterten Gemeinsamen Marktes geplant. Die Konsolidierung und der Ausbau des Gemeinsamen Marktes haben den beiden Supermächten viele Hindernisse in den Weg ihres Feilschens und ihrer Machtpolitik in Europa gelegt . . . Was die Sowjetunion betrifft, so startete ihre Presse und ihre Nachrichtenagentur eine Kampagne gegen die Unterzeichnung des Vertrages. In einem AFP-Bericht vom 22. 1. aus Moskau heißt es: , Der Kreml hat jede vorhergehende Bemühung um die Schaffung eines einheitlichen westeuropäischen Blocks, der sowohl von den Vereinigten Staaten wie von der Sowjetunion unabhängig ist, attakiert', und , die Erweiterung des Gemeinsamen Marktes ist von vielen Aspekten aus gesehen ein Rückschlag für die Sowjetunion’."
Eine der führenden sowjetischen Wirtschaftszeitungen reagierte darauf wie folgt „Die maoistische Führung billigt die volksfeindliche Abmachung der monopolistischen Kreise der westeuropäischen Länder — Beitritt Großbritanniens, Norwegens, Dänemarks und Ir-lands zum Gemeinsamen Markt... Wenn wir von den kapitalistischen Industriebaronen sprechen, so müssen wir sagen, daß diese tatsächlich den Beitritt Großbritanniens zur EWG begrüßen, weil dieser Schritt mit ihren Interessen übereinstimmt ... In erster Linie wird die Oberschicht des britischen Finanz-und Industriekapitals davon profitieren, das ist eine Hand voll Menschen, die die Industrie des Landes kontrollieren ... Und Hsinhua stellt sich mit der positiven Einschätzung dieses Ereignisses an deren Seite."
Ausführlich kritisierte dann einige Zeit später die sowjetische Nachrichtenagentur Novosti die chinesische Haltung „... Peking unterstützt jetzt jene Aktivitäten der EWG, die den Kampf der imperialistischen Staaten gegen den Sozialismus begünstigen. Die chinesische Führung erklärte vor kurzem, sie glaube, daß der Gemeinsame Markt einen Grundfaktor auf dem Wege zur europäischen Unabhängigkeit darstelle und einen wirksamen Kampf gegen das Monopol der beiden Großmächte ermögliche ... Auf diese Weise unterstützt die chinesische Führung die Integrationsprozesse, die in der kapitalistischen Welt stattfinden, und entstellt bewußt die Aufgaben und Ziele der EWG. Die Billigung des Beitritts Großbritanniens spielt den großen Banken und Industriemonopolen in England, die sich in der Hoffnung auf neue Märkte und große Profite um den Kontinent streiten, in die Hände. Selbstverständlich stößt diese Haltung auf weitgehende Genugtuung der herrschenden Kreise in England. Wie man sieht, ist die chinesische Führung nicht darüber besorgt, daß die Stärkung der Gemeinschaft der Monopole die Ausbeutung der Werktätigen intensivieren wird... Im Kampf zwischen Arbeit und Kapital unterstützt Peking das Kapital und verrät somit eine der wichtigsten Leninschen Lehren: , Kapital ist eine internationale Macht, es kann nur bezwungen werden durch das internationale Bündnis und die Brüderlichkeit der Werktätigen'."
Nach der Gipfelkonferenz der EWG am 19. und 20. Oktober 1972 in Paris stellte die amtliche chinesische Nachrichtenagentur fest „Die Ergebnisse dieser Konferenz zeigen, daß die westeuropäischen Länder, deren Unabhängigkeit und Sicherheit von der scharfen Rivalität der beiden Supermächte in Europa immer stärker bedroht werden, entschlossen sind, ihre wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit zu verstärken und ein unabhängiges Europa aufzubauen, das , seine Persönlichkeit behauptet'und sich der Einmischung und Kontrolle der beiden Supermächte entledigt ... In dem Kommunique wird die Entschlossenheit der Mitgliedstaaten bekundet, ihre Gemeinschaft zu stärken und den Gemeinsamen Markt, der jetzt vorwiegend eine Wirtschaftsgruppierung ist, noch vor Ende dieses Jahrzehnts in eine europäische Union umzuwandeln ... Diese Verpflichtung zu einer Union ist das . Hauptergebnis'der zweitägigen Gipfelkonferenz gewesen."
Bereits wenige Tage vor der Pariser Gipfelkonferenz hatte „Novoe vrema" in einem beschwörenden Artikel u. a. festgestellt : „... Die chinesischen offiziellen Persönlichkeiten befleißigen sich bei jeder passenden Gelegenheit, die westeuropäischen Politiker von der Notwendigkeit der Vereinigung der Länder des Westens zu überzeugen, um der Sowjetunion in Europa die Stirn zu bieten. Mit dem vereinigten kapitalistischen Europa verbinden die Maoisten nicht nur Hoffnungen, einen Verbündeten im Kampf gegen die UdSSR und die anderen sozialistischen Länder zu gewinnen, sondern auch ihre Pläne einer technischen Neuausstattung der chinesischen Industrie mit Hilfe des Westens und der weiteren Vergrößerung des militärischen, darunter auch des Atom-Raketen-Potentials Chinas ... Ist es nicht längst an der Zeit für die Pekinger Politiker, endlich den antisowjetischen Schleier aus den Augen zu wischen, der sie daran hindert, vernünftig auf die um sie umgebende Wirklichkeit zu blicken und an die Frage sowohl der asiatischen als auch der europäischen Politik real heranzugehen?"
In einer direkten Stellungnahme zur chinesischen Beurteilung der Pariser Gipfelkonferenz hieß es dann schließlich „Vorige Woche fand, wie bekannt, in Paris eine Gipfelkonferenz der Erweiterten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft statt. Ebenso bekannt ist, daß der Hauptzweck dieser Tagung nicht nur ein engerer Zusammenschluß westeuropä-ischer Unternehmerkreise und des Kapitals war, sondern auch die Schaffung von Voraussetzungen für eine politische und militärische Integration Westeuropas, natürlich in erster Linie im Interesse der regierenden Kreise dieser Länder. Trotzdem zögert jedoch der Kommentator von Radio Peking [das den Hsinhua-Kommentar zuerst verbreitet hatte] mit der Behauptung nicht, die Pariser Konferenz drükke die entscheidenden Bemühungen der europäischen Völker aus, ihre Probleme aus eigener Kraft zu lösen und angesichts der Drohung der beiden Supermächte ... ihre Einheit zu festigen. Damit bestätigte Peking erneut, worum es ihm vor allem geht: Um jeden Preis einen weiteren Punkt seiner antisowjetischen Kampagne zu verzeichnen, ohne Rücksicht auf die Prinzipien des Marxismus-Leninismus, die es bisher formell proklamiert. Die Anhänger der Ideen des großen Mao würden gut daran tun, diese Tatsache gründlich zu durchdenken."
VI. Ideologie und Pragmatismus
Die Analyse der letzten Stellungnahmen Chinas und der Sowjetunion zur EWG — auch sie könnten um weitere ergänzt werden — zeigt, daß die Sowjetunion die chinesischen Äußerungen als eine wesentliche Störung ihrer EWG-Politik im engeren und ihrer Europa-Politik im weiteren Sinne empfindet. Nicht daran zu zweifeln ist, daß China seine EWG-Auffassung auch in absehbarer Zeit beibehalten wird.
Außer Frage steht aber schon jetzt, daß die immer massiveren chinesischen Äußerungen zu EWG-Problemen eine empfindliche Seite der sowjetischen Europapolitik berühren. Dies ist allein daraus zu schließen, daß die Sowjetunion sich einerseits bei Abwehr der chinesischen Europa-Polemik wieder zunehmend auf die Ebene der ideologischen Argumentation gegen die EWG gedrängt sieht, wie sie in den 17 Thesen des Jahres 1957 und in den 32 Thesen des Jahres 1962 formuliert wurde.
Ob es sich bei den chinesischen EWG-Außerungen nur um eine gezielte propagandistische Kampagne zur Beeinflussung der Europapolitik der beiden sogenannten „Supermächte" handelt, läßt sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau beurteilen. Es wäre aber durchaus denkbar, daß hinter dieser politisch motivierten Argumentation auch ein von eigenen ökonomischen Überlegungen geleitetes Interesse an der europäischen Integration ganz allgemein und an der EWG im besonderen steht. Das könnte in absehbarer Zeit durchaus dazu führen, daß China die EWG als völkerrechtliches Subjekt anerkennt. Von den kommunistisch regierten Ländern hat diesen Schritt bisher nur Jugoslawien getan.
Auch für die Sowjetunion und ihr Partner im RgW ist die Frage der Anerkennung der EWG als völkerrechtliches Subjekt zu einem wichtigen politischen Problem geworden, seit die Europäische Gemeinschaft am 1. Januar 1973 die Gesamtkompetenz für die Handelspolitik ihrer Mitgliedsländer übernommen hat. Die Übertragung dieser Kompetenz auf die Gemeinschaft — dies mag hier noch einmal kurz in Erinnerung gerufen werden — hat die seit Ende 1969 gültige Ausnahme-bzw. Übergangsregelung abgelöst. In ihr war festgelegt worden, daß die Mitgliedstaaten der EWG mit sog. Staatshandelsländern nur noch für drei Jahre bilaterale Abkommen schließen können, daß bereits geschlossene und gültige Abkommen bis zu ihrer Auslauffrist in Kraft bleiben (in der Regel: 31. Dezember 1974) und daß bereits über die Protokolle für 1974 — sie ergänzen in der Regel die jeweiligen bilateralen Abkommen um Kontingentslisten für den Warenverkehr — entweder gemeinschaftlich zu verhandeln ist oder die Protokollbasis von 1973 ohne Änderung auch für das Jahr 1974 einfach beibehalten wird.
Wie sich die Sowjetunion auf diese von der EWG geschaffene eindeutige Rechtslage einstellen wird, ist derzeitig noch immer nicht abschließend zu beurteilen. Sie steht bereits in diesem Jahr vor der Konsequenz, entweder Verhandlungen mit der Gemeinschaft und nicht mehr mit ihren einzelnen Mitgliedsländern zu führen — damit würde sie die EWG zumindest völkerrechtlich akzeptieren — oder aber dies nicht zu tun — damit würden die zur Zeit noch laufenden bilateralen Handelsabkommen mit den EWG-Ländern Ende 1974 praktisch beendet werden.
In allen Äußerungen der maßgeblichen sowjetischen Führer und Experten seit Beginn des letzten Jahres wird zwar die „Realität der Existenz des Gemeinsamen Marktes" nach wie vor betont. Aber es wird auch immer hinzu-B gefügt, dies bedeute keineswegs das Einverständnis mit dessen Praktiken und Aktivitäten. über die Frage der zukünftigen konkreten Beziehungen zur EWG geben sie hingegen keine Auskunft oder weichen einer klaren Stellungnahme noch immer aus. Dennoch läßt die praktische Politik der Sowjetunion seit Beginn dieses Jahres deutlich erkennen, daß sich an ihrer prinzipiell ablehenden Einstellung zur EWG nicht nur nicht das geringste geändert hat, sondern daß sie darüber hinaus, wie bisher schon immer, den Fortgang der „Vergemeinschaftung" mit allen Mitteln zu blockieren, zumindest aber zu neutralisieren sucht.
Diese Politik vollzieht sich unter dem Schlagwort „gesamteuropäische Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Gebiet" Sie nimmt in dem zunehmenden Interesse der Sowjetunion — und natürlich auch ihrer Partnerstaaten im RgW — an einer unmittelbaren Kooperation ihrer Außenhandelsorganisationen oder sogar Betriebe mit Betrieben in den EWG-Ländern immer konkretere Gestalt an. Zahlreiche solcher Verträge sind schon bisher geschlossen worden. Damit stößt sie — und darin ist die Erklärung für dieses rege Interesse zu suchen — in einen Bereich vor, der auch für die EWG absolutes „Neuland" ist. Denn diese Formen der bilateralen zwischenbetrieblichen Kooperation zwischen Ost und West unterliegen bisher eben noch nicht dem EWG-Regime, wie die handelsvertraglichen Beziehungen.
Nach allen Erfahrungen und bei Abwägung der noch bestehenden Schwierigkeiten dürfte auch vorerst kaum zu erwarten sein, daß die EWG in absehbarer Zeit in diesem Bereich der unmittelbaren zwischenbetrieblichen Kooperation zu gemeinschaftlichen Regelungen kommt, wie sie auf dem Gebiet der Handelspolitik bereits verwirklicht worden sind.
Die Politik, die die Sowjetunion gerade in jüngster Zeit auf diesem Gebiet entwickelt hat — Breschnews Besuche in Bonn und Paris haben dies besonders deutlich hervortreten lassen —, läuft darauf hinaus, diese in den Ost
West-Beziehungen neuen bilateralen Vertragsformen sowohl quantitativ als auch qualitativ auszubauen und zu verbessern und dadurch das EWG-Gemeinschaftssystem bilateral so wirksam zu unterlaufen, daß eine Anerkennung der EWG als völkerrechtliches Subjekt nicht mehr die Voraussetzung ist für den Ausbau ihrer wirtschaftlichen Beziehungen zu den westeuropäischen Ländern (im Interesse ihrer lebensnotwendigen Importbedürfnisse). Daß die Sowjetunion darüber hinaus bestrebt ist, mit ihrer derzeitigen Politik sowohl auf bilateraler als auch auf multilateraler Ebene (etwa KSZE) die Weiterentwicklung der EWG zu einer politischen Union mit allen Mitteln zu stören und sie möglicherweise sogar zu verhindern, hat ein in der sowjetischen Zeitschrift „mezdunarodnaja zizin"'(Internationales Leben) soeben veröffentlichter Grundsatz-artikel erneut mit aller Deutlichkeit klargemacht In der Diskussion zur Herstellung einer politischen Union der EWG-Länder, so wird darin festgestellt, drücke sich in erster Linie die Furcht vor den segenbringenden Wandlungen im politischen Leben Europas und vor einer weiteren Entspannung auf dem Kontinent aus, die durch die aktive Außenpolitik der sozialitischen Länder gefördert werde. Alle Versuche, die Idee der politischen Integration der westeuropäischen Staaten zu beleben, „laufen der allgemeinen Tendenz zur Vertiefung und Erweiterung der Zusammenarbeit auf der Grundlage der friedlichen Koexistenz zuwider".
Mit dieser Argumentation wird auch der Auffassung widersprochen, daß die objektiven Entwicklungstendenzen der Wirtschaftsintegration zwangsläufig auf die politische Integration hinführen müssen. Hier werden Motivationen und Zielsetzungen der sowjetischen Europapolitik sichtbar, an der sowohl die weitere Integrations-als auch die Ostpolitik der westeuropäischen Staaten nicht einfach vorbeigehen kann.
Hans Bräker, Dr. phil., geb. 1921, Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen der Wirtschaftspolitik der osteuropäischen Länder, der Entwicklungsländer, der Entwicklungshilfe und über religionswissenschaftliche Probleme. Zuletzt u. a.: Multilaterale Hilfeleistung für Entwicklungsländer. Ein Beitrag zur internationalen technisch-wirtschaftlichen Zusammenarbeit, Köln-Opladen 1968; Die religionsphilosophische Diskussion in der Sowjetunion. Zur heutigen Auseinandersetzung des Marxismus-Leninismus mit dem Christentum, in: Marxismusstudien, Sechste Folge, Tübingen 1969; Kommunismus und Weltreligionen Asiens. Zur Religionsund Asienpolitik der Sowjetunion, Band I, 1: Kommunismus und Islam. Religionsdiskussion und Islam in der Sowjetunion, Tübingen 1969; Band I, 2: Kommunismus und Islam. Islam und sowjetische Zentral-und Südostasienpolitik, Tübingen 1971; Währungsprobleme und Integration in Osteuropa, Berichte des Bundesinstituts, Nr. 13/1972; Religionsproblematik und Nationalitätenpolitik, Berichte des Bundes-instituts, Nr. 31/1972; Die Sowjetunion, der RgW, die EWG und das GATT, Berichte des Bundesinstituts, Nr. 21/1973.
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