MBFR: Motor der Aufrüstung oder Instrument der Friedenssicherung?
Auseinandersetzung mit den Thesen von D. Senghaas, V. Rittberger und B. Luber in B 13/73 | APuZ 24/1973 | bpb.de
MBFR: Motor der Aufrüstung oder Instrument der Friedenssicherung?
Auseinandersetzung mit den Thesen von D. Senghaas, V. Rittberger und B. Luber in B 13/73
Gerhard Wettig
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Zusammenfassung
Die Untersuchung setzt sich mit den Thesen auseinander, die drei Vertreter der „kritischen Friedensforschung", D. Senghaas, V. Rittberger und B. Luber, unter dem Titel „MBFR: Aufrüstung durch Rüstungskontrolle?", in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 13/73, veröffentlicht haben. Der Autor stellt dazu folgende Fragen: 1. Dient die Aufrechterhaltung eines machtpolitischen Gleichgewichts mit Hilfe militärischer Macht der Verhinderung des Krieges oder der Erzeugung von Spannung? 2. Sind Rüstungen auf auswärtige Herausforderungen oder auf übermächtige Innen-interessen zurückzuführen? 3. Sind das Bemühen um Rüstungskontrolle im allgemeinen und die MBFR-Politik im besonderen als Versuche zu einer internationalen Rüstungsbeschränkung oder als Manöver innerstaatlicher Umrüstung zu bewerten? 4. Welche politischen Auswirkungen hätte eine einseitige Rüstungsverringerung westlicher Staaten? 5. Würden einseitige Militärreduktionen die Staaten des anderen Bündnisses zur Nachahmung des damit gesetzten Beispiels herausfordern? Die Analyse der Thesen von Senghaas/Rittberger/Luber ergibt, daß die drei Verfasser in weitem Umfang von prinzipiellen Vorstellungen ausgehen. Daher nimmt die Über-prüfung der Prämissen und Schlüsse einen wesentlichen Teil der Untersuchung in Anspruch. Daneben wird ein Vergleich der vorgetragenen Behauptungen mit empirischen Vorgängen durchgeführt. Schließlich werden die aktuellen Entwicklungen der internationalen Politik, die mit MBFR in Zusammenhang stehen, ausführlich erörtert. Das Ergebnis der Analyse ist, daß die Thesen von Senghaas/Rittberger/Luber der kritischen Prüfung nicht standhalten. Die operativen Empfehlungen, welche die drei Autoren formuliert haben, stellen nicht nur die Entspannungspolitik der sozialliberalen Bundesregierung in Frage und leisten bestimmten bedenklichen Eventualtendenzen der sowjetischen EuropaPolitik Vorschub, sondern bedrohen auch insgesamt die Grundlagen des eingeleiteten Entspannungsprozesses und die Stabilität eines Zustandes erreichter Kriegsverhütung.
I. Fragestellung
Der Vorschlag einer „wechselseitigen ausgeIwogenen Streitkräfteverringerung" (MBFR)
gehört zu den Hauptproblemen, die zwischen I Ost und West zu regeln sind. Auf der bevor-
stehenden Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) sollen Normen für die Beziehungen zwischen den europäischen Staaten, Möglichkeiten einer erweiterten wirtschaftlich-technologischen Kooperation, die Frage von Kontakt und Kommunikation und möglicherweise auch institutioneile Neuerungen zur Diskussion stehen. Wenn überhaupt, werden Gesichtspunkte der militärischen Sicherheit in Europa nur am Rande und in eng begrenzter Weise zur Sprache kommen. Die Sicherheitspolitik im engeren Sinne ist der Erörterung während separater MBFR-Verhandlungen vorbehalten.
Als die Mitgliedstaaten der Militärorganisation des nordatlantischen Bündnisses am 25. Juni 1968 das MBFR-Konzept erstmals genauer formulierten forderten sie, der zu vereinbarende Truppenabbau müsse auf Gegenseitigkeit beruhen, nach Umfang und Zeitablauf ausgewogen sein, nachteilige Veränderungen vermeiden und zu vermehrtem wechselseitigem Vertrauen beitragen. Die Absicht ging dahin, das bestehende militärische Gleichgewicht in Europa auf einen geringeren Stand zu stabilisieren. Dahinter steht die Vorstellung, daß die einigermaßen gegebene Balance der Kräfte auf dem europäischen Schauplatz den Gebrauch von Gewalt zwischen bündnisverschiedenen Staaten blockie-re und daß dieses Verhältnis einer wechselseitigen Abschreckung oder „Dissuasion" auch bei einer Verringerung der militärischen Kapazitäten aufrechterhalten bleiben müsse. Im Selbstverständnis derer, die das MBFR-Konzept entworfen haben, ist also MBFR ein Mittel, wie man militärische Auseinanderset-Zungen zwischen Ost und West mit geringem Truppen-und Rüstungsaufwand auf beiden Seiten weiterhin unwahrscheinlich machen kann. Mehr noch: Die Forderung, daß keine Veränderungen des bestehenden militärischen Kräfteverhältnisses eintreten dürften, soll den gegenwärtigen Zustand wechselseitiger Abschreckung vor etwaigen zukünftigen Erschütterungen bewahren. Der MBFR ist damit die Funktion zugedacht, einen Krieg noch unwahrscheinlicher zu machen. Demnach ist MBFR ein Instrument der Friedenssicherung
Die Warschauer-Pakt-Staaten gehen offensichtlich von anderen Vorstellungen aus. Sie stehen dem westlichen Vorschlag mit großer Reserve gegenüber Die sowjetischen Stellungnahmen operieren bis heute mit dem Argument, daß die Verhandlungen auf der Europa-Konferenz über die Probleme der politischen Sicherheit nichts mit den militärischen Fragen zu tun hätten und folglich auch in keiner Weise mit ihnen verbunden werden dürften Durch verschiedenartigste Äußerungen, durch mehrfache VerfahrensVorschläge und durch ihr praktisches Verhalten hat die sowjetische Seite ab Mitte 1970 wiederholt deutlich gemacht, daß die Europa-Konferenz den Gesprächen über einen Truppenabbau vorausgehen müsse. Nach ihrem erfolgreichen Abschluß seien die Voraussetzungen für eine fruchtbare Diskussion über militärische Angelegenheiten gewährleistet. Daneben haben sowjetische Diplomaten und Publizisten ständig betont, die Verhandlungen dürften nicht von Block zu Block geführt werden und sollten keiner Konsolidierung der Block-Strukturen dienen. Dahinter wird das Bestreben sichtbar, der NATO eine Funktion im Entspannungsprozeß zu verweigern und damit erhoffte Tendenzen zu einem allmählichen Auseinanderfallen des atlantischen Bündnisses zu fördern. Allen westlichen Kräften, die für eine Verbindung oder eine Parallelität zwischen der Europa-Konferenz und den Truppenabbau-Gesprächen eintreten, wird die Absicht unterstellt, sie wollten die multilateralen Ost-West-Verhandlungen sabotieren. Dieser Befund legt den Schluß nahe, daß die sowjetische Führung und ihre Verbündeten an der Erörterung einer wechselseitigen Streitkräfteverringerung in Europa von sich aus wenig interessiert sind. Sie sind primär bestrebt, auf das Verlangen der NATO-Staaten (mit Ausnahme Frankreichs) so weit einzugehen, daß der Zusammentritt der Europa-Konferenz nicht gefährdet wird. Gleichzeitig versuchen sie, mit Hilfe der Truppenabbau-Frage auf die inneren Verhältnisse im atlantischen Bündnis einzuwirken Für die UdSSR und ihre Bundesgenossen ist also das Problem einer wechselseitigen Streitkräfteverringerung ein Instrument zur Manipulation der intereuropäischen Beziehungen.
Die sowjetische Führung hat, was die militärische Seite der Angelegenheit betrifft, auf entscheidende westliche Vorstellungen negativ reagiert. Die bis in das Jahr 1970 hinein zu hörenden Argumente, die NATO-Staaten wollten sich mit Hilfe des MBFR-Vorschlags einer einseitigen Reduzierung ihrer Truppen — insbesondere der amerikanischen Stationierungsstreitkräfte in Europa — entziehen, werden mittlerweile nicht mehr vorgetragen. Der Gedanke der Wechselseitigkeit wird heute nicht grundsätzlich bestritten. Dagegen hat die UdSSR die Vorstellung nicht akzeptiert, daß die Verringerung der Streitkräfte in einem ausgewogenen Verhältnis erfolgen müßten. Sie wehrt sich demzufolge dagegen, daß die Vorgespräche in Wien mit dem Terminus „MBFR" verbunden werden. Im Budapester Memorandum vom 22. Juni 1970 wählten die Warschauer-Pakt-Staaten den Ausdruck „Verminderung der ausländischen Streitkräfte auf dem Territorium europäischer Staaten" Seit Breshnejws Rede vor dem XXIV. Parteitag der KPdSU vom 30. März 1971 ist von „Verringerung der Streitkräfte und Rüstungen" die Rede. Auf westliches Drängen hin fand sich die sowjetische Führung zu der Versicherung bereit, daß eine derartige Verringerung „ohne Nachteile für die beteiligten Staaten" stattfinden solle — eine Formel, die erstmals in dem Kommunique über die Breshnejw-Brandt-Gespräche in Oreanda vom 18. September 1971 auftaucht Alle diese Elemente sind in der programmatischen Prager Deklaration der Warschauer-Pakt-Staaten vom 26. Januar 1972 enthalten. Darin ist außerdem, einer früheren Breshnejw-Äußerung entsprechend, von einer Einbeziehung sowohl der ausländischen als auch der nationalen Streitkräfte in den Truppenabbau die Rede. Schließlich heißt es, die „Überprüfung und Bestimmung der Lösungsmöglichkeiten dieser Frage" dürften „nicht die Prärogative der bestehenden militärisch-politischen Bündnisse in Europa sein". Die sowjetische Position — insbesondere das Ausweichen von dem relativ konkreten Begriff der Ausgewogenheit auf das vagere Prinzip der Unschädlichkeit — könnte ein Hinweis darauf sein, daß Moskau an der westlicherseits angestrebten Stabilisierung des militärischen Gleichgewichts in Europa nichts gelegen ist
Gegenüber den Standpunkten von Ost und West ist kürzlich von Dieter Senghaas, Volker Rittberger und Burkhard Luber eine weitere Ansicht formuliert worden Die drei Autoren gehen von einer „prinzipiellen Fragwürdigkeit der Prämissen gegenwärtiger Sicherheitspolitik (= Abschreckungspolitik)" und von einem unversöhnlichen Gegensatz zwischen militärischer Gleichgewichtswahrung und politischem Entspannungsbemühen aus. Insofern das Konzept eines wechselseitigen Truppenabbaus in Europa an dem Postulat orientiert sei, die militärische Balance aufrechtzuerhalten und sogar zu stabilisieren, könne es daher der Entspannung und dem Frieden nicht dienen. Einem MBFR-Abkommen würde die grundlegende Perversion bisheriger Rüstungskontrollmaßnahmen eignen, durch einen Verzicht auf militärisch uninteressant gewordene Bereiche den Rüstungswettlauf auf effizientere Waffensysteme zu konzentrieren und damit „bestimmte überfällige Selbstkorrekturen in den Rüstungsapparaten" zu erleichtern. Vor allem aus einem steigenden Kostendruck, so heißt es, ergebe sich eine „Tendenz zur Des-organisation der [militärischen] Apparate" die sich nur durch eine Verlagerung des Aufwandes auf die wirkungsvollsten Rüstungssektoren auffangen lasse. Es gehe um eine Ersetzung von Quantität durch Qualität, das heißt der Personalbestand müsse verringert werden, damit besser geschulte Berufs-soldaten, modernere Ausrüstungen und technologische Neuentwicklungen finanziert werden könnten. Nur diesem Zweck sei das MBFR-Konzept zu dienen bestimmt. Mit seiner Hilfe ließen sich die rüstungspolitisch notwendigen „Anpassungsprozesse" innergesellschaftlich leichter durchsetzen — mit dem Ergebnis einer bloßen „Umrüstung oder Aufrüstung". Die „langfristig sich [ohnehin] durchsetzenden rüstungspolitischen Trends" würden beschleunigt. Statt der versprochenen Abrüstung sehen die Autoren „nur eine strukturelle Rationalisierung und . Produktivitätserhöhung'der militärischen Organisationen" (im Sinne einer größeren „Zerstörungskapazität") als das zu erwartende Resultat. Die Zunahme an militärischer Effizienz, die von einem MBFR-Abkommen erwartet wird, erscheint notwendigerweise mit einem Weniger an Entspannung und Frieden gleichbedeutend.
Aus der dargelegten Sicht der Fakten leiten sich normative Thesen ab, wie der Frieden in Europa am besten gefördert werden könne. Das Problem ist von vornherein so definiert, daß die weitere Entwicklung des machtpolitischen Verhältnisses zwischen den beiden Allianzen und daneben auch den ungebundenen Staaten als irrelevant gilt. Der Ausbruch oder das Nicht-Entstehen von Kriegen in Europa hat demnach nichts damit zu tun, über welche militärischen Möglichkeiten ein Staat oder eine Staatengruppe gegenüber einem anderen Land oder mehreren anderen Ländern verfügt. Militärische Konflikte, so muß man schließen, entwickeln sich nicht aus internationalen Konstellationen heraus, in denen es zu Streitigkeiten kommt und gleichzeitig der Gebrauch militärischer Mittel vorteilhaft zu sein verspricht. Tatsächlich leugnen Senghaas/Rittberger/Luber den „rein instrumenteilen Charakter von Rüstungspolitik und Rüstungsapparaten" und fassen die militärischen Anstrengungen der Staaten als „im wesentlichen innenbestimmt" auf. „Das heißt, der Rüstungswettlauf ist weniger ein Wettkampf zwischen zwei Antagonisten, deren Interaktion auf eine Wechselbeziehung schließen läßt (Reziprozität); er ist vielmehr ein Wettlauf der Staaten mit sich selbst, der im Rahmen der jeweiligen nationalen Rüstungspolitik zwischen den an dieser Rüstungspolitik beteiligten zivilen, militärischen, industriellen, administrativen und wissenschaftlichen Gruppierungen sich abspielt."
Das praktische Fazit lautet, man dürfe in den Fragen der Militärpolitik keinen Blick auf die zwischenstaatliche Lage verschwenden, sondern müsse im innerstaatlichen Rahmen alle Energie auf einen Abbau der Verteidigungsapparate richten. Es kommt allein darauf an, innerhalb der eigenen Gesellschaft bisher nicht bestehende Möglichkeiten der Wehrreduzierung zu schaffen. Bewußt wird in Kauf genommen, daß dieser Prozeß in einem oder in einigen Staaten anlaufen kann, in anderen dagegen nicht. Da die zwischenstaatliche Machtbalance von vornherein nicht interessiert, ist nicht die Wechselseitigkeit der Reduzierungsmaßnahmen im internationalen Rahmen, sondern der Umfang des Militärabbaus im einzelstaatlichen Rahmen das Erfolgskriterium. Der Entmilitarisierungsprozeß soll daher einen unwiderruflichen Charakter erhalten und sogar vom Willen der nationalen Regierung unabhängig sein. Die Autoren rechnen damit, daß das so gegebene Beispiel von immer mehr Staaten nachgeahmt werde und so eine weltweite Abrüstung einleiten könne
Die Regierungen der europäischen Staaten gehen — ohne Unterschied ihres politischen Standortes — davon aus, daß der Zustand wechselseitiger Abschreckung, solange und soweit er besteht, vernünftigerweise den Gebrauch militärischer Mittel bei auftretenden Streitigkeiten ausschließt Die Analyse von Senghaas/Rittberger/Luber kommt zu einem anderen Ergebnis. Daher ist kritisch zu prüfen, ob die herkömmliche Auffassung oder die Ansicht der drei Autoren zutrifft. Dabei stellen sich drei Fragen: 1. Dient ein machtpolitisches Gleichgewicht, das durch militärische Anstrengungen ähnlichen Umfangs seitens der Beteiligten aufrechterhalten wird, der Verhinderung des Krieges oder der Erzeugung von Spannung und damit von Unfrieden?
2. Sind die Rüstungsprozesse in den verschiedenen Staaten primär auf Herausforderungen durch die Militärpolitik potentieller Gegner oder auf Pressionen von Seiten interessierter innerstaatlicher Gruppen zurückzuführen?
3. Stellen die Rüstungskontrollbemühungen im allgemeinen und die Vorschläge für MBFR im besonderen Initiativen zu einer internationalen Rüstungsbegrenzung oder Teilstücke innerstaatlicher Um-und Aufrüstungsbestrebungen dar?
Die angesprochenen Fragen sind sowohl unter methodologischen Gesichtspunkten (Aufweis der zugrunde liegenden Prämissen und der daraus abgeleiteten Schlüsse) als auch im Hinblick auf die Realitätsbezogenheit der jeweiligen Thesen (Vergleich des theoretisch Postulierten mit dem empirisch feststellbaren Geschehen) zu untersuchen.
Die Regierungen der nicht-kommunistischen Staaten und des sowjetischen Lagers operieren von unterschiedlichen Interessenlagen aus und kommen daher zu verschiedenen Vorstellungen des Wünschbaren. Während die westliche Seite es für wünschenswert erachtet, daß das bestehende militärische Gleichgewicht in Europa für die Zukunft vertraglich fixiert wird, würde es die sowjetische Führung augenscheinlich lieber sehen, wenn die Entwicklung des militärischen Kräfteverhältnisses auf dem europäischen Schauplatz offen bliebe, so daß aus den inneren Schwierigkeiten der NATO-Staaten mit ihrer Verteidigungspolitik Veränderungen der Machtlage zu sowjetischen Gunsten erwachsen könnten. Senghaas/Rittberger/Luber teilen das Interesse weder der einen noch der anderen Seite. Mehr noch: Das Kräfteverhältnis in Europa, um das die Auseinandersetzung geht, erscheint ihnen prinzipiell unwichtig und ist ihnen daher völlig gleichgültig. Nach ihrer Ansicht muß man die Auswirkung der zu ergreifenden Maßnahmen auf die machtpolitischen Relationen des europäischen Kontinents ignorieren. Sie rufen daher dazu auf (und dieser Appell gilt praktisch der Bundesrepublik und anderen westlichen Staaten), unwiderruflich eine einseitige, umfassende Militäreinschränkung einzuleiten. Das fordert zwei Fragen heraus:
1. Welche Konsequenzen würden sich für die politische Unabhängigkeit der durch die Wehr-reduzierung einseitig militärisch geschwächten Staaten und für die Wahrscheinlichkeit des Gebrauchs von militärischer Gewalt in Europa ergeben?
2. Läßt sich erwarten, daß einseitige Militär-kürzungen einzelner Staaten allmählich auch alle übrigen Mächte zu einem gleichartigen Vorgehen veranlassen werden?
Von der Antwort auf diese Fragen wird es abhängen, ob eine Verwirklichung der Vorschläge, welche die Autorengruppe unterbreitet hat, tatsächlich Zu dem erstrebten Zustand eines friedlichen Miteinander in Europa führt.
II. Verhältnis zwischen Sicherheits-und Entspannungspolitik
1. Überprüfung der Prämissen und Schlüsse Die Analyse von Senghaas/Rittberger/Luber geht von der von vornherein feststehenden Gewißheit aus, daß Sicherheitspolitik und Entspannungspolitik zwei strikt voneinander getrennte Realitäten sind. Die Sicherheitspolitik, die im Konzept der Abschreckung verkörpert gesehen wird, ist vor aller Argumentation negativ wertbesetzt, weil sie den Gegenpol zu der als schlechthin positiv geltenden Entspannung bildet Mit anderen Worten:
Sicherheits-und Entspannungspolitik werden nicht auf ihre jeweilige Bedeutung im Zusammenhang mit der gegebenen Situation (Inter-essenlagen der Beteiligten, Zielfunktionen des Vorgehens, Art des anvisierten Zustandes) hin untersucht, sondern vor aller Überlegung allein wegen ihrer Etikettierung als negative beziehungsweise als positive Phänomene angesehen. Das ist ein höchst unkritisches, weil an bloßen Wortbenennungen orientiertes Bewertungsverfahren. Die reale Substanz, die mit den Begriffen nur grob umrissen werden kann und oft genug auch sorgsam verschleiert wird, bleibt völlig unerörtert. Die Begriffs-inhalte werden nicht näher präzisiert, sondern unbesehen für die Wirklichkeit genommen. Hat man sich erst einmal darauf festgelegt, daß die Sicherheitspolitik in einem realen Gegensatzverhältnis zur positiven Entspannungspolitik steht, dann kommt man mit logischer Notwendigkeit zu dem Schluß, die Sicherheitspolitik stehe der Entspannung im Wege und müsse folglich dieser weichen. Auf Grund der gewählten Prämisse ist damit eine Aussage getroffen, die immer wahr sein muß. Das bedeutet aber, daß hier nur die Explikation einer vorher vorgenommenen Definition erfolgt. Eine derartige Aussage ruht in sich selbst und hat keinen Bezug zur Wirklichkeit. Sie läßt sich nicht empirisch falsifizieren, sondern nur durch eine Infragestellung ihrer Prämisse anzweifeln. Dementsprechend ist die anschließend gestellte Frage, ob Sicherheitsund Entspannungspolitik als „zwei Pfeiler ein-und derselben friedenspolitischen Strategie" („INTERPRETATION I") oder als Ausgangs- und Zielpunkte eines Transformationsprozesses (in einer zunächst abwartenden „pessimistischen" oder in einer sofort handelnden „optimistischen" Variante, „INTERPRETATION Ila bzw. Ilb") zu gelten hätten, von vornherein entschieden: Die „innere Logik" verbietet die Vorstellung eines „Nebeneinander von Rüstung und Ents, an-. nung"
Der grundlegende methodologische Fehler liegt darin, daß die Begriffe als Wirklichkeiten behandelt werden. Die Vorstellung, die ein Benutzer mit dem Begriff verbindet, gerät so unversehens zu einem realen Wesen. Ideen werden als Realitäten gesetzt, aus denen sich dann die zu analysierenden Tatbestände ableiten.
Durch dieses Verfahren wird der Gedankengang nicht nur vom Bezug auf wirkliche Gegebenheiten freigehalten. Die Begriffe bringen auch, wenn sie nicht als Chiffren für ein außer ihnen existentes Wirkliches dienen, sondern eine eigene Realität beanspruchen, eine künstliche Prinzipienreinheit mit sich.
Entspannung ist dann nicht mehr die Verbesserung eines Konfliktverhältnisses, die mit der Fortdauer von latenten Teilkonflikten und mit dem Erfordernis einer machtpolitischen Selbstbehauptung einhergehen kann, wenn die Umstände den Abbau aller Differenzen nicht zulassen. Vielmehr muß Entspannung als Grundsatz der Überwindung aller Spannungen und damit als Bekenntnis zur totalen Versöhnung begriffen werden, wobei kein Vorbehalt zulässig ist (der ja ideell eine Negation des erwählten Verständigungsprinzips wäre). Die Konzepte einer mit Rüstung verbundenen Abschreckungspolitik müssen, weil sie sich auf den Gedanken einer potentiellen Rivalität oder sogar Gegnerschaft zu dem Entspannungspartner zurückführen lassen, als in Widerspruch zu dem Postulat einer uneingeschränkten Entspannung stehend empfunden werden Damit ergibt sich eine genau abgezirkelte Dichotomie: Entweder man verschreibt sich der Entspannung oder man unterstützt, wenn man sich dazu nicht wahrhaft verstehen will, deren Gegenprinzip. Das ist die Logik einer ideellen Welt. Ob sich auch die realen Verhältnisse nach den Regeln prinzipieller Hundertprozentigkeit und klarer Ge-gensätzlichkeit richten, ist eine andere Frage Bevor darauf näher eingegangen wird, sollen jedoch zunächst die weiteren Prämissen erörtert werden, welche die zentrale Prämisse von Sicherheits-und Entspannungspolitik als den einander widerstreitenden Prinzipien von Gut und Böse stützen.
In dem Artikel wird eine wichtige Prämisse nicht ausdrücklich angesprochen, welche die vorgetragenen Gedankengänge mit verständlich macht Danach ist Abschreckung ein Akt der Drohung, eine auf Erzwingung gerichtete Strategie, eine mittels Nicht-Krieg durchgeführte Gewaltanwendung. Gemeint ist, daß der gerüstete Akteur seinem Willen nicht mehr durch kriegerische Handlungen, sondern durch deren Androhung Geltung erzwinge. Die Sicherheitspolitik, die an der Vorstellung einer Abschreckung des potentiellen Gegners orientiert ist, wird daher als friedensfeindliche „Drohpolitik" und als „organisierte Friedlosigkeit" bewertet. Dem liegt offensichtlich ein semantisches Verständnis zugrunde, das den Begriff der Abschreckung mit dem Vorgang eines In-Schrecken-Versetzens — also mit Einschüchterung — assoziiert. Diese Auffassung wird dem sicherheitspolitischen Konzept der Abschreckung nicht gerecht. Abschreckung wird wesentlich als ein Verhältnis praktiziert, in das zwei Staaten oder Staatengruppen zueinander treten. Innerhalb dieses Verhältnisses soll die jeweils andere Seite die Überzeugung gewinnen, daß sie sich aller Aktionen enthalten muß, die gegen unverzichtbare Lebensmöglichkeiten der eigenen Seite gerichtet sind, weil sie andernfalls mit einem unannehmbaren Schaden bei sich selbst zu rechnen hätte. Das läuft darauf hinaus, daß wechselseitige Herausforderungen, wie sie aus konfligierenden Interessen und Einstellungen erwachsen mögen, nur noch in einem Bereich unterhalb der Bedrohung vitaler Belange stattfinden. Die möglichen Bedrohungen werden also eingeschränkt und abgeschwächt. Praktisch hat die Abschreckung wesentlich die Funktion, der abzuschreckenden. Macht oder Mächtegruppe militärische Aktionen gegen die abschreckende Seite zu einem unannehmbaren Risiko zu machen Soweit es zu einer Abschreckung im Sinne einer Aktion kommt (d. h. eine drohende Handlung der einen Seite durch eine auf Unterlassung abzielende bedingungsweise Gegendrohung beantwortet wird), zeigt das bereits ein gewisses Versagen der wechselseitigen Abschreckung an (die im Falle eines umfassenden Funktionierens den Herausforderer von vornherein von der Unannehmbarkeit seines Risikos überzeugt hätte).
Das Kalkül, das einem Verhältnis wechselseitiger Abschreckung zugrunde liegt, gibt dem Element der Einschüchterung keinen Raum. Es kommt darauf an, den Staat oder den Staatenverband, von dem man möglicherweise eine Bedrohung erwartet, davon zu überzeugen, daß ein derartiges Vorgehen nicht in seinem Interesse wäre. Diesem Zweck dienen meist überwiegend negative Festlegungen: Wenn militärische Gewalt angewandt werden sollte, dann würde die eigene Seite mit Maßnahmen reagieren, die dem Bedroher einen unakzeptablen Schaden zufügen würden. Das Fazit der Inaussichtstellung ist, daß die negativen Folgen (Nachteile und Risiken) des Handelns größer wären als die positiven Ergebnisse (Vorteile und Chancen), die damit verbunden wären. Die Bilanz wäre also nega-tiv. Die gleiche Logik läßt aber auch positive Festlegungen zu: Wenn die andere Seite auf militärische Bedrohungen verzichten und sich zu einem kooperativen Verhalten bereitfinden sollte, könnte sie mit einem Gegenverhalten rechnen, daß ihr größere Vorteile und Chancen als die Gewaltpolitik bieten würde. Die Strategie der bedingungsweisen Versprechung wird selten in reiner Form verfolgt Meistens fällt die Wahl auf eine gemischte Strategie, die für den Fall des Gewaltgebrauchs das Eintreten negativer Folgen und die Versagung positiver Resultate verheißt und umgekehrt. Sehr oft werden Angebot und Versagungseventualität nicht ausdrücklich an die Bedingung eines in gewissen Grenzen friedlichen Verhaltens geknüpft; denn es versteht sich von selbst, daß eine Zusammenarbeit (mit der die in Aussicht stehenden Vorteile und Chancen meistens verknüpft sind) ohne ein Minimum an friedlichen Beziehungen nicht möglich ist. 2. Theoretische Behauptung und empirischer Befund Das Konzept der Abschreckung ist weit davon entfernt, ein Instrument der Spannungserzeugung zu sein. Es ist nicht nur das oft angeführte gemeinsame Interesse der Abschrekkungspartner an der Verhinderung der nuklearen Katastrophe, das zusammen-statt auseinanderführt. Das grundlegende Prinzip, daß der anderen Seite ein negatives Interesse an militärischen Auseinandersetzungen und ein positives Interesse an friedlichen Beziehungen gegeben werden soll, zwingt zum Eingehen auf die Bestrebungen der Gegenpartei und zur Betonung der wechselseitigen Interessenkonvergenzen. Wenn tatsächlich, wie Dieter Senghaas zu behaupten nicht müde wird, das „Abschreckungssystem" zu einer Eskalation der Feindseligkeit führen würde, dann wäre es völlig unerklärlich, warum der Höhepunkt des Kalten Krieges Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre lag, als sich Konzept und Instrumentarium der Abschreckung noch in einem rudimentären Stadium befanden. Es bliebe auch unverständlich, wieso seitdem — und seit der vollen Ausbildung des Abschreckungsverhältnisses Anfang der sechziger Jahre — der antikommunistische Eifer in den westlichen Gesellschaften so außerordentlich stark abgenommen hat, die konfrontativ ausgerichteten Furcht-und Feindbilder zumindest in Westeuropa verblaßt sind, das westliche Verständnis für die politischen Belange der osteuropäischen Staaten sehr im Wachsen begriffen ist, die Möglichkeiten der Ost-West-Kommunikation im Vergleich zu früher sich ausgeweitet haben und eine weitreichende wirtschaftliche, wissenschaftliche, technologische und kulturelle Zusammenarbeit zwischen beiden Teilen Europas auf der politischen Tagesordnung steht. Es ist kein Zufall, daß die beiden Super-
mächte, nachdem sie sich während der KubaKrise des vollen Ausmaßes ihres gemeinsamen Risikos bewußt geworden waren, den Entschluß zu einer Politik teilweiser kooperativer Rüstungssteuerung faßten, die zwar nicht die militärischen Anstrengungen beendete, wohl aber die Gefahren eines militärischen Konfliktes kontrollieren sollte. Entgegen den Versicherungen von Dieter Senghaas und seinen Mitarbeitern war nicht die Eskalation, sondern die Deeskalation der Ost-West-Spannungen die Folge des Abschreckungsverhältnisses
Wenn Senghaas/Rittberger/Luber die westliche Sicherheitspolitik, apostrophiert als „Politik der Stärke" (eine in den frühen fünfziger Jahren gebräuchliche Bezeichnung), als eine „Erzwingungsstrategie" ansprechen, dann geht auch dies an den Tatsachen vorbei. Das Konzept der Abschreckung ist darauf ausgerichtet, der Eventualität einer militärischen Gewaltanwendung durch die andere Seite mit der Fähigkeit und der Entschlossenheit zur Verursachung eines unannehmbaren Gegen-schadens entgegenzuwirken. Das Ziel ist, daß ein gegen vitale eigene Belange verstoßendes, normalerweise gewaltsames Verhalten unterbleibt. Dagegen geht es nicht darum, das Eintreten eines bestimmten, den eigenen Interessen dienenden Verhaltens der anderen Seite gegen deren Willen herbeizuführen Das militärische Instrumentarium der Abschrekkung läßt dies an seiner Struktur deutlich erkennen: Die NATO-Staaten haben sich darauf beschränkt, der UdSSR und ihren Verbündeten eine mehrfache Vergeltungskapazität gegenüberzustellen; sie haben sich nicht darum bemüht, die Voraussetzungen für eine eng schadensbegrenzende und möglichst siegverheißende Durchführung der Kampfhandlungen im Ernstfall zu schaffen Das aber wäre die erste Vorbedingung dafür, daß eine auf Erzwingung ausgerichtete Drohpolitik glaubwürdig wäre; denn keine Macht wird sich davon überzeugen lassen, daß die Gegenseite ihre rasche physische Vernichtung tatsäch-lieh riskiert, solange nicht ihre politische Existenz, sondern nur irgendeine offensive Ambition auf dem Spiel steht. Die Leiter der sowjetischen Politik wissen sehr wohl, daß sie sich in Mitteleuropa keiner militärischen Bedrohung gegenübersehen. Bei den Verhandlungen über den Moskauer Vertrag im Winter 1969/70 erklärten die sowjetischen Vertreter den bundesdeutschen Unterhändlern, daß eine Übereinkunft über den wechselseitigen Gewaltverzicht für sie nicht annehmbar sei. Das laufe auf eine Unausgewogenheit der beiderseitigen Verpflichtungen hinaus; denn der Gewaltverzicht bedeute, auch wenn er formell wechselseitigen Charakter habe, in der Sache eine einseitige Zusage der UdSSR gegenüber der Bundesrepublik. Demnach konnte die erforderliche Ausgewogenheit nur durch eine bundesdeutsche Sanktionierung der bestehenden Grenzen hergestellt werden.
Wie wenig die Erlangung militärischer Vorteile über die Gegenseite dem Abschrekkungskonzept entspricht, läßt sich besonders deutlich an dem Problem der Zweitschlagskapazität aufweisen. Ende der fünfziger Jahre besaßen die USA und die UdSSR mit ihren Raketen und den dazu gehörigen Kernsprengköpfen eine „Fähigkeit zum ersten Schlag": Beide Mächte konnten jeweils die andere entscheidend treffen, wenn sie vor dem gegnerischen Kernwaffenangriff zuschlugen. Die amerikanische Seite überwand dieses Stadium recht bald, indem sie ihre Vergeltungswaffen weitgehend unverwundbar machte und damit eine „Fähigkeit zum zweiten Schlag" — das heißt zu einem vernichtenden nuklearen Angriff gegen die UdSSR auch nach einem vorherigen sowjetischen Kernwaffenschlag — erwarb. Die Vereinigten Staaten hatten damit einen militärischen Vorteil gewonnen. Trotzdem erschien der amerikanischen Führung die Situation weiterhin unbefriedigend: Das Risiko, daß die Leiter der sowjetischen Politik irgendwelche zufälligen Umstände als Anzeichen eines unmittelbar bevorstehenden amerikanischen Kernwaffenschlags deuten könnten und sich dann im Wissen um ihre Schwäche im Falle eines amerikanischen Erstangriffs schnell zu einem vorherigen Angriff von ihrer Seite entschließen würden, bereitete in Washington große Sorge.
Um dieser gefahrvollen Situation ein Ende zu machen, suchten die amerikanischen Abschreckungspolitiker den sowjetischen Partner dazu zu bewegen, auch seinerseits die Vergeltungswaffen unverwundbar zu machen. Mithin galt es der amerikanischen Seite poli11 tisch als ein Vorteil, wenn die UdSSR mit den USA gleichzog und einen militärischen Nachteil verlor. Als die Sowjetunion die „Fähigkeit zum zweiten Schlag" gewonnen hatte, war die amerikanische Führung erleichtert.
Sie konnte nun davon ausgehen, daß die Leiter der sowjetischen Politik in der Gewißheit, auch im Falle eines amerikanischen Erst-schlages keinen wesentlichen Nachteil zu erleiden, in aller Ruhe die Eventualität des Angegriffenseins an sich herankommen lassen konnten. Damit war die Gefahr eines Kriegs-ausbruchs durch Mißverständnis entscheidend verringert. Der Argwohn auf beiden Seiten, die Amerikaner könnten ihre Überlegenheit vielleicht zu einem Überraschungsangriff ausnutzen bzw. die Russen könnten aus Furcht vor einem solchen ihrerseits losschlagen, machte der beruhigenden Überlegung Platz, daß der andere genau so wenig wie man selbst etwas Entscheidendes durch den Erst-einsatz von Kernwaffen zu gewinnen habe. Der Gewinn an Friedensstabilität war den USA den Verlust an militärischem Vorteil wert. Die Verbesserung der Kriegsverhinderung mittels Abschreckung war wichtiger als die Optimierung der Chancen für den Kriegsfall. Eine weitere Prämisse, die den friedensfeindlichen Charakter der Abschreckung dartun soll, bringen Senghaas/Rittberger/Luber mit der These von der Lückenlosigkeit des militärischen Instrumentariums ins Spiel Dabei werden verschiedene Ebenen genannt, die zwar der nicht-militärischen Auseinandersetzung oder dem Gewaltgebrauch in Bereichen außerhalb des Abschreckungsverhältnisses dienen mögen, aber ganz sicher kein geeignetes Mittel zur Überredung des potentiellen Gegners darstellen, auf-das Mittel der bewaffneten Gewalt in den wechselseitigen Beziehungen zu verzichten. Oder können sich die beiden Supermächte mit ihren jeweiligen Verbündeten durch den Einsatz von Geheimdiensten, durch den Aufbau von Spezialorganisationen zum Kampf gegen Guerillas oder durch die Aktivitäten eines Propagandaapparates von der Riskantheit einer militärischen Auseinandersetzung zwischen ihnen überzeugen? Die Faktoren, die der Gegenseite den Verzicht auf ernstliche Herausforderungen ratsam erscheinen lassen, sind doch wohl wesentlich in den gegeneinander aufgebotenen Instrumenten eines Großkrieges, vor allem in den strategischen Kernwaffen, zu sehen. Die konventionellen Streitkräfte haben vor allem die Funktion, dem Gegner die Option handstreichartiger Faits accomplis zu nehmen, bei denen er nicht auf größeren Widerstand und damit auf das Risiko einer nuklearen Eskalation stoßen würde. Wie problematisch der Versuch ist, unter allen Umständen den Anreiz zur Führung eines innerstaatlichen Guerillakrieges zu beseitigen, hat der Verlauf des Vietnam-Konflikts gezeigt. Was die militärische Balance zwischen Ost und West betrifft, so ist bereits wiederholt darauf hingewiesen worden, daß sich hier keineswegs lückenlose Instrumentarien gegenüberstehen, sondern es sich höchstens noch um ein Gleichgewicht der Ungleichgewichtigkeiten handelt Das weist deutlich darauf hin, daß von der behaupteten Totalität eines drohungsweise geführten Krieges keine Rede sein kann. 3. Schlußfolgerungen Als Schluß aus den angestellten Überlegungen ergibt sich, daß die Grundthese von Senghaas/Rittberger/Luber, ein Kurs des militärischen Gleichgewichts und der politischen Entspannung zwischen Ost und West stelle einen Widerspruch in sich dar und sei als eine Sabotage des Entspannungsprozesses zu bewerten, weder einer methodologischen Überprüfung noch dem kritischen Vergleich mit den empirischen Fakten standhält. Abschreckung und Entspannung können sehr wohl als miteinander vereinbare Konzepte aufgefaßt und betrieben werden. Mehr noch: Abschreckung und Entspannung erfordern sich geradezu wechselseitig. Wenn sich zwischen zwei miteinander im Konflikt befindlichen, sich wechselseitig als Feinde betrachtenden Staaten oder Staatengruppen ein Ab-schreckungsverhältnis herausbildet, wird nicht nur der beiderseitige Verzicht auf Erzwingungsziele, sondern auch ein Eingehen auf die Interessenlage der anderen Seite mit der Folge der allmählichen Anbahnung von Zusammenarbeit wahrscheinlich. Da die Anwendung von militärischer Gewalt gegeneinander vernünftigerweise blockiert ist, liegt der Gedanke einer gemeinsamen Kontrolle des beiderseits gefürchteten Konfliktrisikos, einer wechselseitigen Motivierung zu nicht-kriegerischen Optionen, eines Austauschs von Vorteilen in entspanntem Nebeneinander und schließlich eines Strebens nach allseits erträglichen Modus-vivendi-Regelungen nahe.
Diese Folge bildet natürlich einen langwierigen Prozeß, wie das in Europa tatsächlich der Fall gewesen ist. Dabei treten verständlicherweise immer wieder starke Widerstände und Hemmnisse auf; aber das Bewußtsein, daß unter den Bedingungen des Abschreckungsverhältnisses langfristig keine Alternative besteht, treibt schließlich die Akteure auf dem eingeschlagenen Weg weiter voran. Dabei bleibt das Empfinden des Gegensatzes auf unabsehbare Zeit bestehen; es wird lediglich in seiner praktischen Wirksamkeit eingeschränkt. Sollte das Abschreckungsverhältnis eines Tages nicht mehr funktionieren, stünde zu erwarten, daß die diesem vorausgehende und von ihm allmählich zurückgedrängte Feindseligkeit erneut zum vollen Ausbruch kommen würde.
III. Steuerung von Rüstungs-und Rüstungskontrollpolitik
1. Überprüfung der Prämissen und Schlüsse Die These von Senghaas/Rittberger/Luber, die Rüstungsprozesse seien wesentlich durch innerstaatliche Interessen bestimmt, hat eine entscheidende Funktion in der Gesamtanalyse der drei Autoren. Wie es zunächst in rhetorischer Hypothetik heißt, die sich dann aber rasch als unterliegende Prämisse entpuppt, folgt „Rüstungsdynamik weithin einer Logik", „die ungeachtet der jeweiligen internationalen Situation wirkt". Sie ist „im wesentlichen innengeleitet", das heißt „das Ergebnis nationaler und allianzgebundener politischer Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse, die ihrerseits unter den restriktiven Bedingungen einer Rüstungsdynamik stehen." Noch drastischer ist von den „selbstinduzierten", „nicht ... von außen kommenden Impulsen" der Rüstungspolitik die Rede. Mit anderen Worten: Die Rüstungs-und damit auch die Rüstungskontrollpolitik eines Staates beziehungsweise einer Staatengruppe wird im Grunde nicht durch abzuwehrende Herausforderungen von außen, sondern durch das Drängen rüstungsprofitierender Kräfte im Innern bestimmt. Es sind die partikularen Interessen der Inhaber von innerstaatlichen Machtpositionen und nicht die gesamtgesellschaftlichen Selbstbehauptungserfordernisse des Landes, die nach dieser Ansicht die Ent
Wicklung der Militärapparate steuern. Diese These soll nicht nur für den quantitativen und qualitativen Fortschritt der Rüstung (also für die einzelnen Modalitäten der Militärpolitik), sondern auch für den Tatbestand des Rüstens schlechthin (also für den Entschluß zu militärischen Maßnahmen überhaupt) gelten. Dementsprechend versichern die drei Autoren mittelbar, daß es die Möglichkeit einer militärischen und/oder politischen Bedrohung von außen, der gegenüber sich ein Staat, oder eine Staatengruppe mit Hilfe eines potentiell einsatzfähigen militärischen Instrumentariums behaupten müsse, prinzipiell nicht gebe. Die Vorstellung, daß die Verfügbarkeit militärischer Mittel den Rückhalt einer unabhängigen politischen Existenz darstelle, wird als Chimäre abgetan Es ist nur folgerichtig, wenn das Sich-Einrichten auf die Eventualität des „schlimmsten Falles", das heißt die Einschätzung möglicher auswärtiger Herausforderungen nach dem Kriterium der dazu dienlichen Kapazitäten, nur als innerstaatliche militärische Rechtfertigungsideologie erscheint
Die These von der Innengeleitetheit der Rüstungsprozesse steht mit der bereits erörterten Prämisse der Unvereinbarkeit von Sicherheits-und Entspannungspolitik in einem engen Zusammenhang. Die „Kombination von unverminderter Aufrüstung und gleichzeitigen Entspannungsbemühungen in den vergangenen Jahren", so heißt es, stelle die These von der außenpolitischen Bestimmtheit der Rüstungsprozesse in Frage Dieses Argument ist nur dann logisch, wenn man davon ausgeht, daß die zwischenstaatliche Entspannung nicht mit den einzelstaatlichen Rüstungen zusammenstimmt und darum im Falle eines Reagierens der Sicherheitspolitik auf die internationale Entwicklung eine Abrüstung nach sich ziehen müßte. Unter dieser Voraussetzung wäre das Nebeneinander von Rüstung und Entspannung, wie es Senghaas/Rittberger/Luber als ausgemacht ansehen, eine Widerlegung der Annahme, daß die Sicherheitspolitik wesentlich durch die Herausforderungen der zwischenstaatlichen Umwelt hervorgerufen worden sei. Wird die Prämisse der Unvereinbarkeit von Sicherheits-und Entspannungspolitik dagegen nicht akzeptiert (wie es die weiter oben angestellten Überlegungen erfordern), dann fällt der Beweis für die These von der Innengeleitetheit der Rüstungsprozesse an dieser Stelle in sich zusammen. Einer „Entspannung in der internationalen Politik" braucht dann nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der außenpolitischen Vernunft notwendigerweise „eine das Rüstungswachstum dämpfende Wirkung" zuzukommen. Es hängt dann nicht von dem Eintreten der Entspannung als solchem, sondern von der Verbindung der Entspannung mit einem wechselseitigen und ausgewogenen Abbau militärischer Kapazitäten — also von dem Kriterium eines beiderseitig nicht nachteiligen militärischen Modus vivendi — ab, ob Rüstungsbeschränkungen der außenpolitischen Vernunft entsprechen. Erst wenn sich ein beiderseits unschädliches Arrangement hinsichtlich der militärischen Balance auf einem niedrigeren Rüstungsniveau als ein überzeugendes Konzept anbieten würde, das dann an innerstaatlichen Widerständen scheiterte, wäre dies ein Beweis dafür, daß in dem betreffenden Fall die Interessen rüstungsorientierter Gruppen und nicht Erwägungen der internationalen Situation maßgebend gewesen wären
Die drei Autoren begründen weiterhin ihre These von der Innengeleitetheit der Rüstungsprozesse scheinbar ganz empirisch: Sie stellen fest, daß sich die Höhe der militärischen Aufwendungen in Ost und West nicht genau entsprechend zueinander und zu dem Stand des wechselseitigen politischen Verhältnisses entwickelt hat. Daraus ziehen sie den Schluß, die „Impulse" zum Wachstum der militärischen Apparate seien „kaum als Reaktion auf Vorgänge jenseits der eigenen Grenzen beim sogenannten potentiellen Gegner begreifbar", sondern müßten als „interessentheoretisch und organisationssoziologisch erklärbare Rüstungsdynamik dieser Apparate" verstanden werden Diese Folgerung ist jedoch logisch nicht schlüssig: 1. Die Annahme eines Zusammenhangs zwischen dem Ausmaß der auswärtigen Herausforderungen und dem Ausmaß der eigenen Rüstung erfordert keine völlige Entsprechung der quantitativen Größen. Auch wenn man ein analytisches Modell wählt, das die Entscheidungen der Rüstungspolitik primär auf Außenreize zurückführt, setzt dies keineswegs eine Leugnung der Wirksamkeit innerstaatlicher Faktoren voraus. Es ist durchaus denkbar, daß letztlich den Anstoß gebende internationale Motivationen hinsichtlich ihrer Durchsetzungsmodalitäten innenpolitischen Bedingungen unterliegen und demgemäß ver-stärkt oder abgeschwächt, übertrieben oder blockiert werden können. 2. Die internationale Umwelt, von der eine staatliche Führung Herausforderungen auf sich zukommen sieht, beschränkt sich nicht auf das Ost-West-Verhältnis. In der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg haben immer wieder auch andere Beziehungen stark auf den Umfang der Rüstungen in einzelnen Ländern eingewirkt; man denke nur an die langdauernden kolonialen Verwicklungen Frankreichs oder an den gegenwärtigen sowjetisch-chinesischen Konflikt. Hinzu kommt, daß die Vorstellungen, die sich die Leiter der Politik eines Staates von den militärischen Kapazitäten und/oder von den politischen Absichten anderer Mächte machen, ganz erheblich von den tatsächlichen Gegebenheiten abweichen können Den militärpolitischen Entscheidungen liegen natürlich die subjektiven Einschätzungen und nicht die objektiven Fakten zugrunde. 3. Die Logik des Entweder-Oder führt, wenn sie einseitig angewandt wird, zu Fehlschlüssen. Die Feststellung, daß sich der jeweilige Umfang der Rüstungen nicht durch den jeweiligen Umfang der Außenreize zureichend erklären läßt, ist noch kein Beweis für die Richtigkeit der Gegenthese, der zufolge der Umfang der Rüstungen durch den Umfang des Rüstungsinteresses bestimmter gesellschaftlicher Gruppen beziehungsweise durch den Umfang der innerstaatlichen Durchsetzung dieser Gruppen vollständig zu erklären sei. Da die beiden Behauptungen nicht die einzigen logischen Möglichkeiten darstellen, kann aus dem Umstand, daß die eine von ihnen sich nicht voll bewährt, nicht die Richtigkeit der anderen hergeleitet werden. Auch die These von der Innengeleitetheit von Rüstungsprozessen müßte im Sinne einer Gegenprobe empirisch überprüft werden — und zwar so, daß nur diejenigen Interessen und Aktionen der für militärische Aufwendungen plädierenden Gruppen berücksichtigt würden, die nicht außenpolitisch bedingten Motiven entspringen 4. Auch wenn es zutreffen würde, daß innerstaatliche Faktoren den jeweiligen Umfang der Rüstung in einem Ausmaß bestimmen würden, der keine klare Beziehung zu dem gleichzeitigen Umfang der Außenherausforderungen erkennen ließe, wäre daraus noch nicht logisch zwingend abzuleiten, daß die Existenz von Rüstung nichts mit der Existenz von Außenherausforderungen zu tun hätte. Es wäre vielmehr lediglich bewiesen, daß der betreffende Staat nicht über die Flexibilität verfügte, die Quantität der auf ihn eindringenden Reize mit einer entsprechenden Quantität rüstungspolitischer Reaktion zu quittieren. Es könnte sein, daß er zwar grundsätzlich von dem Erfordernis ausginge, den Eventualitäten der internationalen Umwelt eine Rüstung gegenüberzustellen, aber aus bestimmten Gründen — beispielsweise durch das Bewußtsein einer ohnehin bereits optimalen militärischen Kapazität, durch das Mißtrauen bezüglich der Dauerhaftigkeit auswärtiger Konzilianz oder durch eine innenpolitische Patt-Situation — an einem Reagieren auf die Zu-oder Abnahme auswärtigen Drucks gehindert wäre.
Insgesamt ist das Denkschema, mit dem Senghaas/Rittberger/Luber operieren, zu sehr auf prinzipielle Monokausalität und zu wenig auf die vielfältigen Möglichkeiten der politischen Wirklichkeit abgestellt Das führt dazu, 4 daß die Rüstungspolitik der Staaten sehr stark an sich selbst betrachtet wird, statt auf die außerhalb ihrer selbst liegenden Bedingungen und Akteure im einzelnen zurückgeführt zu werden. Die Rüstungspolitik erscheint als etwas, das aus sich selbst heraus da ist; die innerstaatlichen Triebkräfte, von denen gelegentlich die Rede ist, werden nicht konkret aufgewiesen und bleiben daher Deklamation Verräterisch sind häufig wiederkehrende Ausdrücke wie „Dynamik des Rüstungswettlaufs" oder „Dynamik der Rüstungsprozesse''. Man bekommt den Eindruck, daß sich hier Prinzipien aus sich selbst heraus und unabhängig von menschlicher Kontrolle entfalten. Die These von der Innengeleitetheit der Rüstung entspricht genau diesem Denkschema. Das Bild rundet sich ab durch die weitere These, daß, was immer sich an einzelnen innerstaatlichen Antriebsimpulsen der Rüstungspolitik ändern sollte (insbesondere im Sinne einer Abschwächung), der Gesamtkomplex doch immer gleichbleiben müsse. Durch den Wandel würden die militärischen „Apparate nur marginal berührt, wenn nicht sogar bestimmte Kompensationen bei anderen Antriebsimpulsen (wie z. B. bei den Ausgaben für Forschungs-und Entwicklungsprogramme) zu beooachten sind" Mit anderen Worten: Das bestehende System der Rüstungen, so wird postuliert, ist eine in sich ruhende Welt von sich selbst gleichbleibenden prinzipiellen Wirklichkeiten, eine Welt prästabilierter Harmonie — negativen Charakters natürlich. Das ist ein philosophischer Glaube, nicht das Ergebnis einer empirischen Analyse.
Die Vorstellung, daß die Rüstung sich aus ihrem eigenen innerstaatlichen Zusammenhang heraus entfalte, zieht die These von dem nur scheinbar zwischenstaatlichen Charakter der Rüstungskontrollabkommen nach sich. In Wirklichkeit, so heißt es, werden die Resultate derartiger Abkommen gar nicht während der ihnen vorausgehenden Verhandlungen entschieden. Der Entschluß zum Verzicht auf gewisse militärtechnologische oder militärorganisatorische Optionen sei im innerstaatlichen Rahmen gefallen, bevor die Verhandlungen darüber begonnen hätten. Es handele sich um „bestimmte überfällige Selbstkorrekturen in den Rüstungsapparaten", die sich nur „mit Hilfe derartiger Abkommen eher" innerstaatlich durchsetzen ließen. Die eigenständige Wirksamkeit der Rüstungskontrollabkommen sei dementsprechend bisher „im großen und ganzen Null" gewesen. Die diplomatischen Gespräche werden als ein bloßes „Ritual" bewertet, dessen sich die Verhandlungspartner bedienen, um den Optionsverzichten, die sie aus autonomen Zweckmäßigkeitserwägungen ohnehin vorhaben, den Schein einer echten internationalen Übereinkunft über Rüstungsbeschränkungen zu geben. Wenn man sich von diesem Schein nicht täuschen lasse, erweise sich die behauptete Rüstungskontrolle als ein Vehikel einzelstaatlicher Um-und Aufrüstung Eine derartige These leuchtet ein, wenn man die These von der Innengeleitetheit aller Rüstungspolitik akzeptiert: Dann kann natürlich auch die Rüstungskontrollpolitik, die auf die Rüstungspolitik bezogen ist, keine Ausnahme machen.
Es ergeben sich noch weiterreichende Konsequenzen. Geht man von der Existenz eines in sich selbst ruhenden einzelstaatlichen Rüstungsprozesses aus, der weder durch die militärischen und politischen Relationen im zwischenstaatlichen Bereich noch durch mehrseitige Entschlüsse zur Steuerung der wechselseitigen Militärpotentiale zu verändern ist, dann kann die Rüstungspolitik auch keine Bedeutung für das Verhältnis der Staaten zueinander besitzen. Daraus leitet sich die These ab, daß die Verfügung über militärische Macht etwas völlig Unnützes ist. Der Gedanke geht einher, daß man einseitig abrüsten könne, ohne daß dies'irgend etwas Wesentliches an dem Verlauf der internationalen Politik ändern werde, wenn man einmal von der positiven Folge eines Abbaus bestehender Argwohns-und Furchtvorstellungen beim potentiellen Gegner absehe.
Diese Annahme ist freilich nicht ganz konsequent: Rüstung soll eben doch nicht so irrelevant für die internationalen Beziehungen sein, wie es zunächst schien. Die Autoren leugnen, daß der Rückhalt an einem Militärpotential irgendwie für die politische Selbstbehauptung eines Staates von positiver Wichtigkeit sein könnte, aber sie behaupten zugleich, daß die Verfügung eines anderen Landes über ein derartiges Potential den staatlichen Selbstbehauptungswillen in psychologischer und damit auch politischer Hinsicht negativ berühren könnte. Ob ein Staat rüstet oder nicht, soll zwar Konsequenzen nicht für seine Machtposition, wohl aber für sein Image haben. Wie aber kann es dazu kommen, daß ein Staat als Bedroher der Machtbasis von anderen Staaten auf Grund der Verfügung über ein militärisches Potential gilt, dem doch angeblich gar keine machtpolitische Bedeutung (für die eigene Selbstbehauptung nämlich) eignet? Um logisch konsistent zu argumentieren, müßten sich Senghaas/Rittberger/Luber entscheiden, ob sie den Besitz militärischen Potentials als machtpolitisch relevant oder irrelevant ansehen wollen. Im ersten Fall wäre das Gleichgewicht der Rüstungen ein Erfordernis der politischen Selbstbehauptung; im zweiten Fall könnte die Existenz einzelstaatlicher Rüstung zwar nicht als vorteilhaft, aber auch nicht als nachteilig in den internationalen Beziehungen gelten Die Thesen der drei Autoren lassen das eine wie das andere nicht zu.
Aus der Ansicht, die Rüstung eines Staates trage zwar nichts zu seiner internationalen Selbstbehauptung, wohl aber viel zu seinem Ruf als Bedroher fremder Selbstbehauptung bei, ergibt sich das Postulat eines rücksichtslos einzuschränkenden Verteidigungsaufwandes. Es kommt demnach nur auf die Reduktion selbst an; die Frage nach den Auswirkungen eines einseitigen Vorgehens dieser Art auf die Entwicklung der internationalen Verhältnisse, insbesondere auch der Machtrelationen, erscheint von vornherein in dem Sinne beantwortet, daß nur günstige Resultate denkbar seien. Die Aufgabe einer Friedenspolitik, die sich an den dargelegten Prämissen orientiert, kann eo ipso nur darin bestehen, die Wehr-ausgaben des eigenen Staates so rasch und so umfassend wie möglich zu verringern Dementsprechend erklären die drei Autoren die Unwiderruflichkeit und die Totalität einzelstaatlicher, einseitiger Wehrverzichte zu den Kriterien „echter Rüstungskontrollpolitik" Dabei können und müssen alle Gesichtspunkte, die nicht den Einschränkungsprozeß an sich selbst im Auge haben, außer acht bleiben; denn es steht ja von vornherein durch die gewählten Prämissen fest, daß ein Maximum an Reduktion unter allen Umständen keine Nachteile, wohl aber Vorteile nach sich ziehen kann. Vergegenwärtigt man sich, was diese Annahme besagt, dann muß ihr zugleich auch die Vorstellung zugrunde liegen, der Bereich der internationalen Beziehungen kenne keine grundlegenden Konflikte in dem Sinne, daß aus ihnen der Wille zu militärischen Aktionen erwachsen könnte. Der bisherige Ausbruch von Kriegen, so muß man demnach annehmen, ist lediglich eine Folge von „Rüstungsdynamik" — also eine Art systembedingten Verkehrsunfalls der zwischenstaatlichen Gesellschaft — gewesen. 2. Theoretische Behauptung und empirischer Befund Neben methodologischen Überlegungen über Prämissen und Schlüsse fordern die Thesen von Senghaas/Rittberger/Luber auch den Vergleich mit empirischen Gegebenheiten heraus.
Wenn es richtig wäre, daß die Rüstungsprozesse nicht mit der internationalen Umwelt Zusammenhängen, müßte sich dies an dem Verlauf der Ost-West-Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg durchgehend aufweisen lassen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Entwicklung der Militärhaushalte zeitweilig auf den Wandel der außen-und militärpolitischen Geschehnisse auf der anderen Seite nicht oder nur wenig reagiert hat. Das gilt beispielsweise für die Periode von 1947 bis Mitte 1950, in welcher der Kalte Krieg zuerst zum vollen Ausbruch kam und dann zu einer Serie schwerer Krisen führte. Die westlichen Staaten beantworteten das sowjetische Vorgehen, das sie als ein einseitiges Bedrohungsverhalten ansahen, noch nicht mit einem umfassenden Aufrüstungsprogramm. Die Quellen zeigen allerdings auch, daß die Führungen der westlichen Staaten — und zwar weit über den Kreis der möglichen Rüstungsinteressenten wie der Militärs und der Vertreter schwer-industrieller Produktionszweige (die damals im übrigen keineswegs an Nachfragemangel und damit an Profitnöten litten) hinaus — vermehrte Verteidigungsmaßnahmen zunehmend für notwendig erachteten. Das Problem bestand — und das widerspricht den Thesen der drei Autoren — allerdings darin, daß die innenpolitischen Interessen der staatlich und gesellschaftlich bestimmenden Schichten und damit zugleich das innenpolitische Interesse der führenden Männer an der Fortdauer ihres Herrschaftsmandats auf längere Sicht der außenpolitisch für richtig gehaltenen Militärpolitik zuwiderliefen. Es hatte sich innerstaatlich ein Gleichgewichtszustand der Interessen herausgebildet, den im Sinne vermehrter Rüstung wesentlich ändern zu wollen politisch existenzgefährdend erschien. Es bedurfte eines überwältigenden Anstoßes von außen, daß maßgebliche innerstaatliche Gruppen zu der Überzeugung gelangten, sie müßten um der außenpolitisch erforderlichen Rüstungsvermehrung willen innenpolitische Interessen zurückstellen
Der Außenanstoß erfolgte mit der nordkoreanischen Attacke auf Süd-Korea. Diese militärische Aktion erschien den Leitern der westlichen Politik und in weitem Umfang auch der westlichen Öffentlichkeit nicht nur als Über-fall seitens eines kommunistischen Staates, sondern auch als möglicher Auftakt zu einem globalen sowjetischen Angriffskrieg, dessen Schwerpunkt in Europa liegen werde
Von da an begannen die Staaten des atlantischen Bündnisses in hektischer Eile ihre Militärbudgets zu erhöhen, eine kollektive Verteidigungsorganisation aufzubauen und — konterkariert durch mannigfaltige, sich als unüberwindlich erweisende antideutsche Ressentiments — den Aufbau westdeutscher Truppenkontingente zu betreiben Eine weitere Phase westlicher Rüstungseskalation setzte seit 1957 ein. Nach dem Schock über den technologischen Vorsprung, den die UdSSR mit dem Start des ersten Erdsatelliten errungen hatte, sah sich die amerikanische Seite ab Ende 1958 einer auf Erzwingung gerichteten sowjetischen Drohpolitik gegenüber, die den Eindruck von der sowjetischen Überlegenheit in den strategischen Waffensystemen konsequent auszubeuten suchte. In Wirklichkeit arbeitete die sowjetische Führung mit einem Bluff. Die westlichen Regierungen beugten sich zwar nicht in der erhofften Weise, waren aber doch lange Zeit von der sowjetischen Militärmacht beeindruckt und verunsichert Die amerikani-sehe Regierung reagierte — nicht zuletzt auch auf Drängen der sich bedroht fühlenden Öffentlichkeit hin — mit drastischen Anstrengungen der technologischen Innovation im strategischen Rüstungsbereich. Die offensive sowjetische Politik richtete sich vor allem gegen West-Berlin. Als sich die Krise im Sommer 1961 zuspitzte, ordnete der amerikanische Präsident eine Reihe von Gegenmaßnahmen, darunter Verstärkungen der konventionellen Streitkräfte, zur Warnung der Gegenseite an. Das war ein weiterer Sprung des Verteidigungsbudgets nach oben. Mitte der sechziger Jahre ließ unter dem Eindruck sowjetischer Entspannungsparolen die Bereitschaft der NATO-Mitglieder zur uneingeschränkten Fortsetzung ihrer Rüstungen allmählich nach. Es fand wenig Beachtung, daß die UdSSR und andere Warschauer-Pakt-Staaten nicht nur ihr strategisches, sondern auch in konventionelles Potential laufend quantitativ wie qualitativ verstärkten. Der sowjetische Einmarsch in die ÖSSR veranlaßte sie dann jedoch, diesem Umstand mehr Augenmerk zuzuwenden und dementsprechend die eigenen Anstrengungen zu vermehren.
Die Zusammenhänge und Motive auf sowjetischer Seite sind weniger gut überschaubar als im Westen. Es fallen jedoch zeitweilig Verhaltensstrukturen ins Auge, die zwar nicht dem Parallelitätspostulat der drei Autoren für die These einer rüstungspolitischen Außengeleitetheit entsprechen, trotzdem eine deutliche Beziehung zwischen Außen-und Rüstungspolitik erkennen lassen. Stalin versuchte in der Spätphase des Zweiten Weltkrieges auf dem europäischen Kontinent einen Zustand festzulegen, bei dem nur die UdSSR und die jeweils prospektiv an sie gebundenen Staaten über ein großes Militärpotential verfügen sollten, alle anderen Länder dagegen unter den verschiedensten Vorwänden so weit wie möglich zur Entmilitarisierung verpflichtet und der Aktionsfähigkeit beraubt sein würden
Diesem Konzept entsprechend, folgte die Sowjetunion nach Kriegsende nicht dem Beispiel der westlichen Staaten, die ihre Streitkräfte auf dem europäischen Kontinent in weitem Umfang abbauten Eine weitere rüstungspolitische Entscheidung fiel im Spätsommer 1947, kurz nachdem der Bruch zwischen der UdSSR und den Westmächten in den Fragen Deutschlands und Europas perfekt geworden war: Die sowjetischen Besatzungsbehörden begannen, die Aufstellung deutscher Truppenverbände in ihrer Zone vorzubereiten. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß diese Maßnahme im Zusammenhang mit der von Stalin den SED-Führern übertragenen Aufgabe des Kampfes um die Macht in Gesamtdeutschland zu sehen ist Die westlichen Rüstungen nach Ausbruch des Korea-Krieges veranlaßten die sowjetische Seite, auch ihre militärischen Aufwendungen zu erhöhen — was allerdings in Anbetracht der weitgehenden vorherigen Angespanntheit der Wirtschaft für militärische Zwecke nur begrenzt möglich gewesen zu sein scheint. Die Verringerungen bei den konventionellen Streitkräften der UdSSR während der Chruschtschow-Zeit stehen in einem engen Zusammenhang mit den Wandlungen der herrschenden Militärdoktrin, die den Akzent von der konventionellen Kriegführung zum Vorrang der strategischen Waffensysteme verschob. Nach der Kuba-Krise entschied sich die sowjetische Spitze für das Konzept eines defensiven Abschreckungsminimums.
Chruschtschows Nachfolger trafen dagegen Vorsorge für den militärischen Einsatzfall und leiteten daher konventionell und nuklear den Aufbau eines überlegenen Potentials ein 3. Schlußfolgerungen Der historische Befund ergibt keine einfache Zuordnung von außen-und machtpolitischen Gegebenheiten einerseits und Rüstungsausmaß andererseits im Sinne einer Parallelität. Das bedeutet jedoch nicht, daß keine klaren Wechselbeziehungen bestünden. Es dürfte vielmehr ein realistisches Denkmodell sein, wenn man grundsätzlich die Rüstungsentscheidungen als weithin außenreizbedingt ansieht, zugleich aber bei der Reaktion auf die Außenreize mit den innerstaatlichen Bedingungen (die je nach Art der inneren Herrschaftsstrukturen sehr verschieden sein können) rechnet. Die jeweiligen innenpolitischen Verhältnisse bestimmen, in welchem Umfang und auf welche Weise Außenreize in eigene militärpolitische Aktivität umgesetzt werden. Dabei besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit für Trägheit, das heißt, ein einmal etabliertes innerstaatliches Gleichgewicht von Zielprioritäten und Mittelfestlegungen läßt sich nicht ohne weiteres verändern, weil sich mit dem jeweiligen Zustand „investierte Interessen" verbunden haben.
Die Art der Reaktion auf Außenreize hängt mit davon ab, mit welchen Zielen der betreffende Staat seiner internationalen Umwelt entgegentritt. Wenn machtpolitische Veränderungen zu den eigenen Gunsten angestrebt werden, sind die operativen Konsequenzen, die aus einer gegebenen Sicht der Lage zu ziehen sind, notwendigerweise anders, als wenn die bloße Erhaltung des bestehenden Zustandes anvisiert wird. Die subjektive Einschätzung einer bestimmten objektiven Situation kann stark differieren und damit unterschiedliche, ja gegensätzliche Reaktionen begründen. Auch der Gesichtspunkt der Antizipation ist zu berücksichtigen. Bei der heutigen langen Anlaufzeit von rüstungstechnischen Entwicklungen kann eine staatliche Führung nicht nur auf das reagieren, was die potentielle Gegenseite bereits in ihrer Verfügung hat; dann wäre es nämlich schon zu spät. Sie muß daher überlegen, welchen militärtechnologischen Herausforderungen sie sich vermutlich gegenübersehen wird, wenn ihre gegenwärtigen Entscheidungen Wirklichkeit werden Selbstverständlich prägen auch die innenpolitischen und wirtschaftlich-sozialen Voraussetzungen und die bürokratischen Entscheidungsbahnen in einem Land wesentlich die Reaktionsmuster dieses Landes auf auswärtige Reize. Es sollte weiterhin nicht erstaunen, daß innerstaatliche Interessenten eine ihnen günstige Gesamtlage (z. B. die Disposition der Entscheidungsträger für einen bestimmten Typ von Militärpolitik) für ihre partikularen Belange auszunutzen suchen.
Die Thesen, die sich an die Grundthese von der Innengeleitetheit der Rüstungen anschließen, sind ebensowenig empirisch haltbar. Es ist beispielsweise durchaus zutreffend, daß die Rüstungskontrollabkommen bisher den in sie gesetzten Erwartungen nicht gerecht geworden sind und weithin nur periphere Bereiche des militärischen Instrumentariums berührt . haben. Das dürfte jedoch gerade auf den unglückseligen Wettbewerbscharakter der Rüstungspolitik zurückzuführen sein, der angesichts der Unsicherheit aller Prognosen bei allzu weitreichenden Regelungen jede Seite einen großen Vorteil der anderen befürchten läßt. Außerdem hemmt die Verschiedenheit der politischen Ziele, die in einem Unterschied der Abrüstungskriterien ihren Ausdruck findet, eine weitreichende Übereinkunft. Einer Überprüfung hält die Ansicht nicht stand, daß die kriegsträchtigen Konflikte in den zwischenstaatlichen Beziehungen stets mit der Existenz von Rüstungen bei den beteiligten Seiten zusammenhingen. Der Ost-West-Konflikt verschärfte sich entscheidend Mitte 1947, als die westlichen Staaten weitgehend demobilisiert hatten. Der amerikanische General Lemnitzer bemerkte noch zwei Jahre später sarkastisch, die sowjetische Armee benötigte für einen Vormarsch bis zum Atlantik wenig mehr als Schuhe
Auch alle sonstigen Erfahrungen der Geschichte deuten darauf hin, daß man die Mög-lichkeit echter — das heißt nicht durch Selbstläufigkeiten außerhalb des Willens beider beteiligter Seiten entstandener — militärischer Konflikte nicht von vornherein ausschließen kann, wie Senghaas/Rittberger/Luber dies tun. Es läßt sich nicht von vornherein ausschließen, daß Politiker, die an den Gebrauch nackter Gewalt gewöhnt sind, bei günstiger Gelegenheit militärische Aktionen als ein geeignetes, weil relativ risikoloses und allein erfolgversprechendes Mittel zur Durchsetzung ihrer Absichten ansehen könnten. Ist Hitler etwa, getrieben von den Zwängen einer „Rüstungsdynamik'1, wider Willen zu seinen Eroberungszügen aufgebrochen? Der Fall Hitler weist darauf hin, daß es nicht darum gehen kann, unter allen Umständen Feindschaftsund Bedrohungseinschätzungen abzubauen. Der Zweite Weltkrieg wäre wahrscheinlich verhindert worden, wenn die nicht-faschistischen Staaten in klarer Erkenntnis ihrer Bedrohtheit in politischer Gemeinschaft angemessene Verteidigungskräfte aufgebaut hätten, welche die Aggression von vornherein zu einem tödlichen Risiko gemacht hätte. Worauf es ankommt, ist allein, daß die Einschätzungen der Wirklichkeit entsprechen.
In der jetzigen Ost-West-Situation erstaunt den distanzierten Beobachter das von Senghaas/Rittberger/Luber problematisierte Nebeneinander von Entspannung und Rüstung wenig. Für eine Erklärung der gegebenen Tatbestände braucht man keine „Rüstungsdynamik" zu bemühen; das Wettrüsten läßt sich plausibler-weise auf die weltpolitische Rivalität zwischen den großen Mächten und auf das Bewußtsein wechselseitiger ideologischer Herausforderung zurückführen. Wenn man nicht in Unkenntnis der Entwicklungen des Ost-West-Verhälthisses seit 1917 und vor allem seit 1945 und unter Absehung von den sowjetischerseits festgelegten politischen Leitlinien annehmen will, daß der Entspannungsprozeß die Rivalität der beiden Lager und damit den Zwang zur militärischen Absicherung gegeneinander beseitigt habe und daß folglich ein von latenter Gewalt völlig freies, nur durch die Bindung an eine gemeinschaftliche Rechtsordnung bestimmtes assoziatives Verhältnis zwischen den Staaten in Europa entstanden sei, dann bestehen die prinzipiellen Gegensätze aus der Zeit des Kalten Krieges in veränderter Form weiter. Es ist zweifellos ein großer Fortschritt, wenn die Gegensätze nicht mehr mit allen Mitteln des politischen Niederzwingens ausgetragen werden, wenn sich ein Konsens über den Nicht-Gebrauch militärischer Gewalt anbahnt, wenn es zu Modus-vivendi-Regelungen kommt und wenn hoffnungsvolle Ansätze zur Über-windung von Völkerfeindschaften offizielle Verstärkung erfahren. Aber das alles bedeutet doch auf absehbare Zeit noch nicht, daß die politischen Zielkonflikte, die zwischenstaatlichen Machtrivalitäten und die ideologischen Feindbilder überwunden wären. Gerade auf sowjetischer Seite macht man gegen derartige Vorstellungen mit äußerster Entschiedenheit Front. Der bloße Gedanke, daß . eine Versöhnung der Gesellschafts-und Herrschaftssysteme, eine geistige Annäherung zwischen Westund Osteuropa oder ein Ausgleich der ideologischen Differenzen eines Tages zustande kommen könnte, gilt als perfide Insinuation des „Klassenfeindes", welche die „sozialistische Ordnung subversiv bedrohe. Dahinter zeigt sich das Bestreben, die Identität des sowjetisch geprägten Kommunismus mit dem Anspruch auf die schließliche Beseitigung des „Kapitalismus" zu stützen. Das stark betonte ideologische Gegenbewußtsein zum Westen nimmt in Osteuropa zunehmend die Funktion eines Ersatzes für die bislang gepflegten Feindbilder an, den die regierenden Kreise augenscheinlich für unerläßlich halten.
Der gegenwärtige Zustand der Entspannung in Europa bedeutet, daß die unterschiedlich orientierten Staaten die politische Auseinandersetzung am Rande des Krieges als zu gefährlich ansehen und auch eine wechselseitige wirtschaftliche Blockade (wie sie im Kalten Krieg weithin angestrebt wurde) für unvorteilhaft erachten. Sie müssen sich darum miteinander arrangieren, auch wenn dies, wie die Verhandlungen der letzten Jahre in Europa gezeigt haben, teilweise mit erheblichem Widerwillen geschieht. Man braucht hier nur auf verschiedene westdeutsche Unmutsregungen gegenüber dem Moskauer Vertrag, auf die zeitweilig starke sowjetische Opposition gegen Breshnejws Entspannungspolitik, auf das sowjetische Widerstreben gegen eine ausgewogene Berlin-Regelung und auf das Ringen der beiden deutschen Staaten um die Geschäfts-grundlage ihres wechselseitigen Verhältnisses hinzuweisen. Aber so lange die Hemmnisse gegen einen Gewaltgebrauch vorherrschen, sind auf lange Sicht hin alle Regierungen zu Kompromissen des Miteinander-Auskommens genötigt. Das schließt gleichzeitige Regungen der Ablehnung und des Mißtrauens nicht aus. Das begrenzte wechselseitige Zusammenwirken, das wir als Entspannung bezeichnen, basiert nicht auf Wunsch und Neigung der Be-teiligten, sondern auf den durch die Situation der Abschreckung geschaffenen objektiven Notwendigkeiten, die den Spielraum für die gegensätzlichen Strebungen eingrenzen. Es fehlt daher keineswegs an beiseite gedrängten Spannungen, die, wenn die ihr entgegenwirkenden Kräfte einmal ausfallen sollten, erneut in den Vordergrund rücken könnten. Der Gebrauch militärischer Gewalt (in der Form der Anwendung oder der Androhung) bleibt prinzipiell möglich. Die Existenz eines politischen Gleichgewichts, das durch ausreichende militärsche Potentiale auf den betreffenden Seiten abgesichert ist, entzieht dieser Möglichkeit die Wahrscheinlichkeit.
Die Entspannung hat die politischen Probleme zwar eingedämmt und eingefroren, teilweise auch entschärft, aber sie hat sie nicht gelöst. Als Beispiel mag die Berlin-Frage dienen: Das Viermächte-Abkommen vom 3. September 1971 hat die Lage West-Berlins zwar erleichtert und entstört, aber es konnte die Anomalie einer geteilten Stadt, deren westliches Fragment als Insel mit allen damit verbundenen Belastungen und Nachteilen existiert (und dementsprechend künstlicher Lebenshilfen bedarf), nicht in die Normalität zurückführen; denn das hätte ein wiedervereinigtes Deutschland oder ein freundschaftliches Einvernehmen zwischen beiden deutschen Staaten vorausgesetzt. Die Ungelöstheit vieler Probleme ließe die Option des Gewaltgebrauchs, wenn sie einmal weniger riskant erscheinen sollte, vielleicht wieder als Methode der Konfliktlösung attraktiv werden. Es besteht daher aller Anlaß, die Verfügung potentieller Konfliktpartner über Mittel der militärischen Gewaltanwendung durch die Verfügung über ausreichende militärische Gegeninstrumente auszubalancieren, um die Möglichkeit gewaltweiser Erzwingungen im internationalen Bereich denkbar gering zu halten. Auch im derzeitigen Stadium der Entspannung ist der Rückhalt der Politik an ausgleichender militärischer Macht keineswegs überflüssig; er ist vielmehr eine unerläßliche Voraussetzung für das weitere Funktionieren der Entspannung.
IV. Probleme eines Abbaus von Streitkräften und Rüstungen in Europa
1. Vorschläge für eine wechselseitige Abrüstung vor dem MBFR-Konzept Senghaas/Rittberger/Luber. messen die Ostpolitik der westlichen Staaten an den bereits erörterten Hauptpostulaten, daß eine Entspannungspolitik nicht mit Sicherheitspolitik verbunden sein dürfe und daß ein wahres Friedensstreben unter allen Umständen den Willen zur Abrüstung voraussetze. Nach diesen Kriterien kann die westliche Ostpolitik nicht vor dem Urteil der drei Autoren bestehen, denn die Regierungen der Staaten außerhalb des sowjetischen Machtbereichs haben den Gesichtspunkt des machtpolitischen und militärischen Gegengewichts zur UdSSR niemals außer acht gelassen. Die Kritik am westlichen Verhalten wird unversehens zu einem Plädoyer für östliche Projekte: Die Westmächte hätten, so lautet der Vorwurf, im Falle eines wirklichen Interesses an Entspannung auf die „entspannungsdiplomatische Aktivität der sozialistischen Staaten" eingehen müssen. Es kennzeichnet die einseitige Betrachtungsweise der Autoren, daß sie die beiden gegen den Westen geltend gemachten Kriterien — den Verzicht auf Sicherheitspolitik um der Entspannungspolitik willen und die Unbedingtheit des Willens zur Abrüstung — keineswegs auch auf die UdSSR und ihre Verbündeten anwenden. Weder die Entspannungs-und Sicherheitskomponenten der östlichen Europa-Politik im allgemeinen noch die Voraussetzungen und Motivationen für östliche rüstungsrelevante Vorschläge im besonderen werden irgendwie untersucht. Anders als den westlichen — vor. allem den atlantischen — Staaten wird den Mitgliedern des Warschauer Paktes von vornherein zugute gehalten, daß ihre Politik den Vorstellungen der drei Autoren, wenn auch vielleicht nicht voll entsprochen habe, so doch wenigstens am nächsten gekommen sei. Hier seien, so heißt es, „Schritte zur Entspannung der Ost-West-Beziehungen" unternommen worden, auf welche die westliche Seite nur mit „Vorsicht und Widerstreben", mit diesem oder jenem „Instrument der Blockierung" und mit einer „zunehmend steriler" werdenden Haltung reagierte, statt die Vorschläge positiv aufzugreifen. Die Autoren sprechen von einer „Tradition der Entspannungsdiplomatie der sozialistischen Staaten", der die NATO-Staaten wenig entgegenzustellen hatten, weswegen sie sich immer mehr „in Zugzwang versetzt" fühlen mußten
Die westlicherseits ausgeschlagene Entspannungs-und Abrüstungschance wird vor allem in den östlichen Vorschlägen für militärisch verdünnte Zonen in Mitteleuropa gesehen Ein Urteil setzt voraus, daß die Vorgänge näher beleuchtet werden. Die ersten Vorschläge für rüstungsbeschränkte Gebiete kamen 1955 von westlichen Regierungen und basierten auf amtlichen bundesdeutschen Vorstudien. Die sowjetische Führung ging nicht darauf ein. Statt dessen operierte sie mit Projekten wechselseitiger vertraglicher Sicherheitszusagen und mit Entwürfen für eine weltweite Beseitigung der Kernwaffen. Beides war zugleich Propaganda und Sicherheitspolitik: Der damals sehr beeindruckenden politischen Stärke der NATO, die durch die sich anbahnende westdeutsche Wiederbewaffnung auch in militärischer Hinsicht ein zunehmendes Gewicht beanspruchen konnte, wurden ebenso wie dem gewaltigen nuklearen Übergewicht der USA Alternativparolen entgegengestellt; sollten die westlichen Regierungen auf die Vorschläge eingehen, ergaben sich Ansatzpunkte, die Existenzberechtigung des atlantischen Bündnisses in Frage zu stellen und die politische Relevanz des amerikanischen Kernwaffenpotentials zu neutrali-sieren. Im Londoner Fünfmächte-Ausschuß von 1955 bis 1957 verhandelten die Führungsmächte beider Lager miteinander über Abrüstungsfragen. Die sowjetische Delegation legte dabei Wert auf Maßnahmen, welche die noch bestehende militärische Unterlegenheit der westlichen Seite in Europa verewigen würden und die globalstrategische nukleare Überlegenheit der Amerikaner beeinträchtigen könnten. Die westlichen Unterhändler dagegen waren vor allem an einem Rüstungsbeschränkungsarrangement in weltweitem Rahmen interessiert. Auf beiden Seiten war man jedoch zu Zugeständnissen bereit. Ende August 1957 brachte der sowjetische Vertreter die Verhandlungen plötzlich zum Scheitern — kurz nachdem sein Land einen wichtigen Durchbruch bei der Erprobung von Kernwaffen und Raketen erzielt hatte
Der sowjetischen Führung waren anscheinend die restriktiven Wirkungen unangenehm geworden, die von der prospektiven Vereinbarung für ihre sich verstärkende globalstrategische Position ausgehen konnten. Zugleich jedoch erschien es nach wie vor zweckmäßig, durch Abrüstungsmaßnahmen in Mitteleuropa das transatlantische Verhältnis negativ zu beeinflussen und den amerikanischen Abschrekkungsschirm so weit wie möglich vom europäischen Kontinent abzuziehen. In sowjetischer Sicht war es sogar noch dringlicher als bisher geworden, daß die Entwicklung innerhalb des westlichen Bündnisses gehemmt wurde. Die Umorientierung der amerikanischen Militärstrategie von einem Schwergewicht auf konventionellen Streitkräften zu einem Schwergewicht auf nuklearen Schlägen hatte in der NATO die Frage aufgeworfen, welche Rolle nunmehr die Truppen der europäischen Mitgliedsstaaten zu spielen hätten und wie das westeuropäische Verteidigungssystem mit der entscheidenden amerikanischen Abschreckungskapazität zu verkoppeln sei. Aus den sich anschließenden Überlegungen erwuchs das Konzept der Ausrüstung der NATO-Streitkräfte mit taktischen Kernwaffen, die freilich unter amerikanischer Verfügungsgewalt blieben. Als die UdSSR ab Herbst 1957 begann, ihr Raketenpotential gegen den Westen geltend zu machen, reagierten die USA und die NATO mit Diskussionen über eine Stationierung amerikanischer Mittelstreckenkernwaffenträger am Rand des sowjetischen Machtbereichs, also auch in Westund Südeuropa. Dahinter stand die sowjetischerseits genährte Vorstellung von einer amerikanischen „Raketenlücke". Die angenommene amerikanische Unterlegenheit hinsichtlich weittragender Kernwaffenträger sollte danach kompensiert werden, indem die Stützpunkte, von denen aus die UdSSR nuklear bedroht werden konnte, nahe an das sowjetische Gebiet heranrückten. Politisch gesehen, liefen die erwogenen Maßnahmen darauf hinaus, Westeuropa zu einem integrierenden Bestandteil des amerikanischen Abschreckungssystems zu machen und es damit unlöslich mit den USA zu verkoppeln. Weder die militärischen noch die politischen Folgen einer Nuklearisierung des europäischen NATO-Bereichs lagen im sowjetischen Interesse — ganz im Gegenteil. Die Führer der UdSSR wollten die militärische Unterlegenheit der westlichen Seite in Europa konservieren, die Vorstellung von der amerikanischen „Raketenlücke" zu der Vorstellung von einer westlichen Abschreckungslücke fortentwickeln und den Rückhalt Westeuropas, insbesondere der Bundesrepublik, an den USA nicht stärken, sondern schwächen.
Das geeignete Mittel hierfür mußte eine Regelung bilden, die den Abrüstungsgedanken in doppelter Weise einschränkte: erstens auf den zentralen Abschnitt des europäischen Schauplatzes und zweitens entscheidend auf ein Verbot der nuklearen Komponenten. Beides mußte überwiegend, ja fast ausschließlich zu westlichen Ungunsten wirken. Während Ostmitteleuropa für die UdSSR nuklearstrategisch ein entbehrliches Vorfeld darstellte, von dem die Wirksamkeit der sowjetischen Kernwaffenmacht in den europäischen Verhältnissen nicht abhing, war die Bundesrepublik eine unverzichtbare Basis für das militärische und politische Engagement der USA auf dem Kontinent und damit zugleich ein entscheidender Faktor für den Bestand des atlantischen Bündnisses. Die amerikanische Kernwaffenabschreckung, so schien es, könnte ihre Glaubwürdigkeit einbüßen, wenn das sowjetische Gebiet nicht mehr hinlänglich nuklear erreichbar sein würde und wenn sich die amerikanischen Stationierungstruppen in Europa ohne eigene Kernwaffenausstattung im Zugriffsbereich sowjetischer Kernwaffen befänden. Verschiedentlich wurde darüber hinaus befürchtet, daß sich Washington dann zu einem Abbau seiner militärischen Anwesenheit in Europa veranlaßt sehen könnte.
• Für die Bundesrepublik kam die Sorge hinzu, ihr Einschluß in eine besondere Beschränkungs-und Überwachungszone könne einen politisch trennenden und einen rechtlich diskriminierenden Effekt auf ihr Verhältnis zu den westlichen Verbündeten haben und im übrigen den mitteleuropäischen Status qtio, also auch die Teilung Deutschlands, indirekt sanktionieren. Alle diese Erwägungen spielten eine Rolle, als die westlichen Regierungen die verschiedenen polnischen Vorschläge für eine kernwaffenfreie Zone (die von der UdSSR nachdrücklich unterstützt wurden)
zwischen Herbst 1957 und Herbst 1958 ablehnten. Der gleichwohl in Gang gekommenen Diskussion in der westlichen Öffentlichkeit entzog die sowjetische Führung mit ihrem Berlin-Ultimatum vom 27. November 1958 den Boden, das die politische Konfrontation statt irgendwelcher Übereinkünfte auf die europäische Tagesordnung setzte. Die UdSSR und ihre Verbündeten machten zwischen 1962 und 1967 Vorschläge, die wiederum deutlich den Zweck einseitiger sicherheitspolitischer Vorteile erkennen ließen
Der Befund läuft darauf hinaus, daß eine Abrüstung im mitteleuropäischen Abschnitt zunächst von westlicher Seite vorgeschlagen wurde und auf sowjetische Ablehnung stieß, später aber in veränderter Form (Ziel der Denuklearisierung) von östlicher Seite ins politische Spiel kam und dann für die westlichen Regierungen unannehmbar war. Wenn man nicht annehmen will, daß der Umstand, daß die Initiative von der jeweils anderen Seite ausging, das negative Verhalten provoziert hat, können nur die jeweiligen politischen Rahmenbedingungen für die jeweilige positive oder negative Einstellung zu dem gerade aktuellen Vorschlag bestimmend gewesen sein. Tatsächlich spricht alles für eine solche Deutung. Die westlichen Projekte von 1955 waren als Instrumente gedacht, die der UdSSR ein Nachgeben in der Deutschland-Frage, also die Zustimmung zu einer westlich-demokratischen Wiedervereinigung, sicherheitspolitisch annehmbar machen sollten. Die östlichen Vorschläge von 1957/58 und sporadisch von 1962-67 dagegen zielten — in einer veränderten militärpolitischen Konstellation und mit veränderten propagandistisch-diplomatischen Mitteln — darauf ab, die westliche Abschreckungs-und Allianzpolitik zu treffen. Es handelt sich also keineswegs um Entspannungs-und Abrüstungspolitik an sich, sondern um die Benutzung der propagandistischen Publikumswirksamkeit und der diplomatischen Überredung, die von den Vorstellungen einer Entspannung und Abrüstung ausgeht, zu handfesten außen-und sicherheitspolitischen Zwecken. Mit anderen Worten: Die Vorschläge für Entspannung und Abrüstung erweisen sich als Funktionen der Außen-und Sicherheitspolitik. Sie müssen daher auch in diesem Zusammenhang gesehen und bewertet werden. Entspannung und Abrüstung existieren nicht unabhängig von den jeweiligen gesamtpolitischen Bedürfnissen und Zielen der Staaten — weder bei den westlichen Ländern noch bei den Mitgliedern der „sozialistischen Gemeinschaft". 2. Die MBFR-Politik der NATO-Staaten Inneratlantische Entwicklungen führten in den sechziger Jahren dazu, daß der sowjetischerseits angestrebte Zustand eines aus dem nuklearstrategischen Kräfteverhältnis ausgesparten Westeuropa in einem gewissen Umfang eintrat. Während die UdSSR 700 gegen die westeuropäischen Länder gerichtete Mittelstreckenraketen in Dienst stellte, bauten die USA ihre entsprechenden Waffensysteme in Europa wieder ab, nachdem sie als strategische Abschreckungsinstrumente durch die Entwicklung amerikanischer Interkontinentalraketen überflüssig geworden schienen. Das bedeutete in militärischer Hinsicht, daß zu der niemals überwundenen östlichen Truppenüberlegenheit in Europa noch ein sowjetisches Übergewicht bezüglich strategischer Mittelstreckenwaffen hinzukam. Der amerikanische Rüstungskontroll-Bilateralismus mit der UdSSR nahm den Westeuropäern in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zudem die Option einer Teilhabe an nuklearstrategischen Waffensystemen der NATO. Politisch verlor Westeuropa weithin die Bedeutung einer unerläßlichen Komponente des amerikanischen Abschreckungspotentials gegenüber der Sowjetunion. Das konnte eine Entkoppelung Westeuropas von den USA einleiten, vor allem, wenn auch die taktischen Kernwaffen der NATO und ein großer Teil der amerikanischen Streitkräfte aus Europa abgezogen werden sollten Die abnehmende strategische Wichtigkeit Westeuropas einerseits und wachsende politische, wirtschaftliche und soziale Schwierigkeiten der USA andererseits begannen Mitte der sechziger Jahre allmählich amerikanische Tendenzen zu einer Verringerung der Stationierungsstreitkräfte auf europäischem Boden zu wecken. Da gleichzeitig auch in den westeuropäischen Führungsgruppen der Wille zu einem größeren militärischen Aufwand mehr und mehr nachließ, eröffnete sich die Aussicht auf eine immer weitergehende Verschiebung des militärischen Kräfteverhältnisses in Europa zu sowjetischen Gunsten. Schließlich, so ließ sich befürchten, würde ein militärischer Minimalschutz nicht mehr gegeben sein.
Es lag nahe, das Problem nicht allein unter militärischen Gesichtspunkten zu betrachten, sondern auch politische Lösungen zu erwägen. Derartige Studien wurden schon vor dem Harmel-Bericht vom 14. Dezember 1967, in dem der NATO-Rat erstmals die „Möglichkeit ausgewogener Truppenverminderungen" ins Auge faßte, ausgearbeitet. Das Motiv war, die Tendenzen, die einen einseitigen militärischen Abbau bei der NATO herbeiführen konnten, auf das Ziel einer wechselseitigen Streitkräftereduzierung in Ost und West umzuorientieren. Kurzfristig ging es vor allem um eine Abwehr drohender amerikanischer Truppenrückzüge aus Europa. Zugleich entwickelte sich, teilweise ausgehend von Vorstellungen, welche die britische Labour Party und führende westdeutsche Sozialdemokraten in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre formuliert hatten, ein langfristiges Konzept militärischer Stabilitäts-und Friedenssicherung in Europa. Auch wenn in den Jahren 1965 bis 1968 zunächst noch viele Einzelheiten unberücksichtigt oder unausgeführt blieben und manche Punkte im Lichte späterer Studien und Erfahrungen einer Modifikation unterlagen, änderten sich die Grundgedanken der westeuropäischen Befürworter nur wenig.
Das militärische Kräfteverhältnis soll auf einem niedrigeren Niveau verbindlich fixiert werden. An das Arrangement hierüber soll sich eine Zusammenarbeit in den Fragen der wechselseitigen Rüstung anschließen mit dem Ziel, das vereinbarte Gleichgewicht durch gemeinschaftliche Steuerung aufrechtzuerhalten. Dies wiederum soll dem Aufbau politisch stabiler Strukturen in Europa dienen. Dabei gehen die Verfechter des MBFR-Konzepts davon aus, das atlantische Bündnis dürfe im Verhältnis zum Warschauer Pakt nicht geschwächt werden und die Erzielung einer Ost-West-Übereinkunft erfordere eine koordinierte Politik bei den NATO-Mitgliedern. Als die politische Planung — vor allem seit 1970 — fortschritt, differenzierten sich die Vorstellungen über Ansatz und Vorgehen zunehmend. Man erwägt seither eine zeitlich gestaffelte Serie von Verhandlungen und Abkommen und faßt verschiedene Teilnehmerkreise für verschiedene Problembereiche (wie beispielsweise die Abfassung von Prinzipien der militärischen Sicherheitsgewähr, die Vereinbarung militärischer Bewegungsbeschränkungen oder die Festlegung militärischer Reduktionen) ins Auge. Studien ergaben, daß eine MBFR-Regelung unter militärischen Gesichtspunkten für die westliche Seite nicht unproblematisch ist Trotzdem scheint dieses Risiko vertretbar, wenn das Arrangement die politische Stabilität verbessern und die strukturellen Hemmnisse gegen den Ausbruch militärischer Konflikte erhöhen würde.
Fragen der militärischen Struktur spielten bei der Konzipierung des MBFR-Vorschlages noch keine Rolle; sie sorgen auch mittlerweile höchstens für eine sekundäre Motivation
Wenn vermutet worden ist, daß die sowjetische Kampagne unter der Parole der „europäischen Sicherheit" die NATO zur Vorlage des MBFR-Projekts — sozusagen im Sinne einer politischen Entlastungsoffensive — genötigt habe so hat diese Annahme wenig Wahrscheinlichkeit für sich. Seit Winter 1966/67 war die aktive Europa-Politik der UdSSR zunehmend auf äußere wie innere Schwierigkeiten gestoßen. Sie verlor immer mehr an Stoßkraft und nahm im Zeichen erschütterter Blockdisziplin allmählich defensive Züge an. Die Tendenzen dazu lassen sich schon an der Karlsbader Erklärung vom 26. April 1967 aufweisen; im Frühjahr 1968 propagierte Moskau nur noch die Stärkung des Warschauer Paktes als grundlegendes Erfordernis der „europäischen Sicherheit"
Die Regierungen der USA und der westeuropäischen Staaten stimmen darin überein, daß das militärische und politische Gleichgewicht in Europa während jeder Entspannungsphase erhalten bleiben muß und daß etwa vorgenommene Abrüstungsmaßnahmen rückgängig zu machen sind, falls die östliche Seite sich ihnen nicht anschließt. Im Verlauf der MBFR-Diskussion ist immer klarer das dominierende Interesse des westlichen Bündnisses daran hervorgetreten, das noch bestehende Minimum an Militär-und Machtbalance in Europa dauernd zu sichern. Im prozeduralen Herangehen bestehen freilich Differenzen zwischen denjenigen westeuropäischen Regierungen, die MBFR als Teilstück eines großen Ost-West-Arrangements in Europa befürworten, und der amerikanischen Führung, die MBFR in erster Linie als eine Aushilfe betrachtet, durch die sich das innenpolitisch Wünschenswerte (ein teilweiser Truppenabzug aus Europa) mit dem bündnispolitisch Erforderlichen (einer relativen Wahrung amerikanischer Stärke in Europa) und dem sicherheitspolitisch Gebotenen (einer Aufrechterhaltung des Kräfteverhältnisses auf dem europäischen Schauplatz) in Übereinstimmung bringen läßt. Aus amerikanischer Sicht sollten sich die Verhandlungen über MBFR vor allem auf das Problem der Stationierungstruppen in Europa konzentrieren, eine möglichst kurze Dauer haben und auf alle Grundsätzlichkeiten verzichten. Eine enge Bindung an Zusammentritt und Verlauf der Europa-Konferenz erscheint daher wenig zweckmäßig. Demgegenüber streben die westeuropäischen Befürworter eine vielstufige, umfassende MBFR-Regelung an, die in engstem Zusammenhang mit den multilateralen Verhandlungen über die politischen Probleme der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa stehen soll und mutmaßlich einen sehr langen Dialog erfordern wird. Im Rahmen der NATO ist es immer wieder gelungen, diese unterschiedlichen Ansichten zu gemeinsamen Positionen zu vereinen, wobei die Amerikaner den Zusammenhang zwischen Europa-Konferenz und MBFR-Arrangement prinzipiell akzeptiert haben.
Im einzelnen ergeben sich noch Differenzierungen. Verschiedene westeuropäische NATO-Partner, darunter die Bundesrepublik Deutschland, sind von der großen Kompliziertheit und Problematik der durch eine MBFR gestellten Fragen beeindruckt. Natürlich erschiene ein verminderter Umfang der militärischen Organe und Aufwendungen aus verschiedenen innenpolitischen Motiven heraus grundsätzlich wünschenswert. Verteidigungslasten sind bei den Wählern normalerweise ungleich weniger populär als Ausgaben, die einen unmittelbaren, sichtbaren Nutzen verheißen. Unter den Gesichtspunkten der Sicherheit jedoch sind angesichts des großen militärischen Übergewichts des Warschauer Paktes auf dem europäischen Schauplatz alle symmetrischen Reduzierungsmodelle, die sich rasch ohne flankierende Maßnahmen beschließen und durchführen ließen, mit außerordentlichen Risiken behaftet. Asymmetrische Lösungen dagegen, welche die militärische Übersättigung auf östlicher Seite und die Nähe der NATO zu minimalen Abdekkungserfordernissen berücksichtigen würden und darüber hinaus die geographischen Ungleichheiten, das heißt die unterschiedlichen Distanzen Europas zur Heimatbasis der Amerikaner und der Russen, ausgleichen könnten, sind von sowjetischen Sachverständigen wiederholt unmißverständlich abgelehnt worden. Daher wird ein langer Diskussions-und Klärungsprozeß über die Voraussetzungen, Bedingungen, Ziele und Mittel der militärischen Sicherheit für Europa als notwendig angesehen, ehe an konkrete Regelungen zu denken ist. Diese könnten nicht allein ein Arrangement über Truppen-und Bewaffnungsstärken, sondern auch Rahmenvereinbarungen über eingegrenzte Verwendungsmöglichkeiten einschließen. Solange eine derartige Übereinkunft praktisch gelten würde, wäre damit vielleicht in anderer Form militärische Sicherheit gegeben. Ein Bruch des Abkommens käme einer Krise gleich, die, wie man hofft, im Zuge der Entspannung keiner der Beteiligten mehr wünschen könnte.
Andere Vorstellungen stehen für die britischen Führer im Vordergrund. Sie halten es für vorrangig, das Verhältnis zwischen Westeuropa und den Vereinigten Staaten neu zu regeln. Als wünschenswert erscheint die Reihenfolge von Arrangements zuerst in währungspolitischer, dann in kommerzieller und schließlich in verteiligungsmäßiger Hinsicht. Damit soll den deutlich angewachsenen sowjetischen Hoffnungen, daß sich die „zwischenimperialistischen Widersprüche" namentlich zwischen den USA und der EG immer weiter entfalten würden und schließlich die beiderseitige Gemeinsamkeit paralysieren könnten, der Boden entzogen werden. Zugleich soll Westeuropa der weitere politische und militärische Rückhalt an der westlichen Supermacht gewährleistet sein. Diese Regelungen werden nach britischer Meinung mehrere Jahre beanspruchen, und es erschiene zudem erwünscht, wenn Westeuropa in dem abschließenden Stadium bereits zu einer gemeinschaftlichen Außenpolitik gefunden hätte. Erst wenn das westliche Lager sich wieder konsolidiert und eine einheitliche Verteidigungspolitik formuliert habe, kann, wie man in London betont, ein Ost-West-Rüstungskontrollabkommen für Europa sinnvoll sein.
Die französische Staatsführung hat es bisher immer abgelehnt, an MBFR-Gesprächen teilzunehmen. Sie hat darüber hinaus ihrer Skepsis gegenüber dem ganzen Konzept Ausdruck verliehen. Einer der Gründe ist, daß Frankreich wegen seiner nuklearmilitärischen Ambitionen bei einem absoluten Truppenminimum angekommen ist und daher nichts mehr zu reduzieren hat. Paris hält auch am Prinzip der uneingeschränkten nationalen Souveränität fest und sucht sich daher allen übernationalen Bindungen bezüglich einer Rüstungskontrolle zu entziehen. Präsident Pompidou und seine Berater sind auch zunehmend von dem erdrückenden militärischen Übergewicht der UdSSR in Europa beeindruckt und fürchten, daß die sowjetische Überlegenheit durch ein MBFR-Arrangement noch zusätzlich verstärkt werden könnte. Besonders lebhaft ist die Sorge, daß MBFR die NATO-Verteidigung im Abschnitt Europa-Mitte militärisch ausdünnen würde und daß damit ein militärisches Vakuum östlich von Frankreich entstünde. Frankreich ist, nicht zuletzt auf Grund seines Austritts aus der Militärorganisation der NATO im Jahre 1966, von vornherein an den MBFR-Überlegungen der atlantischen Allianz nicht beteiligt gewesen. Auch Breshnejws Bemühen in Minsk Anfang Januar 1973, den französischen Staats-präsidenten zu einer positiveren Einstellung zu den MBFR-Verhandlungen zu bewegen, ist ohne Erfolg geblieben.
Die Motive der NATO-Staaten bei MBFR sind also keineswegs auf einen Nenner zu bringen. Nur teilweise (wie im Falle der USA und teilweise auch der Bundesrepublik) haben innere Antriebe größeres Gewicht. Sie sind jedoch keineswegs eindeutig und stehen mit außen-beziehungsweise Moti sicherheitspolitischen -vationen in Konflikt. Für Länder wie Großbritannien und Frankreich steht außenbestimmte Skepsis oder sogar Ablehnung im Vordergrund. Auch wo — wie in der Bundesrepublik — dem Gesichtspunkt der innenpolitischen Entlastung teilweise ein gewisses Gewicht zukommt, besteht über die Wirksamkeit von Reduzierungen für die militärische Effizienz der übrig bleibenden Streitkräfte keine Klarheit. Eine Änderung der Wehrstruktur beispielsweise (die vielleicht psychologische Vorteile bieten würde) wäre wahrscheinlich mit einer Verschärfung des Investitionskostenproblems gleichbedeutend, weil eine reine Freiwilligenarmee höher besoldet werden müßte und damit einen noch höheren Personalkosten-anteil bekäme. Auch erscheint es vielen zweifelhaft, ob eine zahlenmäßig verringerte Truppe, auch wenn sie besser ausgebildet und ausgerüstet wäre, ihren Auftrag weiter erfüllen könnte, weil ihr ein Mindestumfang abgehen würde. Allen unterschiedlichen innenpolitischen Situationen und verteidigungspolitischen Vorstellungen ungeachtet haben die atlantischen Staaten mit der Ausnahme Frankreichs bisher ihre MBFR-Politik gemeinsam formuliert und koordiniert. Im Bündnisrahmen scheinen die einzelnen Länder weitgehend nicht die Spezifik ihrer jeweiligen (mehrfach auch wechselnden) Vorstellungen forciert zu haben. Vielmehr scheint im Vordergrund gestanden zu haben, daß die Allianz eine einheitliche Antwort auf die Fragen finden müsse, die sich mit der Entspannung stellen. Besonders bemerkenswert ist, daß sich die NATO nicht etwa auf ein reaktives Verhalten beschränkt hat: Gerade im Sommer 1968, als die UdSSR mit ihren Entspannungsparolen allen Elan eingebüßt hatte, setzte sie mit einer neuartigen Initiative den Anfang für eine zukunftsweisende Ost-West-Entwicklung. 3. Die sowjetische Militärpolitik in Europa Unter den Nachfolgern Chruschtschows hat die UdSSR ihre nuklearstrategische Rüstung stark forciert mit dem Erfolg, daß der amerikanische Rivale teilweise bereits überholt ist und insgesamt seine frühere Überlegenheit eingebüßt hat Für den europäischen Schauplatz hatte dies die Konsequenz, daß die sowjetische Überlegenheit auf dem Kontinent nicht länger durch einen amerikanischen Vorsprung auf globaler Ebene wettgemacht wurde Die sowjetischen Anstrengungen galten auch dem Ausbau der konventionellen Militärmacht in Europa — und das, obwohl hier bereits ein sowjetisches Übergewicht bestand und die NATO ihre Streitkräfte allmählich schwächte. Seit 1966 verminderten sich die NATO-Landstreitkräfte Europa-Mitte durch das Ausscheiden der französischen Verbände, das amerikanische Doppel-Basen-Konzept und durch kanadische Abzüge um fast ein Viertel des früheren Bestandes. Währenddessen vermehrte die UdSSR von 1966 bis 1972 ihre Streitkräfte in Ostmitteleuropa um 5— 6 vorverlegte Divisionen in der ÖSSR und um beträchtliche Mannschaftsverstärkungen in der DDR, in Polen und in Ungarn. Damit standen 5— 6 amerikanischen Divisionen 30— 31 sowjetische Divisionen in Zentraleuropa gegenüber. In den westlichen Militärbezirken der UdSSR standen weitere 29 Divisionen bereit. Die Verbündeten der USA verfügten über 20 Divisionen (bzw. 22 Divisionen unter Einbeziehung der französischen Stationierungstruppen in Deutschland, die der NATO nicht assigniert sind) gegenüber 31 Divisionen der kleineren Warschauer-Pakt-Staaten. Die westlichen Divisionen sind zwar wesentlich größer, haben aber eine geringere Feuer-kraft als die östlichen Divisionen. Gegen 14 000 Kampfpanzer des Warschauer Pakts konnte die NATO in Europa-Mitte nur 6 600 Kampfpanzer aufbieten. Bei den taktischen Kampfflugzeugen betrug das Verhältnis 7 150 zu 2 950. In der Luftverteidigung besaß die westliche Seite ein geringes Übergewicht. Auf der Ostsee war das östliche Bündnis um ein Vielfaches überlegen. Hinzu kommt, daß die Ausrüstung zumindest der sowjetischen Truppen sehr viel rascher ausgewechselt und modernisiert wird als die der NATO-Streitkräfte. Als einen gewissen Ausgleich für all ihre Nachteile kann die westliche Seite lediglich eine Überlegenheit in den taktischen Kernwaffen für sich verbuchen
Seit Spätherbst 1972 hat die sowjetische Führung ihre militärische Überlegenheit auf dem mitteleuropäischen Schauplatz weiter vergrößert. Ende des Jahres gelangten Nachrichten in den Westen, denen zufolge die Führungen ostmitteleuropäischer Länder der UdSSR erhebliche Verstärkungen ihrer Stationierungsstreitkräfte zugestanden hatten. Bald darauf mehrten sich die Anzeichen dafür, daß in Polen, in der CSSR und in der DDR mit der zusätzlichen Heranführung sowjetischer Truppen begonnen wurde Die alte sowjetische Präsenz in Ungarn erlangte wachsende Bedeu'tung im Hinblick auf die Lage in Jugoslawien und auf die rumänische Haltung Im Winter ersetzte die sowjetische Armee in Polen, in der DDR und in der CSSR wenigstens 1 000 Panzer des Typs T 55 durch die neueste Version T 62. Die außer Dienst gestellten Panzer wurden jedoch nicht abgezogen, sondern in den drei Ländern eingelagert Auffälligerweise fallen alle diese Maßnahmen zeitlich mit der Vorverlegung des Hauptquartiers der Warschauer-Pakt-Truppen von Moskau nach Lemberg (L'viv)
zusammen Noch mehr überrascht den westlichen Beobachter der Umstand, daß sich alle diese Anzeichen, die auf einen härteren militärpolitischen Kurs gegenüber der NATO hinzudeuten scheinen, gerade während einer Periode bemerkbar machen, in der die sowjetische Führung auf Entspannungs-und Abrüstungsverhandlungen mit den Regierungen der nicht-kommunistischen Staaten zusteuert. Augenscheinlich bedingen derartige Verhandlungen nach sowjetischer Ansicht keineswegs ein Stehenbleiben bei dem erreichten Stand an militärischer Macht, von Gesten einer Verringerung eigener Stärke gar nicht erst zu reden. Der unvermeidliche Hinweis in allen sowjetischen Ausführungen über das Thema der „europäischen Sicherheit", daß allein der Wandel des Kräfteverhältnisses in Europa zugunsten der „sozialistischen Gemeinschaft" Fortschritte in dieser Hinsicht herbeigeführt habe und weiter herbeiführen werde, hat offenbar auch einen massiven militärischen Sinn. Mit anderen Worten: Eine militärische Überlegenheit muß da, wo sie besteht, systematisch weiter ausgebaut werden
Fast unbemerkt von der westeuropäischen Öffentlichkeit hat sich in den letzten Monaten auf dem mitteleuropäischen Schauplatz ein verändertes militärisches Kräfteverhältnis herausgebildet. Statt 14 000 Panzer stehen der NATO, die ihre Stärke nicht verändert hat, nunmehr 20 000 Panzer gegenüber. Davon sind etwa 1 800 als Materialreserven in vorgeschobenen Depots gelagert; die Besatzungen werden weiterhin verfügbar gehalten und können innerhalb kürzester Zeit in den Einsatzräumen bereitstehen. Wie der NATO-Oberbefehlshaber Europa-Mitte, Jürgen Bennecke, Ende April 1973 in einem Interview (dessen Angaben auch durch andere öffentlich zugängliche Quellen bestätigt worden sind) weiter ausführte, machten die sowjetischen Truppenvermehrungen etwa drei Devisionen aus, zu denen noch zusätzliche Kampfflugzeuge kamen. Insgesamt liegt die östliche Überlegenheit in Mitteleuropa je nach Vergleichsbereich zwischen 1 : 2 und 1 : 3.
Anders als die westlichen Staaten, in denen die Regierungen periodischen Wahlen unterliegen und daher auf die Konsumwünsche der breiten Bevölkerung Rücksicht zu nehmen haben, kann die UdSSR auf Grund ihrer straffen Herrschaftsstruktur ohne allzu große Schwierigkeit einen sehr beträchtlichen Teil des Sozialprodukts für die Zwecke einer militärischen Machtentfaltung abzweigen. Dementsprechend betrug der Anteil der Militärausgaben am Sozialprodukt 1971 in der Sowjetunion über das Doppelte wie in den USA (die in der westlichen Welt einen ungewöhnlich hohen Verteidigungsetat besitzen und zudem ein volles Drittel ihres Militärbudgets für den Vietnam-Krieg aufwendeten) Wenn man von den Vietnam-Ausgaben absieht, liegt der sowjetische Militärhaushalt (unter Zugrundelegung des sogenannten „Verteidigungsrubels") sogar absolut über dem amerikanischen. Dabei sind die unteren Schätzungen der Fachleute zugrunde gelegt. Man ist auf derartige Berechnungen angewiesen, weil nur ein Teil der Militärausgaben amtlich als solcher ausgewiesen wird
Die militärische Macht ist für die sowjetische Führung offensichtlich ein Instrument zu politischem Zweck. Derselbe Zweck wird gleichzeitig auch mittels der sowjetischen Entspannungspolitik verfolgt. Seit 1969/70 bietet Moskau den Westeuropäern eine Gewaltverzichtsregelung als „Alternative zur imperialistischen Konzeption der , Abschreckung'" an. Sie sollen sich von der „Aussichtslosigkeit einer Politik der Stärke" und von dem fiktiven Charakter einer sowjetischen Aggressionsgefahr überzeugen und ihre Sicherheit durch Verhandlungen mit der UdSSR, das heißt durch vertragliche sowjetische Zusagen, gewährleistet sehen. Das zielt ausgesprochener-maßen darauf ab, „die militärisch-politische Doktrin der NATO, die auf der Konzeption der , Abschreckung'beruht", als „veraltet" hinzustellen und die westeuropäische Öffentlichkeit gegen die „Konzeption der , Abschrekkung'und des . Gleichgewichts des Schrekkens'" zu mobilisieren. In diesem Zusammenhang wird der „Befreiung Europas vom Kernwaffenpotential" durch die „Bildung von kernwaffenfreien Zonen" entscheidende Bedeutung beigemessen, denn die „Streitkräfte der USA" in Europa, vor allem aber ihre nukleare Komponente, bildeten die „Grundlage dieses [atlantischen] Systems" Wenn man diese Aussagen auf ihren politischen Kern zurückführt, dann heißt das nichts anderes, als daß den westlichen Versuchen zur Erhaltung eines militärischen und politischen Machtgleichgewichts in Europa nach Möglichkeit keine Chance bleiben soll. Die sowjetische Seite gibt zu erkennen, daß nach ihrer Ansicht nur ein sowjetisch dominiertes europäisches Sicherheitssystem einen stabilen Zustand herbeiführen kann. Den Westeuropäern wird empfohlen, sich diesen machtpolitischen Gegebenheiten endlich anzupassen. Mit dem Kampf gegen die atlantische „Strategie des Gleichgewichts" möchte die sowjetische Führung gern das Ziel erreichen, der „außenpolitischen Funktion dieser Doktrin" entgegenzuwirken und den von den „herrschenden Gruppen der Monopolbourgeoisie" unter dem „Schirm des Gleichgewichts" beanspruchten „Spielraum" zu beseitigen
Die sowjetischen Eventualabsichten lassen sich nicht mit dem Grundgedanken des westlichen MBFR-Konzepts vereinbaren, daß eine militärische und politische Balance in Europa dauernd festgelegt werden soll. Es überrascht darum nicht, wenn die sowjetische Po-litik dem westlichen Drängen nach MBFR-Regelungen bisher hinhaltenden Widerstand entgegengesetzt hat und sich nur so weit zu formalen Zugeständnissen bereit fand, wie es um der Europa-Konferenz willen unerläßlich schien. 4. Die UdSSR in der Auseinandersetzung mit dem MBFR-Konzept Der NATO-Vorschlag für einen wechselseitigen Truppenabbau in Europa vom 24. /25. Juni 1968 blieb jahrelang ohne jedes Echo aus der Sowjetunion. Auf die detaillierten Anregungen hin, die der NATO-Rat am 26. /27. Mai 1970 unterbreitete, nahmen die Außenminister der Warschauer-Pakt-Staaten am 22. Juni 1970 in ihr Budapester Memorandum einen Passus auf, daß die Frage einer Reduzierung der ausländischen Streitkräfte auf europäischem Boden in einem nach der erstrebten gesamteuropäischen Konferenz zu bildenden Organ diskutiert werden könnte. Die Kommentatoren in den außenpolitischen Fachorganen der UdSSR, die sich bis dahin gegen Truppenabbau-Gespräche als einen Versuch der „Imperialisten" zur Verhinderung einseitiger amerikanischer Abzüge gewandt hatten, betonten von da an die Notwendigkeit, daß die Europa-Konferenz nicht mit den unabsehbaren Komplikationen militärischer Probleme belastet werden dürfe. Zugleich hieß es, daß die europäische Sicherheitsproblematik ausschließlich mit politischen Mitteln — nämlich durch den Austausch von Gewaltverzichtszusagen zwischen den europäischen Staaten und durch den Aufbau eines kollektiven Sicherheitssystems in Europa — zu lösen sei. Das deutet darauf hin, daß der Hinweis auf eine später mögliche Erörterung einer wechselseitigen Streitkräftereduzierung in einem nach der Europa-Konferenz zu bildenden Organ wesentlich taktischen Bedürfnissen diente. Es kam den Leitern der sowjetischen Politik zunächst darauf an, einer Diskussion des Themas vor und während der Europa-Konferenz auszuweichen. Die NATO-Staaten sollten augenscheinlich mit der Aussicht, daß ihr Verlangen anschließend berücksichtigt werde, für einen baldigen Zusammentritt der Konferenz gewonnen werden, ohne daß sie auf einem gleichzeitigen oder vorausgehenden Gespräch über die militärischen Aspekte der Sicherheit bestanden. Wenn die UdSSR erst einmal mit der Europa-Konferenz ihre Ziele erreicht hatte, brauchte sie nicht mehr um die Geneigtheit der westlichen Länder zu werben und war demzufolge auch der Nötigung zu jedwedem Eingehen auf atlantische MBFR-Vorstellungen enthoben.
Die Mitgliedsstaaten der NATO machten jedoch, von der sowjetischen Gegenpropaganda unbeirrt, während des folgenden Jahres immer wieder deutlich, daß sie die Einbeziehung der militärischen Sicherheitsprobleme in den Kreis der zu erörternden Ost-West-Fragen als eine unerläßliche Voraussetzung für den wechselseitigen Dialog ansahen. Daraufhin deutete schließlich Parteichef Breshnejw am 30. März 1971 vor dem XXIV. Kongreß der KPdSU an, es könne über eine „Verringerung der Streitkräfte und Rüstungen in Europa" gesprochen werden. Als dieser Hinweis im Westen wenig Aufmerksamkeit hervorrief, äußerte sich der sowjetische Führer am 14. Mai 1971 in Tiflis etwas ausführlicher zu dem Thema. Dabei forderte er die westliche Seite dazu auf, in Verhandlungen einzutreten. Einige weitere öffentliche Aussagen im gleichen Sinne folgten. Sowjetische Kommentatoren und Diplomaten gaben jedoch zu erkennen, daß der Standpunkt ihres Landes unverändert Truppenabbau-Gespräche erst nach erfolgter Europa-Konferenz zulasse. Erst wenn die Konferenz zustande gekommen sei, könne anschließend über militärische Angelegenheiten verhandelt werden — und zwar separat, am besten in einem Folgegremium.
Die sowjetischen Politiker und Diplomaten verhielten sich weiterhin höchst reserviert, wenn es darum ging, westlichen Partnern hinsichtlich MBFR konkrete Zusagen zu machen. Parteichef Breshnejw erklärte Bundeskanzler Brandt während seines Besuches vom 16. ois 18. September 1971 in Oreanda seine Gesprächsbereitschaft in allgemeiner Form, vermied aber zugleich bindende Festlegungen und meldete Vorbehalte gegen das Konzept der Ausgewogenheit an. Statt dessen sprach der sowjetische Führer davon, daß keiner der Beteiligten einen Schaden erleiden solle. Dem Emissär der NATO, Manlio Brosio, der in Moskau die sowjetischen Vorstellungen zu MBFR sondieren sollte, wurde die Einreise von den sowjetischen Behörden verweigert. In dem Kommunique der Außenminister der Warschauer-Pakt-Staaten vom 1. Dezember 1971 fehlte jede Bezugnahme auf das Problem der Streitkräfteverminderung. Erst in der Prager Deklaration vom 26. Januar 1972 war ein Hinweis enthalten. „Auch die Erzielung einer Übereinkunft über eine Verringerung der Streitkräfte und Rüstungen in Europa", so hieß es, würde den „Interessen der Festigung der europäischen Sicherheit" entsprechen. In welchem prozeduralen Zusammenhang diese Frage aufgegriffen werden sollte, war nicht gesagt. Die Formel von Oreanda fand sich erneut. Außerdem sollte, wie betont wurde, die Regelung dieser Frage keine Angelegenheit der Bündnisse bilden. Das gleichzeitige sowjetische Verhalten läßt den Schluß zu, daß es der sowjetischen Führung unter anderem darum ging, die NATO aus dem Entspannungsprozeß herauszuhalten, um sie weiter als „aggressive Gruppierung" denunzieren und behandeln zu können. Das würde auch die Brüskierung Brosios erklären. In den sowjetischen Stellungnahmen wurde die Koordinierung der Europa-Politik im Rahmen des Warschauer Paktes als unerläßliches Erfordernis der „europäischen Sicherheit" hingestellt, zugleich jedoch jede westliche Absprache im NATO-Verband unabhängig von ihrem Inhalt für entspannungsfeindlich erklärt, weil sie dem überleben des Bündnisses diene.
Nach einem Jahr, nachdem Breshnejws Äußerungen von Tiflis das Interesse der westlichen Regierungen auf sich gezogen hatten, wußte man in den Hauptstädten der NATO-Staaten immer noch nichts genaueres über die sowjetische Gesprächsbereitschaft bezüglich MBFR. Der amerikanische Präsident Nixon drängte während seines Moskau-Besuchs in der zweiten Maihälfte 1972 den sowjetischen Parteichef zu genaueren Aussagen. Dabei gab er zu erkennen, daß eine sowjetische Bereitschaft zu Truppenabbau-Gesprächen parallel zur Europa-Konferenz unerläßlich sei, wenn die USA sich für die sowjetischerseits angestrebten multilateralen europäischen Verhandlungen erwärmen sollten. Breshnejw scheint seinem Gast daraufhin sein Einverständnis versichert zu haben. Die vorläufige Übereinkunft, die damit zustande kam, wurde in der Folgezeit von amerikanischer Seite als ungleich verbindlicher aufgefaßt, als es dem sowjetischen Verständnis entsprach. Äußerungen sowjetischer Diplomaten, die irgendeine bindende Absprache leugneten, riefen in Washington Überraschung und Ärger hervor. Die Amerikaner demonstrierten daraufhin, daß sie die zum 22. November 1972 in Helsinki vorgesehenen Vorgespräche über die Europa-Konferenz keineswegs akzeptiert hätten und daß mithin deren Zustandekommen noch höchst zweifelhaft sei. Im September 1972 reiste der Präsidentenberater Kissinger nach Moskau und überbrachte Breshnejw einen Brief Nixons, in dem dieser den engen Zusammenhang zwischen Truppenabbau-Gesprächen und Europa-Konferenzunterstrich. Kissinger nahm als Antwort einen Vorschlag entgegen, in dem — allerdings offenbar verfahrensmäßig wenig konkretisiert — der Dialog über die Streitkräftereduzierungen mit der Europa-Konferenz in einen Zusammenhang gebracht war.
Das amerikanisch-sowjetische Einvernehmen hatte zum Inhalt, daß, wenn die Vorgespräche in Helsinki wie vorgesehen am 22. November 1972 anliefen, Ende Januar 1973 auch Erkundungsgespräche über einen wechselseitigen Truppenabbau stattfinden könnten. Zwischen beidem sollte eine Parallelität bestehen. Am 6. November 1972 bestätigte die sowjetische Regierung diese Übereinkunft in einer Note, die sie der amerikanischen Regierung übermittelte. Daraufhn erklärte sich Washington offiziell mit dem Beginn der multilateralen Vorbereitungsrunde in Helsinki zum 22. November einverstanden. Das Einvernehmen enthielt keine bindenden Festlegungen über den Ort der Sondierungen und über den Kreis der Teilnehmer.
Im Westen herrschte jedoch — möglicherweise auf der Basis vager mündlicher Zusagen aus Moskau — allgemeine Zuversicht, daß die Vorstellungen der NATO-Staaten angenommen werden würden. Danach sollten die Erkundungsgespräche in Genf stattfinden (was Wien als wünschenswerten Ort für den Zusammentritt der Europa-Konferenz nach Abschluß der Vorberatungen in Helsinki freiließ). Als Beteiligte waren alle Staaten vorgesehen, die auf dem europäischen Kontinent auswärtige Stationierungstruppen entweder unterhielten oder akzeptierten (mit Ausnahme des teilnahmeunwilligen Frankreich) — also die NATO-Mitglieder USA, Kanada, Großbritannien, Belgien, Niederlande, Luxemburg und Bundesrepublik und die Warschauer-Pakt-Staaten UdSSR, Polen, DDR, Tschechoslowakei und Ungarn. Der Kreis der Teilnehmer war insofern von besonderer Wichtigkeit, als er das Gebiet absteckte, auf das sich die zu treffenden Regelungen beziehen konnten. Die Regierungen der NATO-Staaten luden die anvisierten östlichen Gesprächspartner am 15. November 1972 formell zu der vereinbarten Vorbereitungsrunde nach Genf ein. Die Mitglieder des Warschauer Paktes antworteten erst am 18. Januar 1973 — also unmittelbar vor dem vorgesehenen Gesprächsbeginn. Statt Genf schlugen sie Wien vor; teilnehmen sollten alle interessierten Länder. Wegen der vorgerückten Zeit kam der Gegenvorschlag einer Art ultimatumsähnlicher Vorbedingung nahe. Die westlichen Regierungen,'die dem sowjetischen Wunsch nach den Vorgesprächen zur Europa-Konferenz längst nachgekommen waren, hatten kein Mittel zur Einflußnahme auf die sowjetische MBFR-Bereitschaft mehr in der Hand und entschlossen sich daher, auf das Verlangen der UdSSR und ihrer Gefolgschaftsstaaten einzugehen.
In aller Hast wurden in Wien die technischen Vorbereitungen für die MBFR-Vorgespräche getroffen. Es gelang mit äußerster Mühe, einen Beginn am 31. Januar 1973 zu ermöglichen und damit die Vereinbarungen bezüglich eines Januartermins gerade noch einzuhalten. Das Fehlen einer Übereinkunft über den Teilnehmerkreis verzögerte den Beginn der Gesprächsrunde bis in den Mai hinein. Die sowjetische Delegation machte sich zum Fürsprecher aller Länder, die nach westlicher Vorstellung nicht beteiligt sein sollten. Der Einwand der NATO-Vertreter lautete, daß eine derartige Entgrenzung der künftigen MBFR-Verhandlungen endlose Diskussionen und Komplikationen ohne absehbare praktische Resultate befürchten lasse. Als Alternative ließ die sowjetische Seite daraufhin die Möglichkeit gelten, daß der von der NATO vorgesehene Teilnehmerkreis tage, aber ohne Ungarn (das zur Beantragung eines bloßen Beobachterstatus für diesen Fall veranlaßt wurde). Das aber hieß, daß die sowjetischen Stationierungen in Ungarn nicht in eine künftige Regelung wechselseitiger Streitkräfteverringerungen einbezogen sein würden und bedeutete eine Ausnahmeregelung für einen Teil der Sowjettruppen im Ausland. Die Funktion Ungarns als einer strategischen Drehscheibe zwischen Mitteleuropa und dem Balkan ließ den westlichen Regierungen ein derartiges Arrangement auch unter militärischen Gesichtspunkten sinnwidrig erscheinen. Der Druck und die Gefahr, wie sie vor allem gegenüber Jugoslawien künftig einmal akut werden könnten, verringerten die Sorgen (die auch bei den Neutralen und teilweise sogar im Warschauer-Pakt-Bereich auflebten) nicht. Außerdem machten die sowjetischen Repräsentanten in Wien deutlich, daß sie keinesfalls daran dachten, das Kriterium der militärischen Ausgewogenheit zu akzeptieren. Mit anderen Worten: Nicht das Ziel eines weiterhin ausgeglichenen Kräfteverhältnisses, sondern entstehende Realitäten einseitiger Übergewichte sollten bestimmend sein.
Die sowjetische Diplomatie lehnte in Wien eine Einbeziehung Ungarns nicht unter allen Umständen ab, sondern forderte gegebenenfalls dafür Gegenleistungen, welche die NATO-Seite in neue Schwierigkeiten stürzten. So könne, hieß es, die Teilnahme Ungarns durch eine gleichzeitige Beteiligung Italiens honoriert werden. Das aber hätte einen andersartigen Problembereich in die Verhandlungen eingebracht, nämlich die militärischen Fragen des Mittelmeerraums. Nach westlicher Ansicht mußten daraus wieder außerordentliche große Weiterungen resultieren, die einer Konzentration auf die vorrangigen Angelegenheiten Mitteleuropas hinderlich wären. Im übrigen stellte sich die Frage, wieso Italien hinzukommen sollte, das auswärtige Stationierungstruppen weder stellte noch aufnahm. Die Kontroverse legte die Vorgespräche lahm: Keine multilaterale Gesprächsrunde konnte stattfinden; statt dessen kam es nur zu informellen und meist zweiseitigen Kontakten, die sich vor allem um das ungelöste Problem des Teilnehmerkreises drehten. Anfang Mai 1973 fanden sich die Regierungen der NATO-Staaten schließlich bereit, der sowjetischen Seite entgegenzukommen. Sie nahmen es hin, daß die Vertreter Ungarns während der Vorbereitungsrunde nur Beobachter-status erhielten. Das sollte jedoch eine spätere Beteiligung an den MBFR-Verhandlungen nicht negativ präjudizieren. Die sowjetische Diplomatie betrachtete jedoch die getroffene Regelung als gleichbedeutend mit einer Entscheidung über die Nicht-Teilnahme Ungarns an der künftigen MBFR-Konferenz. Im sowjetischen Zentralorgan „Pravda" fand diese Auffassung am 16; Mai 1973 ihren Niederschlag.
Die neutralen Staaten zeigten sich teilweise sehr interessiert daran, aus der Diskussion über die militärische Sicherheit des europäischen Kontinents nicht ausgeschlossen zu werden. Als geeignete Möglichkeit hierzu erschien ihnen meist nicht so sehr eine Teilnahme an den MBFR-Erörterungen als vielmehr eine breite Behandlung aller Sicherheitsfragen auf der Europa-Konferenz, die nach übereinstimmender östlicher wie westlicher Ansicht den Problemen der Sicherheit und der Zusammenarbeit in Europa gewidmet sein soll. Während verschiedene NATO-Staaten einem Einschluß militärischer Sicherheitsaspekte in die Tagesordnung der Europa-Konferenz nicht abgeneigt waren und die Gesamtheit der atlantischen Mächte immerhin dem Gespräch über soge-nannte „vertrauensbildende Maßnahmen" im militärischen Bereich (wie einen Austausch von Manöverbeobachtern oder der Anmeldung beziehungsweise Einschränkung von Truppenbewegungen) zustimmte, verhielt sich die UdSSR ablehnend gegen alle wesentlichen militärischen Diskussionen in diesem Rahmen. Die sowjetischen Kommentatoren wurden nicht müde, immer und immer wieder zu erklären, daß militärische Fragen in keinem irgendwie gearteten Zusammenhang zu den Problemen der „europäischen Sicherheit" gesetzt werden dürften. Wer dies versuche, so hieß es, habe nichts änderes im Sinn, als die Regelungen der Europa-Konferenz durch endlose Komplikationen militärischer Spezialangelegenheiten (mit denen sich ausschließlich die Experten befassen sollten) hinauszuzögern und lahmzulegen. Die Sicherheit der Länder Europas, so wurde der Öffentlichkeit suggeriert, habe nichts mit dem militärischen Potential der verschiedenen Staaten und den damit verbundenen Kräfteverhältnissen zu tun. Der Umstand, daß die UdSSR zugleich allergrößten Wert auf eine Verschiebung der militärischen Relationen zu ihren Gunsten legte, läßt den Verdacht von Zweckpropaganda aufkommen.
Das sowjetische Verhalten gegenüber den westlichen MBFR-Vorstellungen war mindestens bis weit in das Jahr 1972 hinein von Reserviertheit, wenn nicht gar von feindseliger Ablehnung bestimmt. Je mehr sich die Führung aus taktischen Erfordernissen heraus westlichen Erwartungen anpaßte, desto stärker suchte sie das Konzept für andere Zwecke zu instrumentalisieren — beispielsweise dazu, der NATO kein Verhandlungsmandat zuzugestehen und den in ihr erreichten Konsens in Frage zu stellen. Auffällig ist auch, daß Moskau eine deutliche Vorliebe dafür hat, MBFR-Angelegenheiten mit dem amerikanischen Partner abzumachen. Es überrascht den unvoreingenommenen Beobachter, wie wenig die UdSSR bisher die großen militärpolitischen Vorteile, die eine MBFR-Regelung angesichts östlicher militärischer „Überversicherung" und bloßer Minimalabdeckung im Westen (die leicht durch geeignete Vorschläge fraglich gemacht werden könnte) zu bieten geeignet wäre, ernstlich erwogen zu haben scheint. Vorerst scheint in Moskau die Auffassung vorzuherrschen, daß die NATO-Staaten aus ihren Dilemmas heraus auf MBFR-Arrrangements angewiesen seien und daß folglich die UdSSR nur sich Zeit zu lassen brauche, um ihren Vorteil daraus zu ziehen. Offensichtlich ist der Stand der Überlegungen und Vorbereitungen zur MBFR-Problematik noch sehr wenig entwickelt — auch dies ein Hinweis auf das geringe originäre Interesse auf sowjetischer Seite. Nicht zu übersehen ist freilich, daß das sowjetische Interesse in eine andere Richtung als das der NATO-Länder weist: Eine Dynamik der Machverlagerung in Europa ist das erwünschte Ziel.
Bei den Vorgesprächen in Helsinki haben die sowjetischen Vertreter darauf gedrängt, daß Zusammentritt und Verlauf der Europa-Konferenz nicht von den Diskussionsfortschritten in einer so komplizierten und schwierigen Materie wie den Streitkräfte-und Rüstungsfragen abhängig gemacht werden dürften. Sie erklären, daß sich nach einem Erfolg der Europa-Konferenz auch die militärischen Probleme leichter lösen lassen würden. Das deutet auf eine Absicht der sowjetischen Führer hin, zunächst bestimmte politische Rahmenregelungen für Europa zu forcieren und erst dann auch über die militärischen Angelegenheiten zu sprechen. Die westlichen und die neutralen Staaten sollen anscheinend im Vertrauen auf die Ost-West-Entspannung ein verändertes politisches Verhältnis zur UdSSR akzeptieren, bevor im militärischen Bereich die sowjetische Bereitschaft zu einer Entspannung im Sinne von Beziehungen wechselseitiger Ausgewogenheit und Unabhängigkeit getestet wird. Wenn diese Annahme richtig ist, dann könnte die UdSSR nach Erfolgen auf der Europa-Konferenz zwar durchaus zu Regelungen einer wechselseitigen Verringerung von Streitkräften und Rüstungen in Europa bereit sein; aber diese Wechselseitigkeit würde auf die Fixierung einer erheblichen Unausgewogenheit zu sowjetischen Gunsten hinauslaufen. 5. Schlußfolgerungen Die These von Senghaas/Rittberger/Luber trifft nicht zu, daß durch Kostendruck bedingte Umrüstungsbestrebungen die Staaten in Ost und West an einem MBFR-Arrangement interessiert sein ließen. Die Motive sind wesentlich anderer Art. Für einige Regierungen der NATO-Staaten stellt sich das Problem, wie sie die notwendige militärpolitische Reaktion auf auswärtige Herausforderungen gegen starke innerstaatliche Gegentendenzen gewährleisten sollen. Mit dem MBFR-Projekt wird der Versuch gemacht, eine stabile Balance zwischen fremden Herausforderungen und eigenen Gegenbemühungen zu schaffen, die möglichst eine Verringerung des militärischen Potentials und damit eine gewisse Beschwichtigung der rüstungsfeindlichen Kräfte in der eigenen Gesellschaft zulassen soll. Dagegen machen sich aber auch vielfältige sicherheitspolitische Bedenken und Gegenten-denzen bemerkbar. MBFR erweist sich als ein. Vorschlag, dessen Beweggründe in die Kategorie nicht der Innen-, sondern der Außengeleitetheit gehören. Wenn die westlichen Regierungen sich nur an ihrem innenpolitischen Interesse orientieren würden (wie es die drei Autoren annehmen), dann wäre der einseitige Abbau der Militärlasten die einfache und mühelose Konsequenz aus ihrer Lage. Da die Leiter der westlichen Politik jedoch gleichzeitig im Blick auf auswärtige Herausforderungen weiterhin angemessene Verteidigungsausgaben für unerläßlich halten, geraten sie in ein Dilemma zwischen innenpolitischen Wünschbarkeiten und außenpolitischen Erfordernissen. Wenn es nun mittels MBFR gelänge, die angemessenen Verteidigungsausgaben zu reduzieren, brächte diese zugleich eine außen-politische Entspannung und eine innenpolitische Entlastung.
Die sowjetische Führung sieht sich demgegenüber keinem starken inneren Druck ausgesetzt, die militärischen Kosten zu vermindern. Sie kann daher ihre Streitkräfte und Rüstungen so weit ausbauen, wie sie dies im Sinne ihrer außenpolitischen Ziele für zweckmäßig hält. Allem Anschein nach strebt sie gegenwärtig ein entscheidendes militärisches Über-gewicht in Europa an, um möglichst auch die westeuropäischen Staaten allmählich in ihren Einflußbereich zu ziehen. Das würde verständlich werden lassen, daß Moskau offenbar nicht daran interessiert ist, den westlichen Regierungen ihr Dilemma zu erleichtern, sondern sich im Gegenteil darum bemüht, dieses Dilemma zum Ansatzpunkt einer weiteren militärischen Schwächung der NATO-Staaten mittels einer Mobilisierung verteidigungsfeindlicher Gruppen im Westen zu machen.
V. Auswirkungen der geforderten einseitigen westlichen Abrüstungsmaßnahmen
Würden sich, wie Senghaas/Rittberger/Luber es verlangen, wichtige westliche Staaten ohne Rücksicht auf die zwischenstaatliche Umwelt zu einer Reduzierung des Militärbudgets verstehen, würde dies das militärische Kräfteverhältnis in Europa entscheidend zu sowjetischen Gunsten verschieben. Wenn beispielsweise die Bundesrepublik einseitig ihre Streitkräfte abbauen würde, wären damit zunächst die atlantischen Verteidigungsdispositionen am entscheidenden Abschnitt Europa-Mitte langfristig in Frage gestellt, weil das Truppenminimum in Gefahr geriete. Das würde das Vertrauen der kontinental-europäischen NATO-Mitglieder in den politischen und militärischen Schutz des Bündnisses erschüttern; ihr Austritt aus der atlantischen Allianz wäre die wahrscheinliche Folge. Beides — die bundesdeutsche Reduktion und der westeuropäische Abfall — würden die Position der amerikanischen Stationierungsstreitkräfte in der Bundesrepublik militärisch und politisch unhaltbar machen. Ein Abzug der amerikanischen Truppen wiederum würde die Westeuropäer endgültig davon überzeugen, daß sie ihre Existenz ausschließlich auf ein Arrangement mit der UdSSR — und folglich auf einen sowjetischerseits ausgesprochenen Bedrohungsverzicht — zu begründen hätten. Ein derartiges Arrangement hätte, wie das Beispiel Finnlands zeigt seinen außen-und innenpolitischen Preis. Dieser Preis brauchte nicht einmalig festgelegt zu sein, sondern könnte im Laufe des machtpolitischen Veränderungsprozesses zunehmend erhöht werden. Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre bereits vorher ein multilaterales europäisches Gewaltverzichtsabkommen abgeschlossen. Wenn man davon ausgeht, daß die sowjetische Vormacht sich strikt daran hielte und niemals in offener oder versteckter Form politische Zwecke mittels Androhung von Gewalt gegenüber einem anderen Staat verfolgte, wäre doch klar, daß allen anderen Regierungen die sowjetische Option eines völlig risiko-und nachteillosen Gewaltgebrauchs gegenwärtig wäre. Das würde sie dazu veran-lassen, der sowjetischen Führung keinen Anlaß zu einem möglichen Gewaltgebrauch zu geben und sich dementsprechend durch eine antizipatorische Anpassung an die sowjetische Politik des Moskauer Wohlwollens zu versichern.
Die Friedensordnung, die auf diese Weise im Sinne eines Hegemonialverbandes auf dem europäischen Kontinent entstehen würde, wäre wahrscheinlich keineswegs stabiler als der gegenwärtige Zustand. Mit dem Zusammenbruch des europäischen Abschreckungsverhältnisses zwischen Ost und West würden, vom zwischenstaatlichen System her gesehen, für die UdSSR die bisherigen Hemmnisse im Gebrauch militärischer Gewalt entfallen. Der Gewaltgebrauch könnte ausgesprochen oder unausgesprochen latent (das heißt mittels Androhung) zum wesentlichen Element der intereuropäischen Beziehungen werden. Er könnte darüber hinaus, soweit die sowjetische Führung auf diese Weise ihre Ziele nicht erreichen sollte, auch in der Form militärischer Aktionen erfolgen. Die Leiter der sowjetischen Politik haben in Fällen, auf die sich das Ost-West-Verhältnis wechselseitiger Abschreckung nicht erstreckte und in denen ein als unverzichtbar bewertetes Interesse auf dem Spiel stand, ihre Entschlossenheit zur Anwendung militärischer Gewalt deutlich gemacht, beispielsweise im Sommer 1968 hinsichtlich des tschechoslowakischen Reform-kommunismus. Der Umstand, daß es in dem kleinen, einer strikten kommunistischen Disziplin unterworfenen ostmitteleuropäischen Vorfeld der UdSSR seit 1945 wiederholt zu gewaltsamen Konflikten und militärischen Aktionen gekommen ist, läßt nicht erwarten, daß ein ungleich schwerer zu kontrollierender, ideologisch nicht mit der Vormacht verbundener gesamteuropäischer Hegemonialbereich der Sowjetunion eine gewaltfreie Entwicklung durchmachen würde. Eher im Gegenteil: Solange in Westeuropa westlich-demokratische Regime bestehen, die unkontrolliert-spontanen gesellschaftlichen Kräften einen wesentlichen politischen Einfluß ermöglichen, kann immer wieder die Gefahr eintreten, daß der Widerstreit zwischen den von oben her geltend gemachten sowjetischen Auflagen und den von unten her spürbar werdenden Massentendenzen in gewaltsame Konflikte ausmündet
Mit ihrem Verlangen nach einseitiger westlicher Abrüstung leisten Senghaas/Rittberger/Luber, auch wenn sie sich dabei von ganz anderen Erwägungen und Zielvorstellungen leiten lassen, faktisch den sowjetischen Wünschen nach einer gesamteuropäischen Hegemonialrolle Vorschub. Gleichzeitig wenden sie sich gegen die Entspannungspolitik der sozialliberalen Bundesregierung, die einen durch 'wechselseitige Abschreckung gesicherten Friedenszustand in Europa und eine durch militärische Mindestkapazitäten ermöglichte Selbstbehauptung der NATO-Staaten voraussetzt. Darüber hinaus würde der Kampf gegen die westliche Abschreckungs-und Sicherheitspolitik, wenn er zum Erfolg führte, generell die zwischenstaatliche Situation beseitigen, in der ein gewisses Maß an Entspannung möglich geworden ist. Denn nur die Aussichtslosigkeit des Versuchs, unter den Bedingungen wechselseitiger Abschreckung die Gegenseite niederzuzwingen, und die besseren Erfolgschancen, die eine Politik der teilweisen Zusammenarbeit mit dem anderen Lager bietet, haben die sich erbittert bekämpfenden Parteien des Kalten Krieges schließlich von der Nützlichkeit einer Entspannung überzeugt. Wenn die UdSSR nunmehr die Gelegenheit zu einer einseitigen Durchsetzung ihres politischen Willens in ganz Europa erhielte, würde sie nicht mehr auf die Wünsche anderer Staaten einzugehen haben, um ihren eigenen außen-politischen Zielen näherzukommen. Der im MBFR-Konzept enthaltene Grundsatz der wechselseitigen Ausgewogenheit zielt darauf ab, dieser Gefahr für die Entspannung entgegenzuwirken.
VI. Einseitige Rüstungsverringerung als allgemein befolgtes Verhaltensmodell?
Senghaas/Rittberger/Luber rechnen damit, daß ein einseitiger Verzicht auf militärische Macht bei den anderen Staaten Nachahmung finden und auf diese Weise schließlich den gesamten zwischenstaatlichen Bereich verwandeln werde. Das müßte, um für die Bundesrepublik und andere westliche Staaten bedeutsam zu sein, in erster Linie bei der UdSSR Wirklichkeit werden. Wenn sich die sowjetische Führung, so wäre die Logik, durch sich verringernde westliche Militärpotentiale weniger als bisher bedroht sähe, würde sie schließlich keinen Anlaß zu eigener Rüstung mehr sehen und die bislang dem Militär zugewandten Ressourcen lieber für produktivere zivile Zwecke benutzen. Das würde voraussetzen, daß die sowjetische Führung an zwischenstaatlicher Macht nur negativ (das heißt unter dem Gesichtspunkt der Abwehr auswärtiger Angriffe), nicht aber positiv (das heißt unter dem Gesichtspunkt der Einflußnahme auf andere Länder) interessiert wäre.
Das aber ist offensichtlich nicht der Fall. Die UdSSR hat seit Mitte der sechziger Jahre, als die westliche Seite sich auf dem europäischen Schauplatz in eine nuklear unterlegene Position begeben hatte und ihre seit jeher schwächere konventionelle Position weiter zu demontieren begann, ihr militärisches Potential in Europa energisch weiter verstärkt. Im Winter 1972/73 quittierte sie die Anzeichen für ein wachsendes westliches Interesse an Abrüstungsmaßnahmen mit einer aufsehenerregenden Verstärkung der Stationierungstruppen in der DDR, in der ÖSSR und in Polen. Das alles deutet nicht darauf hin, daß die sowjetische Führung mit zunehmender militärischer Überlegenheit verstärkt den Wunsch hegen könnte, auf ihre militärischen Machtmittel zu verzichten. Im Gegenteil: Man gewinnt den Eindruck, daß eine militärische Überlegenheit dort, wo sie entsteht, vorrangig weiter ausgebaut wird. Gegenüber einem Gegner (als welcher die westlichen Staaten auf Grund der gängigen ideologischen Definitionen von vornherein gelten) erscheint es angebracht, einen sich herausbildenden Machtvorteil immer weiter zu maximieren, bis seine Macht gebrochen ist. Folglich ist damit zu rechnen, daß eine einseitige westliche Abrüstung in Europa die UdSSR nicht zur Nachahmung dieses Beispiels, sondern zu einer entschiedenen Fortsetzung ihrer Militär-politik veranlassen würde. Die zunehmende militärische Schwäche der westlichen Staaten, so dürfte die Vorstellung sein, erhöht den politischen Wert der sowjetischen Streitkräfte: Je mehr die Abschreckung ihre Wirksamkeit verliert, desto ungehinderter läßt sich das militärische Instrumentarium als ein bestimmender Faktor in der politischen Auseinandersetzung zur Geltung bringen.
Soll das Militärpotential im Warschauer-Pakt-Bereich seinem Umfang und seinem Gewicht nach eingeschränkt werden, so ist eine einseitige Abrüstung innerhalb der NATO kein Weg zu diesem Ziel. Nur wenn die westlichen Staaten ihre militärische Macht uneingeschränkt aufrechterhalten und auf dieser Basis mit der UdSSR über ausgewogene wechselseitige Streitkräfteverringerungen verhandeln, könnte sich die sowjetische Führung schließlich zu der Einsicht bereitfinden, daß sie auf keine einseitigen westlichen Maßnahmen des militärischen Abbaus hoffen kann, für die sie keinerlei Gegenleistungen zu erbringen hätte. Erst dann wird sie erwägen, inwieweit es sich für sie lohnen könnte, mit den NATO-Staaten ein Geschäft teilweiser Abrüstung auf Gegenseitigkeit abzuschließen. Der MBFR-Vorschlag ist ein geeignetes Mittel, um die Leiter der sowjetischen Politik immer wieder vor die Frage zu stellen, ob sie mit der Entspannung tatsächlich vollen Ernst machen wollen und daher auch einem Arrangement des machtpolitischen Ausgleichs und der kriegsverhütenden Stabilität in Europa nicht ausweichen.
Gerhard Wettig, Dr. phil., geboren 1934 in Gelnhausen/Hessen, Studium der Geschichte, Slawistik und Politikwissenschaft; wissenschaftlicher Referent am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Veröffentlichungen u. a.: Entmilitarisierung und Wiederbewaffnung in Deutschland 1943 bis 1955. Internationale Auseinandersetzungen um die Rolle der Deutschen in Europa, München 1967; Die Rolle der russischen Armee im revolutionären Machtkampf 1917. Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Band 12, Berlin 1967; Politik im Rampenlicht. Aktionsweisen moderner Außenpolitik, Fischer Bücherei 845, Frankfurt 1967; (zusammen mit Ernst Deuerlein, Alexander Fischer und Eberhard Menzel) Potsdam und die deutsche Frage, Köln 1970; Das europäische Staatensystem in der sowjetischen Außenpolitik 1966— 1972, Düsseldorf 1972.
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