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Primat der Deutschlandpolitik? Anmerkungen zu einer abstrakten Utopie | APuZ 19/1973 | bpb.de

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APuZ 19/1973 Artikel 1 Primat der Deutschlandpolitik? Anmerkungen zu einer abstrakten Utopie „Konvergenz" -nicht nur eine Theorie?

Primat der Deutschlandpolitik? Anmerkungen zu einer abstrakten Utopie

Karl Markus Kreis

/ 22 Minuten zu lesen

Die hier vorgelegten beiden Arbeiten von Karl Markus Kreis und Matthias Walden sowie ein in der iolgenden Beilage erscheinender Aufsatz von Karl C. Thalheim enthalten Überlegungen und kontroverse Ansichten zu der in der B 36-37/72 von Horst Heimann dargestellten Konzeption eines „demokratischen Sozialismus in Ost und West“. Die von Heimann in Zusammenhang mit der Deutschland-und Ostpolitik gegebenen „Anregungen zu einer konkreten Utopie" veranlaßten die Autoren dazu, sich nicht nur mit den Inhalten der Heimann-schen Konzeption eines demokratischen Sozialismus auseinanderzusetzen, sondern überdies auch der Frage der Konkretisierbarkeit dieser „Utopie“ nachzugehen. Die nächste Ausgabe wird außer einem Beitrag von Prof. K. C. Thalheim auch einen Kommentar des Ostberliner Rundfunks zu Heimanns Arbeit und dessen Stellungnahme hierzu sowie zu den drei anderen Arbeiten enthalten.

Die Redaktion Horst Heimanns Aufsatz „Demokratischer Sozialismus in Ost und West" erhebt den Anspruch, nicht irgendwelche utopischen Vorstellungen auszumalen, sondern Anregungen zu einer konkreten Utopie zu geben. Der Aufsatz schließt mit der Feststellung, wie notwendig ein politisches Denken sei, „das über die aktuellen Probleme hinausgeht" (S. 29 Heimanns Überlegungen gehen allerdings so weit über aktuelle Probleme hinaus, daß sie in wesentlichen Punkten das Beiwort „konkret" nicht mehr verdienen. Sie werden abstrakte Utopie. Was ist mit diesem Vorwurf gemeint?

Der Bezugsrahmen für Deutschlandpolitik Alfred Grosser hat für die Bundesrepublik eine Art „Germanozentrismus" in der Betrachtungsweise der Weltpolitik und im Verhalten auf der internationalen Bühne diagnostiziert, der sich vom Druck der gegenwärtigen Teilung Deutschlands herleite Diese Fixierung war in den Jahren, da die Wiedervereinigung als das unmittelbare Ziel der westdeutschen Politik galt, nicht zu übersehen. Gegenüber anderen Spielarten der Fixiertheit auf den beschränkten Horizont des eigenen Staates besaß die bundesdeutsche Nabelschau einen charakteristischen Zug. Sie bezog sich nicht auf eine klar definierbare staatliche Identität, sondern auf das erst herzustellende (Gesamt-) Deutschland. Anders ausgedrückt: Die Selbstdefinition der Bundesrepublik schloß den juristisch-moralischen Bezug auf eine andere, umfassendere, nicht-existente (nicht mehr, noch nicht existente) Einheit namens „(Gesamt-) Deutschland" ein. Da die Bundesrepublik Deutschland ein Noch-Nicht-Staat, ein Provisorium oder Transitorium war, mußte sie erst danach streben, ein Staat zu werden, also Wiedervereinigungspolitik betreiben. Außenpolitik war eine Funktion, ein Mittel der innerdeutschen Politik, wie man das bei der Praktizierung der Hall-3 stein-Doktrin beobachten konnte. Dadurch verengte sich der Blick auch in internationalen Fragen auf die gesamt-deutsche Perspektive der zwei antagonistischen Systeme.

Die Sicht der deutschen Dinge hat sich mittlerweile gewandelt. „Seit Mitte der sechziger Jahre setzt sich in allen politischen Lagern Westdeutschlands die Einsicht durch, daß die Bundesrepublik weder ein Provisorium auf dem Weg zur Wiedervereinigung noch ein Transitorium auf dem Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa ist." Seitdem läßt sich westdeutsche Außenpolitik in Praxis und Theorie grundsätzlich nach den gleichen Kategorien betreiben und untersuchen wie die anderer europäischer Staaten. Seitdem muß dies aber auch geschehen, denn mit dem Abschied vom Stande der Unschuld in der Zeit der Wiedervereinigungsideologie ist die Basis für die westdeutsche Außenpolitik die Rolle der BRD als „normaler" Staat.

Die westdeutsche Außenpolitik hat mit der Hinnahme der Existenz zweier deutscher Staaten nicht nur die DDR de facto anerkannt. Sie hat auch die eigene bundesrepublikanische Identität anerkannt, d. h., sie hat die Selbstanerkennung der BRD als eines auf absehbare Zeit in diesen Grenzen bestehenden Staates vollzogen und den ständigen Identitätszweifeln aus der Zeit des „Provisoriums" die Grundlage genommen.

Für die Diskussion von Fragen der Deutschlandpolitik hat dies zur Folge, daß sie nicht mehr isoliert und verabsolutiert werden können. Sie haben innerhalb einer außenpolitischen Gesamtkonzeption nur mehr relative Bedeutung. Andere Bezugspunkte der Außenpolitik können nicht mehr von politischen Beschwörungen einfach zugedeckt werden.

Auswirkungen durch die Wahl eines Zieles oder Mittels auf andere Bereiche müssen in Rechnung gestellt und gerechtfertigt werden.

Die Absichten der direkt und indirekt betroffenen Staaten bzw. Regierungen sind zu berücksichtigen. Überlegungen zum Thema „Deutschlandund Ostpolitik" müßten also folgende Fragen berücksichtigen: Wer sind die Subjekte bzw. Adressaten dieser Politik? Wessen Außenpolitik wird dadurch indirekt betroffen? Welche neue Konstellation unter diesen (direkt und indirekt) Betroffenen wird angestrebt? Auf welche Bereitschaft und auf was für Widerstände kann eine solche Politik treffen? Mir scheint, den Überlegungen Heimanns fehlt gerade diese Art der Differenzierung.

Das Denken in Blöcken — eine verkürzte Sicht der Wirklichkeit

Matthias Walden: „Konvergenz“ — nicht nur eine Theorie? S. 15

Obwohl der Untertitel des Aufsatzes nicht nur Überlegungen zur Deutschlandpolitik, sondern auch zur Ostpolitik verspricht, und obwohl auch im Text häufig der Doppelbegriff „Deutschland-und Ostpolitik" erscheint, wird das Verhältnis zwischen Deutschland-und Ostpolitik nirgends differenziert und erklärt. Was bedeutet hier „Ostpolitik"? Eine Himmelsrichtung ergibt noch keinen politischen Bezugspunkt, geschweige denn einen politischen Inhalt. Heimann scheint davon auszugehen, daß die Politik gegenüber der Sowjetunion, Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien, Rumänien und — der Doppelbegriff legt es nahe — der DDR überall die gleichen Inhalte hat. Er fächert den Begriff nirgends entsprechend den osteuropäischen Staaten auf.

Statt dessen benutzt er unkritisch die gängige Gegenüberstellung „Ost-West" als Bezugs-B rahmen. Er geht offenbar davon aus, daß mit dem so gekennzeichneten Gegensatz der politisch-ökonomischen Systeme und der Militär-pakte die Beziehungen zwischen den Staaten Europas hinreichend beschrieben sind. Damit entfällt völlig die Frage, wie in der „konkreten Utopie“ das Verhältnis der BRD zu den einzelnen Staaten Osteuropas einschließlich der Sowjetunion aussehen könnte oder sollte. Sie ist für Hei*mann überflüssig geworden, weil die übergreifenden Blöcke allein relevant sind; die Einzelstaaten sind nichts als homogene Teile eines der beiden Blöcke.

Selbstverständlich bestehen die beiden antagonistischen Militärpakte, selbstverständlich besteht zwischen den politisch-ökonomischen Systemen in Westund Osteuropa ein Gegensatz. Aber die beiden „Blöcke“ sind weder in sich homogen, noch ist der Gegensatz zwischen ihnen absolut. Gerade an diesen Punkten müßte eine wirklich konkrete Utopie ansetzen, anstatt sich auf Verallgemeinerungen wie „Ost und West" zurückzuziehen. Heimann vernachlässigt die Realität der einzelnen Staaten in beiden Paktsystemen. Das Verhalten der staatlichen Einheiten in Ost und West ist, ganz allgemein gesprochen, nicht nur von den mit dem gemeinsamen Gesellschaftssystem gegebenen Faktoren bestimmt, sondern auch vom Selbstbehauptungswillen dieser Staaten, von ihrem Bestreben, ihre eigene Art des Sozialismus oder Kapitalismus zu erhalten und weiterzuentwickeln, ohne ungewollte Beeinflussung von außen.

Diesem Selbstbehauptungswillen steht die Tatsache gegenüber, daß alle Staaten Europas in einem Geflecht von internationalen Beziehungen und Verpflichtungen stehen, vor allem wirtschaftlichen Zusammenschlüssen und Militärbündnissen. Solche Faktoren funktionaler Integration der einzelnen Staaten zu größeren überstaatlichen Gebilden bis hin zu den „Blöcken" sind aber kein hinreichender Beweis dafür, daß der Selbstbehauptungswille der Einzelstaaten nicht mehr existiert. Er wirkt sowohl integrierend wie desintegrierend, und zwar in dem Maße, in dem die politische Gesamtrichtung eines Zusammenschlusses mit den Einzelinteressen der Mitglieder übereinstimmt oder nicht. Das ist sehr banal und eine Binsenwahrheit, aber anscheinend nicht überflüssig zu sagen angesichts eines Kategorienschemas, das diese Kategorien ausläßt.

Ebenso banal mag es klingen, wenn man einige Tatsachen aufzählt, die belegen, daß die Bündnissysteme in Europa keine monolithischen einheitlichen Blöcke (mehr) darstellen. So ist etwa „der Osten" nicht nur ein brüderlicher Zusammenschluß relativ gleichgearteter sozialistischer Gesellschaften, sondern auch ein Bündnissystem, das dem Sicherheitsbedürfnis und den Wirtschaftsinteressen der einzelnen nationalen Gesellschaften dient — allen voran denen der Sowjetuni-on, die dieses Bündnissystem schließlich geschaffen hat und sein Hauptgewicht bildet. Kann man ignorieren, daß die schwächeren Partner nicht immer dasselbe wollen wie die Sowjetunion? Kann man so tun, als hätten sich die Änderungsbestrebungen innerhalb dieser Staaten nur auf die Verbesserung der Regime, nicht auch auf ein größeres Maß an nationaler Bewegungsfreiheit bezogen? Ging und geht es den einheimischen Parteien nicht auch oder sogar in erster Linie um die „Freiheit der Eigenentwicklung" die nicht nur von einer Seite bedroht ist? Man könnte die Interpretation dieser verkürzten Sichtweise noch weiter treiben und sagen: wer die Homogenität des „Ostblockes" voraussetzt, ist entweder blind für den Selbstbehauptungswillen der osteuropäischen Staaten (und seine Unterdrückung von außen), öder für den zählt nur die Macht des Stärksten, der in „seinem“ Block den Schwächeren immer wieder seinen Willen aufzwingt.

Auch Westeuropa hat seine Konflikte zwischen Integration und nationalen Individualitäten. Auch hier müssen die Regierungen — und die Wähler — entscheiden, ob sie ihre Bedürfnisse und Interessen besser in mehr oder in weniger Bündnis mit den USA und/oder den westeuropäischen Nachbarn gesichert sehen. Diesseits und jenseits der europäischen Trennungslinie existieren also nicht in homogene Blöcke integrierte amorphe Gebilde, sondern Staaten, die sich durch das Handeln ihrer Regierungen nicht (nur) von den Gesamtinteressen des jeweiligen Blockes leiten lassen, sondern auch von den Eigeninteressen ihrer Nationen. Diese Eigeninteressen führen zu den bekannten Versuchen einzelner Staaten, die Trennungslinie zu unterlaufen, um dem eigenen Staat mehr Bewegungsraum zu verschaffen: Der Hinweis auf Rumänien und Frankreich dürfte für die Vergangenheit genügen, und für die Zukunft ist die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit das Forum, von dem sich vor allem die schwächeren Staaten Osteuropas eine Vermehrung ihres nationalen Gewichtes erhoffen.

Aus diesen bekannten Tatsachen läßt sich für eine Analyse und die auf ihr aufbauende Praxis die Erkenntnis ableiten, daß die Beziehungen zwischen den Staaten Europas vielfältiger Natur sind: gefächert nach Sachbereichen und Bezugseinheiten oder -gruppen ergibt sich eine Vielzahl von Rollen, die die einzelnen Staaten spielen Die internationale Position eines Staates bestimmt sich dann durch die Rollen, die er spielt, und durch die Prioritäten, die er unter seinen Rollen setzt. Ein „Block“ besteht nach diesem Begriff aus einer Reihe von Staaten, die in zentralen Bereichen (innere Verfassung, äußere Sicherheit) sich als zusammengehörige Gruppe verstehen und dies als eine Hauptrolle akzeptieren. Die Existenz von Nebenrollen kann ebensowenig ausgeschlossen werden wie die Möglichkeit einer Veränderung in der Definition und Rangfolge der Rollen. Die KSZE wird aller Voraussicht nach eine Bühne sein, auf der man das Rollenspiel — und die Debatte um einzelne Rollen — verfolgen kann.

Vom außenpolitischen zum innenpolitischen Dualismus

Dem dualistischen Konzept der internationalen Beziehungen entspricht in Heimanns Entwurf eine dualistische Sicht der Innenpolitik. Für seine weiteren Überlegungen macht er eine grundlegende Voraussetzung: der außen-politische Dualismus (Ost-West-Gegensatz) entspringt maßgeblich einem Dualismus im Innern der Staaten: „Denn die Ideologien beider Seiten, die den Gegensatz verabsolutieren, haben die innenpolitische Funktion, das politische Interesse und Wollen auf außenpolitische Probleme zu fixieren und von innenpolitischen Aufgaben abzulenken. Gerade diejenigen, die im feindlichen Lager die Revolution wünschen, bekämpfen in der eigenen Gesellschaft die Evolution“ (S. 26). Der Ost-West-Gegensatz wird am Leben gehalten vom Gegensatz zwischen Fortschritt und Reaktion innerhalb der Staaten in Ost und West. Deshalb muß hier, im Innern der Staaten, der Angelpunkt für die Überwindung des Ost-West-Konfliktes gesehen werden. Heimanns zentrale Aussage über diesen Zusammenhang lautet: „Die Konzeption für die friedliche Überwindung des Ost-West-Gegensatzes geht dagegen von der Voraussetzung aus, daß der über die Zukunft der Menschheit entscheidende Kampf nicht die außen-und machtpolitische Auseinandersetzung zwischen Ost und West ist, sondern die innenpolitische Auseinandersetzung zwischen dogmatischen und progressiven Kräften innerhalb des Ostens und des Westens. [... ] Vorteilhaft für eine friedliche Zukunft und für den Aufbau einer gerechteren Gesellschaft ist es allein, innerhalb des Ostens und des Westens die Macht und die Privilegien der Herrschenden gegenüber dem Volk einzuschränken und gleichzeitig den innenpolitischen Status quo in beiden Blöcken durch systemüberwindende Reformen so zu verändern, daß die Wurzeln der Aggressivität, der unversönlichen Feindschaft, der Spannungen und der möglichen Kriege beseitigt und Elemente einer konvergierenden Entwicklung verstärkt und neu geschaffen werden" (S. 26). Also: Abbau der äußeren durch Abbau der inneren Spannung.

Wer sind die Herrschenden, die Unzufriedenheit im Innern zu Aggressivität nach außen umlenken? Heimann identifiziert sie an anderer Stelle als „die privilegierte und demokratisch nicht legitimierte und kontrollierte Schicht der im Osten politisch herrschenden Bürokratie und der im Westen ökonomisch herrschenden Kapitaleigner" (S. 19). Der Dualismus in Heimanns Vorstellungen von Innenpolitik entspricht genau dem in seinen Vorstellungen von den internationalen Beziehungen. Auch besteht zwischen beiden Formen des Dualismus ein innerer logischer Zusammenhang; sie sind keineswegs nur aus Zufall zusammengeraten. Denn wenn die äußeren Spannungen nur aus einer inneren „Grundspannung" hervorgehen, wenn die Außenpolitik von dem Bedürfnis beherrscht und definiert wird, ein Feindbild bereitzustellen, dann paßt in der Tat nur die Kategorie des totalen Gegners, des Feindes, der letzten Endes sogar zu vernichten ist.

Da Heimann selber die Kategorie „äußerer Feind" als Aggressionsobjekt einer Gesellschaft definiert, die dessen Bild aus sich heraus, nach ihren Bedürfnissen, produziert, entfallen für seine Analyse die oben genannten Differenzierungen. Der äußere Feind ist also per definitionem nichts anderes als der absolute Gegner. Dann wird die Welt in der Tat nur in Schwarz und Weiß, Gut und Böse aufgeteilt. Andere Kategorien bleiben völlig außer Sicht, die aber — in den realen Beziehungen zwischen Völkern und Staaten — ebenfalls eine Rolle spielen: die des Konkurrenten, des Rivalen, des potentiell mehr oder minder bedrohlichen Gegners, des „partiellen Freundes" oder des funktionalen Verbündeten. Diesem Bild von anderen Staaten entsprechen so differenzierte, wechselhafte, risiko-, aber auch chancenreiche Verhältnisse zwischen Staaten wie: Bündnis, Konkurrenz, Gewalt-androhung, Gewaltverzicht, partielle Zusammenarbeit bei gleichzeitiger partieller Rivalität usw. Es sind genau die differenzierten Beziehungen, die wir auch in dem tatsächlichen Verhalten in und zwischen „Ost und West" beobachten. Innerhalb und zwischen den „Blöcken" treten nuancierte Beziehungsund Verhaltensmuster auf, die eben nicht einfach aus der Position der Herrschenden gegenüber den Beherrschten abgeleitet werden können. Emotionsarme Außenpolitik kann von nationalen Repräsentanten betrieben werden, auch wenn sie nach innen mehr „dogmatisch" als „progressiv" ist. Rumänien ist ein Beispiel.

Das reine „Freund-Feind" -Muster reicht zur adäquaten Beschreibung der Realität nicht aus. Die Beziehungen zwischen den Staaten lassen sich nicht darauf reduzieren. Man versuche sich einmal am Fall der CSSR (auch heute!) gegenüber der UdSSR, oder Rumäniens gegenüber der Sowjetunion und den USA, oder Polens gegenüber der DDR, oder Frankreichs gegenüber Großbritannien, der BRD, den USA, der UdSSR . .. Das reine Freund-Feind-Verhältnis erklärt in Europa nicht mehr viel.

Ebenso wie Abstufungen von Beziehungen der Freundschaft, der Rivalität und Konkurrenz existieren, bestehen auch solche des feindseligen Verhaltens, der Bedrohung, der mehr oder weniger starken Entschlossenheit, anderen seinen Willen, seine Hegemonie oder seine direkte Herrschaft aufzuzwingen. Das heißt: auch wenn man annimmt, daß, aus welchen Gründen auch immer, keine absolute Feindseligkeit und Bedrohung besteht, ist für die europäischen Staaten die „Freiheit der Eigenentwicklung" noch nicht gewährleistet. Wie können sie sich gegen unerwünschte Beeinflussung und Abhängigkeit schützen? Ein Mittel, um Druck auszuüben oder abzuwehren, war und ist immer noch militärische Macht. Auch dann, wenn den Rüstungssteigerungen der Supermächte die absurde Spitze abgebrochen werden sollte, ist damit noch nicht das Mittel militärischen Drucks zur Erreichung politischer Ziele verschwunden.

Man kann militärische Macht als politischen Faktor nicht angemessen beurteilen, wenn man nur die Bereiche der Rüstung im Auge hat, die sich durch ihre völlige Abhängigkeit von der technologischen Entwicklung und davon profitierenden Segmenten einer Gesellschaft verselbständigt haben und einer politischen Zweck-Mittel-Analyse nicht mehr zugänglich sind, sich vielmehr nur noch im Zweierverhältnis der technologischen Eskalation zwischen USA und Sowjetunion begreifen lassen. Für die Staaten Europas zählen andere militärische Bereiche mindestens ebenso: Panzer, nicht FOBS und MOBS spielen im Verhältnis der Sowjetunion zu Osteuropa die entscheidende politische Rolle. Zwar kann man mit gutem Grund sagen, daß die strategischen Waffen den Konflikt, den sie am Ausbrechen hindern sollen, ständig neu verlängern, eben weil sie sich politischem Zweck-Mittel-Kalkül entziehen. Doch gilt dies nicht im gleichen Sinne für solche Systeme, die zu klar abgrenzbaren politischen Zielen eingesetzt werden können. Diese Art der Waffen bringt nicht die politischen Konflikte hervor, sondern entspringt ihnen, drückt sie aus und kann freilich durch ihre Existenz die Spannungen auch verlängern. Die Waffensysteme, die nur dazu dienen, die Rüstungsspirale weiterzudrehen, unterscheiden sich also von denen, die für klar definierte, d. h. abgegrenzte Ziele eingesetzt werden: diese dienen der Erweiterung oder Erhaltung des eigenen oder der Abwehr fremden Einflusses. Sie sind deshalb auch von zweckrationalem Kalkül überprüfbar, sie sind ein Mittel der Politik. Die Tradition von Clausewitz hat gerade in der sowjetischen Kriegstheorie Wurzel gefaßt Ob das mit unseren Wunschvorstellungen übereinstimmt oder nicht, ist eine völlig andere Frage.

Die Staaten Europas müssen sich also weiter mit der Frage ihrer Sicherheit auseinander-setzen, besonders diejenigen, die sich einem viel größeren Rivalen oder gar Gegner gegenübersehen. Der Abbau aller militärischen Apparate kann nur dann den Interessen aller nützen, wenn diese Interessen sich soweit aufeinander eingestellt haben, daß sie nicht mehr im Widerspruch zueinander stehen, und wenn keiner befürchtet, ein anderer könne seine Interessen erneut gefährden. Wie ein solcher Zustand herbeigeführt und auf Dauer gesichert werden könnte, das wäre in der Tat genug Stoff für schöpferische Utopie: Sie müßte fragen, was man sich unter einer „europäischen Friedensordnung" vorstellen könnte, welche Rolle die USA und die Sowjetunion spielen sollten usw. Eine konkrete Utopie dürfte sich allerdings nicht darauf beschränken, einen Entwurf für eine wünschbare Zukunft zu geben, sondern müßte auch Wege zeigen, die von der Gegenwart aus dorthin führen können. Die Zeit des Über-gangs bringt ja spezifische Probleme, die sich von denen des bisherigen und des zukünftigen Zustandes wesentlich unterscheiden, da die Verhaltensmuster unsicher sind. In einem System, das durch gegenseitige militärische Abschreckung und Bedrohung bestimmt ist, wird beispielsweise der Verzicht einer Seite auf Abschreckung zwei Deutungen durch die Gegenseite zulassen: entweder die als Erfolg der eigenen Bedrohung oder als Aufgabe der bisherigen Verhaltensmuster. Sicherheitsüber-legungen lassen die erste Annahme plausibler erscheinen. Wie kann man also das Mißtrauen überwinden? Das führt uns zu Heimanns Vorschlägen zur Deutschlandpolitik.

Neuvereinigung Deutschlands?

a) Isolierung der Deutschlandpolitik Deutschlandpolitik ist, das wäre der einfache Nenner der vorangegangenen Seiten, nur möglich und durchführbar unter Berücksichtigung der vielfältigen Verflechtungen beider deutscher Staaten. Heimann formuliert abstrakter, „... daß die zukünftige Entwicklung des Verhältnisses zwischen beiden deutschen Staaten weitgehend von den Beziehungen zwischen Ost und West abhängig wird. Daher ist die Vereinigung der beiden deutschen Staaten nur möglich auf der Grundlage eines Entwicklungsprozesses, der die Spaltung zwischen Ost und West überhaupt überwindet" (S. 14). Im unmittelbaren Anschluß daran macht er zwar zur Bedingung für eine Politik der „Neuvereinigung Deutschlands", daß sie in Übereinstimmung ist mit den allgemeinen Tendenzen der westlichen Koexistenzpolitik bzw. daß die Bundesregierung diese Tendenzen entsprechend beeinflußt. Aber er prüft weder, ob diese Übereinstimmung konkret bei den einzelnen Verbündeten vorhanden ist noch unter welchen Bedingungen sie mit ihrer jeweiligen Interessenlage vereinbar wäre. In Übereinstimmung mit seinem abstrakten Kategorienschema untersucht Heimann nicht konkrete Interessen einzelner Staaten im Hinblick auf die Koexistenzpolitik, sondern „allgemeine Tendenzen" (S. 14).

Die Konvergenztheorie liefert nun dazu den passenden theoretischen Bezugsrahmen. Er paßt deshalb so gut, weil diese Theorie auch mit einer Gegenüberstellung zweier Größen operiert. Freilich behandelt die Konvergenz-theorie die Strukturen der Gesellschafts-und vor allem der Wirtschaftssysteme über das Verhältnis zwischen konvergierenden Staaten, die Form ihrer Beziehungen (Konkurrenz, Bündnis, Gegnerschaft usw.), kann sie allein aufgrund der Analyse innerer Strukturen keine gültigen Aussagen machen. Heimann vermengt wieder diese beiden Ebenen — die der inneren Struktur einzelner Staatsgesellschaften und die der Struktur des internationalen Beziehungsgefüges, in dem diese Staatsgesellschaften zueinander stehen —, etwa wenn er schreibt: „Während nach der antagonistischen Interpretation der Ost-West-Gegensatz nur machtpolitisch zu überwinden ist durch den Sieg der einen Seite und die Übertragung des siegreichen Gesellschaftssystems auf den besiegten Block, hält die Konvergenztheorie die friedliche Lösung des gefährlichen Konflikts für möglich, und zwar durch den inneren Wandel und eine konvergierende Entwicklung beider Gesellschaftssysteme, die zu einer Art Synthese zwischen Sozialismus und Kapitalismus führt" (S. 15).

Als Ergebnis einer solchen Konvergenz soll nun auch die „Neuvereinigung Deutschlands" möglich werden. Heimann sagt zwar zunächst, die Konvergenztheorie könne nur dann einer Neuvereinigungspolitik als Grundlage dienen, „wenn sie sowohl im Westen als auch im Osten theoretisch akzeptiert würde und auf beiden Seiten als Anleitung für eine politische Praxis diente, die die gegenseitige Annäherung und die evolutionäre Überwindung der Gegensätze zwischen den beiden konkurrierenden Systemen zum Ziel hätte" (S. 16).

Dem steht ein anderes Zitat entgegen, in dem Heimann von der fortdauernden Existenz der Blöcke ausgeht und die Neuvereinigung Deutschlands als Herauslösung beider deutschen Teilstaaten aus ihren Blöcken verstanden wissen will: „Annehmbar für beide Seiten ist eine Politik für die Neuvereinigung Deutschlands, wenn sie nicht die machtpolitische Stärkung des einen Blockes zum Ziel oder zur Konsequenz hat und wenn sie nicht zu einem Faktor werden kann, der im Osten oder im Westen einen Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung zugunsten des konkurrierenden Systems begünstigen könnte." (S. 27). Deshalb „ist ein einheitliches Deutschland, das nur mit Zustimmung der westlichen und der östlichen Mächte zustande kommen kann, weder auf der Grundlage des westlichen kapitalistischen Wirtschaftssystems noch des östlichen politischen Systems der Parteiherrschaft möglich" (S. 27). Und nun folgt als Kern der „konkreten Utopie" die Konzeption von Deutschland als „Brücke zwischen Ost und West". Heimann soll noch einmal selber zu Wort kommen: „Mit der Staats-und Gesellschaftsräson unserer westlichen und östlichen Nachbarn zu vereinbaren ist dagegen ein neuvereinigtes Deutschland, das außenpolitisch eine Brücke zwischen Ost und West bildet und das eine neue politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung entwickelt, die als Synthese beider Systeme sowohl demokratisch und freiheitlich-rechtsstaatlich als auch sozialistisch ist" (S. 27). Dahinter sind einige dicke Fragezeichen zu setzen. 1. Es ist gut, daß Heimann überhaupt einmal die „Staats-und Gesellschaftsräson"

der einzelnen europäischen Staaten einer Erwähnung wert befindet. Vollkommen unbewiesen ist aber die einfache Behauptung, ein vereinigtes Deutschland (als solches) sei mit der Räson dieser Staaten vereinbar. Dafür hätte man gerne ein paar Belege, denn aus der Sicht unserer Nachbarn ist diese Erwartung recht kühn. 2. Heimann unterstellt immer wieder, daß das Verhältnis zwischen Staaten sich nur nach dem Grad ihrer „inneren Verwandtschaft" bemißt. Eine derartige Struktur-

‘ Verwandtschaft kann zweifellos eine Voraussetzung für friedliche Beziehungen zwischen Staaten sein, ist aber sicher nicht die einzige; der Verfall des sowjetisch-chinesischen Bündnisses liefert ein gutes Lehrstück aus der jüngsten Geschichte. 3. Die pauschale Forderung, das machtpolitische Verhältnis in Europa dürfe durch dieses neue Deutschland nicht verschoben werden, enthält mehr Fragen, als sie beantwortet. Denn aus der Sicht der übrigen europäischen Staaten ist die Bildung eines neuen Deutschland außerhalb der Bündnisse zunächst einmal ein Verlust für diese Bündnisse. Jeder verliert einen Bündnis-partner. Heimann unterstellt das Kalkül:

wenn der Verlust auf Seiten beider Bündnisse gleich groß ist, wird er für beide akzeptabel. Aber bei allem Respekt vor den Leistungen der DDR — hier würde das westliche Bündnis doch wohl mehr aufgeben, es würden sich die Machtverhältnisse also schon unter dem Aspekt der Ressourcenverteilung verschieben. 4. Die Machtverhältnisse würden sich nicht nur quantitativ verschieben. Die Entstehung eines Deutschland zwischen den Blöcken verändert die Struktur der Machtverhältnisse in Europa überhaupt. Gesetzt den Fall, die Paktsysteme bleiben überwiegend in Gegnerschaft zueinander, dann ist Deutschland nicht eine Brücke, sondern ein Puffer, an dessen Isolierung und Passivität beide Seiten ein Interesse haben. Eine Rolle als attraktives Vorbild für andere Staaten könnte es dann sicher nicht spielen. Unterstellt man dagegen mit etwas Phantasie, die gegenwärtigen Bünd-B nisse würden sich auflösen oder an Bedeutung verlieren, dann ergäbe sich langfristig ein Europa von mehr oder weniger lose verbundenen Staaten: im Osten direkt oder indirekt im Einflußbereich der übermächtigen Sowjetunion, in der Mitte aber mit einem Staat, Deutschland, der ebenfalls weitaus größer ist als seine westlichen und östlichen Nachbarn. Deutschland und Rußland als dominierende Mächte in Europa ... 5. Schließlich ergibt sich eine ganze Traube von Fragen hinsichtlich der internationalen Verflechtungen der beiden deutschen Staaten. Was geschieht mit den Europäischen Gemeinschaften, was mit Comecon?

Sind diese Verbindungen, etwa Lappalien, die keine Probleme aufwerfen? Und sicherheitspolitisch: Was wird aus der Nato? Wie schützt sich Deutschland dagegen, von der Brücke zum Brückenkopf einer fremden Macht zu werden? Durch eigene Abschreckungskapazität? Also ein auch atomar gerüstetes Deutschland?

Oder durch ein Bündnis? Aber mit wem?

Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Nur: der Leser bleibt ratlos.

Der Grundfehler in Heimanns Entwurf scheint mir die Annahme eines extrem einfachen, ja simplen Erklärungsschemas für die internationale Politik in Europa zu sein, ihre Reduktion auf ein Spiel mit (sehr wenigen!) Bauklötzen. Ein weiterer Fehler hängt meines Erachtens damit zusammen, nämlich die Verengung der Perspektive in der Deutschland-politik. Andere Staaten, die davon unmittelbar mitbetroffen sind, existieren nur als anonyme Blockmitglieder. Ihre spezifischen Interessen gehen nicht in die Gestaltung der Deutschlandpolitik mit ein. Ich meine daher, man muß auch Heimann den Vorwurf machen, den A. Grosser der bisherigen westdeutschen Außenpolitik gemacht hat: den des „Germanozentrismus".

Greifen wir zur Überleitung noch einmal auf die im vorletzten Absatz gestellten Fragen zur Sicherheitspolitik zurück. Heimann macht ja für den Neubau Deutschlands und den damit einhergehenden Umbau Europas zur Voraussetzung, daß die Angst um die eigene Freiheit durch den Sieg der progressiven Elemente innerhalb der Staaten Europas ihren realen Grund verliert. Die Frage ist also gestellt: Wie können die Privilegien der Herrschenden abgebaut werden? Wie kann die höhere Synthese zwischen Sozialismus und Kapitalismus entstehen? b) Unilateralisierung der Deutschlandpolitik Zuerst ist festzustellen, daß die auf eine „Synthese zwischen Freiheit, Demokratie und Sozialismus" (S. 28) zusteuernde Konvergenz die Einschränkung der Privilegien der Herrschenden in Ost und West fordert. Die Intervention in der CSSR geschah, „weil dieser vom Volk unterstützte Sozialismus mit menschlichem Gesicht eine ernsthafte Gefahr für die privilegierte und demokratisch nicht legitimierte und kontrollierte Schicht der im Osten politisch herrschenden Bürokratie und der im Westen ökonomisch herrschenden Kapitaleigner wurde" (S. 19). Das Schicksal des Reformkommunismus zeigt auch, daß die Konvergenz sich nicht automatisch einstellt, denn „es gibt keinen Sachzwang zur Konvergenz, der zielstrebiges politisches Handeln überflüssig macht" (S. 17). Andererseits ist die Konvergenz möglich, gibt also eine für politisches Handeln brauchbare Orientierung; denn die Ablehnung der Theorie im Osten, so legt Heimann ausführlich dar, sei nur im Ausbleiben einer Konvergenzpolitik des Westens begründet (S. 17— 19). Eine solche Politik schlägt Heimann schließlich als Fazit seiner Überlegungen über eine Neuvereinigung Deutschlands vor.

Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Situation, wie Heimann sie sieht: Die Bundesrepublik und ihre Regierung hat es bei der DDR mit einem Staat zu tun, in dem eine nicht legitimierte Bürokratie herrscht und ihre Privilegien verteidigt. Diesen dogmatischen Kräften stehen progressive gegenüber, die im Sinne der Konvergenztheorie auf eine höhere Synthese im demokratischen Sozialismus hinarbeiten wollen, d. h. die Privilegien der Herrschenden gegenüber dem Volk einschränken und durch systemüberwindende Reformen die Wurzeln der äußeren Spannungen beseitigen wollen (vgl. S. 26).

Nun kann sich aber die Bundesregierung in ihrer Politik nur an die DDR wenden, wenn sie sie so anerkennt, wie sie innen-und außenpolitisch verfaßt ist, also ihre innen-und außenpolitische Konsolidierung nicht behindert: Denn „diese innen-und außenpolitische Konsolidierung und die internationale Aufwertung der DDR sind unabdingbare objektive Voraussetzungen für eine konsequente Liberalisierung, weil — unabhängig vom guten oder bösen Willen der Regierenden — in einem innen-und außenpolitisch in Frage gestellten und gefährdeten Staat ein liberales und demokratisches Regime nicht funktionsund lebensfähig ist (S. 11 f.). Liberalisierung und Demokratisierung haben aber in der DDR ihre Grenzen: „Die Sowjetunion und die SED-Führung werden evolutionäre Veränderungen in der DDR jedoch nur in dem Maße zulassen, in dem sie sich nicht zu einem revolutionären Umsturz weiterentwik-kein und die Existenz des Staates bedrohen können." (S. 12).

Die Konvergenzpolitik steht also vor einem Dilemma: Sie will eine Veränderung des kommunistischen Regimes betreiben, die auf die Dauer die undemokratischen Privilegien der herrschenden Bürokratie beschneidet und eine demokratische Form des Sozialismus hervorbringt. Die Partner für diese Politik sind aber genau die Funktionäre, die ihre exklusive Herrschaftsstellung verlieren sollen. Heimanns Lösung des Dilemmas: Die Funktionäre sollen durch Einsicht für eine Umstrukturierung des Systems zu Lasten ihrer eigenen Stellung gewonnen werden. Die geforderte Einsicht besteht in der Erkenntnis, daß in der BRD ebenfalls Reformen in Richtung auf die bekannte Synthese ins Werk gesetzt werden: „Wenn wir vom Westen aus versuchen wollen, das Denken dieser Funktionäre zu beeinflussen und zu ändern, müssen wir zunächst unser eigenes Denken ändern und auf einen Dialog einstellen. Und wenn wir wollen, daß sie die Verhältnisse in der DDR in Richtung eines demokratischen Sozialismus verändern, müssen wir ihnen mit entsprechenden Bemühungen in der Bundesrepublik vorangehen" (S. 27).

Der Gedankengang ist nicht ganz überzeugend. Denn wenn die Voraussetzung stimmt, daß der demokratische Sozialismus in der DDR die Funktionärsherrschaft bedroht, dann kann demokratischer Sozialismus in der BRD kein nachahmenswertes Vorbild sein. Kann das Mißtrauen der Funktionäre etwa dadurch besänftigt werden, daß im Westen mehr Demokratie undFreiheit realisiert wird? Ist nicht etwas anderes viel wahrscheinlicher: Um die Konvergenz trotz des Widerstandes der anderen Seite zu forcieren, bleibt der Bundesrepublik nichts übrig, als von sich aus ihr System auf das der DDR hin zu entwik-keln, um so den mißtrauischen Funktionären deutlich zu machen, daß ihre Herrschaft eben nicht bestritten wird? Dann wird aber nichts aus der Synthese auf höherem Niveau — nur eine schrittweise Anpassung ist die Folge: einseitige Anpassung, um die eigene Harmlosigkeit zu beweisen, Unterordnung der Eigenentwicklung unter das Urteil und die Empfindlichkeit bürokratischer Funktionäre. Was soll dann einen Funktionär noch veranlassen, an der Einschränkung seiner Privilegien mitzuwirken? Mir scheint, diese Konsequenz ist in Heimanns Vorschlag deutlich angelegt. Dabei ist seine Grundforderung nach mehr Demokratie in der Bundesrepublik, nach inneren Reformen verschiedenster Art ja vollkommen berechtigt. Nur hilft es uns wenig, wenn wir zum Maßstab von Reformen für mehr Demokratie bei uns die Frage machen, wie sie auf das Denken der Funktionäre wirken. Die Re-B formen, die hierzulande notwendig und möglich sind, müssen entsprechend diesen Notwendigkeiten und Möglichkeiten angepackt werden. Ob diese Reformen auf die Funktionäre der SED attraktiv oder abstoßend wirken, ist eine Frage, die im Rahmen der Beziehungen zwischen BRD und DDR wohl berücksichtigt werden kann. Es ist aber keine Frage, die in die Gestaltung der Reformen Eingang finden darf. Deutschlandpolitik ist nicht gleich westdeutsche Innenpolitik. Heimann ordnet diese jener unter. Ich meine, er steht auch hierbei in einer Tradition, die eigentlich überwunden schien: die Bundesrepublik als Provisorium aufzufassen und die Entfaltung ihrer eigenen Möglichkeiten dem Ziel der Neu-(Wieder-) Vereinigung unterzuordnen. Freilich hat Heimann die Vorzeichen vertauscht: sollte ehedem Deutschland durch Anpassung der DDR an die Bundesrepublik wiedererstehen, so empfiehlt er tendenziell die innere Anpassung der BRD an die DDR.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Seitenzahlen im Text beziehen sich auf den genannten Aufsatz.

  2. Alfred Grosser, Deutschlandbilanz. Geschichte Deutschlands seit 1945, München 1970, S. 458.

  3. Hans-Peter Schwarz, Die Rollen der Bundesrepublik in der Staatengesellschaft, in: Strukturwandlungen der Außenpolitik in Großbritannien und der Bundesrepublik, hrsg. v. Karl Kaiser und Roger Morgan, München und Wien 1970 (Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Band 29), S. 225— 256, hier S. 227.

  4. Zur Funktion des Nationalismus in Osteuropa s. z. B. Gerda Zellentin, Außenpolitik und Ökonomie kommunistischer Staaten, in: Die anachronistische Souveränität. Zum Verhältnis von Innen-und Außenpolitik, hrsg. Ernst-Otto Czempiel, Köln und Opladen 1969 (PVS Sonderheft 1/1969), S. 164— 204, hier bes. S. 192— 195; Iring Fetscher, Modelle der Friedenssicherung. München 1972, S. 37, 68— 70.

  5. Mit diesem Begriff überschreibt Richard Löwenthal seinen Beitrag in: Außenpolitische Perspektiven des westdeutschen Staates, Band 1: Das Ende des Provisoriums. München und Wien 1971 (Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Band 30/1), S. 11— 18.

  6. Vgl. Hans-Peter Schwarz, a. a. O., S. 231— 236.

  7. W. D. Sokolowski, Militär-Strategie, deutsche Übersetzung aus dem Russischen der 3. Auflage, Köln 1969, bes. S. 68.

  8. Vgl. die von Heimann in Anm. 27 angeführte Literatur. Außerdem die Diskussion der Konvergenztheorien bei Wilfried von Bredow, Vom Antagonismus zur Konvergenz? Studien zum Ost-West-Problem, Frankfurt/Main 1972.

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Karl Markus Kreis, Dr. phil., geb-1940 in Steinheim am Main, Studium der Philosophie an der Hochschule für Philosophie (Pullach/München) und der Politologie an den Universitäten München und Innsbruck, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung (Alfter bei Bonn). Veröffentlichungen: Die Genfer Indochina-Regelung und die Gründe für ihr Scheitern, in: Europa-Archiv 4/1973; Großbritannien und Vietnam. Die britische Vermittlung auf der Genfer Indochinakonferenz 1954 (Mitteilungen des Instituts für Asienkunde Hamburg 51/1972, im Druck); Großbritanniens Rolle in Vietnam 1954— 1968, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, August 1970.