Es ist nun schon weit mehr als ein Jahrhundert verstrichen seit jener Wirtschaftsordnung, für die sich seit Marx-Engels, Sombart und Max Weber die Bezeichnung „Kapitalismus" eingebürgert hat, zum ersten Male der sichere Untergang vorausgesagt wurde. Im Revolutionsjahr 1848 schrieben Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest":
Mit der Entwicklung der großen Industrie wird ... unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihre eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich." 1913 lesen wir bei Rosa Luxemburg in „Die Akkumulation des Kapitals": „Der Akkumulationsprozess hat die Bestrebung, überall an Stelle der Naturalwirtschaft die einfache Warenwirtschaft, an Stelle der einfachen Warenwirtschaft die kapitalistische Wirtschaft zu setzen, die Kapitalproduktion als die einzige und ausschließliche Produktionsweise in sämtlichen Ländern und Zweigen zur absoluten Herrschaft zu bringen. Hier beginnt aber die Sackgasse. Das Endresultat einmal erreicht — was jedoch nur theoretische Konstruktion bleibt — wird die Akkumulation zur Unmöglichkeit: Die Realisierung und Kapitalisierung des Mehrwertes verwandelt sich in eine unlösbare Aufgabe ... die Unmöglichkeit der Akkumulation bedeutet kapitalistisch die Unmöglichkeit der weiteren Entfaltung der Produktivkräfte und damit die objektive geschichtliche Notwendigkeit des Untergangs des Kapitalismus."
In seiner im Frühjahr 1916 entstandenen Imperialismus-Schrift bezeichnete Lenin den Imperialismus als höchstes — und damit auch letztes — Stadium des Kapitalismus, als „verfaulenden Kapitalismus"
Vorsichtiger, aber trotzdem hinsichtlich der Zukunft des Kapitalismus ziemlich skeptisch, urteilten zwei der großen Gelehrten, die sich in unserem Jahrhundert besonders intensiv mit der theoretischen Analyse des kapitalistischen Wirtschaftssystems beschäftigten:
Sombart und Schumpeter. In dem 1927 erschienenen Schlußband seines monumentalen Kapitalismuswerkes „Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus"
Skeptischer noch zeigt sich Joseph A. Schumpeter in seinem 1942 erschienenen, aber in wesentlichen Teilen schon früher geschriebenen Werk „Capitalism, Socialism and Democracy"
Das Ergebnis des Prozesses ist nicht einfach eine Leere, die mit irgend etwas, was gerade auftaucht, ausgefüllt werden könnte;
Dinge und Seelen werden in solch einer Weise umgewandelt, daß sie der sozialistischen Form des Lebens zugänglicher werden."
Freilich sieht ein so bedeutender Denker wie Schumpeter — ähnlich wie Sombart — viel zu sehr die Vielschichtigkeit der Bedingungen, unter denen sich menschliche Existenz entwickelt, als daß er für die Zukunft des Kapitalismus eine einzige Möglichkeit akzeptieren würde. Drei Einwände macht er selbst:
„Erstens, daß wir einstweilen nichts über die Art des Sozialismus erfahren haben, der in der Zukunft dämmern mag . ,. Zweitens, daß wir gleicherweise noch nichts über den genauen Weg wissen, auf dem das Kommen des Sozialismus zu erwarten sein mag, außer daß es eine Unzahl von Möglichkeiten geben muß, die sich von einer allmählichen Bürokratisierung bis zur farbigsten Revolution erstrecken . .. Drittens, daß die verschiedenen Komponenten der Tendenz, die wir zu beschreiben versucht haben, zwar überall sichtbar sind, aber sich noch nirgends voll enthüllt haben." So gibt es denn auch nach seiner Auffassung „keine rein wirtschaftlichen Gründe, weshalb der Kapitalismus nicht noch eine weitere erfolgreiche Runde bestehen sollte"
Im Vergleich zu einer so differenzierten Betrachtung erscheint die Kapitalismusanalyse des Sowjetkommunismus grobschlächtig, un-differenziert, eingleisig. In der Nachfolge Lenins ist sie ganz auf die These von dem nahe bevorstehenden, geschichtsnotwendig eintretenden Ende des Kapitalismus eingeschworen. So prophezeit das 1961 angenommene Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion in der Überschrift seines ersten Abschnittes „die historische Unvermeidlichkeit des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus", und es heißt darin
Wenn heute die „Neue Linke" — meist recht unreflektiert und in undifferenzierter Generalisierung von Tatbeständen, die im einzelnen richtig sind, nicht aber in solcher Verallgemeinerung — unsere gesellschaftliche Situation als „Spätkapitalismus" bezeichnet, so zeigt sich in der Verwendung dieses Terminus ebenfalls die Auffassung, daß der Kapitalismus in ein Stadium nahe vor seinem Ende eingetreten sei. Gegenstand der Diskussion kann dann höchstens noch die Frage sein, ob die „Systemüberwindung" durch gewaltsame Revolution oder durch kontinuierlich fortschreitende „Reformen" erreicht werden kann oder soll.
Eine solche Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung ist, wenn wir in sie die heutige Realität des Ost-West-Verhältnisses einführen, eine sehr einseitige Konvergenz-theorie: nicht Entwicklung beider Systeme aufeinander zu, sondern völlige Verdrängung des „kapitalistischen." durch das „sozialistische" System. Sie ist damit das genaue Gegenbild jener westlichen Auffassungen, die lange Zeit hindurch an den unausbleiblichen Zusammenbruch der „östlichen" sozialistischen Systeme glaubten. Solche Erwartungen waren sicherlich viele Jahre hindurch sowohl ideologisch als auch politisch relevant; sie sind aber im Westen inzwischen zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken. In den kommunistisch regierten Ländern dagegen spielt die Lehre von dem geschichtsnotwendig kommenden Zusammenbruch des Kapitalismus und dem ebenso geschichtsnotwendigen Übergang zum Sozialismus noch immer eine sehr bedeutende Rolle
Vergleicht man die heutige Wirklichkeit mit den zahlreichen Prognosen, die den nahe bevorstehenden Untergang des Kapitalismus mit Gewißheit voraussagen zu können glaubten (hier konnten dafür nur einige Beispiele gebracht werden), so muß es erstaunen, daß in den meisten entwickelten Industrieländern ein Wirtschaftssystem sich zu halten vermochte, das durch überwiegendes Individualeigentum an Produktionsmitteln, Unternehmer-initiative sowie Markt-und Preismechanismus charakterisiert ist, das also „kapitalistisch" ist (wieweit der Begriff „Kapitalismus" noch auf unsere heutigen Ordnungen zutrifft, wird an späterer Stelle zu erörtern sein). Freilich wird niemand so töricht sein zu bestreiten, daß auch diese Ordnung der „unternehmerischen Marktwirtschaft" im Laufe der letzten Jahrzehnte erhebliche Veränderungen durchgemacht hat; und ebenso ist es offenkundig, daß auch die Wirtschaftssysteme in den kommunistisch regierten Ländern Wandlungen erlebt haben, die nicht nur formalen Charakter tragen
Ein neuer Aspekt der Konvergenztheorie
Horst Heimanns Schrift „Demokratischer Sozialismus in Ost und West"
Diese Vision Heimanns ist so bedeutsam, daß sie einer gründlichen Überprüfung bedarf; denn hier wird den Menschen, die heute in einer sehr unheilen, von tiefen und lebens-gefährdenden Gegensätzen zerrissenen Welt leben müssen, das Bild einer heilen Zukunftswelt gezeichnet — noch dazu ein Bild, in dem auch die Lösung unseres schwierigsten und bedrückendsten nationalen Problems, die Wiedervereinigung, seinen Platz findet. Und für den Verkünder dieser nahezu chiliastisehen Hoffnung ist sie eine „konkrete Utopie", eine realisierbare Utopie also. Bisher Menschen dieses schlimmen -wir waren Jahr hunderts daran gewöhnt, daß moderne Utopien — im Gegensatz zu den meisten des 18. und 19. Jahrhunderts — eine düstere Zukunftswelt der Unfreiheit und Inhumanität zeichneten, mochte es sich nun um die „brave new world" des Aldous Huxley oder um die Welt von 1984 George Orwells handeln. Im Gegensatz zu solchen pessimistischen Utopien wagt es nun Horst Heimann, sein Zukunftsbild nach dem „Prinzip Hoffnung" zu gestalten.
Wer würde bestreiten, daß dies ein Zukunftsbild ist, das begeistern könnte? Bei seiner Verwirklichung wären in der Tat die Gegensätze und Widersprüche zwischen Kapitalismus und Sozialismus auf einer höheren Ebene „aufgehoben", das Reich der Freiheit wäre nahe herangekommen. Aber ist das wirklich eine „konkrete Utopie", wie es der Titel der Heimannschen Schrift verspricht? Oder ist es nicht doch eine bestimmte Ausprägung des „realitätsfernen Utopismus", den Heimann — mit Recht — der Protestbewegung der „kritischen jungen Generation" vorwirft
Für eine kritische Analyse der Heimannschen Ideen ist es zunächst nötig, die Kräfte zu untersuchen, die nach seiner Meinung zur Konvergenz der Systeme führen werden. Ein großer Teil der westlichen Konvergenztheo-retiker glaubt, daß es die Gesetzmäßigkeiten der modernen Industriegesellschaft sind, die — ob gewollt oder nicht — zu konvergenter Entwicklung zwingen
Gibt man aber die These auf, daß Konvergenz das Ergebnis der Sachzwänge moderner Industriegesellschaften ist und als solche geschichtsnotwendig, unabhängig von den heute herrschenden Gesellschaftsund Wirtschaftssystemen, die Entwicklungen im Osten ebenso wie im Westen bestimmt, dann macht man ihre Verwirklichung zu einer Sache voluntaristischer Entscheidungen. Die Beantwortung der Frage, ob es zur Konvergenz kommt oder nicht, bekommt damit einen erheblichen Unsicherheitsgrad. Da Heimann aber — nach meiner Meinung zu recht — selbst nicht an die Zwangsläufigkeit der Konvergenz glaubt, bewegt er sich mit seinen Thesen auf schwankendem Boden. Die Erfüllung seiner Forderungen müßte für unsere eigenen Ordnungen sehr schwerwiegende Konsequenzen haben. Nur dann könne, so sagt Heimann selbst, die westliche Politik wirksam zur Überwindung des Ost-West-Gegensatzes und damit zur Neuvereinigung Deutschlands beitragen, wenn sie „durch systemüberwindende innere Reformen das kapitalistische Wirtschafts-und Gesellschaft-system schrittweise verändert". Nur wenn sich die westlich-kapitalistische Gesellschaft zum demokratischen Sozialismus entwickele, könnten sich in Osteuropa die Anhänger eines demokratischen Sozialismus mit menschlichem Gesicht durchsetzen (S. 20).
Ich will hier die Frage nicht erörtern, ob dieses so apodiktisch behauptete „Nur wenn ..." gerechtfertigt ist. Die Auseinandersetzung darüber wird durch die mangelnde begriffliche Präzision der Aussagen Heimanns über den Sozialismus erschwert; davon wird noch die Rede sein. „Systemüberwindende Reformen" bedeuten für Heimann aber doch offensichtlich Reformen, die zum Sozialismus hinführen, also doch mindestens für große Teile der Ordnungen menschlichen Zusammenlebens Kollektivierung bedeuten. Ist aber die Annahme so völlig unrealistisch, daß eine nichtkollektivistische Ordnung, im Wirtschaftsleben also eine unternehmerische Marktwirtschaft, wenn sie mit einem entsprechenden Maß sozialer Sicherungen und Interventionsmöglichkeiten ausgestattet ist, die Massenwohlstand, ein hohes Maß individueller Freiheit und ein ausreichendes Maß sozialer Sicherung bietet, nicht auch für die Masse der Arbeitnehmer attraktiv sein kann?
Mindestens die USA bieten doch ein Beispiel dafür; trotz der Existenz zahlenmäßig nicht unbedeutender Gruppen von Unterprivilegier-
ten haben hier sozialistische, geschweige denn kommunistische Ideen nie nennenswert Boden gewinnen können, sie haben sich als Basis der Bildung politischer Parteien ganz unbrauchbar erwiesen, und die amerikanischen Gewerkschaften treten zwar sehr massiv für die Verbesserung der Arbeitsund Lebensbedingungen ihrer Mitglieder ein, der Gedanke an „systemüberwindende Reformen"
liegt ihnen und offenbar dem größten Teil ihrer Mitglieder jedoch sehr fern.
Aber auch wenn man die Meinung akzeptiert, daß die Menschen in den osteuropäischen Ländern in ihrer Mehrheit für eine nichtsozialistische Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung nicht zu gewinnen seien: wer gibt auch nur eine bescheidene Sicherheit dafür, daß von solchen systemverändernden Reformen in Westeuropa wirklich eine „ansteckende" Wirkung auf die übrigen Länder des östlichen Paktsystems ausgehen würde? Heimann glaubt, das vom Beispiel der Tschechoslowakei 1968 behaupten zu können, ohne aber einen Beweis dafür zu bringen. Es liegt mir fern, die Möglichkeit einer solchen „Ansteckung" bestreiten zu wollen;
noch weniger aber darf man, so meine ich, , die Hemmungskräfte für ihre Ausbreitung übersehen und die Machtmittel unterschätzen, die den Herrschenden mit den heutigen politischen Systemen im Osten in die Hand gegeben sind
Mir scheint, daß Heimann — und bei ihm als Politologen wirkt das seltsam — den Faktor der Macht hier beträchtlich unterschätzt. Die neuen Führungsschichten in Osteuropa, die durch das, was sie Sozialismus nennen, in den Besitz der Macht gekommen sind, werden gewiß nicht freiwillig auf diese Macht und all die Annehmlichkeiten, die deren Besitz und Gebrauch mit sich bringt, verzichten. Die „führende Rolle der Partei" (das bedeutet: der Führungsgremien der Partei) gehört zu den eisern behaupteten Grund-dogmen, und die Gefährdung dieser Führungsrolle durch den Emanzipationsprozeß, der sich in der Tschechoslowakei abspielte, ist sicherlich der entscheidende Grund für die militärische Intervention des 21. August 1968 gewesen; ich bin überzeugt davon, daß die Wirtschaftsreformen allein — so wenig sympathisch sie sicherlich der Führung im Kreml waren — eine so extreme Reaktion nicht hervorgerufen hätten.
Die Bedeutung dieses Tatbestandes wurde in den Diskussionen, die damals SED-Ideologen mit den tschechoslowakischen Reformern führten, sehr deutlich’. Ein Beispiel dafür; Nach dem Einmarsch der Truppen des War-schauer Paktes in die Tschechoslowakei veröffentlichte Prof. Dr. Gerhard Schulz vom Institut für Gesellschaftswissenschaften der SED im „Neuen Deutschland"
Ganz ähnliche Gedanken waren im Herbst 1972 in der „Zeitschrift für Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus" und der vom Zentralkomitee der SED herausgegebenen Zeitschrift „Einheit" vertreten worden, in deren Heft 8 des Jahrgangs 1972 sich mehrere Aufsätze mit dem Thema der „friedlichen Koexistenz" beschäftigten. U. a. hieß es darin in einem von einem Autorenkollektiv (Joachim Böhm, Bruno Mahlow, Manfred Uschner) verfaßten Aufsatz „Leninsche Politik der friedlichen Koexistenz im Klassenkampf der Gegenwart"
Diesen wenigen Beispielen könnten aus der DDR, der Sowjetunion und den anderen Ostblockländern unzählige andere an die Seite gestellt werden. Heimann
Aber er glaubt trotz dieser Ablehnung der Konvergenztheorie durch die östlichen Machthaber die Möglichkeit der Realisierung seiner Vision bejahen zu können, da sie „eine Konzeption und eine praktische Politik für die Überwindung des Ost-West-Gegensatzes nicht unmöglich" mache. Der Grund für die östliche Ablehnung der Konvergenztheorie sei nicht in einem unabänderlichen theoretischen Prinzip zu sehen, sondern in dem verstärkten politischen und ideologischen Erosionsprozeß innerhalb des sozialistischen Lagers, „also in realen politischen Faktoren, die sich ändern können“. Eine solche Änderung, so meint Heimann, wäre vor allem dann zu erwarten, wenn das westliche kapitalistische System sich zum Sozialismus entwickele.
Zum Begriff des demokratischen Sozialismus
Die Auseinandersetzung mit dieser für Heimanns Gedankengang zentralen These wird freilich dadurch erschwert, daß er einige dafür sehr wichtige Begriffe nicht oder nur undeutlich definiert, nicht zuletzt den Begriff des „demokratischen Sozialismus" in Abgrenzung gegenüber dem Kommunismus sowjetischer Unter Prägung, „Sozialismus" subsumiert er (S. 26) so verschiedene „Strömungen" wie „die sozialdemokratische, die christliche, die kommunistische und die Neue Linke", und er postuliert, daß sie zusammengefaßt „trotz unterschiedlicher Tendenzen" zu einer politischen Kraft werden könnten, die stark genug wäre, „in Ost und West systemüberwindende Tendenzen in Richtung eines demokratischen Sozialismus durchzusetzen". Das kann aber doch nur bedeuten, daß nach Heimanns Meinung die Verwandtschaft zwischen all diesen von ihm dem Sozialismus zugerechneten Richtungen größer ist als zwischen ihnen und irgendeiner nichtsozialistischen Form des Wirtschaftsund Gesellschaftssystems.
Diese These Heimanns erschreckt mich. Ich glaubte bisher — was mir nach wie vor durch viele Aussprüche führender westdeutscher Sozialdemokraten bekräftigt zu sein scheint —, daß die westdeutsche Sozialdemokratie mit dem Kommunismus in allen seinen uns bisher bekannten realen Erscheinungsformen wesentlich weniger verwandt ist als mit einer „bürgerlichen" Demokratie. Für sie beide ist doch die Bejahung der westlichen Formen der Demokratie und die Erhaltung einer optimalen Freiheitssphäre des Individuums ein zentrales Anliegen; für den realen Kommunismus ist sie es nicht. Selbst in der „liberalsten" Form, in der uns Kommunismus heute begegnet, der jugoslawischen, werden der intellektuellen Auseinandersetzung und der Wirksamkeit autonomer gesellschaftlicher Kräfte relativ enge Grenzen gezogen. Hier macht sich nun eben die Unschärfe bemerkbar, mit der Heimann den Begriff „Sozialismus" behandelt. Der Autor weiß doch genau, wie vieldeutig und schillernd dieser Begriff in der Geschichte der Sozialwissenschaften und der Gesellschaftspolitik gewesen ist. Ein so guter Kenner dieser Geschichte wie Carl Grünberg schrieb vor 40 Jahren
„Was den Begriff des Sozialismus anbelangt, so identifiziert ihn der herrschende Sprachgebrauch regelmäßig mit dem des Kommunismus. Er umfaßt jene Theorien und jene Massenbewegungen, die — in bewußtem Gegensatz zum Privateigentum als der überlieferten Grundlage unserer herrschenden Gesellschafts-, Wirtschafts-
und Rechtsordnung — den Neuaufbau der letzteren auf Basis des Gemein(Kollektiv-) -
eigentums fordern und anstreben. Diese Forderung eignet sämtlichen sozialistischen Doktrinen und sie bildet das Kriterium für die Zugehörigkeit eines Systems gesellschaftlicher Reform zum Sozialismus".
Dies ist offensichtlich nicht der Sozialismus-begriff Heimanns. Für ihn sind Sozialismus und Kommunismus nicht identisch
„Wenn auch im Rahmen systemüberwindender Reformen die private Verfügungs-gewalt der wenigen Eigentümer über die Produktionsmittel abzubauen ist, so wird doch die Verstaatlichung nur von den Apologeten des Kapitalismus und von den Vulgärmarxisten als Hauptproblem angesehen."
Was aber ist Sozialismus dann? Man wird schwerlich behaupten können, daß die von Heimann auf diese Frage gegebene Antwort sehr klar und exakt sei. „Eine gesellschaftlich geleitete und kontrollierte Wirtschaftsordnung", die neue Kriterien für ökonomische Entscheidungen und Prioritäten erforderlich macht, Sozialismus als „nicht nur ein institutionelles und technokratisches, sondern auch ein normatives Problem" (S. 22) — das sind Formulierungen, mit denen recht verschiedene Vorstellungen von der Realisierung des Sozialismus in den Ordnungsformen menschlichen Zusammenlebens verbunden werden können.
Deutlicher wird die Einstellung des Autors allerdings, wenn man den mehrfach wiederkehrenden Terminus der „systemüberwindenden Reformen" einbezieht. Heimann sagt ganz deutlich, daß er darunter die Überwindung des kapitalistischen Wirtschaftsund Gesellschaftssystems", d. h. auch des heutigen Wirtschaftsund Gesellschaftssystems der Bundesrepublik Deutschland versteht. Nun gibt er freilich für den „Kapitalismus" genau so wenig eine klare Definition wie für den „Sozialismus". Aber die Notwendigkeit der „Überwindung" dieses Systems wird von ihm eindeutig bejaht; sie erscheint ihm so selbstverständlich, daß er auf die Beibringung von Argumenten zum Beweis dieser Notwendigkeit fast ganz verzichtet.
In der Tat ist ja die Gleichsetzung der Wirtschafts-und Gesellschaftssysteme der entwik-kelten westlichen Industrieländer mit „Kapitalismus", meist unter Anwendung der oben schon erwähnten Bezeichnung „Spätkapitalismus", für die „Neue Linke" generell geradezu ein Axiom, das keiner Diskussion bedürftig ist. Aber ist denn unser heutiges „System" wirklich noch identisch mit dem, was Marx als die „kapitalistische Produktionsweise", was Sombart, Max Weber und unzählige andere als „Kapitalismus" bezeichneten? Sind seine Angriffsflächen die gleichen und gleich groß wie vor 125 Jahren, als Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest" den schärfsten Angriff gegen die bürgerliche Klassengesellschaft richteten und mit ihrer Verheißung der an ihre Stelle tretenden „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines Jeden die Bedingung für die freie Entwicklung Aller ist", eine ähnlich heile Welt der Zukunft verkündeten, wie Horst Heimann das, wenn auch mit anderen Worten, tut? „Kapitalismus" bedeutet, wie auch immer man sonst dies vieldeutige Wort auslegt, ein Wirtschaftssystem, in dem Menschen, die keine Produktionsmittel besitzen, als Arbeiter oder Angestellte ihre Arbeitskraft an die Eigentümer der Produktionsmittel verkaufen und dadurch die Grundlage ihrer materiellen Existenz (oder doch wenigstens für deren entscheidenden Teil) erarbeiten. Solche Menschen — und nur solche Menschen, nicht aber kleine Selbständige, deren materielles Niveau vielleicht ebenso schlecht oder noch schlechter war — nannte Marx Proletarier.
Die Kritik am Kapitalismus richtete sich zunächst gegen die materielle und soziale Lage der Proletarier, die auf Grund ihrer Eigentumslosigkeit den privaten Eigentümern der Produktionsmittel unterlegen waren und deshalb von ihnen „exploitiert", ausgebeutet wurden. Dabei übersahen Marx und Engels keineswegs die von der „Bourgeoisie" erbrachte ökonomische Leistung
Kapitalismus ist nach dieser Aufassung also eine Weise des Wirtschaftens, die den Kapitalbesitzern nicht nur ein überdurchschnittlich hohes Einkommen, sondern auch eine Machtposition verschafft, die zunächst ökonomische Macht ist, allerdings im Marktgeschehen sehr eingeschränkt durch die Konkurrenz, sicherlich aber ökonomische Macht gegenüber den kapitallosen Arbeitnehmern, die aber darüber hinaus auch in politische Machtpositionen transformiert werden kann. Den grundsätzlich gleichen Charakter glaubt die „Neue Linke" auch der heutigen Epoche zusprechen zu dürfen; wenn sie diese als „Spätkapitalismus"
Solche „Systemüberwindung" ist aber nicht vorstellbar ohne Veränderung der Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln, wenigstens an deren überwiegendem Teil
Ist „Systemüberwindung" notwendig?
Gerade die Gleichsetzung der heutigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der meisten entwickelten westlichen Industrieländer, darunter auch der Bundesrepublik Deutschland, mit dem liberalen Kapitalismus ist der Irrtum, durch den ein großer Teil der Kritik der „Neuen Linken", aber auch mancher Anhänger eines demokratischen Sozialismus, die sich keineswegs zur „Neuen Linken" rechnen, unrealistisch wird. Die wirtschaftliche und soziale Welt von 1973 ist recht verschieden von der Welt des Jahres 1848, in dem Marx und Engels das Kommunistische Manifest schrieben. Eine umfassende Auseinandersetzung mit der heutigen „Kapitalismus" -Kri-tik wäre in der hier vorgelegten kleinen Studie schon aus räumlichen Gründen unmöglich. Sechs nach meiner Auffassung erstrangig wichtige Punkte möchte ich jedoch hervorheben: 1. Die staatliche Sozialpolitik und Sozialversicherung haben in die Marktwirtschaft und damit auch in den Arbeitsmarkt weit mehr soziale Sicherungen eingebaut, als Marx und Engels das vermutlich je für möglich gehalten hätten. Die Marktstellung der „Arbeitnehmer" ist dadurch im Vergleich zu früher beträchtlich verbessert worden. 2. Eine kaum geringer zu wertende Verbesserung ist durch das Wirken der Gewerkschaften erreicht worden, deren Bedeutung für die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeitnehmer von Marx beträchtlich unterschätzt wurde.
3. Eine der Grundannahmen der Marxschen Theorie, die Existenz und wachsende Bedeutung einer „industriellen Reservearmee"
in den industriell entwickelten Ländern, ist durch die Tatsachen weitgehend widerlegt worden. Dauernde Massenarbeitslosigkeit bzw. Unterbeschäftigung ist heute gerade für viele industriell unterentwickelte Länder charakteristisch.
4. Fast in allen entwickelten westlichen Industrieländern befinden sich nicht geringe Teile des Produktivkapitals in öffentlichem Eigentum.
5. Die durch Technik und Wirtschaftssystem ermöglichte gewaltige Produktionssteigerung verbunden mit dem Wandel der Sozialstruktur (starke Zunahme des Anteils der Unselbständigen) ließ die Nachfrage der Arbeitnehmer und damit deren Kaufkraft zu einem wichtigen Element kontinuierlicher Wirtschaftsentwicklung werden.
Der Lohn ist also auch für die Unternehmer nicht mehr nur Kostenfaktor, sondern auch Kaufkraftträger.
6. In einer parlamentarischen Demokratie mit allgemeinem gleichem Stimmrecht hat die Arbeitnehmerschaft auf Grund ihrer beträchtlichen Zahl — auch wenn sie verschiedenen Parteien angehört — einen bedeutenden Einfluß auf die Gesetzgebung.
Durch all diese und noch andere Entwicklungen — es handelt sich bei den genannten sechs Punkten keineswegs um eine vollständige Aufzählung — ist (namentlich seit dem Ende des Ersten Weltkrieges) sowohl die ökonomische als auch die politische Machtstellung der Kapitaleigner so erheblich eingeschränkt worden, daß mindestens für einen Teil der entwickelten Industrieländer die mit soviel Emotionen befrachtete Bezeichnung „Kapitalismus" nicht oder nur noch sehr bedingt zutrifft. Daß eine solche Feststellung nicht „bürgerliche Apologetik" ist, dafür möge ein bedeutender sozialistischer Denker, Eduard Heimann, Zeugnis ablegen. In seinem 1961 abgeschlossenen Buch „Soziale Theorie der Wirtschaftssysteme"
Der subtile Gedankengang Eduard Heimanns, den er zuerst in seinem 1929 erschienenen Buch „Soziale Theorie des Kapitalismus" entwickelte, besagt, daß der Kapitalismus ohne die Hereinnahme der sozialen Sicherungen nicht hätte weiterleben können, obwohl er gerade dadurch entscheidend umgewandelt, d. h. immer weniger „Kapitalismus" wurde. Diese im System vor sich gegangene Veränderung will freilich ein großer Teil seiner heutigen antikapitalistischen Kritiker nicht sehen. Wenn diese so gern und oft bei Andersdenkenden „undifferenzierten Antikommunismus" feststellen wollen, so kann ihrer Kritik an unserem Wirtschaftsund Gesellschaftssystem mit nicht geringerem Recht „undifferenzierter Antikapitalismus“ vorgeworfen werden.
Die heutige Kritik am „Kapitalismus" richtet sich im allgemeinen kaum gegen seine ökonomische Leistungsfähigkeit. Diese Leistungsfähigkeit war ja, wie sich aus dem Zitat in Anm. 25 ergibt, auch von Marx anerkannt worden. Man muß schon recht blind gegenüber der Wirklichkeit sein, wenn man nicht sieht, welch gewaltige dynamische Kräfte durch die unternehmerische Marktwirtschaft entfesselt worden sind und noch immer entfesselt werden.
Deshalb richtet sich auch die Kapitalismus-kritik vor allem gegen die behaupteten Auswirkungen dieses Systems auf die soziale Lage der Arbeitnehmer und auf die Grundbefindlichkeiten menschlicher Existenz, für die heute immer häufiger der vieldeutige Ausdruck „Qualität des Lebens" gebraucht wird;
oder aber es wird, noch fundamentaler, der Wert dieser ökonomischen Leistung in Zweifel gezogen oder negiert. Man kann unter „Qualität des Lebens" sehr viel verstehen;
„Umweltfreundlichkeit" der wirtschaftlichen Prozesse und der Anwendung ihrer Ergebnisse (vor allem des PKWs), genügend Freizeit ebenso wie deren sinnvolle Nutzung, Befreiung von der „Entfremdung", Berücksichtigung ästhetischer Werte und noch manches andere mehr. Negativ ist darunter vor allem zu verstehen, daß der Sinn menschlicher Existenz nicht nur in maximaler Produktion und maximalem Konsum materieller Güter bestehen darf. Verfolgt man diesen Gedanken aber weiter, so kommt man bald an die Grenzen der Möglichkeiten, die sich durch die Gestaltung der Wirtschaft ergeben. Ein noch so gutes Wirtschaftssystem kann immer nur die Grundlagen für sinnerfüllte menschliche Existenz schaffen, niemals aber selbst der Existenz der Mehrzahl der Menschen Sinn geben. Sicherlich steckt in der genannten Kritik an ungünstigen Wirkungen der modernen Wirtschaft und Technik Richtiges und Wesentliches, und ebenso sicher ist dieses Richtige und Wesentliche in der Vergangenheit vielfach übersehen oder zü gering eingeschätzt worden
Hier könnte der Einwand kommen, daß bei einer gleichmäßigeren Einkommensverteilung, vor allem durch Beschränkung der Besitzeinkommen, der Luxuskonsum vor allem der „müßigen Reichen" beschränkt werden könne. Diese These ist zwar an sich richtig, nicht aber die . daraus gezogene Konsequenz. Es wird dabei etwas übersehen, was an sich eine Banalität ist (aber bei der weitverbreiteten Unkenntnis auch banaler wirtschaftlicher Tatbestände und Zusammenhänge ist es leider notwendig, auch Banalitäten immer wieder zu sagen): ein beträchtlicher Teil der höheren und hohen Einkommen wird nämlich nicht zur Konsumfinanzierung verwendet, sondern in Kapital umgewandelt und dient damit der Investitionsfinanzierung. Eine völlig gleichmässige Einkommensverteilung, bei der die niedrigen Einkommen fühlbar stiegen, würde deshalb mit Sicherheit sogar zu einer insgesamt vergrößerten Nachfrage nach Konsumgütern (unter Einschluß der für die individuelle Bedarfsdeckung bestimmten Dienste, z. B. Wohnraumversorgung und Tourismus) führen; damit würde es notwendig, neue Wege (z. B.der Besteuerung) zu finden, um die Mittel für die Investitionsfinanzierung sicherzustellen. Investitionen sind aber eine mit keiner Dialektik hinwegzudiskutierende Notwendigkeit, solange Bevölkerung, Bedürfnisse und Wirtschaft wachsen.
Hier höre ich schon den Einwand: aber warum muß denn die Wirtschaft wachsen? Wenn heute in den entwickelten Industrie-ländern zwischen einem Fünftel und einem Viertel des Volkseinkommens für Investitionen (die sozialistische Theorie sagt „Akkumulation") aufgewendet werden
Besonders alarmierend haben in dieser Beziehung die Ergebnisse einer am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge durchgeführten Untersuchung gewirkt, die auch in deutscher Übersetzung erschien
Die pessimistische Betrachtung des Wirtschaftswachstums und seiner Konsequenzen ist wieder einmal ein Beweis dafür, wie rasch sich die (in wirtschaftlichen Dingen oft nicht sehr gut orientierte)" öffentliche Meinung“ wandeln kann. Noch vor wenigen Jahren war rasches Wirtschaftswachstum ein allgemein anerkanntes Ziel, dem in dem sog. „magischen Viereck" der Ziele der Wirtschaftspolitik — Vollbeschäftigung, kontinuierliches Wachstum, stabiler Geldwert, ausgeglichene Zahlungsbilanz — erstrangige Bedeutung zugemessen wurde. Längere Zeit hindurch erschien es nicht ungerechtfertigt, von einer Fetischisierung des Wirtschaftswachstums zu sprechen; der Erfolg der Wirtschaftspolitik wurde weitgehend am Wachstum des Bruttosozialprodukts gemessen
Diese Notwendigkeit ergibt sich nicht zuletzt daraus, daß in allen Entwicklungsländern das materielle Niveau der großen Mehrheit der Menschen noch weit unter dem liegt, was nach westlichen Begriffen als menschenwürdig angesehen werden kann und was auch in aller Regel von ihnen selbst als notwendig angestrebt wird. Daß das nicht ohne Entwicklungshilfe der entwickelten Länder erreicht werden kann und daß der bisherige Umfang diese Hilfe nicht ausreicht, um in einem vernünftigen Zeitraum eine Angleichung zu erzielen, wird schwerlich bestritten werden können. Das bedeutet aber, daß in den entwickelten Ländern das Sozialprodukt als Quelle für die Entwicklungshilfe wachsen muß, es sei denn, ihre Bürger wären, um ausreichende Hilfe zu ermöglichen, mit einer Senkung ihres materiellen Standards einverstanden — eine wohl recht unrealistische Annahme. Das Gleiche gilt für alle an Zahl wachsenden Völker; auch sie haben nur die Wahl zwischen Vergrößerung des Sozialprodukts und damit mindestens gleichbleibendem Standard oder verringerter Konsumquote je Kopf.
Hinzu kommt, daß selbst in den wirtschaftlich am höchsten entwickelten Ländern noch keineswegs die Gesamtheit ihrer Bürger ein sie voll befriedigendes materielles Niveau erreicht hat; denn auch in dem reichsten Land der westlichen Welt, den Vereinigten Staaten, gibt es noch Armutsinseln, und nicht unerhebliche Schichten bleiben noch hinter dem erstrebten Minimum (das allerdings nach westeuropäischen Maßstäben sehr hoch liegt) zurück. Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik läßt immer wieder neue Güter und neue Bedürfnisse entstehen, letztere keineswegs nur durch künstliche Manipulation. Und schließlich: Gerade die Reformen, die von den Kritikern unserer heutigen Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung so dringend gefordert werden (z. B. im Bildungs-und Gesundheitswesen und für de Umweltschutz), stellen erhebliche Ansprüche der Finanzierung und damit an das Sozialprodukt.
Noch also leben wir in einer Welt, in der wirtschaftliches Wachstum als unabdingbare Notwendigkeit erscheint
Vielen Kritikern, nicht nur aus den Reihen der „Neuen Linken", wird der Zugang zu dieser Einsicht versperrt, weil sie die Bedeutung der individuellen Initiative, vor allem der unternehmerischen Initiative zu gering einschätzen. Die Unternehmer bzw. Untemeh-mensleiter
Mit dem bisher Gesagten soll nun gewiß nicht unsere heutige Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung als vollkommen und jeder Kritik standhaltend bezeichnet werden. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn Horst Heimann die heutige VermögensVerteilung in der Bundesrepublik Deutschland als „ungerecht", also als reformbedürftig bezeichnet, so wird ihm wohl kein objektiver Beurteiler widersprechen wollen. Hier und in nicht wenigen anderen Punkten sind Veränderungen, sind Reformen und Korrekturen notwendig. Die entscheidende Frage aber ist: Sollen diese Reformen und Korrekturen das bestehende System verbessern, es vor allem unter Aufrechterhaltung seiner ökonomischen Leistungsfähigkeit menschlicher machen — oder soll ihr Ziel die Systemüberwindung sein?
Die Kritik der „Neuen Linken", aber ebenso auch die Kritik Horst Heimanns zielt eindeutig auf Systemüberwindung. Das wäre dann gerechtfertigt, wenn einmal die Grundprinzipien dieses bestehenden Systems sich durch Erfahrung und intellektuelle Kritik als unhaltbar erwiesen hätten und wenn der Nachweis erbracht worden wäre, daß unabdingbare Reformen innerhalb dieses Systems nicht realisierbar wären. Die zweite Voraussetzung ist, daß die Ordnungsformen, zu denen die „Systemüberwindung" führen soll, eindeutig als den bisherigen überlegen, als für die große Masse der Menschen lebensfördernder nachgewiesen werden könnten. Den ersteren Nachweis hat Horst Heimann mit seiner recht pauschalen und wenig in die Tiefe gehenden Kritik am „Kapitalismus" nicht geführt. Die zweite Frage — die nach dem Nachweis der Überlegenheit des Sozialismus — wird im folgenden zu untersuchen sein.
Die Verheißungen des Sozialismus und die Wirklichkeit
Wenn Heimann wie so viele andere Kritiker unserer westlichen Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung das Ziel der „Überwindung" dieses Systems geradezu als Axiom betrachtet, so erscheint ihm auf der anderen Seite der „Sozialismus" als nahezu problemlose heile Welt der Zukunft. Wie steht es in dieser Beziehung mit dem Verhältnis zwischen Ideal und Wirklichkeit? An diesem Punkte unseres Gedankengangs muß nachdrücklich auf eine wissenschaftlich unhaltbare Methode hingewiesen werden, die der amerikanische Nationalökonom Gregory Grossman folgendermaßen gekennzeichnet hat
„Es ist legitim, ideale oder reine Systeme zu vergleichen, oder aktuelle Volkswirtschaften untereinander, oder ein aktuelles System mit seinem eigenen Idealtyp. Es ist nicht legitim, eine aktuelle Volkswirtschaft mit einem Idealmodell von anderer Art zu vergleichen (beispielsweise die amerikanische Wirklichkeit mit einem abstrakten Modell des Sozialismus, oder die sowjetische Wirklichkeit mit einem Idealtyp des Kapitalismus), obwohl oft nicht sehr bedenkliche oder einfach gedankenlose Politiker und Propagandisten ihre Zuflucht gerade zu diesem Trick nehmen."
Nicht nur in den USA, sondern auch bei uns wird nicht selten dieser „Trick" verwendet, eine konkret existierende Ordnung, z. B. eine existierende unternehmerische Marktwirtschaft, einem idealtypischen Modell, z. B. einer Synthese von Sozialismus, Demokratie und Freiheit gegenüberzustellen. Natürlich fährt dann die Realität schlecht; denn jede real existierende Ordnung, sei sie politisch oder wirtschaftlich, ist, da sie Menschenwerk ist, immer eine unvollkommene, mit vielen Mängeln und Schwächen behaftete Ordnung. Mögen wir noch so sehr nach dem Ideal streben: in der unvollkommenen Wirklichkeit können wir doch immer nur nach der unter den gegebenen Verhältnissen am wenigsten schlechten Ordnungsform suchen und versuchen, sie durch Reformen zu verbessern. Auch die gläubigen Vertreter des Sozialismus
Gerade hinsichtlich der materiellen Leistung für den Lebensstandard der breiten Massen der Arbeitnehmer
Im Jahre 1971 betrugen die durchschnittlichen monatlichen Altersrenten: in der DDR im Durchschnitt aller Altersrenten der Sozialversicherung 209, 69 Mark, in der Bundesrepublik in der Rentenversicherung der Arbeiter 328 DM, der Angestellten 546 DM
Kann es da eigentlich noch einen Zweifel darüber geben, daß für die weitaus überwiegende Mehrheit der Arbeiter und Angestellten die materielle Lage in der Bundesrepublik sowohl während ihres Arbeitslebens als auch im Rentenalter beträchtlich besser ist als in der „sozialistischen" DDR? Heimann selbst ist ja auch der Überzeugung (S. 19), daß „die für die innere Stabilität des Ostblocks gefährliche Anziehungskraft des Westens ... sich vor allem aus der materiellen Überlegenheit der höher entwickelten und stärker konsolidierten westlichen Konsumgesellschaft" ergibt.
Könnte nun aber nicht dieser Rückstand im materiellen Niveau ausgeglichen werden durch Vorzüge immaterieller Natur, z. B. Beseitigung oder doch wenigstens Abbau der „EntfTemdung“, die für Marx — namentlich den jungen Marx — eine so große Rolle spielte? Wir rühren damit an ein Problem, das ebenso bedeutsam wie schwer lösbar ist. Der Grad der Entfremdung ist statistisch nicht meßbar, da es sich dabei ja um ein in höchstem Maße qualitatives Problem handelt, und es gibt kaum empirisch-soziologische Untersuchungen aus irgendeinem der Länder mit sozialistischer Ordnung, die ein durch Fakten fundiertes Urteil darüber gestatten würden. Wenn Marx als einen der wesentli-chen Aspekte der Entfremdung ansah, daß die Waren, die der Arbeiter produziert, ihm als „entfremdete Gewalten" gegenüberstehen, so muß doch gefragt werden, ob das auf das Wirtschaftssystem oder auf die moderne Technik mit der Unabdingbarkeit der Arbeitszerlegung im Produktionsprozeß zurückzuführen ist. Auf diese läßt sich, wenn man ein hohes Maß ökonomischer Effizienz erreichen will — und daß diese unter den heute gegebenen Voraussetzungen notwendig ist, wurde an früherer Stelle dieses Aufsatzes nachgewiesen — keinesfalls verzichten.
Marx sah eine weitere Quelle der Entfremdung in der Tatsache der Warenproduktion. Der „Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist
In der Wirklichkeit der sozialistischen Länder von heute ist der arbeitende Mensch jedenfalls — wenn wir einmal von Jugoslawien absehen
Damit stellt sich aber eine für die Beurteilung des Heimannschen Gedankenganges erstrangig wichtige Frage: wieweit zeigen uns die bisher realisierten sozialistischen Ordnungen die Möglichkeit einer Synthese von Sozialismus, Demokratie und Freiheit, die Heimann als Ergebnis der auf beiden Seiten vor sich gehenden Wandlungen erhofft?
Lassen wir dazu vier Autoren sprechen, die, Reformen verschiedener Art bejahend, dennoch sämtlich Sozialisten geblieben sind!
Bei Ota Sik, dem hinsichtlich der Wirtschaftsreformen führenden Mann der tschechoslowakischen Reformbewegung, heißt es
Die beiden jungen polnischen Kommunisten Jacek Kuron und Karol Modzelewski, 1964 wegen ihrer Anschauungen aus der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei ausgeschlossen, schrieben: „In unserem System ist die Parteielite gleichzeitig die Machtelite; alle staatlichen Entscheidungen werden von ihr getroffen . .. Indem sie die staatliche Macht ausübt, verfügt die Machtelite gleichzeitig über die Gesamtheit der verstaatlichten Produktionsmittel, entscheidet sie über den Anteil der Akkumulation und des Konsums, über die Richtung der Investitionen, iber den Anteil der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen am Volkseinkommen. Mit einem Wort: sie allein entscheidet über Aufteilung und Verwendung des ganzen gesellschaftlich erzeugten Produktes. Die Entscheidungen der Elite sind eigenmächtig, frei von jeder Kontrolle von seifen der Arbeiterklasse und der übrigen gesellschaftlichen Klassen und Schichten. Die Arbeiter haben auf sie keinen Einfluss, die Gesamtheit der Parteimitglieder ebenfalls nicht..
Milovan Djilas, einer der Männer, die zusammen mit Tito den kommunistischen Staat in Jugoslawien geschaffen h. aben, schreibt in seinem 1969 in deutscher Übersetzung in Wien erschienenen Buche „Die unvollkommene Gesellschaft. Jenseits der . Neuen Klasse"'(S. 158 — 160):
„Die marxistisch-leninistischen Ideen, die real und ideal waren, solange sie die. Massen in Bewegung setzten und veralterte und aussichtslose Ordnungen zerstörten, haben sich in Dogmen und Mythen verwandelt, mit deren Hilfe heute die Kommunisten sich und die anderen täuschen und ihre monströse Realität rechtfertigen. Sie behaupten, dass ihr System mit seinem angeblich gesellschaftlichen Eigentum unvergleichlich grössere Möglichkeiten für den technischen Fortschritt und für die soziale Gerechtigkeit bietet, als es je in anderen Gesellschaftsordnungen gab, gibt und geben wird... Die Wirklichkeit sah, wie gewöhnlich, anders aus: der Kommunismus leidet heute an all den Übeln, die er mit Recht am Kapitalismus angeprangert hat;
und eine gründlichere Untersuchung seiner Eigentumsverhältnisse offenbart auch, dass die politische, die Parteibürokratie ihre eigenen Ideale zerstört, indem sie das Monopol der Handhabung und Kontrolle über die Wirtschaft für sich in Anspruch nimmt.
Die italienische Kommunistin Rossana Rossanda hat in einem kürzlich erschienenen wichtigen Aufsatz die Wirklichkeit der heute bestehenden sozialistischen Länder als „ein Dilemma der Europäischen Linken" bezeichnet. Es heißt da: „Das Verhältnis zu den sozialistischen Ländern, und damit zu den „anderswo" durchgeführten Revolutionen, macht nun schon seit über fünfzig Jahren einen Teil der Ge-* schichte der europäischen Linken aus, die es zu ihrer eigenen Revolution nicht gebracht hat. Dieses Verhältnis kennt Hoffnungen und Enttäuschungen, Solidarisierungen und Absagen, begeisternde Utopien Und deprimierende Einsichten in die Realitäten. Aber da es schier immer ein unterwürfiges, ein subalternes Verhältnis war, ist es schliesslich zu einem Moment der Niederlage der Linken in den . spätkapitalistischen Ländern’ geworden ... Jene . anderen'Revolutionen sind geschehen, sie sind da, und sie bestimmen die Welt, in der wir leben. Sie haben ihre Rückwirkungen, ob uns das lieb ist oder nicht. Wir kommen nicht um sie herum."
Und an einer anderen Stelle heißt es:
„Wieder einmal fegen die Gründe der Geschichte die Illusionen der Ideologie hinweg. Die Europäer sehen sich vor die Probleme von eh und je gestellt, nur daß sie um eine Erfahrung reicher geworden sind:
was die Linke hier für Knoten und Sackgassen der . anderen'gehalten hatte, sind auch unsre eigenen; das hat sich im Wechsel von Auf-und Abstieg der Bewegung gezeigt. Nichts ist überwunden, kein Problem gelöst. Der Moment der Hoffnung auf eine eigene Revolution, die sich ihr Maß selber setzen könnte, war kurz. ”
Dies und manches andere, was in der genannten Ausgabe des „Kursbuchs" steht, ist ein bemerkenswerter Beweis für die Enttäuschung, die sich aus dem Zusammenprall von Idee (oder Vision) und Realität bei Kommunisten ergibt, die noch nicht so dogmatisiert sind, daß sie die Fähigkeit — oder die Bereitschaft — zum kritischen Denken völlig verloren hätten.
In den realen sozialistischen Systemen von heute ist jedenfalls die Synthese von Sozialismus, Freiheit und Demokratie nicht gelungen. Wenn Heimann (S. 18/19) die These aufstellt, daß die Idee eines freiheitlichen und demokratischen Sozialismus 1956 auch in der Sowjetunion und vor allem in der DDR „zu einer realen politischen Kraft innerhalb der kommunistischen Parteien" wurde, so scheint mir das ein Beweis für ein gefährliches Wunschdenkens, das (sicherlich unbewußt, das sei Heimann ohne weiteres zugestanden) den geschichtlichen Ablauf nach den eigenen Wünschen zurechtbiegt. In der DDR beschränkten sich solche Gedankengänge innerhalb der SED auf sehr kleine Kreise, die keineswegs eine reale politische Kraft bildeten, die denn auch sehr bald von der herrschenden Machtelite zum Schweigen gebracht wurden. Wo Heimann in der Sowjetunion 1956 derartige Tendenzen sieht, ist mir unerfindlich. Vielleicht meint er den XX. Parteitag der KPdSU und die berühmte Geheimrede Chruschtschows, in der dieser die Schandtaten des Stalin-Terrors enthüllte. Darin aber bereits den Anfang eines „freiheitlichen und demokratischen Sozialismus" zu sehen, scheint mir schlechthin utopisch. Und Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei, die Heimann ebenfalls in diesem Zusammenhang nennt? Gewiss, in Polen und Ungarn gab es 1956 Anfänge einer solchen Entwicklung. Aber in Polen hat auch das damals installierte Gomulka-Regime nach einem verheissungsvollen Beginn bald wieder das Heil bei den alten Methoden gesucht, und das Schicksal des „freiheitlichen Sozialismus" in Ungarn 1956 und der Tschechoslowakei 1968 ist ja wohl zur Genüge bekannt.
Ich stimme mit Heimann darin überein,, daß die militärischen Interventionen in Ungarn und der Tschechoslowakei in erster Linie deshalb erfolgten, „weil dieser vom Volk unterstützte Sozialismus mit menschlichem Gesicht eine ernsthafte Gefahr für die privilegierte und demokratisch nicht legitimierte und kontrollierte Schicht der im Osten politisch herrschenden Bürokratie... wurde." (S. 19).
Wieso aber die Vertreter dieser bürokratischen Herrschaft in Osteuropa die Intervention auch deshalb forderten, weil durch den demokratischen Sozialismus die Schicht „der im Westen ökonomisch herrschenden Kapitaleigner" gefährdet wurde, ist mir schlechtterdings unverständlich — ganz abgesehen davon, daß die „ökonomische Herrschaft der Kapitaleigner" im Westen doch etwas wesentlich anderes, sich innerhalb wesentlich engerer Grenzen Auswirkendes, mit wesentlich mehr Gegenmächten (denken wir allein an die Gewerkschaften!) Konfrontiertes ist als die Herrschaft der Machtelite in den kommunistisch regierten Ländern Ost-und Südosteuropas. Die Machtelite mit „Bürokratie" gleichzusetzen, scheint mir im übrigen viel zu undifferenziert; Männer wie Chruschtschow, Breschnew, Tito oder Ceausescu sind doch gewiss keine „Bürokraten" (womit nicht bestritten werden soll, daß in der Tat die Rolle der Partei-und Staatsbürokratie in der
Verfassungswirklichkeit dieser Länder recht bedeutsam ist).
Heimann fordert im Interesse der west-östlichen Konvergenz Vorleistungen des Westens „durch systemüberwindende innere Reformen ..., ohne daß dabei die liberalen und demokratischen Rechte eingeschränkt oder aufgegeben werden." Zwei schicksalsschwere Fragen stellen sich dabei. Erstens: ist überhaupt ein Sozialismus möglich, bei dem die liberalen und demokratischen Rechte nicht eingeschränkt werden? Die Beantwortung dieser Frage wird freilich durch die Unschärfe des Heimannschen Sozialismusbegriffs erschwert. Wenn man aber Sozialismus mit Systemveränderung gleichsetzt, dann gehört dazu doch offenbar die „Vergesellschaftung"
eines grossen Teils der Produktionsmittel und die weitgehende Ausserkraftsetzung des Marktmechanismus durch eine Form der zentralen Planung
Die zweite, mindestens ebenso schwer wiegende Frage ist: wer kann auch nur ein Mindestmaß von Sicherheit dafür geben, daß Vorleistungen der Bundesrepublik an „systemüberwindenden Reformen" auf der Seite der DDR ebenfalls Reformen in Richtung auf einen freiheitlich-demokratischen Sozialismus auslösen werden? Allein diese können ja doch eine wirkliche Konvergenz bewirken. Bei den gegenwärtigen Machtverhältnissen und bei den Auffassungen der Machtelite der SED erscheint mir das als blanke Utopie. Gerade in dem Zeitpunkt, in dem dieser Aufsatz abgeschlossen wurde, brachte das „Neue Deutschland"
Wenn auch die Bundesrepublik Deutschland dabei nicht ausdrücklich genannt wird, so kann es wohl kaum zweifelhaft sein, daß auch die heutige, von der sozialliberalen Koalition regierte Bundesrepublik von Albert Norden zu dem „Inperialismus, der sein Wesen in keiner Hinsicht geändert hat", gerechnet wird.
* Für die heutige SED-Führung kann es also keine Konvergenz in dem Sinne geben, daß auch sie sich wandelt — geschweige denn, daß sie bereit wäre, auch bei sich selbst „systemüberwindende Reformen" durchzuführen. Eine Neuvereinigung Deutschlands wäre nach ihren Vorstellungen nur dann möglich, wenn die Bundesrepublik bereit wäre, ihr eigenes politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches System völlig dem der DDR anzugleichen.
Dann aber wären wir weit von dem entfernt, was Heimann als Synthese von Sozialismus, Demokratie und Freiheit anstrebt. Von Freiheit und Demokratie könnte nur noch sehr wenig die Rede sein; und die dann in ganz Deutschland realisierte Form des Sozialismus wäre sicherlich sehr verschieden von dem, was die Mehrheit der westdeutschen Sozialisten als bessere und gerechtere Form der Ordnung menschlichen Zusammenlebens erhofft.
Auch Heimann will ein in solcher Form und unter solchen Vorzeichen wiedervereinigtes Deutschland sicherlich nicht; aber unter den heute gegebenen Voraussetzungen würde das die Wirklichkeit sein und nicht der freiheitlich-demokratische Sozialismus.
Heimann wirft dem Denken, das der gescheiterten früheren Wiedervereinigungspolitik zugrunde lag, vor, es sei irrational und emotional gewesen