I. Aktuelle Anlässe
1. Als sich der Verfasser etwa vor Jahresfrist mit Bedingungen, Problemen und Konsequenzen der herrschenden wachstumspolitischen Konzeption auseinanderzusetzen versuchte 1), gelangte er — u. a. — am Ende seiner Überlegungen zu dem Ergebnis, daß das bislang erfolgreich tabuisierte Ordnungsbild der Sozialen Marktwirtschaft relativiert werden müsse, wenn eine zukunftsorientierte — und das heißt konkret: den gesellschaftspolitischen Notwendigkeiten entsprechende — Wachstumspolitik konzipiert werden soll. Es ist die Aufgabe der folgenden Überlegungen, diesen Gedanken aufzugreifen, zu analysieren und weiterzuentwickeln.
Freilich wird gleich zu Anfang eine wichtige — und auf den ersten Blick vielleicht etwas unbefriedigend erscheinende — Einschränkung gemacht werden müssen: Am Ende dieser Untersuchung wird mit Sicherheit kein detailliertes ordnungspolitisches „Patentrezept" i. S. einer geschlossenen, konsistenten Ordnungskonzeption stehen. Dies muß vor allem darauf zurückgeführt werden, daß sich die wissenschaftlichen Disziplinen, die hierfür in erster Linie in Frage kommen, in den zurückliegenden Jahren kaum mit den hier anstehenden Fragen auseinandersetzten. Die Nationalökonomie hat sich ganz darauf beschränkt, die theoretische Analyse der wirtschaftlichen Ablaufprozesse nur „im Rahmen marktwirtschaftlicher Ordnungen" — diese also gewissermaßen als gegeben hinnehmend — durchzuführen Das gleiche gilt für die Politologie, die das Problem der Wirtschaftsordnung in seiner gesellschaftspolitischen Relevanz auch nicht gerade in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen rückte Insofern kann es nicht überraschen, daß auch die wissenschaftliche Politikberatung, wie sie in der BRD etwa im Sachverständigenrat institutionalisiert ist, sich ganz dem marktwirtschaftlichen Ordnungsmodell verpflichtet fühlt Angesichts dieses Sachverhalts hielte es der Verfasser für vermessen, dieses wissenschaftliche Vakuum — gewissermaßen in einem „Wurf" — ausfüllen und ein umfassendes Sozialstaatsmodell entwickeln und vorstellen zu können.
Es wird also im folgenden primär darum gehen müssen, die bestehende Ordnungskonzeption hinsichtlich ihrer gesellschaftspolitischen Implikationen kritisch zu analysieren und für ihre (als notwendig erachtete) Weiterentwicklung einige Akzente zu setzen. Und diese scheinbare Selbstbeschränkung sollte auch gar nicht schrecken. Eduard Heimann definierte einmal die „soziale Ideologie" als einen Versuch, eine historisch begrenzte Wahrheit zu einem System auszubauen und zu verabsolutieren, womit das historisch Bedingte einen überhistorischen Anspruch und damit eine absolute Geltung für den Menschen erhalte Nach ihm gilt dies sowohl für die auf dem Privateigentum aufbauende bourgeoise als auch für die auf dem Kollektiveigentum aufbauende proletarische Ideologie. Beide wollen die Geschichte — und damit den Menschen — beherrschen; nach Heimann kann es aber bei einer Reform nur darum ge-hen, zur Geschichte beizutragen, um die bestehenden bzw. neu entstehenden Probleme lösen zu helfen. Daraus folgt: Ein bestehendes Ordnungssystem zu analysieren (um es — vielleicht — als eine Ideologie zu entlarven), schafft die Möglichkeit, neue ordnungspolitische Akzente zu setzen; die Entwicklung einer Antikonzeption (mit — vielleicht — absolutem Geltungsanspruch) könnte allzu leicht Gefahr laufen, eine Ideologie apodiktisch durch eine andere zu ersetzen. Dies kann und sollte nicht das Anliegen der vorliegenden Untersuchung sein. Denn das Ergebnis wäre nur eine ideologische Konfrontation, die keine Probleme löst, sondern nur zusätzliche Probleme schafft. 2. Nun ist der Versuch, zur bestehenden Ordnungskonzeption Alternativmodelle zu entwickeln, keineswegs neu. Solche Versuche hat es schon immer gegeben — praktisch gleichlaufend mit der Etablierung der „Sozialen Marktwirtschaft" in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Dennoch ist diese Diskussion über Jahre hinweg eigentlich mehr am Rande erfolgt. Der (ökonomische) Erfolg schien die herrschende Ordnungskonzeption zu bestätigen. Doch seit einigen Jahren scheint sich mehr und mehr ein gewisses Unbehagen zu artikulieren, und dies bezeichnenderweise nicht nur bei einer dogmatisierenden Minderheit: Einer der geistigen Väter der bestehenden Ordnungskonzeption — Alfred Müller-Armack — wies erst vor wenigen Jahren auf die Notwendigkeit hin, „dieses marktwirtschaftliche Organisationsgebilde mit sozialen und gesellschaftlichen Fortschritten vereinbar zu machen" Man erkennt also eine offenbar immer noch bestehende Notwendigkeit, ohne hierfür — wie bereits angedeutet — wissenschaftlich gerüstet zu sein. Dies ist der — mehr grundsätzliche — Anlaß der nachstehenden Überlegungen. Doch selbst, wenn dieser Anlaß als nicht so unmittelbar drängend empfunden werden würde, ist nicht zu übersehen, daß eine Reihe aktueller Anlässe es geradezu als geboten erscheinen läßt, sich mit dem Problem der Ordnungskonzeption auseinanderzusetzen. Drei solcher Anlässe seien hier — mehr skizzenhaft als systematisch — kurz erwähnt:
— Als Bundeskanzler Willy Brandt in seiner Regierungserklärung zum Jahresbeginn 1973 die Möglichkeit andeutete, die Konzertierte Aktion und die sozialpolitische Gesprächsrunde zu einem gemeinsamen Konsultationsorgan weiterzuentwickeln, wurde dies — 1t. Pressestimmen — allgemein als „heikel" apostrophiert; man wolle keinen Wirtschafts-und Sozialrat.
Der geringste Versuch, ordnungspolitische Alternativen auch nur anzudeuten, verursacht also sofort Unruhe; so stark scheinen dogmatische Grundeinstellungen zu sein.
— Als wenige Wochen später die internationale Währungskrise die Bundesregierung veranlaßte, von § 23 des Außenwirtschaftsgesetzes (dirigistische Eingriffe in den internationalen Kapitalverkehr) Gebrauch zu machen, sah man hierin sofort ein Indiz für einen „Marsch in den Dirigismus"
Als — zu allem Überfluß — sich diese dirigistischen Instrumente als unwirksam erwiesen, vermutete man hierin sofort eine Bestätigung der These, daß es im Grunde eine Alternative zu marktwirtschaftlichen „Sachzwängen" gar nicht gebe. Der Dogmatismus fand im Pragmatismus eine willkommene Ergänzung.
— Wieder wenige Wochen später erschien der JahresWirtschaftsbericht der Bundesregierung, in dem sich die Bundesregierung zur Marktwirtschaft als dem bewährten Leitbild der Wirtschaftsordnung bekannte Gewiß, man versuchte dieses Leitbild zu relativieren, d. h. restriktiven Bedingungen zu unterwerfen: Es dürfe a)
weder Selbstzweck noch b) ein gruppenbezogenes Herrschaftsinstrument sein, sondern müsse c) im Dienste des Verbrauchers stehen und damit d) die Grundlagen für eine Verbesserung der gemeinsamen Lebensbedingungen schaffen. Ob dieses Leitbild diese Bedingungen erfüllt, wurde freilich im Bericht nicht untersucht. Dogmatismus, Pragmatismus — schließlich Ausklammern: dies scheint offenbar der Stand der Ordnungsdiskussion zu sein. Er kann nicht befriedigen, wenngleich er eine verhängnisvolle Synthese mit der wissenschaftlichen Selbstbeschränkung damit eingegangen ist.
Diese Synthese bildet den grundlegenden Anlaß der folgenden Überlegungen; denn eine solche Synthese löst mit Sicherheit nicht die sich daraus ergebenden Probleme.
II. Das Problem der Themastellung
1. Das Problem stellt sich vordergründig in der Frage, warum dieser Diskussionsstand so unbefriedigend ist. Der Grund hierfür wird zunächst darin gesehen werden müssen, daß gegenwärtig Diskussionen über Probleme der Wirtschaftsordnung „nicht gerade selten durch allzu dogmatische und ideologische Grundhaltungen bestimmt" werden Dies hat eine sehr naheliegende Konsequenz: Die Diskussionen werden nicht mehr mit Sachargumenten geführt; sie sind „nur noch Binnendiskussionen innerhalb der eigenen Lager mit räsonierendem Schaugebell über die Zäune hinweg, eine Art von risikoloser Selbstbestätigung der Insider!" Diese Dogmatisierung ergibt sich gegenwärtig aus der unübersehbaren Konfrontation zweier extremer Positionen, die beide jene Voraussetzungen erfüllen, die Eduard Heimann an den Tatbestand einer „sozialen Ideologie" (s. o.) knüpft:
— Auf der einen Seite sieht man in der Marktwirtschaft den „Sprung in die Freiheit" und mit ihrer Gefährdung eine Gefahr für unsere Demokratie und unsere Kultur Mißbräuche — und daraus resultierend gesellschaftspolitische Probleme — sollten zwar nicht gebilligt, aber eben „als kaum vermeidbare Tatbestände angesehen und verstanden werden"
Jede kritische Auseinandersetzung begründe höchstens Illusionen und Tendenzen zu (nicht-akzeptablen) kommunistischen Gesellschaftsformen Diese Position hält an einer einfachen Alternative — Kapitalismus versus Kommunismus — fest, sieht zwar einerseits Unvollkommenheiten dieser kapitalistischen Welt, sieht aber andererseits (angesichts der kommunistischen Alternative) nur einen Weg: Diese kapitalistische Welt eben etwas „erträglicher" zu machen und dem Unternehmer — dem Träger dieser Welt — ins Bewußtsein zu rufen, daß er in dieser Welt auch eine sozial-gesellschaftliche Rolle habe Mit dieser Position reduziert sich die Reform des Systems auf eine Erziehungsaufgabe seiner Träger, die — wenn sie nicht hinreicht — nur noch Platz für die Resignation läßt. — Auf der anderen Seite will man sich nicht nur auf eine unverbindliche Kapitalismuskritik beschränken. Man will die Kritik weiterführen bis hin zu der Frage „nach der Uberfälligkeit einer Ablösung bestehender Produktionsverhältnisse" Nicht selten bleibt es bei derartigen Grundsatzerklärungen, ohne daß im einzelnen dargelegt wird, wie diese neuen Produktionsverhältnisse gestaltet werden sollen, zu welchen gesellschaftspolitischen Implikationen sie führen und — vor allem — an welchen gesellschaftspolitischen Zielen sie ausgerichtet sind An diesem Punkt wird nicht mehr das bestehende System, sondern seine Sprengung zum Selbstzweck, d. h., es wird nicht mehr die konkrete Frage gestellt, ob, in welchen Grenzen und unter welchen Bedingungen marktwirtschaftliche Ordnungskriterien ihre Berechtigung noch haben bzw. einmal hatten. Hierin dürfte der entscheidende Grund zu sehen sein, warum sich die Ver-treter beider Positionen „nichts zu sagen" haben.
So bleibt die Konfrontation; und hierin liegt der erste Aspekt des Problems: „Wer auf die Fragen unseres Dezenniums die Antworten des 19. Jahrhunderts gibt, der produziert sozialen Sprengstoff"; unsere Bedürfnisse sind „weder durch Zementier Jahrhunderts gibt, der produziert sozialen Sprengstoff"; unsere Bedürfnisse sind „weder durch Zementierung noch durch Sprengung des Systems, sondern nur durch seine Weiterentwicklung, seine Reform zu erfüllen und zu gewährleisten" 18). 2. Mit dem damit angeschnittenen Problem der Bedürfnisbefriedigung wird ein weiterer Aspekt des gesamten Problemkomplexes angesprochen. Rostow — ein Berater des Präsidenten Kennedy — meint, daß die Rechtfertigung unserer Wirtschaftsordnung von der Fähigkeit abhänge, „die Wünsche unserer eigenen Bevölkerung zu erfüllen" 19). M. a. W.: Das Problem der Wahl zwischen Planung und Marktwirtschaft ist nicht eine rein technische Frage, sondern muß aus dem Aspekt der wirtschaftspolitischen Ziele gesehen werden Eine Analyse dieser wirtschaftspolitischen Ziele — und eine solche Analyse ist erforderlich, wenn (wie bereits an Hand des jüngsten Jahreswirtschaftsberichtes erwähnt) eine bestimmte Ordnungsform nicht Selbstzweck ist — macht folgenden Sachverhalt deutlich
— Die herrschende Wirtschaftsordnung hat sich primär dem Wachstumsziel verschrieben, und sie hat alle anderen Zielsetzungen diesem Ziel untergeordnet. — Diese anderen Zielsetzungen — die subsumiert werden können unter dem Ziel der gesellschaftspolitischen Adäquanz (konkret: soziale Sicherheit, soziale Gerechtigkeit, soziales Gleichgewicht) — behalten nur insoweit einen eigenständigen Zielcharakter, als man versucht, sie nicht „gegen", sondern „durch" den Wachstumsprozeß zu realisieren.
Die Frage, die sich somit stellt, ist: Kann eine solche Nachordnung noch gerechtfertigt werden? Diese Frage wäre zweifelsohne bejahen in einer sog. Armutsbzw. Knap heitsgesellschaft; sie wird aber umstritten einer sog. Wohlstandsgesellschaft. Wenn fr lieh Erich Preiser feststellt, daß eine solc Wohlstandsgesellschaft eher mehr als wei ger Planung brauche und Molitor inst sondere die Notwendigkeit anspricht, die I vestitionen „ordnend in den Griff zu beko men" so sind damit im Grunde nur Lee formeln zum Ausdruck gebracht, einfach de halb, weil dieses „Mehr" an Planung dan noch nicht konkretisiert ist Die mangel de Konkretisierung ist also der zwei Aspekt des Problems. 3. Die dogmatisierende Konfrontation eine seits und die mangelhafte Konkretisierui andererseits machen eine systematische B handlung des Problems nicht einfach. Del im Grunde müßten zwei völlig verschiede] Schlußfolgerungen auseinandergehalten we den:
— Daß das gegenwärtige System der Marl bzw. Wettbewerbswirtschaft reform-„b dürftig" ist und weiterentwickelt werd« muß, erweist sich mehr und mehr als Bi senwahrheit und ist im Grunde gar nie mehr umstritten. Und daraus folgt: Gera« die Ideologisierung der Marktwirtscha — und das hieße konkret: die Hinnahn ihrer gesamten Problematik — hilft nie weiter; sie begünstigt eher die extren Gegenposition Doch das ist nicht di Problem — dieses liegt tiefer. Das eigentliche Problem ist, Ob das marktwirtschaftliche System überhaupt reform-
„fähig" ist, d. h. aüs sich heraus die notwendige Weiterentwicklung trägt und möglich macht, ohne daß seine tragenden Prinzipien in Frage gestellt werden müssen. Teils wird diese Flexibilität der Marktwirtschaft unterstellt, d. h., es wird erwartet, daß die Marktwirtschaft aus sich heraus die anstehenden gesellschaftspolitischen Probleme lösen kann teils ist sich selbst ein Verfechter der Marktwirtschaft darüber nicht so ganz im klaren
Entscheidend ist also nicht — und das ist der dritte Aspekt der Problemstellung — die Frage der Reformnotwendigkeit, sondern die Frage der systemimmanenten Reformfähigkeit Diese Fragestellung führt mit innerer Folgerichtigkeit zur Analyse der Ausgangsbedingungen des bestehenden Wirtschaftssystems selbst.
II. Ausgangsbedingungen der Konzeption
1. Das bestehende Wirtschaftssystem, das sich in der BRD unter dem Begriff „Soziale Marktwirtschaft" etwa seit der Währungsreform etabliert hat, ist eine Ordnungsform, die auf dem theoretischen Modell des ORDO-bzw. Neoliberalismus aufbaut. Dieses theoretische Modell, das insbesondere von der Freiburger Schule entwickelt wurde — und sich von daher vor allem mit dem Namen Walter Eucken verband (daneben: Böhm, Hayek, Miksch, Röpke, Rüstow) —, setzte dann vor allem Ludwig Erhard (und mit ihm sein Staatssekretär Alfred Müller-Armack) in die wirtschaftspolitische Praxis um. Entscheidend freilich ist, daß dieser Umsetzungsprozeß nicht direkt und unmittelbar erfolgte, sondern indirekt und mittelbar, d. h. zwischen theore-tischem Konzept und praktischer Realisierung standen konkrete wirtschaftpolitische Zielsetzungen: Die (reine) Ordnungsform wurde mit Effizienzgesichtspunkten (wirtschaftliches Wachstum) konfrontiert — und entsprechend modifiziert. Dieser Prozeß, der für das Selbstverständnis der herrschenden Ordnungsform von elementarer Bedeutung ist, bedarf einer detaillierteren Analyse; denn er führt zu den Ausgangsbedingungen der gegenwärtigen Ordnungsdiskussion. 2. Das theoretische Modell entstand aus der kritischen Konfrontation mit anderen Ordnungsvorstellungen Aus dieser Konfrontation wurden von Eucken drei Grundprinzipien entwickelt.
Das erste Grundprinzip ist der Grundsatz der individuellen Freiheit. Eucken will eine Wirtschaftsordnung, die dem Wesen des Menschen — seiner Freiheit und Würde — entspricht Für ihn ist der Mensch Selbstzweck und nicht nur Mittel zum Zweck Vor allem — eine sehr wichtige Feststellung — gründet er seine Freiheitsvorstellung auf jene Grundprinzipien, wie sie im 18. Jahrhundert entwickelt wurden Von da aus leitet er die Forderung von Privateigentum und Privatautonomie (auch im Wirtschaftsprozeß) ab und wendet sich entschieden gegen alle (ins-besondere marxistischen) Ordnungsvorstellungen, die auf der Vergesellschaftung -der Produktionsmittel und der zentralen Planung des Wirtschaftsprozesses aufbauen.
Das zweite Grundprinzip ist der Grundsatz der systematischen Wirtschaftspolitik, d. h., es wird eine Orientierung der Wirtschaftspolitik an einem alle Maßnahmen bestimmenden Ordnungsprinzip gefordert. Mit dieser Forderung wendet sich Eucken insbesondere gegen den Interventionismus, eine wirtschaftspolitische Konzeption, die versuchte, alle auftretenden Probleme ad hoc durch punktuelle Interventionen zu lösen. In ihm sieht er eine „Wirtschaftspolitik der Experimente", die oft keiner geistigen Vorarbeit entspricht Von diesem Grundprinzip ausgehend, lehnt Eucken insbesondere jene Wirtschaftspolitik ab, wie sie vor dem Zweiten Weltkrieg (Wirtschaftskrise) und während des Zweiten Weltkrieges (Kriegswirtschaftsdirigismus) entwickelt wurde.
Das dritte Grundprinzip ist der Grundsatz des starken Staates. Dies ist insofern kein Widerspruch zum ersten Grundprinzip, weil dieser starke Staat nicht in den Wirtschaftsprozeß eingreifen, sondern den für einen ungestörten und freien Ablauf des Wirtschaftsprozesses notwendigen rechtlichen Rahmen schaffen soll. Mit diesem Grundprinzip wendet sich Eucken insbesondere gegen den klassischen Liberalismus, wie er im 19. Jahrhundert entwickelt wurde. Er teilt wohl dessen Auffassung, daß der Staat nicht in den Prozeß des Wirtschaftsablaufes eingreifen sollte, nicht aber dessen These von der sog. „prästabi-lierten Harmonie", wonach auch die Schaffung einer Rahmenordnung überflüssig sei. Für Eucken ist eine freiheitliche Wirtschaftsordnung nicht eine a priori vorgegebene, sondern eine gesetzte Ordnung, zu deren Herstellung und Überwachung ein starker Staat erforderlich ist, weil Schäden an der Ordnung vom Individuum nicht beseitigt werden können Es geht also darum, die Wirtschaftsordnung bewußt zu gestalten.
3. Auf der Grundlage dieses theoretischen Modells mit drei zentralen Grundprinzipien entwickelt Eucken eine wirtschaftspolitische Konzeption, die sich wiederum auf drei Pfeiler stützt.
Erstens die konstituierenden Prinzipien: Sie haben zur Aufgabe, die Voraussetzung für eine freie Marktwirtschaftsordnung überhaupt erst einmal zu schaffen. Dazu zählen: (1) Herstellung eines Preissystems der vollständigen Konkurrenz, (2) stabile Währung, (3) Gewährleistung eines freien Zuganges zu den Märkten, (4) Gewährleistung des Privateigentums an Produktionsmitteln, (5) Gewährleistung der Vertragsfreiheit, sofern deren Ausübung nicht die Freiheit anderer ausschaltet, (6) volle Haftung, d. h., dem Gewinn muß eine echte Leistung, der Rentabilitätschance das Risiko gegenüberstehen, (7) Konstanz der Wirtschaftspolitik, d. h., die Wirtschaftssubjekte müssen mit einer gleichbleibenden wirtschaftspolitischen Konzeption rechnen können
Zweitens die regulierenden Prinzipien: Sie gehen davon aus, daß der Wettbewerb in einer so geschaffenen Marktwirtschaftsordnung nicht unbedingt immer zu optimalen Ergebnissen führt. Dies ist zwar für Eucken kein Grund, von vornherein in den Prozeßablauf gestaltend einzugreifen, wohl aber ein Anlaß, die Prozeßergebnisse und Prozeßbedingungen zu regulieren und zu korrigieren. Deshalb wird eine dreifache Regulierungsund Korrekturmöglichkeit durch den Staat vorgesehen: (1) Monopolkontrolle, die die Entstehung von Monopolen und Kartellen verhindert, vermeidbare Monopole auflöst und unvermeidbare Monopole steuert und kontrolliert. Der Sinn dieser Regulierung ist darin zu sehen, daß der Wettbewerb — im Sinne einer echten Leistungskonkurrenz gleichstarker Wettbewerber — funktionsfähig erhalten bleiben soll. (2) Korrektur der Einkommensverteilung durch die Fiskalpolitik (Steuerprogression), ohne die Investitionsneigung der Unternehmer zu beeinträchtigen. Diese Maßnahme geht davon aus, daß die Startchancengleichheit nicht unbedingt gegeben ist (Vermögen, Alter, Krankheit, Individualität), so daß es erforderlich ist, nachträglich sozial nicht zu rechtfertigende Verteilungsverzerrungen zu korrigieren. (3) Sozialpolitik, um bestimmte soziale Mindeststandards (Mindestlohn, Arbeitszeitregelung, Frauen-und Kinderarbeitsregelung) sicherzustellen, sowie Bestimmungen, um die Ökologie gegen einzelwirtschaftlich bedingten Raubbau zu schützen. Diese Korrekturen gehen davon aus, daß bestimmte Voraussetzungen und Konsequenzen der Marktwirtschaftsordnung Probleme schaffen, deren Lösung vom Konkurrenzmechanismus und dessen tragen-dem Prinzip, der Rentabilität, nicht erreichbar ist
Drittens die widergelagerte Gesellschaftspolitik: Sie geht davon aus, daß das konstituierende Element einer Marktwirtschaftsordnung denknotwendig der individuelle Egoismus, geprägt durch Gewinnüberlegungen, ist. Er äußert sich aber u. U. nicht nur im (rein ökonomischen) Konkurrenzkampf, sondern könnte auch geeignet sein, ein Auseinander-brechen der Gesellschaftsordnung im (au-ßerökonomischen) Bereich zu provozieren. Insofern bedarf die Wettbewerbsordnung der humanitären Ergänzung. Nur in einer Kombination von einem (berechtigenden) Individualprinzip mit einem (verpflichtenden) Sozial-prinzip sieht man eine Chance, diesen Konflikt zu lösen. Einen Ansatz sieht man vor allem in einer konsequenten Dezentralisierungspolitik (Schaffung kleiner, überschaubarer Betriebseinheiten und Wohnzentren), weil man hier eher die Voraussetzungen zur selbsttätigen Entwicklung des humanen Sozialprinzips als gegeben unterstellt als in einer anonymen Massengesellschaft
4. Konstituierung, Regulierung und humanitäre Ergänzung — auf diesen drei Pfeilern baute der Neoliberalismus ein theoretisches Ordnungskonzept auf, von dem aus Franz Böhm einen „doppelten Bezug zur Freiheitsidee" ableitet
Der freie Marktmechanismus stelle — einmal — ein überindividuelles Koordinierungsund Sanktionierungsverfahren dar, das die Wirtschaftssubjekte, gesteuert durch den Privatgewinn, gleichzeitig zu einem volkswirtschaftlich richtigen Verhalten lenke, weshalb dieses Verhalten damit auch zu einem volkswirtschaftlich richtigen Ergebnis führe. Mit der ökonomischen Freiheitsidee verbinde sich somit das Kriterium der ökonomischen Effizienz. Der freie Marktmechanismus führe — zum zweiten — zu einer Wertgleichheit von Leistung und Gegenleistung. Da alle Wirtschaftssubjekte einander gleichgeordnet sind und sich die Handlungsfähigkeit und Verfügungsmacht des einzelnen auf sein Eigentum beschränke, sei das individuelle Energie-potential sozial ungefährlich, woraus sich ergebe, daß die aus dem Marktmechanismus resultierende Wertgleichheit gleichzeitig dem Kriterium der sozialen Gerechtigkeit entspreche. Man würde es sich zu einfach machen, wollte man diesen Schlußfolgerungen schlichte Weltfremdheit vorwerfen. Die Schlußfolgerungen könnten durchaus konsequent den Modellvoraussetzungen entsprechen — wenn diese gegeben wären. Tatsächlich hatte dieses theoretische Ordnungsmodell einen idealtypischen Charakter; seine Umsetzung in die Realität mußte somit zwangsläufig Konflikte schaffen, Konflikte, die sich genau auf diesen doppelten Bezugsrahmen Böhms konzentrierten.
IV. Realisierungsprobleme der Konzeption
1. Wie schon erwähnt, schob sich zwischen theoretisches Konzept und politische Realisierung des Wachstumsziel (Ziff. III/l). Das Euckensche Modell war ein reines Ordnungsmodell; der doppelte Bezugspunkt bei Böhm war nicht viel mehr als eine Hypothese. Dies hatte Ludwig Erhard relativ früh erkannt. Er mußte seine Aufgabe darin sehen, die Ordnungsidee mit der Effizienz-und Gerechtigkeitsidee in praxi zu verknüpfen; und den Drehund Angelpunkt sah er im wirtschaftlichen Wachstum. Der Slogan „Wohlstand für alle" implizierte damit eine doppelte Funktion: Wachstum war einerseits Selbstzweck (i. S.der Lebensstandarderhöhung überhaupt); es war andererseits Mittel zum Zweck (i. S.der Lebensstandarderhöhung für alle), um die soziale Relevanz des wirtschaftlichen Ablaufprozesses zu gewährleisten. Darauf folgt: Die ordnungstheoretischen Grundprinzipien (Ziff-III/2) konnten erhalten bleiben, die daraus abgeleiteten ordnungspolitischen Grundpfeiler (Ziff. III/3) mußten dort modifiziert werden, wo sie der Wachstums-idee . — konkret: der Bereitschaft der Unternehmer, im Interesse des Wachstums Investitionen durchzuführen — widersprachen. Damit war aber ein eigentümlicher Konflikt in der Wurzel angelegt: „Marktwirtschaft", soweit sie im Sinne von Privateigentum und Privatautonomie interpretiert wird, bleibt als Grundprinzip erhalten; „Marktwirtschaft", soweit sie als zu konstituierender, zu regulierender und humanitär zu ergänzender Wettbewerbs- und Leistungskonkurrenzmechanismus interpretiert wird, bedarf der Relativierung. Und diese Relativierung erfolgte dreifach, völlig den dargestellten Grundpfeilern entsprechend.
Hinsichtlich der „konstituierenden" Prinzipien will Erhard das Euckensche Preissystem vollkommener Konkurrenz nur noch als Denkmodell gelten lassen, es aber nicht zum Grundprinzip machen. Für ihn ist nicht das Vollständigkeits-, sondern das Leistungskriterium maßgebend, und danach wird beurteilt, welcher Wettbewerbsgrad ökonomisch sinnvoll erscheint
Hinsichtlich der „regulierenden" Prinzipien ist Erhard ebenfalls dem Euckenschen Grundsatz gegenüber skeptisch eingestellt. So könnte sich eine bedingungslose Monopolkontrolle vom Wachstumsaspekt her ebenso verbieten wie eine Einkommensumverteilung. Die generelle Wohlstandssteigerung über eine geldwertstabile Expansion könnte „sozialer" als eine wachstumsgefährdende Umverteilung sein
Hinsichtlich der „widergelagerten Gesellschaftspolitik" könnten von einer prinzipiellen Dezentralisierungspolitik u. U. auch Wachstumsgefahren ausgehen, weshalb sich Erhard hier darauf beschränkt — den Intentionen dieses dritten Grundsatzes konsequent folgend —, an das soziale Verantwortungsbewußtsein aller zu appellieren Die „formierte Gesellschaft" ist hierfür konkreter Ausdruck.
2. Die Verbindung der theoretischen Ausgangsbedingungen Euckens mit ihrer Realisierung durch Erhard macht das Grundsatzproblem der herrschenden Anwendung erst recht deutlich. Es geht hier nicht darum, Erfolg oder Mißerfolg dieser — seit ca. 25 Jahren in der BRD praktizierten — Ordnungskonzeption empirisch nachzuzeichnen. Wichtiger erscheint es in diesem Zusammenhang, die ordnungstheoretische Problematik überhaupt herauszuarbeiten.
Schon am theoretischen Modell des Neoliberalismus Euckens vermißt Riese die Gesellschaftstheorie, „die die politische Willensbildung aus bestimmten, durch ökonomische Mechanismen beeinflußten sozialen Verhältnissen ableitet und in ihren Wirkungen auf die Wirtschaftsordnung analysiert" M. a. W.: Die Ordnungskonzeption wird ohne Rücksicht auf die Struktur der Gesellschaft, d. h. ihrer unterschiedlichen machtbedingten Einflußmöglichkeiten, entwickelt. Die formale Wahlfreiheit wird ungeprüft mit der materiellen Wahlfreiheit identifiziert. Böhm mußte hierbei dann den Umweg über die Hypothese von der sozialen Ungefährlichkeit des individuellen Energiepotentials gehen.
Nun wäre diese Hypothese noch bedingt statthaft gewesen, wenn man mit den konstituierenden und regulierenden Prinzipien Eukkens Ernst gemacht hätte. Seit der Erhardschen Modifizierung erweist sich aber die Böhmsche Hypothese als Fiktion; denn faktisch zeichnet sich eine Aushöhlung der Wettbewerbsstruktur durch einen scheinbar unaufhaltsamen Konzentrationstrend ab So aktualisiert sich der Konflikt: Man nimmt den Konzentrationstrend (und damit das Entstehen eines sozial gefährlichen Energiepotentials) hin — unter Berufung auf Leistungseffekte, aber auch auf marktwirtschaftliche Dispositionsfreiheiten — und gesteht einen damit verbundenen Abbau jener Freiheitsrechte zu, zu deren Vertretung man einmal angetreten ist. Dieser Freiheitsabbau ist vielfach gegeben: Einmal sind die Großkonzerne heute schon in der Lage — wie die jüngste Währungskrise deutlich machte —, jede amtliche und vor allem demokratisch kontrollierbare Wirtschaftspolitik zu unterlaufen; gleichzeitig wird mit der Konzentrationstendenz die Dispositionsfreiheit sowohl von Klein-und Mittelbetrieben als auch die Freiheit der Konsumenten, die bei mangelnder Konkurrenz keine Wahlfreiheit mehr ha-ben, ausgeschaltet; schließlich wird die Dis-Positionsfreiheit der Unselbständigen (über ihr Einkommen) beschnitten, da sie bei zunehmendem Konzentrationsgrad, der die Möglichkeit zur Gewinn-und Preisplanung erst richtig eröffnet, gegenüber den Gewinn-einkommen erheblich benachteiligt sind 3. Die mit dem Erhardschen Umsetzungsprozeß verbundenen Konsequenzen sind somit recht eindeutig. Die wirtschaftlichen Freiheitsrechte sind formal-rechtlich gesichert (Konsum-, Investitions-, Arbeitsplatzwahl-, Berufswahlfreiheit); materiell ist die Wahl-freiheit auf jene reduziert, die einen Leistungsbeitrag i. S.der ökonomischen Effizienz erbringen. Es entsteht eine Demokratie der Leistungsstarken, nicht der Wirtschaftsgesellschaft als Ganzes, deren Freiheitsrechte eher reduziert werden. An diesem Punkt wird das ordnungspolitische Modell zur ordnungspolitischen Ideologie derer, die davon — im echten Wortsinne — „profitieren".
Die Erhardsche Realisierung hat die Eukkensche Einseitigkeit der Freiheitsinterpretation erst richtig sichtbar gemacht. Der Neoliberalismus sieht nur die Freiheitsinterpretation des 18., nicht die des 19. Jahrhunderts. Konkret: Er interpretiert Freiheit als „frei" von staatlichem Zwang, nicht aber auch als „frei" von nichtstaatlicher Macht Das Erstere garantiert aber nicht uno actu — im Zuge zunehmender Arbeitsteilung und damit verbundener wachsender Abhängigkeit der Menschen voneinander — auch das Letztere. Hierfür fehlt aber jeder analytische Ansatz; durch die dogmatische Blickverengung bei Eucken war die Erhardsche Modifikation erst möglich geworden.
Damit wird aber eine weitere Widersprüchlichkeit begründet. Ortlieb meinte einmal, daß man „aus der Rückkehr zur Marktwirtschaft eine neue, nun individualistische Heilslehre machte", ohne gleichzeitig die Voraussetzungen für ein „planmäßiges Korrigieren marktwirtschaftlicher Prozesse zu schaffen" Hier wird deutlich, daß das Ordnungsmodell Euckens ein weiteres Vakuum enthält; es fehlt nämlich eine Theorie der Wirtschaftspolitik Die Möglichkeit, in den Wirtschaftsablauf einzugreifen, war im Euckenschen Modell zwar implizite (in den regulierenden Prinzipien) angelegt, doch auch hier einseitig: Die Euckenschen Eingriffe hatten nur nachträglich korrigierenden Charakter, d. h., sie sollten ökonomisch und sozial bedenkliche Fehlentwicklungen vermeiden, um die Funktionsfähigkeit und Glaubwürdigkeit der Konkurrenz sicherzustellen; sie waren aber nie darauf angelegt, den Wirtschaftsprozeß als Ganzes nach gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen von vornherein zu steuern Mit den Erhardschen Modifikationen wird auch dieses zweite Vakuum deutlich; denn wenn auch die regulierenden Mindeststandards Euckenscher Observanz noch abgeschwächt werden, bleibt ein nicht mehr plausibel zu erklärender Widerspruch: „Man kann nicht gut die zentrale Planung des Staates verwerfen, um an ihre Stelle eine in der Regel gar nicht zureichend zu kontrollierende Planung einiger weniger Mammutunternehmen zu setzen."
4. Riese glaubt, daß die bestehende ordnungspolitische Konzeption den Realitätsbezug verloren habe Er hat damit wohl den zentralen Kem des Realisierungsproblems angesprochen, konkreter: die Problematik, die schon in den theoretischen Ausgangsbedingungen angelegt war, im Rahmen ihrer Realisierung aber deutlicher zum Ausdruck kam. Der Verzicht auf die Prüfung der gesellschaftlichen Voraussetzungen und der damit begründeten unterschiedlichen Einflußmöglichkeiten (Ziff. IV/2) einerseits und der Verzicht auf die Entwicklung staatlicher Einflußmöglichkeiten, was den Wirtschaftsprozeß den privatwirtschaftlichen Einflußmöglichkeiten faktisch unterwirft (Ziff. IV/3), andererseits — beides zusammen beließ nur noch eine Alternative: die Prozeßergebnisse hinzunehmen, ohne zu prüfen, ob sie der gesellschaftlichen Realität überhaupt noch gerecht wurden. Dies ist der erste Aspekt.
Die Konsequenzen ergaben sich zwangsläufig auch für die Wissenschaft. Die Tagung des Vereins für Socialpolitik im Herbst 1972 stand bezeichnenderweise unter dem Thema der wirtschaftlichen Macht, ein Thema, das die Gründer des Vereins — exakt ein Jahrhundert zuvor — bereits bewegt hatte. Im Rahmen jenes Streites blieb die Schule, die das Machtphänomen in die Analyse mit einbeziehen wollte — spöttisch als Kathedersozialisten bezeichnet —, unterlegen. Die wissenschaftliche Entwicklung gab der Darstellung formal exakter, aber von der gesellschaftlichen Realität abstrahierender Ergebnisse den Vorrang. Vielfach unterstellte sie in recht naiver Weise diesen Ergebnissen eine Sachgesetzlichkeit mit naturwissenschaftlicher Stringenz. Hundert Jahre später muß — oder besser: müßte — die Wissenschaft erkennen, daß sie zur Klärung wichtiger gesellschaftspolitischer Probleme keinen Beitrag geleistet hat Dabei wäre für die anstehende Problematik noch nicht einmal so entscheidend, eine wissenschaftliche Fehlentwicklung beklagen zu müssen. Viel verhängnisvoller — und dies ist der zweite Aspekt — erscheint die Tatsache, daß bei dem vorgegebenen Ordnungskonzept ein wichtiger Korrekturfaktor ausfiel. M. a. W.: Die Wissenschaft entwickelte sich nicht nur wissenschaftstheoretisch bedenklich; dies könnte als methodisches Problem — und damit als ihre „eigene Angelegenheit" — noch hingehen. Die Wissenschaft wurde vor allem aber ihrer gesellschaftlichen Funktion und Aufgabe nicht gerecht; und dies ist der schwerer wiegende politische Aspekt. Denn damit konnte sich dieses Ordnungskonzept — gleichermaßen wissenschaftlich unbehelligt — etablieren. 5. Hartwich, der in seinem bereits erwähnten Buch die faktische Etablierung der diskutierten Ordnungskonzeption sehr detailliert nachzeichnet, weist nach — darauf muß noch an anderer Stelle Bezug genommen werden —, daß die grundgesetzliche Forderung der Sozialstaatlichkeit im Grunde zwei Modelle zuließ: das des „sozialen Kapitalismus" und jenes des „demokratischen Sozialismus". Beide Modelle unterscheiden sich in drei zentralen Fragen: in der Frage der Besitz-und Statusverhältnisse, im Begriff der Freiheit und schließlich in der Frage der staatlichen Verantwortung gegenüber gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozessen Die Antworten sind alternativ möglich und lassen sich schließlich auf das zentrale Problem reduzieren: Aufrechterhaltung oder Veränderung des gesellschaftlichen Status quo.
Hartwich zeigt — sowohl an Hand der Verfassungsdiskussion als auch an Hand der Gesetzgebung zur Behandlung von Wirtschaftsfreiheit und Privateigentum als den konstituierenden Elementen des Sozialstaatsmodells —, daß die tatsächliche Entwicklung die kapitalistische Alternative gewählt hat. Drei Feststellungen seien aus der Untersuchung Hartwichs herausgenommen.
Einmal die Tatsache, daß in der Wissenschaft generell ein Unbehagen festzustellen sei, daß Entwicklung und Ausgestaltung des Sozialstaatspostulats in der BRD nicht dem entspreche, was zu Recht von einem unaufhebbaren Verfassungsgrundsatz erwartet werden könne
Sodann: Der Verfassungsgesetzgeber glaubte zwar, der künftigen gesellschaftspolitischen Entwicklung gegenüber hinsichtlich des Ein-baus des Sozialstaatsgrundsatzes „offen" zu sein. Dies war aber eine Fiktion, weil wesentliche Bedingungen zur Wiederherstellung der überkommenen Gesellschaftsstruktur unter dem Einfluß der Alliierten und des Wirtschaftsrates herbeigeführt wurden, die eine reibungslose Fortsetzung der Politik nach den ersten Bundestagswahlen 1949 ermöglichten
Schließlich: Die Verankerung der Sozialstaatlichkeit in der Verfassung und in der darauf aufbauenden Bundesgesetzgebung erfolgte in einer rein adjektivistischen Form, d. h., die Konfrontation mit dem Gedanken der Recht-staatlichkeit — interpretiert als ein weitestgehender Schutz gesellschaftspolitischer Individualrechte wie wirtschaftliches Eigentum und wirtschaftliche Entfaltungsfreiheit i. S.der Freiheit vor staatlichem Einfluß — wurde zugunsten der Rechtstaatlichkeit in Verbindung mit einer sozialpolitischen Korrektur gelöst M. a. W.: Die beiden Prinzipien der (das Individuum berechtigenden) Rechtsstaatlichkeit und der (das Individuum verpflichtenden) Sozialstaatlichkeit wurden nicht — wie es aus dem Verfassungsauftrag durchaus abgeleitet werden könnte — einander gleich-geordnet, sondern die Rechtsstaatlichkeit wurde vorgeordnet. Der sich daraus ergebende Wirtschaftsprozeß wurde dann nur nachträglich — und im Bemühen, nicht die individuellen (insbesondere ökonomischen) Freiheits-rechte zu tangieren — sozialpolitisch zu korrigieren versucht, um Härten bzw, offenkundige Ungerechtigkeiten zu vermeiden.
Damit waren zunächst einmal die Weichen gestellt; und dies in völliger Analogie zur diskutierten Ordnungskonzeption: Die ökonomischen Individualrechte blieben gewahrt, die Freiheitsinterpretation erfolgte einseitig, der Staat verstand seine Verantwortung für die gesellschaftspolitische Relevanz des Wirtschaftsprozesses wenn überhaupt, dann nur im Sinne einer sozialen Korrekturanstalt, die darüber hinaus gehalten war, die ökonomischen Individualrechte um jeden Preis zu schützen.
V. Aspekte bisheriger konzeptioneller Weiterentwicklung
1. Wie aufgezeigt, hatte Erhard die reine Ordnungsidee mit der Leistungsidee konfrontiert — und modifiziert. Er setzte damit auf den Faktor „Wirtschaftswachstum" und löste das aus, was man herkömmlich als „deutsches Wirtschaftswunder" bezeichnet. Wenn Körner die Zeit der hohen gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten als „die goldene, weil wirtschaftspolitisch fast unproblematische Zeit" bezeichnet, so scheint hier Erhard bestätigt. Insofern kann es auch nicht überraschen, daß die ordnungspolitische Diskussion zwar nie völlig verstummte, dennoch aber an politischer Brisanz verlor.
Doch diese „goldene Zeit" scheint sich ihrem Ende zu nähern. Mötteli betrachtet es als einen gefährlichen Trugschluß zu glauben, daß die Marktwirtschaft ihre Bewährungsprobe nur mit dem „Rüstzeug der modernen Konjunkturpolitik" bestehen könne Schmahl glaubt, daß — wenn es nur um die Erhaltung eines gleichgewichtigen Expansionsprozesses gehe — sich die Schwierigkeiten häufen, „weil andere als konjunkturpolitische Überlegungen dominieren" Daraus ergibt sich eine eindeutige Konsequenz: Wenn die Wachstumseuphorie von spürbaren Begleiterscheinungen dieser Entwicklung überschattet wird, und wenn man die Frage nach der Entstehung dieser Disparitäten stellt, „so gelangt man notwendigerweise zu einer Wiederbelebung der ordnungspolitischen Debatte, wie sie etwa von der Freiburger Schule (beson-ders durch Eucken) geführt wurde" Hier sollte zumindest eines vorab deutlich geworden sein: Das Aufflackern ordnungspolitischer Diskussionen ist nicht die Folge ideologischer Konfrontationen, sondern ungelöster Sachprobleme mit hohem gesellschaftspolitischem Stellenwert.
Mit der Übernahme des Wirtschaftsressorts durch Schiller konnte man durchaus zunächst glauben, daß auch und gerade in diesen Fragen „neue Akzente" gesetzt werden. Schließlich ging Schiller davon aus, daß das marktwirtschaftliche Prinzip erschüttert sei; denn die bisherigen wirtschaftspolitischen Instrumente würden nicht mehr oder nur noch schlecht funktionieren, da unter den Bedingungen einer „affluent society" bestimmte wirtschaftliche Verhaltensweisen als anomal erscheinen, weshalb eine quantifizierte Zielsetzung (i. S.der Entwicklung von quantitativen Vorstellungen, zu welchen Ergebnissen der gesamtwirtschaftliche Prozeß führen sollte: Wachstumsrate, Beschäftigungsquote, Konsum-und Investitionsvolumen und dgl.) erforderlich sei Wenn somit auch zugestanden werden muß, daß hier die Notwendigkeit einer Ablaufspolitik (neben der reinen Ordnungspolitik) gesehen wird, also die Notwendigkeit, nicht nur den (rechtlichen) Rahmen für den Prozeßablauf zu schaffen, und nicht nur das Bemühen, den Prozeßablauf nachträglich sozial zu korrigieren, sondern den Wirtschaftsprozeß von vornherein nach bestimmten ökonomischen, sozialen und gesellschafts-politischen Zielsetzungen zu steuern, so gibt es doch zu denken, wenn Riese zu dem Ergebnis kommt, daß der Schillersche Weg „keinen prinzipiellen Unterschied zu Eucken" darstelle Der Nachweis für die Richtigkeit dieser These, wonach das bisherige Bemühen um konzeptionelle Weiterentwicklung nur modifizierenden, aber keinen prinzipiellen Charakter hatte, ist an einer Reihe von Aspekten relativ einfach zu führen.
2. Ein erster Aspekt zeigt sich in dem Bemühen, das Euckensche Ordnungskonzept durch die Keynesschen Vorstellungen zu erweitern. Keynes wies nach, daß der freie Marktmechanismus nicht mehr in der Lage ist, konjunkturelle Stabilität zu garantieren, insbesondere die Volkswirtschaft aus einer Depression herauszuführen. Deshalb ist — nach Keynes — der Staat aufgerufen, die (fehlende) Privatnachfrage durch öffentliche Nachfrage zu ersetzen. Nun ist die moderne Wirtschaftspolitik ohne Keynes nicht mehr denkbar Doch Keynes konsequent zu Ende gedacht, könnte dazu führen, daß — mit zunehmender Krisenanfälligkeit einer Volkswirtschaft — der privatwirtschaftliche Sektor immer mehr eingeengt wird, weshalb sich im Prinzip Eucken und Keynes nicht vereinbaren lassen Wenn man freilich „so viel" Keynes nicht will, liegt es nahe, seine Schlußfolgerungen auf die eine kurze Frist und auf ein spezifisches Problem — die Unterbeschäftigung — einzugrenzen. Hier hatte das Key-nessche System seine Funktion: nämlich über die öffentliche Nachfrage eine Initial-zündung zu bewirken, im übrigen dann aber auf die Beweglichkeit der Wirtschaft als „Reaktionsapparat auf Anstöße" zu vertrauen. D. h., die Privatwirtschaft überträgt die Impulse weiter, die öffentliche Wirtschaft wird wieder überflüssig Damit wird aber das Ordnungssystem Euckens nicht prinzipiell verändert, sondern nur modifiziert — in
Wahrheit gestärkt. Und wenn Hahn schon 1967 glaubte, daß der Einfluß Keynes'sogar im Schwinden sei so zeigt zumindest die jüngste wirtschaftspolitische Diskussion, die sich verstärkt darum bemüht, das geldpolitische Instrumentarium statt des fiskalpolitischen Instrumentariums zu verstärken, hierfür eine gewisse Bestätigung. Denn das geldpolitische Konzept ist ganz darauf ausgerichtet staatliche Interventionsmöglichkeiten noch weiter abzubauen und das neoliberale Konzept noch mehr zu etablieren. Der Einbau Keynesschen Gedankengutes geschieht somit in einer Weise, die an dem bestehenden Ordnungskonzept nichts ändert. 3. Ein zweiter Aspekt ergibt sich in dem Bemühen, eine Globalsteuerung einzuführen. Ihr Sinn ist es, das Niveau der Makroziele (gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate, Preise, Beschäftigung, Konsum-und Investitionsvolumen) zu planen Ebenso wie bei Keynes könnte hier ein Ansatz gegeben sein für eine prinzipielle Weiterentwicklung Euckenscher Ordnungsvorstellungen. Denn eine „geplante" Wirtschaftspolitik braucht quantifizierte Ziele, und „die quantitative Festlegung wirtschaftspolitischer Globalziele im Nationalbudget" könnte dazu führen, „daß die Globalziele immer stärker aufgespalten werden und der Staat immer mehr zur detaillierten Produktions-und Investitionsplanung übergeht" Daraus folgt aber: Das marktwirtschaftliche Ordnungspiinzip i. S.der individuellen wirtschaftlichen Dispositionsfreiheit wäre nur dann aufgehoben, wenn — über die Makroziele — die Planung auch für die Mikroentscheidung der Einzelwirtschaften verbindlich wäre. Genau dies aber entsprach nicht nur von vornherein gar nicht der Schillerschen Intention auch die Erfahrungen der letzten Jahre bieten keinen Anhaltspunkt für die Neigung zu immer detaillierteren Eingriffen Den der Globalsteuerung zugrunde liegenden Plandaten wurde nicht ein (verbindlicher) „imperativer", sondern ein (informierender) „indikativer" Charakter — i. S. von sog. Orientie-rungszielen — zugewiesen Ein plankonformes Verhalten wird somit nicht erzwungen; es wird erhofft, abgeleitet aus dem Informationsaspekt, „weil im allgemeinen Ne-bel der Unsicherheit jede mit einer gewissen Autorität vorgegebene Richtung als Anhalt für die eigenen Entschlüsse gewählt zu werden pflegt" Hier kommt nichts anderes als die bescheidene Hoffnung auf Wohlverhalten zum Ausdruck — „jeder kann sich zwar angesprochen, muß sich aber nicht betroffen fühlen" —, die von ihrem Selbstverständnis her keinen prinzipiellen Unterschied zu dem bestehenden neoliberalen Konzept erkennen läßt. 4. Vielleicht nicht zuletzt deshalb wird im allgemeinen ein dritter Aspekt in diesem Zusammenhang in die Diskussion gebracht: die Vorstellung solcher informierender Globaldaten könnte — wenn mit einer gewissen Autorität verbunden — gleichermaßen über den Druck der öffentlichen Meinung doch noch im nachhinein ein plankonformes Verhalten erzwingen und damit das Ordnungskonzept entscheidend modifizieren. Es ist der Glaube an einen Gesellschaftsmechanismus, der die Beachtung der Plandaten eben verlangt. Doch hier bleibt sofort eine Widersprüchlichkeit bestehen. Eine „öffentliche Meinung", sofern sie institutionalisiert ist (also durch die Regierung verkörpert wird), hat nur indikative Befugnisse; eine „öffentliche Meinung", die imperativen Druck ausüben soll, ist nicht identifizierbar und mit einem anonymen Gesellschaftsmechanismus gleichzusetzen.
Offensichtlich hat auch die Wissenschaft die-se Unklarheit noch nicht beseitigen können. Zu Recht stellt Borchardt fest, daß man in der Wirtschaftstheorie der Gegenwart „kaum eine Theorie der ökonomisch belangvollen Institutionen" sehen könne An diesem Grundwiderspruch ändert auch die Institution des Sachverständigenrates nichts. Er ersetzt nur die politische Autorität (wie sie in der Autorenschaft eines Jahreswirtschaftsberichtes zum Ausdruck kommt) durch die wissenschaftliche Autorität (die dann im Jahresgutachten ihren Niederschlag findet). Die Stel-lung des Rates ist eher noch schwächer,da er nicht nur keine verbindlichen Ziele entwickeln darf (die bekommt er vorgegeben), sondern darüber hinaus wirtschaftspolitische Empfehlungen nur alternativ aussprechen kann. Zu Recht weist Bauer jede Vermutung zurück, daß sich hinsichtlich des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik hier ein technokratisches Modell entwickle, wonach der Politiker zum Vollzugsorgan der wissenschaftlichen Intelligenz werden könnte Die Autorität des Sachverständigenrates ist zwar dadurch erhöht, daß u. U. eine Regierung, unter Berufung auf ein Ratsgutachten, Gruppeninteressen zurückweisen kann Aber da die Regierung — wie gezeigt (Ziff. V/3) — ihrerseits auf eine verbindliche Fixierung gesamtwirtschaftlicher Ziele verzichtet, fehlt doch jede Verbindlichkeit. Entsprechend vielfacher Befürchtungen, daß im Sachverständigenrat eine Nebenregierung entstehen und die Wirtschaft programmiert werden könnte, wurde eine solche Entwicklung durch die Konstruktion des Rates im Keim erstickt Auch der Sachverständigenrat braucht den Druck einer — freilich nicht identifizierten —• öffentlichen Meinung. Dies wirft bei der Konstruktion des Rates noch zusätzliche Probleme auf. Die Öffentlichkeit kann (unter der Voraussetzung, daß eine Identifikation gelänge) nur dann auf die Wirtschaftssubjekte imperativen Druck ausüben, wenn die Stellungnahmen einheitlich sind. Ist dies nicht gegeben — wie es in der Vergangenheit öfters der Fall war —, brauchen darunter weder Objektivität noch Glaubwürdigkeit des Ratsgutachtens zu leiden Aber das ist nicht das Problem. Entscheidend ist, daß die Öffentlichkeit bei uneinheitlicher Stellungnahme zwar einen Begriff von der Vielschichtigkeit der Probleme gewinnt . und der Möglichkeit, sie unterschiedlich zu interpretieren — nicht aber davon, woran sie sich nun zu orientieren hat, um ihre imperative Funktion auszuüben.
5. Läßt man einmal dieses letzte Spezialproblem beiseite, so wird deutlich, daß sowohl der Globalsteuerung als auch der Institution des Sachverständigenrates eine zentrale Problematik gemeinsam als Schwäche anhaftet: Es fehlt die identifizierbare öffentliche Meinung, von der erst imperativer Druck erwartet werden könnte. Dieser Mangel begründete schließlich einen vierten Aspekt bei der Diskussion über eine ordnungspolitische Weiterentwicklung: den Versuch einer Verhaltensbeeinflussung über die reine Information hinaus zu einer „direkten Beeinflussung des Gruppenverhaltens" im Rahmen einer „kooperativen Verhaltensabstimmung" Die Frage liegt nahe, ob es gelingen könnte, im Rahmen der sog. Konzertierten Aktion die Unverbindlichkeit der Globalziele zu überwinden. Ebenso wie bei Keynes und der Globalsteuerung könnte hier ein theoretischer Ansatz gegeben sein für eine prinzipielle Weiterentwicklung Euckenscher Ordnungsvorstellungen. Das bedeutete: Die Konzertierte Aktion könnte zu einem „perfekten System der Kooperation zwischen Staat und Wirtschaft umgestaltet werden", indem Unternehmer und Tarifpartner formal zwar ihre marktwirtschaftliche Entscheidungsfreiheit behielten (der Staat würde also nicht befehlen), das Aushandeln der Ziele, d. h. die Mitbestimmung aller an der Zielformulierung, würde die Gruppen dann aber binden. Dies bedeutete wiederum, daß verbindliche wirtschaftspolitische Ziele nicht mehr ein Ergebnis frei ablaufender Marktprozesse wären und gleichzeitig außerhalb des Parlaments konzipiert würden
Die Frage ist nun, ob sich diese Entwicklung tatsächlich vollzogen hat. Die Befürchtungen betreffen sowohl verfassungsrechtliche als auch ordnungspolitische Überlegungen
Noch gibt es keine Anhaltspunkte für derartige Entwicklungstendenzen. Körner weist darauf hin, daß die kooperative Verhaltensabstimmung im Rahmen der Konzertierten Aktion systemkonform sei, weil sie auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruhe und dieses Urteil deckt sich mit der Feststellung Molsbergers, daß es durch die Konzertierte Aktion keinen „ordnungspolitischen Erdrutsch"
gegeben habe und daß nichts geschehen sei, „das die Marktwirtschaft verändert hätte" Hoppmann spricht die Konfliktsituation ganz deutlich an '„Nimmt man den . Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung'ernst, so ist die Konzertierte Aktion ein untaugliches Instrument der Globalsteuerung. Versucht man, die Konzertierte Aktion funktionsfähig zu machen, so verstößt man — und zwar massiv — gegen die Rahmenbedingungen der marktwirtschaftlichen Ordnung". Hier wird ein Sachverhalt deutlich: Solange an der marktwirtschaftlichen Grundorientierung festgehalten wird, bringt auch eine informativ-kooperative Verhaltensabstimmung keine prinzipielle ordnungspolitische Weiterentwicklung. Zu Recht beanstandet Möller, daß diese Institution der Konzertierten Aktion schon begrifflich korrekturbedürftig sei — es sei denn, man identifiziere „Diskussion" mit „Aktion"
VI. Grundprobleme ordnungspolitischer Reformen
1. Nach Polack besteht ein entscheidender Unterschied zwischen Natur-und Sozialgeschichte: Während es sinnlos sei, die erstere bewerten zu wollen, gelte dies nicht für die letztere: „Man kann sie nicht nur einfach billigen oder mißbilligen, man könnte sie darüber hinaus ändern, in neue Bahnen lenken oder sogar revolutionieren wollen." Was hier angedeutet wird, ist nichts anderes als die Gestaltungsmöglichkeit sozialen Gesche-hens. Ist dieses soziale Geschehen in eine Phase eingetreten, wo auch die Gestaltungsnotwendigkeit gegeben ist (vgl. Ziff. II/3 und V/l), so ist die Analyse möglicher neuer Ordnungsbedingungen (und deren Forderung) nicht eine Frage der Ideologie, sondern eine Frage der sachlichen Auseinandersetzung über die Leistungsfähigkeit von Wirtschafts-Ordnungen.
Und hier setzt der erste Zentrale Aspekt ein:
Ausgangsbedingungen, Realisierung und die bisherigen Versuche ordnungspolitischer Weiterentwicklung haben immer mehr deutlich werden lassen, daß die Marktwirtschaft als ein Wert süi generis dargestellt und interpretiert wurde, obwohl sie nachweislich wichtigen gesellschaftspolitischen Anliegen nicht gerecht werden kann. Es bedarf also der Reform, will man nicht die Fehlentwicklungen resignierend hinnehmen. Theoretisch zeigt sich die Reformmöglichkeit in einer einfachen Alternative.
Denkbar wäre es, die Rückkehr zum Status quo ante ins Auge zu fassen, d. h. mit den Euckenschen Ausgangsbedingungen ernst zu machen und die Erhardschen Modifikationen wieder aufzuheben. Vieles, was gegenwärtig unter dem Begriff „Wettbewerbspoltik" diskutiert wird, zielt in diese Richtung, und seine Realisierung könnte einen wichtigen Beitrag dazu leisten, eine echte Leistungskonkurrenz neu zu begründen. Dabei bräuchten die stabilitäts-und verteilungspolitischen Konsequenzen nicht gering zu veranschlagen sein. Dennoch dürfte diese ordnungspolitische Alternative nicht hinreichend sein. Der Mangel einer gesellschaftstheoretischen Absicherung (Ziff. IV/2) ließe nach wie vor das Problem der einseitigen Freiheitsinterpretation offen; das Fehlen einer Theorie der Ablaufpolitik, die den Wirtschaftsprozeß nach gesellschaftspolitischen Zielen steuert (Ziff. IV/3), hieße, daß der Prozeß doch wieder ausschließlich dem Rentabilitätskriterium als Steuerungsindikator unterworfen wäre. Beide Probleme sind aber im Euckenschen System implizite angelegt — und beide Probleme wiegen noch schwerer angesichts der Tatsache, daß sich gesellschaftliche Macht 25 Jahre hinweg ungehindert entfalten und etablieren konnte. Der Status quo ante kann insofern nicht als hinreichende Lösung angesprochen werden. Dann bleibt aber nur die andere Alternative, die den marktwirtschaftlichen Lenkungsmechanismus — und damit die Marktwirtschaft als solche — nicht mehr als Eigenwert begreift, sondern als das, was er ist: eine mögliche „Organisationstechnik" Die Marktwirtschaft verliert ihren prinzipiellen Charakter zugunsten eines instrumentalen Charakters; der marktwirtschaftliche Wettbewerb verliert seine Rolle als Mittel der Freiheitssicherung zugunsten reiner Effizienzgesichtspunkte was somit die prinzipielle Möglichkeit eröffnet, auch eine andere als nur marktkonforme Wirtschaftspolitik zu betreiben 2. Doch bedarf es keines weiteren Hinweises, daß mit einer solch globalen Formulierung weder ein neues ordnungspolitisches Konzept entwickelt noch die anstehenden Probleme gelöst sind. Vielmehr ist zunächst ein noch viel größeres Problem entstanden. Wilhelm v. Humboldt hat dieses Problem schon vor rund zweihundert Jahren klar und unmißverständlich ausgesprochen: „Ein Staat; in welchem die Bürger genötigt würden, auch den besten Gesetzen zu folgen, . . . würde immer ein Haufen ernährter Sklaven, nicht eine Vereinigung freier Menschen sein." Dieser Sachverhalt behält seine unabdingbare Gültigkeit. Wenn Ortlieb das Bild des „Großinquisitors" heraufbeschwört und Mötteli die Gefahr sieht, daß der Bürger zum Roboter degradiert werden könnte so ergibt sich daraus die Forderung, daß eine Ordnungsform gefunden werden muß, der ein „realistisches Menschenbild", nämlich die „Selbstbestimmung des Individuums" zugrunde liegt.
An diesem Punkt setzt freilich eine schwerwiegende Kontroverse ein, nämlich die Frage, ob die Aufhebung der Marktwirtschaft als Kriterium der Freiheitssicherung mit dem grundsätzlich unterstellten Freiheitsideal vereinbar gemacht werden kann. An diesem Punkt setzt nämlich das ein, was man als „Interdependenzthese" des Neoliberalismus bezeichnen kann. 3. Wie bereits gezeigt (Ziff. III/2), will Eucken eine Wirtschaftsordnung, die der Freiheit und Würde des Menschen entspricht. Mit diesem Ausgangspunkt, der seine Wurzel in zentralen Wertvorstellungen des abendländischen Denkens hat, ist eine Wertbasis eingenommen, die zwar wissenschaftlich nicht beweisbar ist, aber als Wert hingenommen werden muß. Denn diese Basis liegt jedem liberalen Selbstverständnis zugrunde. Eucken will aber mehr; er will diese Wertidee auf die ökonomische Ordnungsidee übertragen, d. h. dieser als Wertbasis vorgeben. Entscheidend ist für ihn die Frage: „Welche Ordnungsformen gewähren Freiheit? Welche begrenzen zugleich den Mißbrauch der Freiheitsrechte?" Es ist nicht zu bestreiten, daß die Argumentation bis zu diesem Punkt schlüssig ist.
Daß sie hinsichtlich der mangelnden gesellschaftstheoretischen Abstützung einseitig ist, wird nun in diesem Zusammenhang zum entscheidenden Problem. Denn Eucken geht einen Schritt weiter. Er faßt die Wirtschaftsordnung als einen Teil der Staatsordnung auf und folgert daraus einen unmittelbaren Bedingungszusammenhang. Die Interdependenzthese besagt dann: Eine liberale Wirtschaftsordnung ist mit einer liberalen Staatsordnung identisch (statische Betrachtungsweise bzw. ein Eingriff in die liberale Wirtschaftsordnung führt zu einem zunehmenden Abbau der liberalen Staatsordnung (dynamische Betrachtungsweise ). Wenn Eucken verlangt, daß die Lenkung des Wirtschaftsprozesses in Wirtschaftsordnungen durchzuführen ist, die der menschlichen Freiheit adäquat sind so ist dagegen nichts einzuwenden, denn die-se Forderung läßt sich objektiv aus der Wertbasis ableiten. Wenn Eucken aber glaubt, daß eine „Lenkung des wirtschaftlichen Alltags durch staatliche Zentralstellen die Freiheitssphären der Menschen mehr und mehr auslöscht" so ist dies ein durch nichts bewiesener Glaubenssatz. An dieser Stelle geht die aus der freiheitlichen Wertidee objektiv ableitbare These von der „Adä-quanz" in eine nicht begründbare These von der „Interdependenz" über.
Mit dieser Interdependenzthese wird die eingangs erwähnte Alternativsicht erst begründet: Es bleibt dann nur die Alternative zwischen Marktwirtschaft und Diktatur. So werden privates Eigentum und private Dispositionsfreiheiten gleichermaßen „essentials“ nicht nur einer liberalen Wirtschaftsordnung, sondern auch einer liberalen Staatsordnung. Die Idee der Freiheit wird unmittelbar auf die Wirtschaftsordnung übertragen, und dies wird als „wesentlicher Tatbestand des Lebens" eben unterstellt. Eine unbewiesene These ist aber nichts anderes als Ideologie; sie ist keine objektive, sachliche, sondern eine subjektive, politische Entscheidung 4. Wenn Myrdal glaubt, daß in den wirtschaftlich fortschrittlichen Ländern „die Diskussion seit jeher von den Anhängern einer , freien'Wirtschaft beherrscht wird" so kann dies angesichts der dogmatischen Blickverengung nicht überraschen. Der Grund war naheliegend. Die Interdependenzthese nützte in einer ganz entscheidenden Weise drei wichtigen gesellschaftlichen Faktoren: der „Wissenschaft", die ihr theoretisches Instrumentarium auf den freien Marktmechanismus hinorientieren und damit ihre Denksubstanz bewahren konnte; dem „freien Unternehmertum", das jeden Eingriff in seine Dispositionsfreiheit unter Berufung auf demokratische Freiheitsrechte scheinbar überzeugend zurückweisen konnte; der „Politik", die die mangelnde Effizienz ihres wirtschaftspolitischen Instrumentariums mit der erklärten Absicht, nicht in ein kommunistisches Zwangssystem abgleiten zu wollen, rechtfertigen konnte. Alle fanden sich in dem Bemühen, „sich ja nicht bewußt zu werden, wie weit sie sich von einer , freien'Wirtschaft entfernt haben"
Hartwich zeigt sehr anschaulich, wie diese Interdependenzthese auch in der verfassungsrechtlichen Diskussion ihren Niederschlag fand. Er gesteht zwar zu, daß sich das herrschende Sozialstaatsmodell auf das Grundge-setz stützen kann weist aber nach, daß daraus kein Umkehrschluß gezogen werden muß. M. a. W.: Die Marktwirtschaft kann sich zwar auf die Verfassung berufen, wird von dieser aber nicht zwingend vorgeschrieben Eine spezifische Interpretation ist somit jeweils eine politische Wertung Verfassungsrechtlich gesehen, ist somit die einseitige Interpretation des Grundgesetzes nur darauf zurückzuführen, daß von Anfang an bei der Konfrontation von Rechts-und Sozialstaatlichkeit von konservativen Juristen die Rechtsstaatstradition fortgesetzt wurde, wonach die Sozialstaatlichkeit nur noch als sozialpolitische Korrekturnotwendigkeit interpretiert wurde Von hier aus war es nur noch ein kleiner Schritt, zwischen Rechts-und Sozialstaatlichkeit eine Antinomie zu konstatieren (Forsthoff) bzw. die soziale Marktwirtschaft als die nach dem Grundgesetz verfassungsmäßige Ordnung zu interpretieren (Nipperdey) Trotz nachgewiesener Unhaltbarkeit dieser Interpretation hat sie sich hartnäckig gehalten
Und so bleibt folgendes Ergebnis festzuhalten: Jede ordnungspolitische Weiterentwicklung muß dem Grundsatz der Sicherung individueller demokratischer Freiheitsrechte entsprechen; dies gebietet die These der Adäquanz. Sie muß aber nicht einer marktwirtschaftlichen Grundorientierung in der herrschenden Ausprägung entsprechen; die These von der Interdependenz ist eine zu nichts verpflichtende Ideologie.
VII. Ansatzpunkte ordnungspolitischer Weiterentwicklung
1. Wenn es nun im folgenden darum geht, Ansatzpunkte einer ordnungspoiitischen Weiterentwicklung zu suchen, so gilt es zunächst, den Standpunkt zu klären. Dieser läßt sich durch drei Grundsätze fixieren:
Erstens:
Eine Rückkehr zum Status quo ante — i. S.der Rückgewinnung Euckenscher Grundprinzipien — würde zwar (mehr als bislang) wichtige Voraussetzungen für eine echte Leistungskonkurrenz schaffen, und eine Intensivierung gemeinwirtschaftlicher Vorstellungen böte hier noch eine wichtige Ergänzung Doch dies wäre gleichbedeutend mit einer Reaktivierung der (ökonomischen) Wettbewerbsidee, und dies allein erscheint nicht mehr hinreichend. Der Grund ist sowohl sachlicher als auch ordnungstheoretischer Natur.
Der sachliche Grund ist darin zu sehen, daß ein nach Rentabilitätsgesichtspunkten gesteuerter Marktmechanismus wichtige gesellschaftspolitische Funktionen gar nicht erfüllen kann. Dies ist an sich gar nicht mehr umstritten. Viel ernster ist der zweite — ordnungstheoretische — Grund. Er leitet sich aus dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft ab, und er steht und fällt mit der Frage, ob es eine „Wesensgrenze" zwischen ihnen gibt Eine strenge Grenzziehung entsprach früher liberaler Tradition. Sie ging davon aus, daß in beiden Sphären Harmonie herrschte, und sie stellte insofern den ideologischen überbau eines Kapitalismus dar der den Staat zwar anerkannte, gleichzeitig aber eine vom Staat unbehelligte (Wirtschafts-) Gesellschaft postulierte. Genau diese Grenzziehung ist aber heute „nicht mehr oder nur noch als defensive Fiktion" aufrechtzuerhalten; denn so wie der Staat immer tiefer in die Gesellschaft eindringt, versucht diese ihn in ihrem Sinne zu beeinflussen: die These vom „Unpolitischsein" wird zur „Lebenslüge einer Privilegiengesellschaft" Genau diesem Umstand wird aber die Euk-kensche Ordnungskonzeption nicht gerecht, weil ihr die für die Analyse dieser Verflechtung notwendige gesellschaftstheoretische Abstützung fehlt. Und eben dies rechtfertigt den ersten Grundsatz: Eine Rückkehr zum Status quo ante bringt begrüßenswerte Nebeneffekte, ist aber als ordnungspolitische Reform nicht hinreichend.
Zweitens:
Wenn diese Grenzziehung nicht mehr hingenommen wird, ergibt sich daraus ein neues Verständnis für die gesellschaftspolitische Dimension der Sozialstaatsproblematik Der Staat muß für den Verlauf des Gesellschaftsprozesses bzw.seiner gesellschaftspolitisch relevanten Ergebnisse, da sie unter Machteinfluß zustande kommen, Verantwortung übernehmen; er kann diesen Prozeß nicht mehr sich selbst überlassen. Nach Myrdal ergeben sich hier neue Aufgabenstellungen, die sich zunehmend — als Notwendigkeiten — in das Bewußtsein der Bevölkerung drängen, damit auch zunehmend Konflikte provozieren mit der Folge, daß eine Gesellschaft, „die sich, weil sie liberal bleiben möchte, angesichts dieses unliberalen Trends weigerte einzugreifen, . . . bald ihrer Auflösung entgegengehen" würde
Aus diesen Überlegungen leitet sich der zweite Grundsatz ab. Da das Grundgesetz hinsichtlich der Interpretation des Verfassungsgrundsatzes vom „sozialen" Staat (Art. 20 GG) alternative Sozialstaatsmodelle zuläßt, der Schluß von demokratischen auf ökonomische Freiheitsrechte zwar zulässig, aber nicht zwingend ist und deshalb neben dem den gesellschaftlichen Status quo konservierenden auch ein den Status quo veränderndes Sozialstaatsmodell möglich ist, ergibt sich: Die gesamtwirtschaftliche Planung entspricht nicht nur einer verfassungsrechtlichen Möglichkeit, sondern sie wird zur gesellschaftspolitischen Notwendigkeit; eine Planung, die das marktwirtschaftliche Ordnungsprinzip dergestalt relativiert, daß sie sich nicht mehr (wie der Neoliberalismus) auf den wirtschaftsverfassungsrechtlichen Rahmen beschränkt, sondern den Ablaufprozeß selbst gestaltet, wobei die gesamtwirtschaftlichen Plandaten nicht mehr indikativen, sondern imperativen Charakter erhalten. Dies ist der zweite Grundsatz.
Drittens:
Nach Myrdal schließt die Tatsache, daß eine richtig verstandene Demokratie zur Wirtschaftsplanung führt, nicht die Gefahr aus, daß „Planung die Demokratie zerstören könnte"
Es wäre geradezu verhängnisvoll, wollte man glauben, mit der reinen Veränderung der Verwaltungsform — etwa der Verfügungsgewalt über Produktionsmittel — die Möglichkeit des Machtmißbrauchs beseitigt zu haben. Die Deformationen des Sozialismus etwa im Ostblock dürften dies zur Genüge deutlich gemacht haben Aber ebensowenig erscheint es hinreichend, der bestehenden Bürokratie eben mehr Planungsbefugnisse zuzuweisen. Dies ist nicht so sehr eine Frage der technischen Effizienz — wenngleich hier natürlich Zweifel am Platze sind —, weil deren Bewältigung zumindest denkbar wäre. Es ist vielmehr eine Frage der Fremdbestimmtheit und ökonomischen Konditionierung der Bürokratie
Aus diesen Überlegungen leitet sich der dritte Grundsatz ab: Der Abbau wirtschaftlicher Freiheitsrechte im Rahmen der Wirtschaftsplanung muß sich uno actu mit einem Einbau der Demokratie in die Wirtschaftsplanung vollziehen. Der Gedanke der „Partizipation in allen Bereichen der Gesellschaft" kann allein verhindern, „daß der Moloch Staat die Initiative der Wirtschaft überschattet" Auf diese Partizipationsnotwendigkeit verweist — unter Bezugnahme auf die sehr lebenskräftige Freiheitswahrung der Eidgenossen — auch v. Krockow und Aldrup hat hierfür eine entscheidende Formulierung gefunden: Es gehe nicht in erster Linie darum, wessen Wille dominieren soll, sondern um die Frage, wie „der politischen Entscheidungswillkür von mit Machtbefugnissen auszustattenden Individuen oder Gruppen durch den Entwurf geeigneter, institutionell zu verankernder sozialer Kontrollmechanismen möglichst wirksam vorgebeugt und begegnet werden (kann), ohne daß daraus die Ohnmacht aller Politik oder eine Lähmung des politischen Lebens resultiert"
Da eine Rückkehr zu neoliberalen Grundbedingungen in Reinform nicht hinreicht, eine ordnungspolitische Weiterentwicklung hin zur planenden Gestaltung des Wirtschaftsablaufes verfassungsrechtlich möglich und sachlich notwendig ist, bedarf es gleichzeitig eines Einbaus demokratischer Legitimations-und Kontrollmechanismen, nicht nur, um dem unabdingbaren Wertideal der demokratischen Freiheitsrechte Rechnung zu tragen, sondern geradezu als Vorbedingung „realer" Freiheit
Mit der Synthese aus diesen drei Grundsätzen ist der Standpunkt umrissen, von wo aus die ordnungspolitische Weiterentwicklung erfolgen könnte.
2. Aus diesem Standpunkt ergeben sich Konsequenzen. Zunächst muß noch einmal davon ausgegangen werden, daß das ordnungspolitische Konzept der sozialen Marktwirtschaft — gerade unter dem Einfluß Erhards — seine Rechtfertigung aus der dadurch ermöglichten Wachstumsdynamik erhielt. Je mehr aber gerade der Wachstumsprozeß im Hinblick auf die gesellschaftspolitisch negativ zu wertenden Nebeneffekte suspekt zu werden beginnt, desto problematischer wird die damit begründete Rechtfertigung. Ebensowenig wie das Kriterium der demokratischen Freiheitsrechte (s. o.) kann das Effizienzkriterium noch überzeugend zur Rechtfertigung der Marktwirtschaft herangezogen werden. Dies hat aber noch weitreichende Konsequenzen.
Sie werden deutlich, wenn auf jene These zurückgegriffen wird, die faktisch das Rückgrat der herkömmlichen Wachstumskonzeption darstellt, nämlich daß der Investitionsprozeß die notwendige und hinreichende Bedingung des Wachstumsprozesses darstellt Preiser glaubt, „daß das marktwirtschaftliche System gerade hier, bei den Investitionen, seine schwache Stelle" haben könnte und Molitor zieht daraus die Schlußfolgerung: „Nie war der Ausbau der staatlichen Aktivität dringender als in dieser Transformationsperiode des Kapitalismus . . . Den Zirkel sprengen wird erst eine staatliche Aktivität, die sich anschickt, auf das Investitionsgewicht Einfluß zu nehmen und die industrielle Struktur zu reformieren, um die Dynamik der Entwicklung ordnend in den Griff zu bekommen" Hier ergibt sich unverkennbar der materielle Ansatz einer ordnungspolitischen Weiterentwicklung. Jeder Versuch, den Wirtschaftsprozeß planend zu gestalten, muß an seinem Drehund Angelpunkt ansetzen: der Struktur des gesamtwirtschaftlichen Investitionsprozesses.
Hieraus leiten sich weitere Konsequenzen ab. Wenn die gesamtwirtschaftliche Investitionsstruktur geplant wird — womit eventuell eine geringere Wachstumsrate des künftigen Bruttosozialprodukts verbunden sein könnte, wenn bislang vernachlässigte (da weniger produktive), aber gesellschaftspolitisch wichtige Investitionsobjekte in Angriff genommen werden —, so schließt dies einen weiteren Gesichtspunkt ein. Meinhold meint einmal: „Je weniger dominant die Zielvorstellung eines möglichst kräftigen Wachstums ist, . . . um so schwieriger wird aber auch der Prozeß der politischen Willensbildung" Hier ist eine wichtige Konsequenz gezielt angesprochen. Es stellt sich die Frage, wie die Investitionssteuerung erfolgen kann Zwei (extreme) Alternativen stehen zur Diskussion. Einmal: Das Instrumentarium der globalen Nachfragesteuerung (Zins-, Kredit-, Steuer-, Subventionspolitik etc.) effizienter auszugestalten. Gemeint ist damit: Durch sog. positive oder negative „incentives", d. h. steuer-, kredit-und/oder subventionspolitische Erleichterungen bzw. Erschwerungen den Unternehmer zu einem bestimmten investitionspolitischen Verhalten nicht zu „zwingen", wohl aber , — über die damit verbundenen Vor-und Nachteile — indirekt zu „veranlassen". Es steht außer Zweifel, daß eine solche Politik — konsequent angewandt und evtl, durch bestimmte „Auflagen" (etwa hinsichtlich Umweltschutzbestimmungen etc.) ergänzt — einen spürbaren Einfluß auf eine geplante Investitionsstruktur haben könnte. Doch sollte ein grundlegender Sachverhalt nicht übersehen werden. Diese Politik läge völlig auf der Ebene der herrschenden Ordnungskonzeption, und hier liegt auch ihre Schwäche. Ohne hier auf Details eingehen zu können, zeigt die daß in diesem Erfahrung, — -die Fal le nach wie vor gegebene — Möglichkeit der unternehmerischen Investoren, diese Politik zu unterlaufen (Eigen-oder Auslandsfinanzierung), ihr auszuweichen (Preisüberwälzung) oder gar Gegendruck auszuüben (Beschäfti-gungsverminderung), jede gesamtwirtschaftliche Investitionsplanung zunichte machen kann. Hier wird ein wichtiger Aspekt sehr deutlich. Eine solche „geplante" Investitionspolitik unterstellt in jedem Falle den gesamtwirtschaftlichen „Plan" der einzelwirtschaftlichen Bereitschaft der Investoren, den „incen-tives" auch wirklich Folge zu leisten. Im Grund bleiben hier zwei elementare gesellschaftspolitische Probleme offen. Einerseits die Frage, ob und inwieweit eine solche Umstrukturierung des gesamtwirtschaftlichen Investitionsprozesses technologisch (Umstellungsmöglichkeit) bzw. finanziell (Umstellungsfinanzierungsbedarf) herbeizuführen ist. Es bleibt andererseits die Frage offen, wie hoch die „incentives" angesetzt werden müssen, damit überhaupt eine solche Bereitschaft ausgelöst wird. M. a. W.: Wenn überhaupt, wird der Umstrukturierungsprozeß elementaren privatwirtschaftlichen Rentabilitätsüberlegungen nach wie vor untergeordnet. Die gesellschaftspolitische Problematik — insbesondere das Problem der Preisstabilität und der Verteilungsgerechtigkeit — bleibt ungelöst, weshalb diese Alternative keine echte ordnungspolitische Weiterentwicklung darstellt. Wenngleich nicht auszuschließen ist, daß eine pragmatisch verstandene ordnungspolitische Reform hier einsetzen könnte, ist ebensowenig auszuschließen, daß die Planung damit noch keinen imperativen Charakter gewinnt und einem elementaren ordnungspolitischen Ansatz der Weiterentwicklung (Ziff.
VII/1) nicht gerecht wird.
Zum zweiten: Die andere Alternative — von Hartwich als die „theoretisch konsequenteste gesellschaftspolitische Alternative" bezeichnet — besteht in der Beseitigung des „Grundwiderspruches zwischen privater Aneignung der Produktionsmittel und dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion" bzw. in der „Beseitigung der privatwirtschaftlichen Profit-orientierung als dem zentralen Mechanismus kapitalistischer Produktionsverhältnisse"
Nach Hartwich ginge dies nicht, ohne daß es zu einem Bruch mit der Verfassung käme.
Man könnte noch einen Schritt weiter gehen und hinter dieser zweiten Alternative ein hohes Maß an Weltfremdheit vermuten. Denn wenn sich Enteignung mit Beseitigung jeglicher individueller Rentabilitätsüberlegungen verbindet, setzt dies entweder den rein altruistischen (d. h. sich ausschließlich einer gesellschaftlichen Notwendigkeit verpflichtet fühlenden) Menschen voraus oder erzwingt die detail-und total-dirigistische Planwirtschaft. Die zweite Alternative erwies sich als irreal und/oder ineffizient. Vor allem bedeutete sie einen Rückschritt gegenüber allen Reformbestrebungen, wie wir sie gerade heute im Ostblock verzeichnen können; denn gerade diese Reform ist dadurch gekennzeichnet, daß man — neben der prinzipiellen Herbeiführung der Konsumentensouveränität — die Notwendigkeit erkennt, im Interesse eines rationellen Einsatzes der Produktionsfaktoren den Betriebsleitern bestimmte „incentives" i. S. von Prämien etc. zuzugestehen. Die ganze Reformdiskussion im Ostblock geht von der zentralen Erkenntnis aus, daß eine Total-planung des gesamten Wirtschaftsprozesses ineffizient ist, weil a) der gesamtwirtschaftliche Komplex nicht überschau-und berechenbar ist, und weil b) wichtige Eigeninitiativen untergraben werden. So wird zwar an der gesamtwirtschaftlichen verbindlichen Planung festgehalten (die ökonomischen, sozialen und gesellschaftspolitischen Ziele bleiben also vorgegeben), die einzelwirtschaftlichen Anpassungen an den Plan werden verstärkt den Betriebsleitern, als den Trägern der Einzel-wirtschaften, zugewiesen (d. h., marktwirtschaftliche Steuerungselemente werden eingebaut). Das Bedenkliche an dieser ordnungspolitischen Konzeption ist freilich, daß die gesamtgesellschaftlichen Zielvorgaben nicht demokratisch legitimiert und kontrollierbar sind, sondern der Parteidiktatur unterworfen werden Sogar hier kommt — wenn auch aus recht pragmatischen Gründen — eine Ab-sage an einen Totaldirigismus zum Ausdruck, und es kann sinnvollerweise nicht darum ge-hen, einer Konzeption das Wort zu reden, die demgegenüber einen Rückschritt bedeutete.
Die Notwendigkeit, zwischen den beiden Extremen einen „dritten Weg" zu finden, ist eine wichtige Konsequenz; ihre Lösung dürfte nicht eben einfach sein — Illusionen wären hier fehl am Platze. Aber wenn — unter Wahrung der menschlichen Freiheitsrechte, und der demokratischen Grundverfassung — ein Sozialstaatsmodell entwickelt werden soll, das nicht den gesellschaftspolitischen Status quo stabilisiert (und vielleicht sozial temperiert), sondern weiterentwickelt, dann liegt in der Lösung dieser Frage eine zentrale Aufgabe für Wissenschaft und Praxis. Wie eingangs erwähnt, können (und sollen) hier keine „Patentrezepte" vorgelegt werden. Bestenfalls können einige Akzente möglicher Konzeptionen gesetzt werden. Dazu gehört — neben der Kontrolle wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Macht und der Möglichkeit von verstärkten steuerpolitischen Eingriffen in große private Vermögenssubstanzen — der Versuch, für jeweils abgegrenzte Zeitperioden die globalen Nachfrageaggregate (Verbrauch, Investition, Außenhandel, Finanzierungsspielräume) verbindlich zu planen. Dies gilt vor allem dann, wenn sich die Politik der „incentives" nicht hinreichend erweist bzw. gesellschaftspolitische Probleme ungelöst läßt oder gar erschwert. Darüber hinaus schließt eine solche Planung nicht aus, daß innerhalb der — damit faktisch kontingentierten — Globalaggregate ein echter marktwirtschaftlicher Leistungswettbewerb aufrechterhalten bleibt. An dieser Stelle hätte auch die Rückkehr zum Status quo ante durchaus ihren Stellenwert. Eine solche Kontingentierung ist schon deshalb geboten, um Finanzierungsspielräume zu schaffen für die Durchführung von Investitionsprojekten (bildungs-, gesund-heits-, Struktur-, regionalpolitische Investitionen), deren Steuerung nicht mit Rentabilitätskriterien möglich ist, weshalb bislang vielfach eine Unter-bzw. Nachordnung nach dem Wachstumsziel erfolgte.
VIII. Schlußfolgerungen
1. Fritz Marbach meint einmal, daß die Sozialwissenschaften keine Welt einrichten können; sie hätten bestenfalls eine „bereits mehr oder weniger gut eingerichtete Welt zu betreuen" In diesen Feststellungen kommt ein hohes Maß an Skepsis zum Ausdruck gegenüber allen Versuchen, eine „neue Welt" — i. S. einer neuen in sich konsistenten gesellschaftspolitischen Konzeption — schaffen zu wollen. Es ist aber genau das Problem, das eingangs erwähnt wurde. Mar-bach zog (für sich) daraus die Konsequenzen und wurde zum Mitbegründer jener interventionistischen Konzeption der Wirtschaftspolitik, die von vornherein darauf verzichtete, ein gesellschaftspolitisches Gesamtmodell zu entwickeln und sich statt dessen auf jeweilige ad-hoc-Interventionen beschränkte.
Doch dies kann nicht befriedigen, was auch in der bekannten vom Bundeskanzleramt in Auftrag gegebenen prognos-Studie sehr deutlich ausgedrückt wird. Zu Recht wird in dieser Studie beanstandet, daß es bisher an einer allgemeinen zukunftsträchtigen Zielsetzung der Gesellschaftspolitik fehlte, weshalb diese eher auf Anstöße (sog. „Sachzwänge") reagierte, „statt aktiv die notwendigen Reformen einzuleiten, bevor sich Sachzwänge bemerkbar machen" M. a. W.: Der reine Pragmatismus ist — so plausibel er auf den ersten Blick scheinen mag — keine tragfähige Lösung, und deshalb fordern die Autoren der Studie auch (völlig konsequent), einerseits ei-nen Zielkatalog zu konkretisieren und verbindlich festzulegen andererseits die Entwicklung institutioneller Reformen, die es ermöglichen, daß die angestrebten Ziele „unter Umständen gegen das mißverstandene Interesse der Allgemeinheit" auch tatsächlich durchgesetzt werden wobei nicht zuletzt die Notwendigkeit gesehen wird, auf einen „charismatischen" Führer zu verzichten und mit Hilfe eines Systems „sozialer Kontrollen" dem latent Mächtigen zu begegnen
Hier werden genau jene Aspekte angesprochen, die den „Standpunkt" der vorliegenden Untersuchung (Ziff. VII/1) ausmachen. Doch die Autoren sehen auch das Marbachsche Problem. Sie sehen es zweifach. Einmal als ein „Erkenntnisproblem": Der Versuch, eine allgemeinpolitische Konzeption zu entwikkeln, könnte wegen der Vielschichtigkeit der Probleme zum Scheitern verurteilt sein, weshalb man sich auf jene Bestimmungsfaktoren beschränken sollte, „die als relevant und beeinflußbar anzusprechen sind" Zum zweiten als ein „Durchsetzungsproblem": Hier kommt eine Absage an alle perfektionistisehen Utopien zum Ausdruck, d. h. an alle Versuche, nicht realisierbare Ziele anzustreben. Statt dessen sollte man sich auf einen Ansatz beschränken, der die Voraussetzung bilde, das Mögliche (gegen Meinungszwänge) durchzusetzen
Beide Probleme können nicht ernst genug genommen werden. Es wäre geradezu verhängnisvoll, die ordnungspolitische Reform dadurch in Frage zu stellen, daß man nicht alle Sachzusammenhänge übersieht (Erkenntnisproblem) bzw. die Realisierungschancen falsch beurteilt (Durchsetzungsproblem). Und daraus ergibt sich eine erste Schlußfolgerung: Wenn der Pragmatismus überwunden werden soll (und davon ist auszugehen), so werden Sachkonflikte bleiben. M. a. W.: Das Versprechen, in einem Anlauf ein geschlossenes Konzept entwickeln zu können, ist Demagogie. Dies ist aber dennoch kein legitimer Grund, den Versuch selbst — über einen Pragmatismus — auszuklammern, und dies bedeutet wiederum: Ein inhaltliches Gesamtkonzept wird sich nur Schritt für Schritt ent-wickeln und realisieren lassen. Die damit begründete Absage an eine quasi-revolutionäre Änderung des „Systems verbindet sich aber mit der Einsicht in die Notwendigkeit, die Schritte nicht ad hoc, sondern unter Zugrundelegung eines verbindlichen gesamtwirtschaftlichen Konzepts durchzuführen, das seine Ergebnisse nicht mehr einem Marktmechanismus eben „anvertraut". 2. Der damit angesprochene Sachkonflikt birgt aber auch einen ordnungspolitischen Konflikt. Dieser Konflikt konzentriert sich vor allem auf das sog. Partizipationsproblem, abgeleitet aus der Forderung einer totalen Demokratisierung in Wirtschaft und Gesellschaft. Jöhr definiert „demokratische Planung" als eine Planung, die durch Mehrheitsentscheid der Planadressaten fixiert wird Denn nur dies entspricht einer demokratischen Kontrolle der Bürokratie, die Fehlentscheidungen in den Grenzen des Möglichen verhindert bzw. flexibel korrigiert Bei der Forderung einer solchen Total-Demokrati-sierung stellt sich sofort eine Fülle von Fragen. Sie lassen sich auf drei Teilprobleme reduzieren. Einmal: Ist der einzelne Bürger überhaupt fähig, angesichts der komplexen Problematik einer gesellschaftspolitischen Konzeption an einer solchen Planung mitzuwirken? Auf den ersten Blick scheint hier Skepsis am Platze; nicht umsonst meint Myrdal, daß der Trend zur Planung keine Gefahr für die Demokratie darstelle, daß aber in der „Umkehrung dieses Satzes viel mehr Wahrheit stecke" Hier wird als erstes die Frage angesprochen, ob die Gesamtheit der Bevölkerung überhaupt zur Partizipation fähig ist. Dies erste Problem führt unmittelbar zu einer zweiten Frage: Sie besteht in der begründeten Skepsis, mit der einem „Mehrheitswillen" bzw.der „Macht der öffentlichen Meinung" begegnet werden muß. Nicht umsonst glaubt Popper, daß der Liberalismus die Macht der öffentlichen Meinung „mit Argwohn" betrachten müsse, weil sie aufgrund ihrer Anonymität eine Macht ohne Verantwortlichkeit sei, die darüber hinaus bearbeitet und manipuliert werden könne Schließlich entsteht eine dritte Frage: Ist es überhaupt möglich, den einzelnen Bürger für einen Willensbildungsprozeß zu engagieren? Den Myrdalschen Optimismus — wonach der einzelne, im Bewußtsein, an der Bestimmung der politischen Linie einen gleichberechtigten Anteil zu haben, weder grobe Mängel dulden noch bereit sein werde, „seinen Wohfahrtsstaat einem oberflächlichen, bürokratischen, stark zentralisierten Apparat zu überlassen" — wird man nur bedingt teilen können.
Diese drei Teilfragen zusammengefaßt ergeben die zweite Schlußfolgerung: Wenn mit der Demokratisierung ernst gemacht werden soll (und auch davon ist auszugehen), so werden auch Ordnungskonflikte bleiben. Sie ergeben sich — vordergründig — daraus, daß „die Gesellschaft" nicht bzw. nur bedingt handlungsfähig ist. Sie bedarf insofern demokratisch legitimierter und kontrollierbarer Institutionen, die — verbindlich — entscheiden, wie und welche volkswirtschaftlichen Produktionsfaktoren eingesetzt werden (Allokationsproblem), wieviel und wo in einer Volkswirtschaft investiert wird (Akkumulationsproblem) und wie das in einer Zeitperiode entstandene Volkseinkommen auf die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit verteilt wird (Distributionsproblem). In der Erkenntnis dieser Notwendigkeit liegt die Wurzel der Konstruktion sog. „Rätemodelle", d. h.der Versuche, Gremien zu bilden, in denen alle gesellschaftlich relevanten Gruppen mitbestimmen, und die über Entscheidungsvollmachten verfügen, die zwar nicht das individuelle Verhalten, wohl aber den gesamtwirtschaftlichen Prozeß verbindlich planen und steuern Die Behauptung jedoch, daß ein solches Rätemodell nicht realisierbar ist erweist sich bei genauem Zusehen ebenso als unbewiesene Hypothese wie die Behauptung, daß das Rätemodell in den Totalitarismus führe, denn die-se These läßt sich „nur durch einige unzulässige Identifikationen des Rätemodells mit der Idee einer sozialistischen Kaderpartei untermauern. Dies ist eine Identifizierung, die we-der ideengeschichtlich noch organisationstheoretisch zwingend ist"
Und daraus folgt wiederum: Auch ein ordnungspolitisches Gesamtkonzept wird sich nur schrittweise entwickeln und realisieren lassen. Wenn aber die Demokratie nicht nur „Staatsform" bleiben, sondern „Lebensform" werden soll hat dies eine eindeutige Konsequenz. Es darf niemals die Folgerung daraus gezogen werden, wie es Lenin tat: daß der einzelne zur Verwirklichung des Sozialismus unfähig sei, weshalb seine individuelle Willensentscheidung aufzuheben und dem Staat bzw.der Partei zu übertragen sei Die Schlußfolgerung muß geradezu das Gegenteil zum Inhalt haben, nämlich daß im Rahmen eines umfassenden Bildungskonzepts ein „mündiger Staatsbürger" entsteht, der die Voraussetzungen für ein kritisches Sozialverständnis (Bildung von Seinsurteilen) sowie für ein kritisches Sozialbewußtsein (Bildung von Werturteilen) mitbringt. Dies wird verstärkt auch als Grundlage dessen anzusehen sein, was gegenwärtig „freiheitlichen Sozialismus" ausmacht 3. Wir kommen damit zum Schluß der Untersuchung. Sie sollte deutlich machen, daß — einmal — eine ordnungspolitische Weiterentwicklung erforderlich ist; daß aber — zum zweiten — diese Weiterentwicklung weder in einer (effizienter ausgestalteten) Restauration noch in einer (revolutionären) Sprengung des Systems erfolgen kann; daß schließlich -— zum dritten — diese Weiterentwicklung auch nicht in einen interventionistischen Pragmatismus abgleiten darf. Die zentrale Voraussetzung dieser Weiterentwicklung dürfte sein, daß ein demokratisierter Planungsmechanismus den Wirtschaftsprozeß den gesellschaftspolitischen Notwendigkeiten anpassen muß.
Wie nun zum Schluß gezeigt wurde, wäre es Utopie zu glauben, daß damit sofort sämtliche sachlichen (Ziff. VIII/1) und ordnungspolitischen (Ziff. VIII/2) Konfliktsituationen ausgeschaltet sind. Aber gerade weil dies so ist, ergibt sich die Notwendigkeit, alle gesellschaftlichen Faktoren in diesen Prozeß der systematischen Konfliktlösung einzuschalten. Gerade hier liegt die tiefste Wurzel für das Konzept der überbetrieblichen Mitbestimmung
In diesem Konzept artikuliert sich keine „angemaßte Staatsgewalt" wohl aber ein Anspruch auf das Recht, an der Lösung von Konflikten mitbeteiligt zu sein, sowie eine Bereitschaft für die Pflicht, hierbei Mitverantwortung zu tragen. Gerade die gesellschaftstheoretische Unmöglichkeit, eine Trennung von Staat und Gesellschaft noch aufrechtzu-i erhalten, begründet die Notwendigkeit eines solchen Mitbestimmungskonzepts — wie immer es auch in seinen organisatorischen Details strukturiert ist. Denn es könnte einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, daß —• wenn ein Teil nicht demokratisch kontrollierter Macht bzw. Machtausübung entfällt — sowohl öffentliche demokratische Institutionen als auch öffentliches demokratisches Bewußtsein eher gestärkt als geschwächt aus einer solchen ordnungspolitischen Weiterentwicklung hervorgehen Nur wenn mit der Reform des bestehenden Ordnungskonzepts i. S. einer demokratisch strukturierten Weiterentwicklung ernst gemacht wird, kann verhindert werden, daß sich Ideologien etablieren, die entweder zur Resignation führen oder in eine Sprengung des Systems ausarten. Und beiden ist gemeinsam, daß sie das gefährden, was in jedem Falle bewahrt werden muß: die Idee der individuellen Freiheitsrechte und — daraus resultierend — der demokratischen Grundordnung unserer Gesellschaft.