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Die Zukunft Europas Eine Standortbestimmung des Interkirchlichen Friedensrates in den Niederlanden *) | APuZ 13/1973 | bpb.de

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APuZ 13/1973 Artikel 1 Die Zukunft Europas Eine Standortbestimmung des Interkirchlichen Friedensrates in den Niederlanden *) MBFR: Aufrüstung durch Rüstungskontrolle?

Die Zukunft Europas Eine Standortbestimmung des Interkirchlichen Friedensrates in den Niederlanden *)

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Zusammenfassung

Der niederländische Interkirchliche Friedensrat (IKV), der in seiner Standortbestimmung die Frage nach der gemeinsamen Zukunft aller europäischen Staaten zur Diskussion stellt, wendet sich dabei zunächst militärpolitischen Perspektiven zu. Daß Westeuropa sich zu einer Großmacht alten Stils entwickelt, wird ebenso abgelehnt wie das gegenwärtige Abschreckungssystem. Auf die Dauer bietet dieses System, das als zutiefst unsittlich angesehen wird, keine Garantie gegen einen nuklearen Krieg. Begrenzte Kriege in der Dritten Welt vermag es nicht zu verhindern, außerdem haften ihm eine Reihe unerträglicher Nebenwirkungen an. Dabei verkennt der IKV nicht, daß eine Strategie, die auf die Überwindung dieses Systems gerichtet ist, von der gegenwärtigen Realität auszugehen hat. Westeuropa sollte die Spirale des Rüstungswettlaufs damit durchbrechen, daß es einige einseitige, in erster Linie psychologisch wirksame erste Schritte nach vorne zu tun wagt. Mit einer Aufzählung weiterer konkreter Schritte, die geeignet sind, einen systematischen Prozeß allmählichen Spannungsabbaus in Gang zu bringen, wird dieser Teil der Überlegungen fortgesetzt. Im weiteren befaßt sich der IKV mit wirtschaftlichen und sozialpolitischen Problemen, besonders mit den Faktoren, die im Rahmen des internationalen Systems zu einer positiven gegenseitigen Abhängigkeit führen könnten. Hinsichtlich der westeuropäischen Integration, der der IKV grundsätzlich positiv gegenübersteht, wird auf die Gefahr hingewiesen, daß hier ein protektionistischer Block entstehen könnte, der als wirtschaftliche Supermacht ausschließlich seine eigenen Interessen verfolgt. Der IKV gibt für die Weiterentwicklung Europas eine Reihe von Anregungen unter dem Aspekt, daß die Strukturen eines neuen Europas der Forderung nach weltweiter Gerechtigkeit genügen müssen. Schließlich wendet sich die Standortbestimmung dem Problem der Menschenrechte zu. Der IKV warnt davor, dem Wunsch nach Entspannung und gesamteuropäischer Zusammenarbeit zuliebe die Augen vor der in Osteuropa'(und anderswo) praktizierten Verletzung der Menschenrechte zu verschließen. Vielmehr sollte das Streben, zu einer europäischen Friedensordnung zu gelangen, auch dazu dienen, den Respekt vor den Menschenrechten zu fördern.

Mit der Veröffentlichung dieser Arbeit verbindet die Redaktion die Absicht, die permanent aktuelle Debatte in der Bundesrepublik über wünschenswerte oder zu vermeidende Entwicklungen in Europa um eine Stimme von besonderem Gewicht aus einem Nachbarland zu bereichern. „Bereichern" — dieses Wort scheint berechtigt, gerade weil die hier vorgelegte tour d'horizont des IKV in manchen Punkten recht unorthodox ist. Das gilt vor allem für die Beurteilung des gegenwärtigen militärpolitischen Konzepts und für die Vorschläge zu grundlegenden Veränderungen auf diesem Gebiet. Widerspruch ist also zu erwarten. Der Redaktion wird in absehbarer Zeit von kirchlicher Seite eine Stellungnahme zu der IKV-Studie für eine Veröffentlichung in der „Beilage" zur Verfügung gestellt.

Die Redaktion

Einführende Bemerkungen von P. A. Hausmann

Dieter Senghaas, Volker Rittberger, Burkhard Luber: MBFR: Aufrüstung durch Rüstungskontrolle? ............................................... S. 26

In zweifacher Hinsicht ist die Publikation des niederländischen Interkirchlichen Friedensrates (Interkerkelijk Vredesberaad — IKV) bemerkenswert: Zum einen wegen ihrer inhaltlichen Aussagen, die aus niederländischer Perspektive eine gesamteuropäische und darüber hinaus eine weltweit verstandene Friedenspolitik kleiner Schritte entwickelt. Fast ebenso wichtig ist — zum anderen — der methodisch-didaktische Aspekt der Studie, die darauf zielt, in den Niederlanden einen breit angelegten Meinungsbildungsprozeß hinsichtlich der künftigen Entwicklung Europas in Gang zu bringen. Wie dies vor, während und nach der niederländischen Friedenswoche (September 1972) in einem erstaunlichen Umfang gelungen ist, sei in aller Kürze geschildert. Der IKV, in dem die katholische Kirche, die beiden großen protestantischen Kirchen des Landes sowie sechs kleinere kirchliche Gruppierungen vertreten sind, entstand im Jahre 1966, als man im Rückblick auf die Anfang der sechziger Jahre leidenschaftlich geführte Atomdiskussion die Wirkungslosigkeit kirchlicher Stellungnahmen gegen Kernwaffen erkannte. Statt sich mit moralisch hochstehenden, aber politisch ineffektiven Appellen an die staatlichen Leitungsgremien zu wenden, bemüht sich der IKV darum, die öffentliche Meinung im Sinne einer dynamischen, zukunftsorientierten Friedenspolitik zu beeinflussen. Im Zuge dieser langfristig konzipierten und beharrlich verfolgten Strategie spielt die Friedenswoche, die seit 1967 jedes Jahr im September stattfindet, eine zentrale Rolle. Dem IKV obliegt es, jährlich das Gesamtthema der Friedenswoche zu bestimmen sowie geeignetes Informations-und Studienmaterial bereitzustellen. Auf lokaler Ebene wird die Friedenswoche von einer Vielzahl selbständig agierender Initiativgruppen getragen, die, so groß die Unterschiede ansonsten auch sein mögen, sich darin einig sind, daß zu den Voraussetzungen für eine der heutigen Weltsituation adäquate Friedenspolitik eine Mentalitätsveränderung der Öffentlichkeit gehört. Durch die Zusammenarbeit des IKV mit etwa 300 lokalen Aktionsgruppen nimmt die Friedenswoche inzwischen eine weithin beachtete Schlüsselfunktion im Rahmen der niederländischen Friedensbewegung ein.

„Die Macht von Europa" — so lautete das Thema der letztjährigen Friedenswoche, das sich dem IKV angesichts der Erweiterung der EWG und der bevorstehenden Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa aufdrängte. Inhaltlich ging es dabei um die Frage, wie man, nachdem weltweite Entspannungsbemühungen den Kalten Krieg abgelöst haben, sich die Zukunft Europas vorstellen sölle. Angesichts der Verantwortung, die die Niederlande im Rahmen der NATO und EWG tragen, spitzte der IKV diese Frage auf die künftige Rolle dieser beiden Institutionen zu: eines Militärpaktes, der damit droht, im Ernstfall ganze Völker aüszulöschen, sowie eines Wirtschaftsblockes, der — wie die Welthandelskonferenz in Santiago erneut gezeigt hat — über die vitalen Bedürfnisse und legitimen Forderungen der Dritten Welt sich rücksichtslos hinwegsetzt.

Daß der IKV damit eine höchst kontroverse Problematik anschnitt — dessen war man sich bewußt. Und gerade deshalb hielt der IKV es für geboten, es nicht bei wohlklingenden, aber realitätsfernen Appellen bewenden zu lassen, sondern mit präzisen Fragen und klaren Thesen zu der anstehenden politischen, militärischen und ökonomischen Thematik Stellung zu nehmen. Das Ergebnis dieser Bemühungen, nach sorgfältigem Studium dieser komplexen Materie und zusammen mit Sachkennern erarbeitet, bildet die vorliegende Standortbestimmung. Besser jedoch spricht man nur von einem vorläufigen Ergebnis, denn der IKV betrachtet die Standortbestimmung keineswegs als ein letztes Wort, das allerseits abgeklärte Problemlösungen bietet. Mit dieser Veröffentlichung hofft er vielmehr, die Anfang der sechziger Jahre festgefahrene Atomdebatte unter den veränderten Bedingungen der siebziger Jahre wieder in Gang zu bringen. Den politischen und gesellschaftlichen Kräften des Landes, den Forschungszentren, aber auch und nicht zuletzt den Massenmedien hat der IKV diesen Text in der Hoffnung angeboten, daß sie die Diskussion aufgreifen und weiterführen.

Dazu ist es in der Friedenswoche, aber auch schon vorher und in verstärktem Maße nachher gekommen. Eine erste Problemskizze, mit der der IKV im Frühjahr 1972 an die Öffentlichkeit trat, weckte das Interesse des niederländischen Außenministers, der daraufhin den IKV zu einem vertraulichen Gespräch einlud. Unmittelbar vor der Friedenswoche kam es zu einem weiteren Gespräch mit dem Außenminister. Journalisten, die diesmal zum Gedankenaustausch hinzugezogen worden waren, berichteten darüber ausführlich in der Presse. Im Rahmen der Friedenswoche hat das Positionspapier des IKV in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit gefunden und dazu beigetragen, die überkommenen Positionen machtpolitischen Denkens zu überprüfen und aufgrund dessen die Frage nach der Zukunft Europas neu zu stellen. Diesen Meinungsbildungsprozeß hat der IKV noch dadurch stimuliert, daß er sich an sämtliche politische Parteien des Landes mit der Aufforderung wandte, zu den in der Standortbestimmung aufgeworfenen. Fragen Stellung zu beziehen. Vor den niederländischen Parlamentswahlen Ende November vorigen Jahres hat der IKV die Stellungnahmen der Parteien, mit einem Kommentar des IKV versehen, publiziert. Seitdem haben politische Parteien, aber auch kirchliche Leitungsgremien und sonstige Instanzen mit dem IKV Kontakt aufgenommen, um gemeinsam, mit großem Engagement und sachlicher Leidenschaft, über die Zukunft Europas nachzudenken.

Wie erklärt es sich, daß es dem IKV gelungen ist, die öffentliche Meinung sowie die politischen Entscheidungsträger derartig in eine Sachdebatte zu verwickeln? Dieser Erfolg hat vermutlich einen doppelten Grund. Daß die politisch Verantwortlichen sich in dem Maße für die Denkarbeit eines kirchlichen Gremiums interessieren, rührt — taktisch gesehen — daher, daß es dem IKV in den vergangenen Jahren mittels einer weitgestreuten und von der Basis mitgetragenen Öffentlichkeitsarbeit gelungen ist, das Interesse breiter Kreise für die Friedensprobleme zu wecken. Damit ist der IKV selber ein ernst zu nehmender Faktor im politischen Leben des Landes geworden. Auf dem Umweg über die Öffentlichkeit erreicht er nun das Ohr der Mandatsträger. So wichtig taktische Momente jedoch sein mögen, entscheidend war schließlich der inhaltliche Aspekt, die Qualität der Aüssagen.

Im einzelnen die vom IKV vertretene Konzeption nachzuzeichnen, ist nicht Aufgabe dieser Einführung. Man lese die Standortbestimmung selber! Dabei möge der deutsche Leser freilich zweierlei bedenken: Erstens, daß hier eine holländische Stimme spricht, die die europäische und weltpolitische Bühne aus niederländischer Sicht betrachtet. Aus deutscher Perspektive dürfte sich einiges anders ausnehmen. Aber das schadet nichts, denn der IKV betrachtet die Standortbestimmung ohnehin lediglich als eine Diskussionsgrundlage, deren Funktion darin besteht, zu einer Debatte über die Zukunft Europas herauszufordern. Da die angeschnittenen Probleme nur im internationalen Rahmen gelöst werden können, begrüßt der IKV die ihm gebotene Möglichkeit, die Standortbestimmung der anregenden und klärenden Kritik deutscher Leser auszusetzen. *)

L Einleitung

* in: Europa Mittel-und Südamerika Naher Osten Afrika Asien Zahl der Kriege 4 23 25 16 29 Zahl der Jahre 6 36 52 54 112

Der Interkirchliche Friedensrat (IKV), der das Thema der niederländischen Friedenswoche bestimmt, lenkt alljährlich die Aufmerksamkeit jeweils auf einen bestimmten Aspekt der Friedensproblematik. Dabei wird immer wieder hervorgehoben, daß Friede viel mehr ist als die Abwesenheit von Krieg. Friede ist auch die Abwesenheit der Möglichkeit des Krieges. Friede ist ein Zusammenleben von Völkern, bei dem die Sicherheit eines jeden Volkes nicht auf die Drohung mit Waffen oder Waffenanwendung beruht, wo wirtschaftliche und soziale Entwicklung für alle möglich ist und die Menschenrechte anerkannt und respektiert werden. Die biblische Verheißung des Friedens beinhaltet zugleich den Auftrag, danach zu streben.

Auf all diesen drei Gebieten gibt es auch in Europa noch große Probleme: Wie können Sicherheit, Entwicklung und Menschenrechte innerhalb Europas gefördert werden?

Welche positive Rolle kann Europa in der Welt spielen? Wie muß ein sicheres und menschenwürdiges zukünftiges Europa aussehen?, Weisen die augenblicklichen Entwicklungen in diese Richtung? Und was können wir hier in Holland tun, um Entwicklungen, die wir für wünschenswert halten, zu beschleunigen? Um diese Fragen geht es sowohl in der diesjährigen Friedenswoche als auch in dieser Standortbestimmung. Das Thema, das wir gewählt haben, scheint unter einem inneren Widerspruch zu leiden: Einerseits erscheint es schwierig, die komplizierten Probleme militärischer und wirtschaftlicher Macht, mit denen wir es in Europa zu tun haben, in den Griff zu bekommen. Die Prozesse sind undurchsichtig, die Entscheidungen scheinen weit weg von uns zu fallen. Andererseits geht es jedoch zugleich um Probleme, die uns direkt angehen und für die wir auch Verantwortung tragen müssen.

Internationale Organisationen und Zusammenarbeit

Die niederländische Politik äußert sich in erster Linie innerhalb und auf dem Wege der verschiedenen internationalen Kooperationsformen und Organisationen, an denen die Niederlande teilnehmen, zum Beispiel die EWG und die NATO. Es ist klar, daß wir die großen Probleme, mit denen wir konfrontiert sind — ob es sich nun um Krieg, Armut oder Verschmutzung handelt — überhaupt nur innerhalb der internationalen Zusammenarbeit lösen können. Bedingt durch seine Lage bedeutet das für Holland: in erster Linie im europäischen Rahmen.

Daraus folgt, daß es von größter Bedeutung ist, wie die Zusammenarbeit im europäischen Rahmen aussehen wird. Es geht uns nicht um internationale Zusammenarbeit um ihrer selbst willen, sondern um die Frage: „Zusammenarbeit mit wem, wie und wobei?"

Es geht um Fragen wie: „Wie stellen wir uns das zukünftige Europa vor? Wer gehört dazu? Welche Kennzeichen muß es tragen? Was für Ziele muß es sich stecken? Und mit was für Mitteln muß es diese zu erreichen suchen?" Was verstehen wir unter Europa?

Das Wort „Europa" sollte man heute nur dann gebrauchen, wenn man damit zugleich das Ganze und die gemeinsame Zukunft meint von — den zehn *)Ländern der (erweiterten) EWG:

Belgien, Dänemark, England, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen und Westdeutschland, — der Sowjetunion und den übrigen Ländern des Warschauer Paktes: Bulgarien, Ungarn, Ostdeutschland, Polen, Rumänien und die Tschechoslowakei plus Albanien; — den neutralen Staaten Mitteleuropas: Finnland, Schweden, Österreich, die Schweiz und Jugoslawien;

— den übrigen Ländern Südeuropas: Portugal, Spanien, Griechenland und Türkei; — einigen Inselstaaten: Island, Malta und Zypern. Alle diese Länder zusammen bilden Europa.

Die zehn Länder der europäischen Gemeinschaft bilden noch lange nicht Europa, auch wenn sie in ihrem Sprachgebrauch oft den Anschein erwecken, als wären sie es. Das gilt auch für den Europarat, in dem die osteuropäischen Länder nicht vertreten sind. Die einzige, Wirklich ganz Europa umfassende Organisation ist die Wirtschaftskommission für Europa, die ein Organ der Vereinten Nationen ist.

Die Sowjetunion nimmt eine besondere Stellung ein. Dieses Land ist zweifellos eine europäische Macht. Aber auf Weltniveau ist die UdSSR zu gleicher Zeit der große Gegenspieler der Vereinigten Staaten, namentlich auf dem Gebiet der Kernwaffen. Außerdem grenzen seit dem Zweiten Weltkrieg die Einflußbereiche der beiden Supermächte mitten in Europa aneinander. Auch aus diesem Grund muß zwischen der UdSSR und den übrigen Ländern Osteuropas unterschieden werden. Für die westeuropäischen Länder ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, daß es in Europa um Beziehungen mit allen osteuropäischen Ländern einschließlich der Sowjetunion geht und nicht nur um Beziehungen mit den osteuropäischen Ländern ohne UdSSR. In der UdSSR darf außerdem nie das Gefühl entstehen, daß die westeuropäischen Länder danach streben, die osteuropäischen Länder von ihr loszulösen. Im Unterschied zur Sowjetunion, die nicht nur historisch und kulturell, sondern auch geographisch zu Europa zählt, gehören die Vereinigten Staaten nicht zu Europa.

Dennoch muß Amerika als Weltmacht in die Verständigung über die Zukunft Europas einbezogen werden. Ein Bild Von der Zukunft Europas Die wichtigste Forderung, die man an Entwicklungen in Europa stellen muß, ist, daß sie auf eine Situation zielen, in der Friede und Sicherheit in Europa (und in der ganzen Welt) nicht länger auf dem Gleichgewicht des Schreckens, der gegenseitigen Drohung mit totaler Vernichtung, beruhen. Es geht jedoch ausdrücklich nicht allein um das Gleichgewicht des Schreckens. Alle Anstrengungen haben nur dann einen Sinn, wenn Europa sich für gerechte Verhältnisse in der Welt einsetzt und hilft, gleiche. Chancen für alle Menschen zu schaffen. Sobald man sich in diese Probleme vertieft, fällt einem auf, wie wenig bisher über die Frage nachgedacht worden ist, wie Europa aussehen würde (und könnte), wenn es alle Gegensätze und Konflikte zwischen Ost und West überwunden hat. Meistens sind die Politiker und Diplomaten zu sehr mit den Tagesproblemen und -entscheidungen beschäftigt, um neue politische Ideen ausarbeiten zü können.

Der wichtigste Beitrag von Westeuropa für Frieden und Sicherheit in der ganzen Welt besteht darin, eine bessere Organisation des Friedens und der Sicherheit in ganz Europa zu schaffen.

Dadurch würde das Gleichgewicht des Schreckens viel von seinem (ihm unterlegten) Sinn verlieren.

Außerdem kann das Auftreten Europas in der Welt angsteinjagend oder vertrauenerwekkend sein. Und abhängig davon werden andere Mächte angsteinjagend oder vertrauenerweckend reagieren.

Westeuropa wird eine „Großmacht neuen Stils" sein müssen. Möglich ist das jedoch nur, wenn man sich bewußt dafür entscheidet.

So wie Westeuropa sich im Augenblick (ohne sich weiter um den Rest von Europa zu kümmern) entwickelt, steuert es geradewegs den Status einer vierten oder fünften Super-macht alten Stils neben den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion und China an. Dieser Status impliziert, daß man kleine Länder beherrscht, indem man sie zum eigenen Vorteil mißbraucht und sie in sich zerstritten hält, ebenso impliziert dieser Status, daß man eine Atommacht aufbaut und dadurch zum Konkurrenten der anderen Großmächte wird.

Dieses Streben von Westeuropa, das vielleicht weniger ein Streben als ein Gewähren-lassen von allmählich verlaufenden „automatischen" Prozessen ist, Verhindert, daß Westeuropa sich zu einer Großmacht neuen Stils entwickelt: Zu einer Großmacht, die andere Werte gewählt hat, die von dem Wunsch, auf militärischem Gebiet eine Rolle zu spielen, Abstand genommen hat und die von daher zuallererst Abstand von eigenen Kernwaffen nimmt; zu einer Großmacht, die keine imperialistische Politik in bezug auf die Dritte Welt treibt, die dazu die notwendigen gesellschaftlichen Reformen bei sich durchführt; zu einer Großmacht, die nicht durch militärische Macht, sondern durch Wissenschaft und Kultur, durch sinnvollen Gebrauch technologischen Wissens und wirtschaftlichen Reichtums die Welt bereichern will; zu einer Groß-B macht, die, und das ist das Wichtigste, sich bei allem, was sie tut, fragt: „Fördert das Zustandekommen von größeren Verbindungen als die, in denen wir nun leben, eine neue Art von Weltpolitik?"

Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, daß wir aus Westeuropa zunächst eine herkömmliche Großmacht machen können, um diese dann für allerlei gute Zwecke einzusetzen, wie zum Beispiel die Zusammenarbeit mit Osteuropa und mit Ländern der Dritten Welt. Was wir mit dem ganzen Europa erreichen wollen, muß schon jetzt soviel wie nur irgend möglich in der Gestalt und dem Auftreten des heutigen Westeuropa sichtbar werden. Und der Zukunft dienliche Zielsetzungen Westeuropas in diesem Augenblick sind die beste Art, auf Entwicklungen in ganz Europa und anderswo Einfluß auszuüben.

Sicherlich bildet nicht nur die heutige Entwicklung innerhalb Westeuropas ein Hindere nis für eine Neuordnung von Europa als Ganzem, z. B. rufen auch die spezifischen Probleme in den Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den übrigen osteuropäischen Ländem (Breschnjew-Doktrin, Tschechoslowakei 1968) nach einer Lösung.

Westeuropa wird bereit sein müssen, mit Osteuropa (einschl.der UdSSR) eine festgefügte Friedensordnung aufzubauen, die das Resultat sehr bestimmter Zusammenarbeitsformen ist, wobei Westeuropa darauf verzichtet, sich noch länger als das Zentrum Europas zu betrachten Es. ist notwendig und möglich, daß Westeuropa, will es dieses Ziel erreichen, auf dem Weg dahin vorangeht. Noch ist Westeuropa nämlich keine Großmacht, während es die Sowjetunion schon seit einigen Jahrzehnten ist.

In ferner Zukunft wird ganz Europa einschließlich der Sowjetunion eine Macht neuen Stils werden müssen. Aber Westeuropa muß hierin vorangehen, denn die UdSSR wird nur dann allmählich denselben Weg zu gehen bereit sein, wenn es erfährt, daß es von einem Teil der Welt, von Westeuropa, nichts zu befürchten hat. Das letzte Ziel eines solchen Prozesses wäre erst dann erreicht, wenn auch die übrigen wichtigen Beziehungen, nämlich diejenigen zwischen Amerika, der UdSSR und China, sich verändern würden.

II. Friede und Sicherheit in Europa

Zunächst wollen wir nun näher auf die Probleme von Frieden und Sicherheit in Europa eingehen.

Der „Friede" Europas — der eigentlich besser mit „organisierter Friedlosigkeit" umschrieben wird — beruht auf der gegenseitigen Angst vor einem Atomkrieg. Zwischen den einander gegenüberstehenden Streitkräften der NATO und des Warschauer Pakts und zwischen den großen strategischen Kernwaffen der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion wird ein Gleichgewicht gehalten.

Anfang der sechziger Jahre erreichte die Diskussion über die Atombombe und die Abrüstung ihren Höhepunkt. Allmählich ist das Interesse abgeebbt. Man richtete das Augenmerk immer mehr auf die Spannungen zwischen armen und reichen, weißen und farbigen Völkern, zwischen „Nord" und „Süd" und seit einiger Zeit auch auf die Bedrohung unserer Umwelt. Aber die Kernwaffen sind immer noch da. Der Rüstungswettlauf geht weiter. Wir dürfen die Bedeutung, die das für all die anderen Probleme hat, nicht unterschätzen.

A. Eine fundamentale Kritik des Gleichgewichts des Schreckens Das Abschreckungssystem beruht auf der zentralen Norm, die Gewalt und Drohen mit Gewalt in unserer Kultur einnehmen. In unserer Gesellschaft ist es durchaus üblich, im großen wie im kleinen Gewalt zu gebrauchen bzw. mit Gewalt zu drohen, wenn man das Verhalten seiner Mitmenschen beeinflussen möchte. Das Strafen ist uns sehr viel vertrauter als das Belohnen. Unser Denken über zwischenmenschliche Beziehungen steht unter dem starken Einfluß von „Wer nicht hören will, muß fühlen." Und das ist auch bezeichnend für unsere Haltung gegenüber zwischenstaatlichen Problemen, und so stehen sich auch die Großmächte gegenüber. Beide verfügen über eine unverwundbare Vergeltungsmacht, Raketen in unterirdischen Silos oder auf U-Booten, die man auch dann noch zum Vergeltungsschlag einsetzen kann, wenn der andere zuerst zuschlägt. Zum Gleichgewicht des Schreckens gehören die militärischen Bündnisse und politischen Einflußsphären. Die kleineren Länder erhoffen sich eine Garantie ihrer Sicherheit dadurch, daß sie sich unter den „Atom-Schirm“ einer Großmacht scharen. Gegen dieses System des Gleichgewichts des Schreckens, der Einflußgebiete und Bündnisse, um damit den „Frieden" zu erhalten, möchte der IKV die folgenden Einwände erheben: 1. Das Gleichge'Wicht des Schreckens kann versagen Auch wenn wir vielleicht zugeben müssen, daß das Gleichgewicht des Schreckens in der vergangenen Zeit „funktioniert" hat (man kann es nicht beweisen), ist es doch alles andere als eine sichere Garantie gegen einen großen Atomkrieg. Der wichtigste Grund, warum das Gleichgewicht des Schreckens keine Sicherheit bieten kann, beruht auf der Tatsache, daß unter dem Atomschirm der Machtstreit zwischen den Großen weitergeht. In den Konflikten wirkt die Angst vor einem Atomkrieg — den niemand will — zweifellos mäßigend, aber die Angst, in einer Krisensituation oder einem Konflikt an die Wand gedrückt zu werden oder an Prestige zu verlieren, weil man vor aller Augen „abgeschreckt" worden ist, kann von einem bestimmten Punkt stärker werden als die Angst vor einem Krieg. Zudem muß das Gleichgewicht des Schreckens gerade dann wirksam werden, wenn die Spannungen ansteigen, Politiker unter großem psychischen Druck handeln müssen und die Gefühle von Haß, Angst und verletztem Prestige den kühlen Verstand verdrängen. Das rationale Menschenbild, das der Abschreckungsphilosophie zugrunde liegt, stimmt keineswegs mit den Ergebnissen der Sozialwissenschaften überein. In einer solchen Krisensituation wird der Gewaltstandpunkt seitens der verlierenden Partei verstärkt vertreten werden, vor allem deswegen, weil die Führungskräfte sich durch den Gedanken irreführen lassen könnten, daß die Gegenpartei im letzten Moment doch zurückstecken wird.

Hierin liegt die Gefahr, daß man sich verrechnet, daß man sich in den Reaktionen des anderen-und in dem, was er als sein Lebensinteresse ansieht, irrt. Es gibt in der Geschichte zahlreiche Beispiele von solchen halben und totalen Fehlrechnungen, die zu Kriegen führten, obwohl keiner zu Anfang den Krieg wollte. So hätte die Kuba-Krise 1962 verlaufen können, so könnte es im Mittleren Osten verlaufen und überall da, wo sich die Großmächte gegenüberstehen und vitale Interessen für sie auf dem Spiel stehen. Neue Errungenschaften der Technik Das Abschreckungssystem wird von neuen Entwicklungen auf dem Gebiet der Rüstung stark beeinflußt. Jede neue technische Errungenschaft muß, aus Angst, daß die Gegenpartei sie auch für die Rüstung ausnützen wird, sofort in ein neues Waffensystem umgesetzt werden. Dadurch wird der Rüstungswettlauf in Gang gehalten und damit treten auch wieder Perioden der Unsicherheit hinsichtlich des Gleichgewichts auf, was die Gefahr eines Krieges wieder anwachsen läßt. Die Angst, daß die Gegenpartei einen technologischen Vorsprung gewinnt, der das „Gleichgewicht"

in Gefahr bringen könnte, treibt den Rüstungswettlauf voran. Wie wahnwitzig diese Situation ist, umschreibt Charles W. Yost, der ehemalige Botschafter der Vereinigten Staaten bei der UNO, so:

„Viele unserer militärischen Strategen und Unheilspropheten leben in einem selbstgeschaffenen Alptraum. Keine der beiden Parteien in dem unsinnigen atomaren Rüstungswettlauf braucht die andere auf allen Gebieten zu übertreffen. Solange jede der beiden Parteien einen unverwundbaren Kem strategischer Waffen besitzt, mit dem der Gegenpartei unvorstellbare Vernichtung zugefügt werden kann, solange ist es genug, d. h. ausreichend. Alles übrige ist Beiwerk, Luxus, nutzlos für die wirkliche Sicherheit und nur dazu geschaffen, Angst und weitere Rüstung bei der Gegenpartei zu provozieren und die verschiedenen militärischen Sektoren in ihrer grenzenlosen Übertreibung zu bestärken, an die wir sie gewöhnt haben." 2)

Inwieweit die USA und die UdSSR tatsächlich in den SALT-Gesprächen angefangen haben, diesem Wahnsinn ein Ende zu bereiten, läßt sich noch nicht beurteilen. Man kann es nur hoffen, und es ist sicher nicht ausgeschlossen. Aber die kürzlich getroffenen Vereinbarungen können sich auch als Weichen für einen weiteren Rüstungswettlauf erweisen. 3. Die Aufrechterhaltung des Feindbildes Das Abschreckungssystem funktioniert nur, wenn die gegenseitige Bedrohung auch glaubwürdig ist, d. h., wenn man auch wirklich bereit ist, seine Drohung, falls nötig, wahrzuma-chen. Diese Bereitschaft ist um so größer, wenn die Gesellschaft in der Gegenseite den geschworenen Feind sieht. Wenn das Schreckbild des Feindes, vor dem man ständig auf der Hut sein muß, verblaßt, wird man auf die Dauer schwerlich der Bevölkerung das Geld für die Verteidigung abverlangen können. Das ist auch der Grund, weswegen ständig Nachrichten über die wachsende Macht des Gegenspielers erscheinen: Eindringen der Sowjetunion in die nordeuropäischen Gewässer und das Mittelmeer, Ausbreitung ihrer Raketen-systeme. Auf beiden genannten Gebieten wird dabei übrigens lediglich das westliche Übergewicht allmählich abgebaut. Aber solche Nachrichten werden dazu benutzt, um das Feindbild wachzuhalten und die Verteidigung zu verstärken. Wir dürfen annehmen, daß in der Sowjetunion ein ähnlicher Prozeß dazu beiträgt, das Feindbild und die Rüstung zu vergrößern.

Wir sollten jedoch noch ein weiteres Phänomen berücksichtigen: Das Denken in Begriffen wie Macht und Gegenmacht, Drohung und Bedrohung ist uns in unserer Kultur so selbstverständlich, daß es gar nicht einmal notwendig ist, im anderen den Feind zu sehen, um sich trotzdem gegen ihn zu rüsten. Wahrscheinlich macht diese Tatsache es nur noch schwieriger, das Gleichgewicht des Schreckens und den Rüstungswettlauf zu überwinden. 4. Keine Perspektive Im allgemeinen wird den Völkern, die unter dem „Atomschirm" leben, kaum etwas Vernünftiges über Dauer und Ausgang dieses Systems gesagt. Es ist leicht einzusehen, daß dieses riskante System eher zehn als dreißig Jahre halten wird. Es wird jedoch keine einzige Aussicht auf ein weniger gefährliches und weniger unmoralisches System geboten. So schleppt es sich hin von Krise zu Krise, und das einzige, was daran getan wird, ist die Bemühung, seine gefährlichsten Seiten unter Kontrolle zu bringen. 5. Rüstungslast In dem Bericht des Club von Rom, der von einem Team des Massachusetts Institute of Technology verfaßt worden ist, wird auf Grund der dort vorgenommenen Berechnungen folgendes festgestellt: „Wenn nicht in allernächster Zukunft das Bevölkerungswachstum gebremst, dem industriellen Wachstum ein Halt zugerufen wird, die Nahrungsproduktion an Qualität zunimmt, die Verschmutzung drastisch eingedämmt wird und die Rohstoffe in den wirtschaftlichen Kreislauf wieder eingebracht werden, wird die moderne industrielle Gesellschaft zusammenbrechen."

Zwar besteht hinsichtlich dieser Schlußfolgerung keine allseitige Übereinstimmung, jedenfalls aber werden die Länder West-und Osteuropas mit einer Anzahl gleicher Probleme konfrontiert werden, die sie als eine gemeinsame Herausforderung betrachten müssen, Unter anderem würde das bedeuten, daß man damit aufhört, Milliarden in den Rüstungswettlauf Zu stecken.

Der Rüstungswettlauf und die Kriegsvorbereitungen sind zu Recht vom Generalsekretär der UNO und auf der Umwelt-Konferenz in Stockholm „Only one Earth" als eine schwere Bedrohung der menschlichen Umwelt gebrandmarkt worden. Die Rüstung verschlingt einen großen Teil unseres Wohlstandes, und viele unersetzbare Rohstoffvorkommen werden schnell durch sie erschöpft.

Offensichtlich ist es noch immer leichter, das Geld für Rüstungen aufzutreiben als die im Vergleich dazu nur geringen Investitionen für die armen Länder aufzubringen. Auch für die sozialen Probleme in den reichen Ländern wie Bildungs-und Gesundheitswesen und Wohnungsbau ist nie genug Geld da. Wodurch für Menschen mit geringen Chancen die Möglichkeiten sich noch weiter verschlechtern. 6. Bündnisse Das heutige System der Friedenssicherung bringt es mit sich, daß sich die Großmächte mit kleinen Bündnispartnern umringen, die sich unter ihren Schutz stellen. Die Aufteilung der Welt in Bündnisse und Einflußsphären friert wahrscheinlich die Konflikte zwischen den Großmächten ein, ermöglicht diesen jedoch zur gleichen Zeit, die äußerst ungerechten politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den Ländern ihres Einflußgebietes aufrechtzuerhalten. Aus Angst vor einem Krieg lassen die Großmächte einander freies Spiel innerhalb ihrer jeweiligen Einflußgebiete. Das Auftreten der Sowjetunion in der Tschechoslowakei und das Auftreten Amerikas in den Ländern Lateinamerikas sind hierfür deutliche Beispiele, Dadurch, daß wir Bündnissen angehören, werden wir ungewollt immer wieder mitschuldig an dem Fehlverhalten unserer Bündnispartner. Man denke nur an das Auftreten der Vereinigten Staaten in Vietnam, Portugals Auftreten im südlichen Afrika und das der griechischen und portugiesischen Regierung im eigenen Land. Innerhalb des Warschauer Paktes schämen sich die Menschen in Polen und in den anderen Paktstaaten über die ihnen aufgezwungene Mitschuld an dem Einfall in die Tschechoslowakei. 1. Kriege in der Dritten Welt Das Abschreckungssystem verhindert, soweit es funktioniert, nur eine bestimmte Art von Kriegfen: den bewußt entfesselten großen Krieg zwischen den Supermächten. Aber die sogenannten „begrenzten" Kriege werden durch das Abschreckungssystem nicht verhindert, sondern eher begünstigt. Von diesen „begrenzten" Kriegen haben wir seit 1945 einige Dutzende gehabt. Diese meist sehr blutigen Kriege sind durch zwei Dinge gekennzeichnet: Es sind meist keine internationalen Kriege, sondern (internationalisierte) Bürgerkriege, und es sind Kriege, die beinahe ausschließlich in den Ländern der Dritten Welt stattfinden.

Übersicht über „begrenzte Kriege" seit 1945

Oft hängen diese Kriege direkt mit dem unvermeidlichen Machtstreben der Großmächte und ihrer Angst zusammen, daß sich die Grenzen ihrer Einflußsphären zu ihren Ungunsten verschieben könnten. Andere Kriege haben andere Ursachen, aber die Großmächte werden in sie hineingezogen, und eine Lösung ist nicht möglich, weil das internationale System keine funktionierende zentrale Instanz hat, die in solchen Konflikten helfend und regelnd auftreten kann. Der Konflikt zwischen den Großmächten macht die einzige Instanz, die wir haben, den Weltsicherheitsrat, weitgehend unbrauchbar. Dadurch stehen die Vereinten Nationen Konflikten wie in Vietnam oder zwischen Indien und Pakistan machtlos gegenüber. Unter den heutigen Umständen ist jeglicher Ausbau der UNO so gut wie unmöglich. 8. Zwang innerhalb der Gesellschaft Ein internationales System, das dermaßen auf dem Prinzip des Zwangs aufgebaut ist, zwingt auch die Staaten, auf den verschiedenen Ebenen ihrer eigenen Gesellschaft Zwang auszuüben. überall, wo innerhalb unserer gesellschaftlichen Einrichtungen (Familie, Schule, Betrieb) gegen das zentrale Prinzip des Zwanges aufbegehrt wird, muß der Staat bremsend und voller Mißtrauen eingreifen. Denn es ist seine Aufgabe, für die Grundlage des Gleichgewichts des Schreckens innerhalb der Gesellschaft zu sorgen. So wird das internationale System instand gehalten. Es ist ein Prozeß, der wahrscheinlich die weitere Demokratisierung unserer Gesellschaft und die Ver. größerung menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten zutiefst beeinflußt. 9. Werte im Umbruch Mit dem Vorhergesagten hängt es eng zusammen, daß der Lebensstil und die Werte der jüngeren Generation — und nicht nur ihre — immer weniger mit den Werten in Einklang gebracht werden können, die dem nationalistischen Drohsystem (so jedenfalls sieht man es) zugrunde liegen. Aus dieser Entfremdung heraus kommt es auf dem Gebiet des parlamentarischen und außerparlamentarischen Handelns zu einer Polarisierung! Diese kann in einigen Fällen zwar für die Durchführung dringender Veränderungen von Nutzen sein, aber sie kann über kurz oder lang auch für den gesellschaftlichen Frieden und die Menschenrechte in unserem Staat zur Gefahr werden. Schlußfolgerung Zusammenfassend müssen wir das Abschrekkungssystem verwerfen, nicht allein, weil es riskant ist, weil es viele begrenzte Kriege nicht verhindern kann und auch sonst noch viele andere unerträgliche negative Nebenwirkungen hat, sondern vor allem, weil es auf der Bereitschaft basiert, ganze Völker in einem Vergeltungsschlag zu vernichten. Einem derart unmoralischen System kann man nicht trauen. Darum pflichtet der IKV der Verlautbarung, die die niederländische Hervormde Kerk 1962 ausprach, bei, daß Kernwaffen, im Unterschied zu konventionellen Waffen, nicht mehr in moralisch vertretbarer Weise dazu geeignet seien, einen militärischen Zweck zu erreichen: „Was man in der Welt von den Christen und der Kirche wissen sollte, ist, daß sie auf dem Standpunkt stehen, daß Kernwaffen auch im äußersten Fall nicht gebraucht werden dürfen, und daß die Christen es vor ihrem — an das Wort Gottes und seine Gebote gebundenen — Gewissen nicht verantworten können, sich an einem Atomkrieg zu beteiligen."

B. Konsequenzen des „Nein"

Was für Konsequenzen sind mit diesem „Nein" zum Gleichgewicht des Schreckens zu verbinden? Welche Opfer wollen wir für ein System bringen, in dem die Sicherheit auf menschlichere und menschenwürdigere Weise gewährleistet wird? Ist die Verurteilung des Abschreckungssystems etwas, womit wir unsere Hände in Unschuld waschen wollen, oder wollen wir auch wirklich tatkräftig die politische Realität verändern? Die (möglichen) politischen Entwicklungen in Europa müssen daraufhin befragt werden, ob sie das heutige System des Gleichgewichts des Schreckens verfestigen oder gar verschlimmern oder ob sie Schritte sind auf dem Weg zu einem neuen, verantwortungsvolleren Sicherheitssystem.

Nicht „aus der Geschichte springen"

Der IKV ist sich bewußt, daß das Abschrekkungssystem nicht so ohne weiteres von heute auf morgen „abgeschafft" werden kann. Es wird durch neue Arten verantwortlichen politischen Denkens und Handelns überwunden Werden müssen. Dazu müssen die besten Argumente systemimmanenter Kritik in eine radikale Strategie aufgenommen werden. Viele werden das Ziel, das sich der IKV stellt, utopisch oder idealistisch nennen. Bedeutet das, daß der IKV den gegenwärtigen Entwick-lungen im Wege steht, oder glaubt man, daß das, was der IKV will, „irreal" ist und deswegen keinerlei Aufmerksamkeit verdient? Der IKV will nicht in dem Sinne utopisch sein, daß er „aus der Geschichte springt". Seine Strategie auf das gesteckte Ziel hin will nicht „ahistorisch" sein, sie beginnt vielmehr mit der Realität von heute. Die gegenwärtigen Prozesse müssen daraufhin überprüft werden, in welchem Maße sie auf das neue Ziel gerichtet sind und inwieweit sie in der Läge sind, neue Prozesse in Gang zu bringen. Wo immer das nicht der Fäll ist, müssen neue Initiativen ergriffen werden. Denn zu unserer heutigen Realität gehört auch die Tatsache, daß die Menschheit zum erstenmal in ihrer Geschichte in der Lage ist, ihrer Geschichte ein Ende zu bereiten, und „irreal" wäre es, daraus nicht die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Wie sehr auch die SALT-Vereinbarungen sowie andere Verträge, die der Entspannung dienen, Umweltschutzkonferenzen und Tarif-abkommen unsere Anerkennung und Unterstützung verdienen, so gehen doch unleugbar im ganzen die gegenwärtigen Entwicklungen in der Rüstung, in der Umweltproblematik, im Verhältnis von arm und reich, sehr oft auch hinsichtlich der Freiheit des Individuums in die falsche Richtung.

Das Gesicht unserer Zeit beginnt allmählich, trotz beachtlicher Fortschritte, die hier und dort verbucht Werden können, apokalyptische Züge aufzuzeigen: eine Erde, die vom Menschen selbst immer unbewohnbarer gemacht Wird.

Gerade wer glaubt, daß der Gott des Alten und des Neuen Testaments eine andere Zukunft mit den Menschen yofhat, kann sich angesichts der heutigen Realität nicht mit einer Politik zufrieden geben, die in Wahrheit nur das fortsetzt, was uns in die gegenwärtige Situation gebracht hat. Dieser Prozeß muß durchbrochen werden.

Noch einmal! Der IKV will nicht aus der Geschichte springen. Aber wo sich die Menschheit selbst so in die Enge treibt, sind andere Sprünge nötig — Sprünge aus dieser heillosen Kontinuität. Der IKV weiß, daß dies nicht ohne Risiko geht und daß er sich in dieser Hinsicht verwundbar macht. Denn er Will — Sehr vorsichtig — eine Zukunft antizipieren, die er selbst nicht kennt. Aber diejenigen, die die Gedanken des IKV für irreal und utopisch halten und damit als irrelevant und gefährlich abtun, brauchen nicht zu glauben, daß ihre eigenen Gedanken weniger riskant oder irreal sind. Denn der Grund, aus dem sich der IKV zu dieser Standortbestimmung veranlaßt sah, liegt genau in dem automatischen Wechsel auf die Zukunft, den jene in ihrer Argumentierung benutzen. „Crisis management" — das Verhindern und Kontrollieren von Konfliktsituationen, damit einem die Sache nicht aus der Hand läuft — bleibt zwar von eminent großer Wichtigkeit, aber man darf sich nicht darauf beschränken. Denn ebensowenig, wie man aus der Geschichte springen darf, darf man sich hinter ihr verstecken.

Ein innerer Widerspruch?

über einen Aspekt der „realistischen" Sicht sollte noch etwas nachgedacht werden. Es wird nämlich stets behauptet, daß man widersprüchlich handelt, wenn man einerseits danach strebt, einen gewissen Einfluß auf die Welt auszuüben, andererseits aber zugleich den Machtmitteln entsagt (mit denen dieser Einfluß ausgeübt werden könnte). Aber dieser Widerspruch besteht nur scheinbar. Zum ersten wird Einfluß allzu schnell mit militärischer Macht gleichgesetzt, zum zweiten wird übersehen, daß der Besitz von Kernwaffen auch äußerste Ohnmacht impliziert. Außerdem muß darauf hingewiesen werden, daß die militärische Macht der Großmächte nirgendwo wirklich zur Schaffung von Friedensstrukturen angewendet wird. Was man tut, ist nur eine Abschirmung gegen die Machtausübung des anderen. Wir sind immer mehr zu der Über-zeugung gelangt, daß diese Formen der Macht infolge aller Gegenkräfte und Prozesse, die sie „automatisch" wachrufen, gar nicht positiv angewendet werden können. Gerade weil unser Denken in Kategorien militärischer Macht als dem Fundament der Politik befangen ist, sind wir auch Gefangene in der Spirale des Rüstungswettlaufs geworden, der seine eigene Rechtfertigung und Logik hat. Die Politik Westeuropas wird diesen circulus vitiosus dadurch durchbrechen müssen, daß es einseitig einige Schritte voraus zu tun wagt. Einseitige Schritte zu unternehmen bedeutet, daß es vorher nicht abzusehen ist, ob die anderen Mächte darauf mit entsprechenden Schritten reagieren. Es ist klar, daß man mit solchen Initiativen das System des Gleichgewichts des Schreckens nicht gleich wird aufheben können, denn erste Schritte in Europa haben darauf nur wenig direkten Einfluß. Die Politik Westeuropas könnte aber auf der Gegenseite Reaktionen hervorrufen — nicht durch Feilschen am Verhandlungstisch, sondern gerade dadurch, daß die Einseitigkeit und Aufrichtigkeit dieser Politik unzweideutig feststeht. Wenn die Großmächte dann in einer zweiten Phase beginnen, sich Schritt für Schritt ihrer militärischen Machtmittel zu entledigen — was multilaterale Übereinstimmung zwischen ihnen nicht ausschließt —, könnten sie es ihrerseits schaffen, Einfluß zum Besseren auszuüben.

Der heutige Prozeß von Aktion und Reaktion muß durch einseitige Schritte, die in erster Linie psychologisch wirksam sind, umgedreht werden. Dazu wird vor allem das bewußte Stoppen vieler Dinge gehören, die das System erfordert. Trotzdem droht, wenn nicht nach einiger Zeit die richtigen Reaktionen darauf erfolgen, die ganze Strategie zu mißlingen.

Man kann sich andererseits jedoch kaum vorstellen, daß die UdSSR (von Westeuropa dazu veranlaßt) Teil eines leichtbewaffneten Europas werden könnte, ohne daß dies mit einer entsprechenden Verhaltensänderung der übrigen Supermächte Hand in Hand ginge. Der Grundgedanke ist, daß Westeuropa sozusagen einen Stein in den internationalen Teich der Politik wirft und daß die Wasserringe sich auf dem ganzen Teich ausbreiten, die Sowjetunion jedoch zuerst erreichen und via UdSSR dann die anderen Großmächte. Dieser Idee widerspricht es nicht, daß eine westeuropäische Politik, wie sie der IKV vorschlägt, zunächst (mit dem Einverständnis der Sowjetunion) von den osteuropäischen Ländern aufgegriffen wird und erst später von der Sowjetunion selbst. Das Ziel ist eine Welt, die durch dieselben Prozesse mitverändert wird, die Europa verändert haben. Es versteht sich von selbst, daß man, sollte der Erfolg (die gewünschte Veränderung) ausbleiben, sich nicht mit dem heute gängigen System zufriedengibt.

Im Gegenteil, es bleibt unannehmbar, und es wird dann nach anderen Wegen gesucht werden müssen.

Man muß mit dem Risiko rechnen, daß die westeuropäischen Länder zukünftig nicht in jeder Hinsicht ihr eigenes Schicksal völlig allein in der Hand haben werden. Natürlich weiß der IKV, daß ein solcher Gedanke viele beunruhigen und ihnen zuwider sein wird. Er wird wirklich nicht leichtfertig geäußert. Es geht hier aber um die äußerste Konsequenz einer Politik, die aus dem Glauben entworfen wurde, daß wir in einer vollkommen unannehmbaren Situation leben, die wahrscheinlich nur dadurch überwunden werden kann, daß man selber Opfer bringt. Und unannehmbar ist sowohl die Situation des Gleichge-B wichts des Schreckens als auch die politische Situation der Sowjetunion und der übrigen osteuropäischen Länder. Der IKV ist immer mehr zu der Überzeugung gelangt, daß es eine Illusion ist anzunehmen, man könne in diesen beiden Situationen Veränderungen zuwege bringen, ohne zu gleicher Zeit auch bereit zu sein, tiefgreifende Veränderungen in der eigenen Gesellschaft auf sich zu nehmen. „Finnlandisierung" ?

Zweifellos wird man an dieser Stelle dem IKV den Vorwurf machen, daß er im Grunde für eine „Finnlandisierung" Westeuropas plädiert und somit der Sowjetunion in die Hände spielt, denn um nichts anderes gehe es den Sowjets.

Und mit Finnlandisierung meint man dann, daß Westeuropa ein zweites Finnland wird, ein Satellit der Sowjetunion, der zwar offiziell selbständig, jedoch nichtsdestoweniger — vor allem was die Außenpolitik betrifft — von der Sowjetunion gesteuert wird. Dieser Vorwurf enthält zwei Mißverständnisse: Zunächst: was ist eigentlich „Finnlandisierung"? Ist beispielsweise Finnland selbst „finnlandisiert"? Wie denken die Finnen darüber? Ist es wirklich so, daß in dem Augenblick, wo Finnland eine eigenständige Außenpolitik betriebe, sofort russische Truppenzusammenziehungen an der finnischen Grenze stattfänden? Oder ist es nicht eher so, daß erst, wenn eine eigenständige finnische Außenpolitik zu einer Bedrohung der Sowjets würde, wenn Finnland sich beispielsweise der NATO anschlösse, dieser Fall eintreten würde? Denn das wäre in der Tat — zu Recht — unannehmbar für die Sowjetunion. In seiner Standortbestimmung fordert der IKV vor allem eine westeuropäische Politik, die zum Abbau der Drohung beiträgt. Wenn man nun mit dem Wort „Finnlandisierung" nur meint, daß die Autonomie Westeuropas dadurch angetastet werden könnte, daß es keine ernsthafte Bedrohung mehr für die Sowjetunion bildete, warum dann solche Befürchtungen wegen einer derartigen „Finnlandisierung"? Warum sollte beispielweise ein nicht bedrohendes, aber trotzdem weiterhin unabhängiges Westeuropa die Sowjetunion dazu veranlassen, verstärkt mit ihren Divisionen zu drohen, es sei denn, die Sowjets wären auf Gebietserweiterung aus? Und wer das letztere annimmt, sollte es wenigstens wagen, es auch laut zu sagen.

Das zweite Mißverständnis bezieht sich weniger auf die Unklarheit des Begriffes „Finnlandisierung" als auf die ahistorische Interpretation dessen, was der IKV fordert. Diejenigen, die vor „Finnlandisierung" warnen, projizieren ein „verändertes" Westeuropa, das zum Vakuum geworden ist, auf eine Welt, in der weiterhin alles beim alten geblieben ist. Sie leugnen damit den Prozeßcharakter unserer Vorschläge. Es geht uns um einen Prozeß, der die ganze Weltgesellschaft, einschließlich der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten und Chinas, umfaßt und, so hoffen wir, durch erste Schritte Westeuropas in Gang gebracht werden kann.

Damit wollen wir nichts von dem zurücknehmen, was wir auch schon im vorigen Kapitel über den Preis, den man möglicherweise wird zahlen müssen, gesagt haben. Sondern wir wollen nur vor dem leichtfertigen Gebrauch des Wortes „Finnlandisierung" warnen. Das Problem des Risikos, das wir laufen werden, ist dazu viel zu kompliziert.

Auf zwei Hochzeiten tanzen?

Außer fehlendem „Realismus"

und innerem Widerspruch wird man dem IKV vorwerfen, daß er zwar einerseits das Gleichgewicht des Schreckens ablehnt, zu gleicher Zeit aber stillschweigend davon ausgeht, daß das Gleichgewicht in dem Machtverhältnis der Großen wohl bestehenbleiben wird, also auch die atomare Schutzgarantie Amerikas gegenüber Westeuropa. Wenn man wirklich für ein selbständiges Europa plädiert, so wird man sagen, muß man konsequenterweise auch eine entsprechend große konventionelle Rüstung (wie z. B. in Jugoslawien und Schweden) aufbauen. Dies ist wieder ein Beispiel für das sogenannte konsequente Denken, gegen das sich der IKV besonders wendet. Für den IKV ist, wie schon früher gesagt wurde, die Sicherheit nicht in erster Linie eine Frage der Rüstung und der Macht. Sicherheit in Europa ist, wie auch überall sonst, zunächst eine Frage politischer und sozialer Relationen zwischen den jeweils Betroffenen. Man kann das an dem Verhältnis zwischen Schweden und Norwegen oder zwischen den Vereinigten Staaten und Kanada, um nur zwei Beispiele zu nennen, deutlich sehen. Entscheidend für Krieg oder Frieden ist eine „Friedensstruktur", ein starkes, ausbalanciertes Arrangement der Zusammenarbeit. Wenn sich Staaten feindlich gegenüberstehen oder noch nicht wirklich Zusammenarbeiten, kann Abrüstung sogar das Gegenteil bewirken und nicht dem Frieden dienen. Aber was das Hauptargument, die nukleare Garantie Amerikas, betrifft, so ist der IKV der Meinung, daß in Europa ein Prozeß in Gang gebracht werden muß, der auf ein neues Sicherheitssystem hinausläuft, das unter dem Schutz des gegenwärtigen Gleichgewichts zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten aufgebaut werden kann.

Vielleicht erscheint dieser Gedanke feige und unlogisch, da ja zunächst das Gleichgewicht des Schreckens als unmoralisch von der Hand gewiesen wurde. Der Grund hierfür ist einfach der, daß man dagegen nichts Direktes tun kann, jedenfalls nicht ohne sehr weitgreifende Schritte zu unternehmen, deren Folgen noch niemand absehen kann. Aber Europa kann das Gleichgewicht des Schreckens unterminieren, indem es dieses System in den Hintergrund drängt. Positiv ausgedrückt: indem es jetzt schon ah einer Alternative arbeitet; negativ ausgedrückt: indem es jetzt schon so tut, als ob das Abschreckungssystem bereits bedeutungslos und dazu verurteilt wäre, zu verschwinden, indem es sich weigert, Dinge zu tun, die das System weiter ausbauen und erhalten würden. Das ist.der Anfang.

Eine neue Friedensordnung in Europa bedeutet nicht, daß es darin nicht auch ein System gäbe, das von Amerika und Rußland als Garantie ihres Einflusses und ihrer Sicherheit betrachtet werden könnte. Und es bedeutet auch nicht, daß Westeuropa anfangs nicht weiterhin auf die Vereinigten Staaten sowie Osteuropa nicht weiterhin auf die Sowjetunion orientiert bleiben könnten. Noch einmal: Die Annehmbarkeit dieser Garantien beruht weniger auf ihrer positiven Deutung als in der Einsicht, daß man nicht allzuviel dagegen tun kann. Außerdem braucht man sich in seiner Politik nicht allzusehr dadurch behindern zu lassen. Nichtsdestoweniger sollte die Weise, in der Europa seine Sicherheit neu organisieren wird, ein Beitrag für ein neues, weltweites Sicherheitssystem sein. Prinzipiell neu an diesem System ist, daß Westeuropa darauf verzichtet, direkt oder indirekt Kernwaffen zu besitzen und kooperativ an einer Friedens-struktur für ganz Europa arbeitet und damit in der Tat die Basis des Gleichgewichts des Schreckens zwischen den Großmächten antastet. Dabei darf nicht vergessen werden, daß der IKV die Sowjetunion, eine der Groß-mächte, immer auch zu dem „großen Europa" zählt.

Der Weg, den der IKV in Westeuropa gerne eingeschlagen sähe, wäre, derart intensive Kontakte mit ganz Osteuropa anzuknüpfen, daß Veränderungen hier wie dort unvermeidlich sind. Es geht eigentlich darum, der Sowjetunion zu zeigen, daß es möglich ist, mit einer Macht wie Westeuropa in Frieden zu leben, und zwar nicht, indem man sich bis an die Zähne bewaffnet, sondern indem man gute Beziehungen aufbaut. Diese Einsicht würde sich auch auf die Beziehungen der UdSSR gegenüber Amerika und China auswirken müssen. Diese neue, kooperative Struktur wird zunehmend stärker den Frieden in Europa sichern als das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den USA und der UdSSR. Und man wird das außerhalb Europas bestehende Gleichgewicht des Schreckens immer mehr als unnütz und überflüssig ansehen können. Indem Europa auf Kernwaffen verzichtet, befreit es sich von einer Bürde und gewinnt zu den anderen Großmächten einen Vorsprung. Das gelingt ihm, weil es als erstes den Bankrott der militärischen Machtmittel eingesehen und in seiner Politik verarbeitet hat. Man kann denselben Gedanken auch anders formulieren: Der historische Prozeß, bei dem die nuklearen Waffen in den Hintergrund gedrängt und überwunden werden, ist dem Prozeß einer sich schließenden Wunde vergleichbar. Das letzte, was verschwindet, ist der Schorf, die Kruste. Das aber geschieht erst, nachdem sich unter der Kruste völlig neues Gewebe aufgebaut hat. Die beste Art, die Kruste loszuwerden, ist nicht, sie vorzeitig abzukratzen, sondern das Wachstum des neuen Gewebes zu fördern.

Ein neues Sicherheitssystem als historische Zwischenphase Als Zusammenfassung des Vorhergehenden kann man folgendes festhalten: Für ganz Europa muß ein Prozeß in Richtung auf ein neues Sicherheitssystem in Gang gebracht werden — ein System, das die gegenwärtige bipolare Situation ersetzt, das auf Zusammenarbeit basiert, und das, als Zwischenphase, auf ein nur leicht gerüstetes Europa hinausläuft, das für die Sowjetunion zum Beispiel werden muß. Diese Kooperation zwischen West-und Osteuropa muß durch neue, permanente und gemeinsame Organe vorbereitet werden. In diesen Organen müßten Ost-und Westeuropa unter anderem Übereinstimmung erzielen über eine beträchtliche gegenseitige Rüstungsverminderung, Abschaffung der Kernwaffen und eine gemeinsame Sicherheitspolitik. Damit würden die NATO und der Warschauer Pakt sowie die damit zusammenhängenden zwischenstaatlichen Verträge allmählich überflüssig und könnten absterben. Dieses System kann in seiner ersten Phase unter dem bestehenden Gleichgewicht des Schreckens aufgebaut und durch die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion garantiert werden. Dadurch wird Westeuropa gar nicht erst eine selbständige Großmacht traditionellen Stils, und die Bedeutung der Einflußsphären, der Kernwaffen und des Gleichgewichts des Schreckens verliert an Gewicht. Europas Sicherheit wird schließlich nicht mehr von der gegenseitigen Bedrohung, sondern von einer konstruktiven Politik der Kooperation und des friedlichen Wettbewerbs abhängen. Im folgenden nennen wir ein paar Punkte, die nach Meinung des IKV beherzigt werden sollten, wenn diese Vision eines zukünftigen Europas Wirklichkeit werden soll.

C. Welche Entwicklungen müssen vermieden werden?

1. An allererster Stelle muß der Tendenz, außer der wirtschaftlichen Zusammenarbeit auch immer mehr zu einer engeren militärischen Zusammenarbei in Europa zu kommen, ein entschiedenes Halt zugerufen werden. Das heißt zunächst: Keine westeuropäische Atom-macht, in welcher Form auch immer! Das gilt sowohl für eine Atommacht, die unabhängig von Amerika ist, als auch für eine Atom-macht, die innerhalb der NATO mit der amerikanischen Atommacht verbunden ist. Eine solche Nuklearmacht ist überflüssig und verstößt gegen das erklärte Ziel, die Rüstung zu kontrollieren und zu vermindern. Sie verstärkt die Gefahr, daß die Kernwaffen sich weiterhin verbreiten, weil damit die Bedeutung, die man Kernwaffen zumißt, wieder zunehmen würde.

Ebenso müssen Pläne, innerhalb der NATO eine neue Art europäischer Verteidigungsgemeinschaft und eine gemeinsame Rüstungsproduktion aufzubauen, insoweit abgelehnt werden, als sie die Weichen stellen für ein allmähliches und unbeachtetes Zustandekommen einer westeuropäischen Atommacht. Das gilt auch für den Fall, wenn durch diese Ablehnung die technischen Möglichkeiten, die Verteidigungskosten zu senken, begrenzt werden. Trotz der großen Bedeutung der westeuropäischen Integration muß ihre weitere Entwicklung verworfen werden, wenn sie uns eine eigene Nuklearmacht einhandelte. Diese Gefahr ist alles andere als ein Hirngespinst. Die Auffassungen und die Politik der Regierungen der drei Großen in Westeuropa (England, Frankreich und Westdeutschland) garantieren keineswegs, daß man nicht doch im geeigneten Moment probieren wird, aus Europa eine Großmacht alten Stils zu machen.

„Es ist sogar zu befürchten, daß wir bereits langsam aber sicher auf dem Wege zu einer derartigen Atommacht sind, eine Entwicklung, an der viele Politiker, sei es durch ausdrückliche Unterstützung, sei es durch ungenügenden Widerstand, Schuld tragen. Die Ideen und Tendenzen, die sich im Hinblick auf eine westeuropäische Atommacht abzeichnen, werden zu einem integrierten Rüstungsindustrie-Komplex in Westeuropa führen." Soweit das Manifest von Pax Christi, 1971. Dieser Weg zu einem Machtkomplex, der mit der ihm eigenen Gesetzmäßigkeit um sich greift, muß blockiert werden.

Eine derartige Entwicklung wird eigentlich durch alle politischen Parteien in den Niederlanden verurteilt. Bei genauerem Hinsehen jedoch sieht man, daß diese Verurteilung oft unter Vorbehalt geschieht. So wurde zum Beispiel in dem gemeinsamen Sofortprogramm 1971— 1975 der christlichen Parteien, ARP, CHU und KVP, am 12. Dezember 1970 folgendes gefordert:

„Eine eigenständige westeuropäische Atom-macht neben der der Vereinigten Staaten muß abgelehnt werden, während danach gestrebt werden sollte, die englische und die französische Atommacht wenigstens mit der NATO-Strategie zu koordinieren."

Aber es sind nun gerade diese Atommächte, die, zusammen mit deutschem Kapital und technologischem Wissen, den Kern einer europäischen Atommacht bilden könnten. Der Beitritt Englands in die EWG und die schor an anderer Stelle erwähnten Bestrebungen, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit auch eine politische und militärische Komponente hinzuzufügen, öffnen den Weg zu einer möglicherweise heillosen Entwicklung.

Man tut übrigens gut daran, sich zu vergegenwärtigen, daß sich viele vor allem deswegen gegen eine europäische Atommacht wenden, weil sie fürchten, daß dadurch die NATO als atlantisches Bündnis unterminiert werden könnte, nicht aber aus dem Gedanken heraus, daß dadurch das Gleichgwicht des Schreckens vollkommen unnötigerweise aus-15 geweitet und gestärkt wird. Darum ist es nicht nur wichtig, inwieweit man gegen eine europäische Atommacht ist, sondern auch aus welchen Gründen man dagegen ist. 2. In zweiter Linie muß man sich fragen, ob die NATO wohl das geeignetste Organ wäre, die Unterhandlungen mit den osteuropäischen Ländern vorzubereiten und richtungweisend zu sein. Obwohl für sehr viele die NATO, bis zu der Errichtung eines kollektiven Sicherheitssystems, noch vorläufig unersetzbar ist, muß doch bezweifelt werden, ob die NATO als Mittel zur Entspannung und Abrüstung brauchbar sein könnte. In dieser Organisation werden wir vor allem und sehr deutlich mit Denkweisen und Einflüssen konfrontiert, die weit mehr auf Konfrontation als auf Kooperation gerichtet sind, mehr auf eine Stärkung des Drohsystems als auf einen wirklichen Abbau der militärischen und politischen Spannungen.

Die notwendige Arbeit an neuen Strukturen sollte in neuen, gemeinsamen Verständigungsorganen außerhalb der NATO und des Warschauer Pakts stattfinden. Die beiden Paktsysteme sollten nicht zu neuem Leben erweckt werden, sondern langsam in den Hintergrund treten und absterben. Jedenfalls sollten der NATO keine neuen zivilen Aufgaben zuerkannt werden. Aufgaben, beispielsweise auf dem Gebiet der Umweltproblematik, würden nur dazu beitragen, dieser Organisation mehr Gewicht zu verleihen; sie verdienen daher keine Unterstützung in den Niederlanden. 3. Westeuropa droht wirtschaftlich und militärisch — unter anderem durch Waffenlieferungen — immer mehr in die Probleme des südlichen Afrikas verwickelt zu werden, und zwar auf der Seite der herrschenden weißen Minderheitsregierungen. Wirtschaftliche, strategische und militärische Interessen üben dabei einen starken Druck aus. Der IKV steht einer möglichen Ausbreitung der NATO auf die südliche Hemisphäre mit einem vergrößerten Territorium und neuen Mitgliedsstaaten vollkommen ablehnend gegenüber. Im Falle einer Intensivierung der Spannungen im südlichen Afrika ist eine derartige Ausbreitung, die die Niederlande zum Mitschuldigen an jenem Kampf machen würde, alles andere als wünschenswert. Es versteht sich von selbst, daß wir die Unterstützung, die Portugal nun für seinen Kolonialkrieg in Afrika durch die NATO bekommt, durchaus mißbilligen. Zwar wird die Politik Portugals in seinen Kolonien in Holland lautstark verurteilt, aber die Möglichkeiten, Portugal unter Druck zu setzen, werden nicht genutzt. 4. Der IKV plädiert nicht für den Austritt Hollands aus der NATO (auch wenn es darüber innerhalb des IKV verschiedene Meinungen gibt), denn es gibt für sie noch keine Alternative. Wohl aber ist er der Meinung, daß die weitere Mitgliedschaft der Niederlande mit davon abhängig gemacht werden sollte, welchen Einfluß sie auf die gewünschten Entwicklungen ausüben können.

Ein weiteres Argument, das oft gebraucht wird, um Hollands Mitgliedschaft zu verteidigen, ist, daß es nur dadurch die Gelegenheit habe, Einfluß auf jene Bundesgenossen auszuüben, die sich schwerwiegender Vergehen schuldig machen (Portugal in Afrika, die Vereinigten Staaten in Indochina, Griechenland im eigenen Lande). Aber wenn der Druck auf diese Länder nicht beträchtlich wächst, verliert dieses Argument seine Gültigkeit. Es kann nicht länger akzeptiert werden, daß die Garantie unserer Sicherheit es offensichtlich mit sich bringt, daß wir dafür die Unfreiheit der Bevölkerung unserer Bündnispartner auf uns laden und es außerdem auf uns nehmen müssen, daß andere Bündnis-partner damit beschäftigt sind, ganze Völker auszurotten.

D. Welche Entwicklungen müssen gefördert werden?

1. Erstes Gesetz unserer Strategie muß die genaue Beobachtung von gegenwärtigen Entwicklungen sein. Dabei müssen wir uns immer wieder fragen: „Tragen diese Entwicklungen dazu bei, das System auszuhöhlen und durch etwas Neues zu ersetzen, oder wirken sie nur systemerhaltend?" Diese Frage muß gestellt werden in bezug auf solche neuen politischen Entwicklungen wie z.

B. die deutsche Ostpolitik, die beginnende Diskussion über eine europäische Sicherheitskonferenz und die Gespräche über Rüsungskontrolle und Abrüstung (SALT) sowie die gegenseitige Truppenverminderung (MBFR). Abrüstung ist nur in einer Reihe von kleinen Schritten denkbar. Obwohl die kürzlich erzielten Vereinbarungen über die Begrenzung der ABMund der offensiven strategischen Waffen einen kleinen, sogar wichtigen Fortschritt beB deuten, muß man sich auf der anderen Seite doch fragen, ob derartige Gespräche nicht in erster Linie darauf zielen, das gegenwärtige System weniger gefährlich, besser kontrollierbar, stabiler und billiger zu machen. Deshalb sind politische Erwägungen wichtiger. Die neue Politik der Bundesrepublik Deutschland, die Verträge mit der DDR, Ruß-land und Polen, und der Viermächtevertrag über West-Berlin sind Schritte in eine gute Richtung, aber doch erst der Anfang einer neuen Politik. In vielerlei Hinsicht kann beim Stande der bis jetzt erreichten Übereinstimmungen nur von „Trümmerwegräumen" gesprochen werden. Jetzt, wo man spät genug begriffen hat, daß man die Uhr nicht zurückdrehen kann, werden die Probleme, die seit dem Zweiten Weltkrieg liegengeblieben sind, endlich aus dem Weg geräumt.

2. Da die Probleme, um die es geht, nicht von einem Tag auf den andern gelöst werden können, sollten so schnell wie möglich die Vorbereitungen für eine Institutionalisierung der kommenden europäischen Sicherheitskonferenz getroffen werden, und zwar in Form eines permanent tagenden Beratungsorganes auf europäischem Niveau. Hierfür kann die ökonomische Kommission für Europa (ECE) der Vereinten Nationen als Vorbild dienen. Politische Gegensätze sollten darin besprochen und bereinigt werden. Alle beteiligten Staaten müßten daran teilnehmen, auch die neutralen Länder Europas sowie die Sowjetunion, die Vereinigten Staaten und Kanada. Die Probleme, die dort zu diskutieren wären, betreffen zunächst das, was J. Galtung „die negative gegenseitige Abhängigkeit" nennt (die Probleme der positiven gegenseitigen Abhängigkeit werden im folgenden Kapitel besprochen werden) Darunter versteht man u. a. alle politischen Engpässe, die aus der Nachkriegszeit stammen, wie z. B. territoriale Fragen (Anerkennung der Unverletzbarkeit bestehender Grenzen, die deutsche Frage) und die Abrüstung.

3. Auf die Abrüstungfrage muß noch etwas genauer eingegangen werden. Welcher Art und wie groß soll die Rüstung innerhalb einer neuen europäischen Sicherheitsstruktur noch sein? Diese Frage hängt eng zusammen mit dem Verhältnis zwischen Rüstung und Sicher-heit. Die Behauptung, daß eine größere Rüstung auch eine größere Sicherheit garantiert, ist falsch Aber es ist ebenso falsch, demgegenüber zu behaupten, daß eine kleine Rüstung eine größere Sicherheit garantiert. Ebensowenig muß es immer ein Rüstungsgleichgewicht sein. In dieser Phase ist ein militärischer Apparat nötig, der begrenzte Krisen unter Kontrolle bringen kann. Das ist für den IKV schon das Maximum an Zugeständnis und nicht das Minimum, wie es so oft behauptet wird. Denn in erster Linie hängt Sicherheit, wie schon oben gesagt, von der politischen Konstellation und der Weise ab, wie Völker politisch handeln.

Es wurde bereits gefordert, daß Europa auf eine eigene Atommacht verzichtet. Das aber verpflichtet auch dazu, an einem gesicherten Europa mitzuarbeiten, wo immer das möglich ist. Und dies wiederum verpflichtet dazu, an der oben beschriebenen Friedensstruktur mitzuarbeiten. Was die konventionelle Rüstung betrifft, wird diese in dem Maße abnehmen, in welchem sich neue politische Strukturen gemeinsamer Rücksprachen und Zusammenarbeit entwickeln, Staaten mit verschiedenen Regierungsformen einander akzeptieren lernen und ihre Interessen sich miteinander verflechten. In einem neuen europäischen Sicherheitssystem wird die militärische Macht an Bedeutung verlieren und immer weniger erstrebenswert werden. Dann könnte die Rüstung (Rüstung ist eigentlich nicht das rechte Wort)

soweit abgebaut werden, bis sie nur noch eine polizeiliche Funktion erfüllen kann. Diese Funktion — die Unterstützung bei der Wahrung der Rechtsordnung — kann das Militär behalten.

Das führt uns zu dem Problem der Rüstung als eines innenpolitischen Problems. Es fragt sich nämlich, wie die Staaten denn ihre Rüstung loswerden können, wenn sie sich dazu entschlossen haben. Dabei stößt man auf Probleme wie Vollbeschäftigung, Widerstand etablierter Interessengruppen und auf solche, die der militärisch-industrielle Komplex mit sich bringt. Für die USA und die UdSSR sind diese Aspekte des Problems sehr wesentlich, aber auch viele europäische Länder werden mit der Situation konfrontiert werden, daß militärische Apparate und Waffenfabriken leichter aufgebaut als abgerissen werden können. Am Ende dieses Kapitels wollen wir noch ein paar konkrete Schritte in Richtung auf eine neue Sicherheitsstruktur nennen:

— Um zu einem systematischen Prozeß allmählichen Spannungsabbaus durch gegenseitige einseitige Schritte zu gelangen, müssen von unserer Seite zunächst einige Schritte getan werden, die nicht direkt von der Reaktion der anderen Seite abhängig sind. Als erster Schritt sollten die Niederlande (und die übrigen NATO-Länder) auf eine Vergrößerung der Verteidigungsbemühungen verzichten.

— Die Verteidigungsleistungen müssen daher nicht länger mit der zahlenmäßigen Macht der Warschauer-Pakt-Länder in Beziehung gebracht werden, sondern im Hinblick auf den zukünftigen Prozeß einseitiger Schritte relativiert werden. Die Möglichkeit eines großangelegten militärischen Angriffs durch den Ostblock kann der IKV nicht länger ernst nehmen. Zum ersten, weil im Rahmen des militärischen Verhältnisses zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion ein solcher Angriff äußerst unwahrscheinlich ist. Zum zweiten, weil man, fixiert auf die Möglichkeit eines Angriffs, viel zu viel Aufmerksamkeit, Energie und Geld auf die Rüstung verwenden würde, ohne daß einem noch viel Handlungsspielraum bliebe, neue Beziehungen und eine neue Friedensordnung für Europa und die Welt aufzubauen. Sich allzusehr um seine militäriehe Sicherheit zu sorgen, ruft die Gefahren, die man bekämpfen will, eher hervor, als daß sie verhindert werden. Und drittens, weil für den Fall, daß die Sowjetunion sich irgendwann übermäßig bedroht fühlt und wie eine Katze, die in die Enge getrieben wird, beschließt, zunächst Westeuropa unschädlich zu machen, nichts zur Verteidigung gegen einen solchen Angriff unternommen werden sollte. *)

Denn der IKV verurteilt den Gebrauch von Kernwaffen, und darauf würde in diesem Fall die Verteidigung hinauslaufen. Auch hierfür gilt wieder, daß — will man eine solche Reaktion der UdSSR verhindern — alles davon abhängt, die militärischen und politischen Beziehungen derart zu verändern, daß diese Art Angstreaktionen ausgeschlossen sind. Und das ist bis jetzt noch nicht der Fall. Die finanziellen Mittel, die auf diese Weise auch in den Niederlanden frei würden, sollten für das neue Friedens-und Sicherheitssystem, für den Ausbau des friedenserhaltenden Apparates der Vereinten Nationen, für den Ausbau der multilateralen Entwicklungszusammenarbeit und für den Bildungsauftrag der Niederlande, weltweite Probleme in den Blick zu rücken, verwendet werden.

— Die Niederlande sollten keine nuklearen Aufgaben innerhalb der NATO erfüllen oder beibehalten. Kernwaffen auf niederländischem Boden sollten entfernt werden.

— Die Niederlande müssen zusammen mit den skandinavischen Ländern alles Mögliche daransetzen, daß England und Frankreich ihre Kernwaffensysteme aufgeben, jedenfalls aber nicht weiter ausbauen.

Die Niederlande müssen im Rahmen der gegenseitigen Rüstungs-und Truppenverminderung die Entfernung der Kernwaffen aus Westdeutschland betreiben, und die Pläne zur Schaffung von entmilitarisierten Zonen und zur Säuberung Europas von Kernwaffen müssen wiederaufgenommen werden.

— Besonderer Nachdruck muß auf die Forschung und Einübung gewaltfreier Alternativ-modelle gegenüber der militärischen Verteidigung gelegt werden.

III. Wirtschaftliche und sozialpolitische Beziehungen Westeuropas

Westeuropa, und damit ist in erster Linie die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gemeint, ist auf dem besten Wege, eine Weltmacht ersten Ranges zu werden. Es erhebt sich nun die Frage, wie Westeuropa seine Macht gebrauchen wird. Wird es sich wie eine Großmacht alten Stils, die vorübergehend nach 1945 und der Entkolonialisierung ihre Rolle ausgespielt hatte, verhalten? Wird sie ihre Macht auf Kosten der Schwächeren in der Welt, der Länder der Dritten Welt, mißbrauchen, oder wird sie diese in den Dienst der Entwicklung aller stellen?

Der IKV ist der Meinung, daß die westeuropäische Integration, im Gegensatz zur NATO, prinzipiell eine gute Sache und sogar eine Vorbedingung für die erfolgreiche Lösung von Problemen ist, die nur im internationalen Rahmen gelöst werden können. Das wird aber in dem Augenblick bedenklich, in dem dadurch ein protektionistischer, nach innen gerichteter Block entsteht, der sich gegen die Außenwelt abschirmt und nicht mehr auf sie Rücksicht nimmt, oder wenn die entstehende wirtschaftliche Supermacht Europa nur danach strebt, die verlorengegangene Stellung früherer Kolonialmächte wiederzugewinnen. Für die EWG sollte die Maxime des Handelns lauten: „Keine regionalen Entscheidungen treffen, die schädliche Folgen für Länder und Völker außerhalb der EWG haben könnten." So sollte auch eine Entwicklung vermieden werden, in der die fortschreitende Integration und das Aufgreifen neuer Aufgaben auf Kosten der Arbeit der Vereinten Nationen geht; es darf nicht dahin kommen, daß Westeuropa in einer Art regionalem Nationalismus sich nur ungenügend der wachsenden Notwendigkeit bewußt ist, weltweite Institutionen wie die Vereinten Nationen zu stärken.

Für die. Fortsetzung des westeuropäischen Integrationsprozesses muß der Grundsatz gelten, daß ein offener und pluralistischer Charakter der Zusammenarbeit, sowohl den übrigen Ländern Europas als auch den Ländern der Dritten Welt gegenüber, den Vorrang erhält. Immer wird man sich fragen müssen:

„Wem kommt die Integration zugute und auf wessen Kosten geht sie? Und ist das gerecht?" Das gilt besonders in bezug auf:

— die Erweiterung der EWG um neue Mitglieder; — die Frage, ob durch fortschreitende Integration und die Aufnahme neuer Mitglieder die Menschenrechte in den beitretenden Ländern anerkannt werden oder nicht (Portugal, Spanien, Griechenland);

— die Auswirkungen, die interne Regelungen auf die Länder außerhalb der EWG, namentlich die Entwicklungsländer, haben (Landwirtschaft, Textilien, Zucker). Falls sich Schaden nicht vermeiden läßt, muß für kompensatorische Maßnahmen gesorgt werden. — Gerade weil innerhalb derEWG lebenswichtige Entscheidungen getroffen werden, müssen die Bemühungen unterstützt werden, alles, was innerhalb der EWG geschieht, unter die Kontrolle eines direkt gewählten europäischen Parlaments zu stellen.

Beziehungen zwischen West-und Osteuropa Im vorigen Kapitel, das hauptsächlich von den politischen und militärischen Beziehungen handelte, wurde in erster Linie von der bestehenden negativen Abhängigkeit der Länder untereinander ausgegangen. Es gibt jedoch auch positivere Ausgangspunkte für eine Zusammenarbeit. In erster Linie sind hier Ziele zu nennen, die beide Gesellschaftsformen, trotz ihrer gegenseitigen Verschiedenheit, gemeinsam anstreben, zum Beispiel einen höheren Lebensstandard, Förderung der Wissenschaft und Kultur, Umweltschutz.

Daneben bieten sich solche Bereiche für eine Zusammenarbeit an, in denen gerade Unterschiede zwischen den Systemen bestehen und in denen man voneinander lernen könnte. Hier wäre etwa an die Frage der Menschenrechte und der Besitz-und Vermögensverhältnisse zu denken.

Es ist im voraus nicht mit Sicherheit abzusehen, ob die Intensivierung der Ost-West-Beziehungen auf wirtschaftlichem, sozialem, kulturellem, technischem und wissenschaftlichem Gebiet auch automatisch eine Entspannung nach sich zieht. Es kann dadurch ja auch zu internen Veränderungsprozessen kommen, die die bestehenden politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten und Machtverhältnisse bedrohen und dadurch z. B. zu einer Wiederholung jener sowjetischen Interventionen verleiten, wie sie 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei stattgefunden haben. Vielleicht aber kann eine europäische Sicherheitskonferenz auch dazu führen, daß durch ein wachsendes Sicherheitsgefühl die Demokratisierung in den sozialistischen Ländern eine größere Chance hat. Insbesondere müssen wir — im Blick auf die Europäische Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit — unsere Hoffnung auf derartige Entwicklungen bauen, in denen die Sowjetunion (aus einer unangefochtenen Position innerhalb eines permanenten Beratungsorgans heraus) sich derart in Veränderungsprozesse innerhalb der osteuropäischen Staaten und im Verhältnis zwischen diesen und Westeuropa einbezogen fühlt, daß es diese leichter akzeptiert als jetzt, weil es sie nicht mehr als Bedrohung der eigenen Sicherheit auffassen kann.

Das Streben nach Annäherung, Entspannung und einem sicheren Europa hat nicht notwendigerweise eine Konvergenz zwischen den Blöcken, ein Zueinander-hin-Wachsen der verschiedenen Gesellschaftssysteme zur Folge. Das ist zwar auf lange Sicht hin denkbar, aber nicht Bedingung, Die Idee der europäischen Sicherheit basiert in erster Linie auf der gegenseitigen Abhängigkeit und dem Nebeneinander verschiedener (der Veränderung unterworfener) Systeme, und nicht auf ihrer Konvergenz.

Man kann innerhalb des Ostblocks eine beträchtliche Angst vor dem wirtschaftlichen Machtblock der EWG konstatieren. Hinter dem Streben Westeuropas, mit jedem der osteuropäischen Länder für sich verstärkte Beziehungen zu unterhalten, wittern diese die Absicht, voneinander getrennt bzw. gegeneinander ausgespielt und von der Sowjetunion losgelöst zu werden. Durch solche Befürchtungen könnte der Integrationsprozeß in Osteuropa beschleunigt werden, so daß es zu einer Art Integrationswettlauf käme. Es empfiehlt sich daher — vor allem jetzt, wo die Staaten der EWG nur noch gemeinsam Handelsverträge mit den Ländern Osteuropas (wie auch mit der Dritten Welt) abschließen dürfen —, schon den Schein einer derartigen „Teile-undherrsche-Politik" zu vermeiden.

übrigens muß man damit rechnen, daß eine Intensivierung der Handelsbeziehungen mit Osteuropa eines Tages auf Kosten einer anderen Gruppe von Ländern geht, für die Europa eine besondere Verantwortung trägt: die Länder der Dritten Welt. Osteuropa ist ja gegenüber den Entwicklungsländern im Vorteil, wenn es mit ihnen um den Absatz von Produkten auf dem westeuropäischen Markt konkurriert.

Kriterien für eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Ost-und Westeuropa

Galtung hat eine Anzahl von Forderungen formuliert, die für die Zusammenarbeit in Europa verpflichtend sein müssen, wenn eine Friedensstruktur zustande kommen soll — Die Zusammenarbeit muß symmetrisch sein, daß heißt;

a) alle Beteiligten müssen ungefähr gleich stark von der Zusammenarbeit profitieren;

b) sie müssen ungefähr gleich viel an Energie, Geld usw. investieren;

c) sie müssen ungefähr gleich abhängig von der Zusammenarbeit sein;

d) sie alle müssen in gleicher Weise bei Entscheidungen über die Zusammenarbeit mitbestimmen können;

e) sie müssen sich infolge der Zusammenarbeit ungefähr gleich stark verändern. — Bei der Zusammenarbeit muß eine gewisse institutioneile Parallelität herrschen, d. h. von jeder Einrichtung oder Position auf der Seite A muß es ein Gegenstück auf der Seite B geben. Das erleichtert die Zusammenarbeit und macht auch einsichtiger, wie es auf der anderen Seite zugeht. — Bei der Zusammenarbeit muß für jede der Parteien mehr herauskommen, als sie hineingesteckt hat. Und außerdem sollen die Parteien dadurch, daß sie mit einem Dritten zusammenarbeiten, nicht denselben Vorteil für geringere Kosten erreichen können. — Die Zusammenarbeit muß zum Aufbau supranationaler Institutionen führen. Dadurch würden in der Zusammenarbeit „etablierte" Interessen geschaffen, was ihrer Fortsetzung zugute käme. — Schließlich: Die Zusammenarbeit unter den Parteien sollte möglichst viele verschiedene Formen annehmen und über möglichst viele Kanäle laufen. Das heißt:

a) Die Zusammenarbeit muß sowohl dem Austausch von Gütern als auch der Arbeit an einem gemeinsamen Projekt dienen; die Zusammenarbeit muß ebenso zwischen Personen wie auch zwischen Gruppen und Staaten stattfinden. Der Austausch muß sich auf Per-sonen, Güter, Kapital, Dienstleistungen und Kultur erstrecken. b) Eine Zusammenarbeit sollte nicht nur zwischen zwei Ländern, sondern zwischen mehreren Ländern erfolgen und sich sowohl auf einzelne Sachbereiche als auch auf einzelne Regionen beziehen. c) Die Zusammenarbeit muß alle Parteien gleichermaßen einbeziehen. Die „Großen" dürfen nicht nur miteinander, sondern sollen auch mit den „Kleinen" kooperieren, sowohl ihren „eigenen" als auch allen übrigen Kleinen. Und vor allem müssen die kleineren Länder auf jede nur denkbare Art und Weise untereinander zusammenarbeiten.

Konkret bedeutet das:

— Vermeidet es bei der Ost-West-Zusammenarbeit, von der EWG, der OECD und dem Europarat Gebrauch zu machen, da es von diesen Organisationen kein Gegenstück in Osteuropa gibt.

— Versucht die europäische Zusammenarbeit soweit wie möglich im Rahmen spezialisierter Organisationen der Vereinten Nationen aufzubauen, da die meisten europäischen Länder darin schon Mitglied sind. Organisationen wie die ILO, FAO, UNESCO, WHO müssen also europäische Kommissionen bilden.

— Schafft ein Organ, das die europäische Zusammenarbeit als Ganzes in die Hand nimmt, und assoziiert es mit der einzigen bis jetzt bestehenden gesamteuropäischen Organisation, der Wirtschaftskommission für Europa (Economic Commission for Europe) von den Vereinten Nationen.

— Fördert in diesem Rahmen die Zusammenarbeit zwischen der OECD und dem Comecon und regt in Osteuropa die Entstehung von Parallelorganisationen zu EWG und Europarat an. Den Organisationen, die alle europäischen Länder umfassen, muß Priorität eingeräumt werden.

— Tauscht zwischen den Organisationen Beobachter aus und ermutigt die nicht gebundenen Staaten zu einer Doppelmitgliedschaft.

— Ladet die Länder zur Teilnahme an den Arbeiten des Europarates ein.

— Versucht die Zusammenarbeit unter den kleinen Ländern Europas soviel wie möglich zu intensivieren, damit sie ein Gegengewicht gegen die Großen bilden können.

Die westeuropäische Integration Die Europäische Gemeinschaft ist als eine Form wirtschaftlicher Zusammenarbeit entstanden. Das Anwachsen der Mitgliederzahl hatte jeweils auch eine Intensivierung der Zusammenarbeit zur Folge. Auch die kürzlich abgeschlossene Phase des Beitritts neuer Mitgliedsstaaten wird eine Erweiterung und Vertiefung der Zusammenarbeit zur Folge haben. Dabei kann man es nicht mehr bei der wirtschaftlichen Integration bewenden lassen. Es stellt sich daher die Frage, in welcher Richtung ein weiterer Ausbau stattfinden soll. Ein föderalistisches Europa ist nur eine von vielen Möglichkeiten; ob eine erstrebenswerte Möglichkeit, wird u. a. im Hinblick auf die Auswirkungen, die eine immer intensiver werdende Zusammenarbeit auf unsere Beziehungen mit Osteuropa und die übrigen europäischen Staaten hat, entschieden werden müssen. Das heißt nicht, daß bestimmte Länder innerhalb Westeuropas von einer intensiveren Zusammenarbeit Abstand nehmen sollten, sondern nur, daß das Tempo der westeuropäischen Integration bewußt dem Tempo der Sicherheitsüberlegungen, die nun anstehen, und dem Maß, in dem neue Strukturen für Europa geschaffen werden, angepaßt und untergeordnet wird. Und das hieße dann auch Verzögerung von einigen Entwicklungen in Richtung eines föderalistischen Europas, falls dadurch die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit von ganz Europa verbaut werden. Der Aufschub der Integration bedeutet nicht ihr Ende, sondern bietet die Chance, ihre Konzeption und Ausgangspunkte noch einmal in Hinsicht auf die Zukunft von ganz Europa zu durchdenken. Wenn die Niederlande aus solchen Gründen die Mitarbeit an bestimmten Integrationsformen verweigern, so kann das nicht als Obstruktionspolitik ausgelegt werden. Andersherum gesagt: Integration sollte nicht um ihrer selbst willen und ungeachtet aller Folgen für andere stattfinden, sondern um damit konkrete politische Werte (und auch andere Werte) auf Weltebene zu realisieren.

Mondial, regional, sub-regional Die westeueropäische Zusammenarbeit ist eine Art sub-regionale Zusammenarbeit in Europa. In dem im vorhergehenden Kapitel beschriebenen Sicherheitssytem geht es um eine regionale Regelung für ganz Europa, bei der auch die Vereinigten Staaten einbezogen sind. Aber jenes neue Sicherheitssystem muß sich auch in ein Sicherheitssystem auf Welt-niveau innerhalb der Vereinten Nationen einfügen. Deshalb muß das europäische System auf die Dauer an Organe der Vereinten Nationen gekoppelt werden. Jedoch müßten sich die Vereinten Nationen dazu noch erst selbst ändern. Diese Notwendigkeit soll hier nur kurz angedeutet werden. Wichtig ist, daß die „Grenzen" eines sicheren Europas auf mondial verantwortliche Weise abgesteckt werden und daß nicht regional entschieden wird, was mondial die einschneidendsten Folgen hätte. Trotzdem liegt im Hinblick auf die Sicherheitsproblematik der Schwerpunkt vorläufig noch auf europäisch-regionalem Niveau.

Die Rolle der Niederlande Es wurde bereits gesagt, daß die Niederlande als „kleines Land allein" sehr wenig ausrichten können, daß sie aber gleichwohl als Mitglied in den internationalen Organisationen eine konstruktive Rolle zu spielen vermögen, übrigens werden die Möglichkeiten der Niederlande unterschätzt. Sie gehören zu der Gruppe der 10 reichsten Länder der Welt; sie sind Mitglied von so wichtigen Organisationen wie der EWG und der NATO; sie spielen in vielen Organen der Vereinten Nationen eine ansehnliche Rolle und durch ihre großen (multi-nationalen) Unternehmen haben sie großen Einfluß auf die Weltwirtschaft.

Den größten Einfluß können sie durch internationale Organisationen ausüben:

— Sie können sich weigern, an unerwünschten Entwicklungen mitzuarbeiten, und können sich bei der westeuropäischen Integration, falls nicht gleichzeitig ein Fortschritt in der Annäherung zu Osteuropa verbucht werden kann, querlegen.

— Sie können sich, wie Frankreich, a-loyal innerhalb der NATO verhalten und damit eine weitere militärische Integration zu verhindern suchen **). Sie können durch einseitige Schritte innerhalb der NATO der Entwicklung vorauseilen und damit das Klima in Europa verbessern.

— Sie können mehr als bisher mit den skandinavischen Ländern zusammenarbeiten, um damit die Stimme dieser kleinen Länder hörbar zu machen, beispielsweise in bezug auf die portugiesische Politik im südlichen Afrika und in bezug auf den Druck, den die skandinavischen Länder auf England und Frankreich wegen derer nuklearen Aspirationen ausüben. Positiver formuliert: Die Niederlande müssen mit ganzer Kraft an der Förderung, Ausbreitung und Intensivierung der Zusammenarbeit in ganz Europa mitarbeiten, und zwar auf dem Gebiet der Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, Technologie und des Umweltschutzes. Man kann dabei auch an gemeinsame Projekte für Frieden und Fortschritt in den Entwicklungsländern denken.

Diese Formen der Zusammenarbeit sollten möglichst in Organisationen, die ganz Europa umfassen, eingebracht werden.

Europa und die Dritte Welt Im Vorhergehenden ist bereits von dem Gedanken Abstand genommen worden, daß Europa als werdende Großmacht die verlorengegangene Kolonialmacht in neuer Form wiederbeleben könnte. Die früheren Kolonien haben formell ihre politische Unabhängigkeit bekommen, bleiben jedoch wirtschaftlich noch in mancher Weise mit Europa verbunden. Durch Handelsverträge wird besonders den ehemalig französischen Kolonien ein bevorzugter Platz auf dem europäischen Markt eingeräumt. Die Zahl jener Entwicklungsländer aus dem Commonwealth, die sich nach Englands Beitritt gezwungen fühlen, eine enge Sonderbeziehung mit der vergrößerten europäischen Gemeinschaft anzustreben, wird nicht gering sein. Dies aber hat zur Folge, daß durch die einseitige Bevorzugung bestimmter Entwicklungsländer eine „Teile-undherrsche-Politik" fortgesetzt werden könnte, die eine Durchkreuzung eines wünschenswerten gemeinsamen Auftretens der Entwicklungsländer bedeuten würde. Diese müßten sich als „Gewerkschaft" organisieren, um auf diese Weise als ein Verhandlungspartner geschlossen gegenüber den reichen Ländern auftreten zu können.

Aber auf der vor kurzem abgehaltenen UNC-TAD-Konferenz wurde deutlich, daß die Entwicklungsländer . noch nicht imstande sind, die reichen Länder zu Konzessionen zu zwingen. Das Fehlschlägen der UNCTAD-Konferenz in Santiago ist nicht zuletzt auf das Auftreten der EWG zurückzuführen, die sich wegen Uneinigkeit und unterschiedlicher Interessen nicht zu einem gemeinsamen progressiven Standpunkt durchringen konnte. Sicco Mansholt hat dieses Auftreten auf der UNC-TAD-Konferenz „beschämend" genannt. Heute stehen die Niederlande vor der Frage, in welcher Weise sie außerhalb der EWG Aktivitäten hinsichtlich der Dritten Welt entwikB kein können, wobei die Zustimmung und Hilfe von anderen Mitgliedsstaaten innerhalb der Gemeinschaft dafür wesentlich wäre, und was sie zur Kompensation der nachteiligen Folgen tun könnten, die aus dem Fehlen einer guten EWG-Entwicklungspolitik resultieren. Entscheidend ist die Qualität unserer Entwicklungspolitik und nicht deren EWG-Charakter. Eine umfassende Entwicklungspolitik besteht aus:

— der Handelspolitik: Hierbei geht es um eine weitere Ausdehnung des Systems allgemeiner Präferenzen, was zur Folge hätte, daß der Export aus den Entwicklungsländern nicht durch hohe Importzölle erschwert wird. —Landwirtschaftspolitik: Auf diesem Gebiet wird man innerhalb der erweiterten EWG mehr denn je bestrebt sein, die EWG als einen nach außen hin abgeschlossenen Block zu betrachten, der kunstvoll eine völlige Selbstversorgung handhabt. Das hat für die Entwicklungsländer äußerst nachteilige Folgen. Man denke nur an den Zuckerimport aus den Commonwealth-Ländern, der durch Zucker aus der EWG verdrängt zu werden droht — einer Neustrukturierung der Produktion;

Die Entwicklungsländer werden nur dann eine Chance haben, sich zu entwickeln und zu industrialisieren, wenn auf Weltebene planmäßig eine Produktionsverschiebung auf jenen Gebieten stattfindet, auf denen die Entwicklungsländer tatsächlich oder potentiell konkurrieren können. Das impliziert eine Neustrukturierung auch unserer Wirtschaft. Diese Umstellung kann, falls sie seitens der verantwortlichen Behörden gut abgestützt wird — wie das offensichtlich bei der Schließung der niederländischen Bergwerke und der Abwanderung von Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiten, der Fall ist —, ohne große Arbeitslosigkeit und Senkung des Einkommens vonstatten gehen. — der eigentlichen Entwicklungshilfe: Hier ist noch vieles besser zu machen — sowohl hinsichtlich der quantitativen Ausweitung der Entwicklungshilfe und der Bedingungen, unter denen sie gewährt wird, als auch hinsichtlich der Verteilung und Verwendung dieser Mittel. Man wird darüber wachen müssen, daß die Stabilisierung unserer Wirtschaft bei einem bestimmten Produktionsvolumen und dem Verzicht auf ein weiteres quantitatives Wirtschaftswachstum — dazu werden wir durch die Umweltverschmutzung gezwungen — nicht zu einer Verminderung unserer (keineswegs untragbaren) Anstrengungen zugunsten der Entwicklungsländer führt.

IV. Die Menschenrechte

Man kann sich nicht für den Frieden einsetzen, ohne gleichzeitig die Verpflichtung auf sich zu nehmen, sich auch für die Rechte der Schwachen und Unterdrückten einzusetzen und überall dort zu protestieren, wo die menschliche Freiheit und Würde durch Gewalt bedroht wird.

i Dem IKV wird oft vorgeworfen, daß er sehr selektiv und einseitig seine Aufmerksamkeit auf die Verletzung der Menschenrechte in der Welt richtet. Diese Feststellung ist insofern richtig, als er der Auffassung ist, daß seine primäre Aufgabe dem Unrecht gilt, das durch niederländische Bündnispartner in der NATO und in der EWG begangen wird. Diese Verantwortlichkeit fühlt der IKV um so stärker, wenn es sich um Taten handelt, die unter der Maske einer „christlichen Politik" betrieben werden.

Die gemeinsame Zugehörigkeit zu Bündnissen und die damit verbundene Anerkennung gemeinsamer Werte vergrößern immerhin die Chance, daß Kritik an Bündnispartnern auch Erfolg hat, während dort, wo diese Gemeinsamkeit fehlt, der Protest oft zu einer leeren Geste wird. Obwohl man unserer Meinung nach zu Recht seine Aktivitäten nach dem Maß seiner Einflußmöglichkeiten bemessen sollte, spielt im Hinblick auf Osteuropa und die Sowjetunion ein anderes, oft unausgesprochenes, aber in jedem Fall dubioses Motiv dafür mit, daß man nicht gegen das dortige Unrecht protestiert: Dem Wunsch nach Entspannung und Abrüstung zuliebe vergißt man die internen Probleme des Ostblocks lieber und nimmt die dort in vielen Fällen herrschende Unfreiheit ruhig in Kauf. Denn es ist schon so, daß die Entspannung und die Forderung nach einem humaneren System in Osteuropa leicht in Konflikt miteinander geraten können, wie uns die Vergangenheit gelehrt hat Dennoch muß das Streben nach Annäherung und Zusammenarbeit mit dazu dienen, den Respekt vor den Menschenrechten, im politischen wie im sozialen Sinn, zu fördern, wie es u. a. in der Europäischen Konvention für Menschenrechte und den dazugehörigen Institutionen deutlich zum Ausdruck kommt. Das gilt im besonderen für die Warschauer-Pakt-Länder. Die Verletzung der Menschenrechte im Ostblock sollte bei den Überlegungen über die europäische Sicherheit nicht unter den Tisch fallen. Namentlich muß der Gedanke verworfen werden, daß die Sowjetunion — nach der sogenannten Breschnjew-Doktrin — das Recht zu militärischen Interventionen in den übrigen sozialistischen Ländern habe, falls ihr interne Entwicklungen in jenen Staaten nicht passen. Der IKV fordert die Friedensgruppen dazu auf, diese Dinge nicht zu vernachlässigen. Proteste aus diesem Kreis werden größeren Eindruck machen und auch besser motiviert sein als Proteste von konservativer Seite, die meistens den Eindruck erwecken, sich mehr gegen die als „antiamerikanisch" oder „links" angesehenen Gruppen in den Niederlanden zu wenden als gegen die Machthaber in der Sowjetunion selbst.

Ein weiteres, sehr wichtiges Menschenrecht ist das Recht, daß niemand gegen sein Gewissen dazu gezwungen werden darf, am Töten von anderen Menschen mitzuwirken. Bis jetzt haben sich nur die römisch-katholischen Bischöfe und die Synode der niederländischen Reformierten Kirche hinter den Vorschlag des IKV gestellt, das Gesetz über die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in dem Sinne abzuändern, daß nicht nur Gewissensgründe gegen die Teilnahme an jeglichem Krieg anerkannt werden, sondern auch unüberwindbare Gewissensgründe gegenüber dem Gebrauch von bestimmten Waffen (wie z. B. Kernwaffen), gegenüber bestimmten Kriegen (wie z. B. Vietnam) oder gegenüber einem bestimmten Einsatz der Streitkräfte (z. B. durch die NATO statt durch die Vereinten Nationen) " ***).

Der IKV sagt all jenen, die zu einem solchen Gewissensentschluß kommen, seine Unterstützung zu. Nicht nur weil ihm der Respekt vor Gewissensentscheidungen am Herzen liegt, sondern auch weil er die Besorgtheit, die diesen Gewissensentscheidungen zugrunde liegt, teilt.

Der IKV hat nie zur Wehrdienstverweigerung aufgerufen, sondern immer nur zu einer bewußten Wahl. Bequemlichkeit und undurchdachter Konformismus müssen bekämpft werden, aber die durchdachte Gewissensentscheidung sowohl jener, die den Dienst Verweigern, als auch jener, die ihren Wehrdienst leisten, verdient Respekt.

Ein derartiger Bewußtseinsprozeß ist jedoch nur möglich, wenn es auch wirklich Alternativen gibt und das Gesetz dazu Raum läßt. Auch ein allgemeiner Bewußtseinsprozeß, der internationale Probleme und Alternativvorschläge zur Außenpolitik betrifft, sollte in Gang gebracht werden. Es ist ein demokratisches Recht, daß der Bürger bei Lebensentscheidungen, die ihn angehen, auch optimal einbezogen wird. Aus diesem Grund muß er auch in den Stand gesetzt werden, diese Probleme zu begreifen und dann zu entscheiden, welche Wahl er treffen will. Dazu müßte die Regierung in viel größerem Umfang, als es bis jetzt geschieht, jenen Organisationen und Einrichtungen, die auf diesem Gebiet aktiv sind, Zuschüsse gewähren, damit sie in der Lage sind, ihre Arbeit — unabhängig von der finanzierenden Instanz — fortzusetzen.

Die Gnadenfrist läuft ab Der Gedanke, daß das Gleichgewicht des Schreckens durch seine kriegsverhindernde Wirkung eine Gnadenfrist gibt, in der man eine konstruktivere Friedensstruktur aufbauen kann, hat von Anfang an auch vielen beunruhigten Christen das Argument geliefert, sich mit dem Gleichgewicht des Schreckens vorläufig zu versöhnen. Auf diese Weise wurde jedoch eine Möglichkeit geschaffen, sich dem Paradox der Kernwaffen zu entziehen, das darin besteht, daß man die Waffen, von denen man sagt, daß sie nicht gebraucht werden dürfen, doch zu gebrauchen entschlossen sein muß. Abgesehen davon, daß bei der Rede von der Gnadenfrist wohl etwas sehr leichtfertig mit Gottes Absichten umgesprungen wird, kann man einen fundamentalen Einwand vorbringen, der sie zu einem unbrauchbaren Alibi macht. Irgendwo muß man nämlich eine zeitliche Grenze für die Nutzung dieser Gnadenfrist ziehen. Die Erkenntnis, daß sie nicht genutzt wird, muß sich durch***s) etzen, bevor es zu spät ist.

Wo die Grenze liegt, hängt zwar von der subjektiven Einschätzung ab, aber viele von uns sind der Ansicht, daß sie beinahe erreicht ist. Wir stellen • fest, daß zwar einige Resultate auf dem Gebiet der Waffenkontrolle und -beschränkung erzielt worden sind, aber diese begrenzten Maßnahmen sind völlig unerheblich im Vergleich zu der gleichzeitigen Beschleunigung des Rüstungswettlaufes und der Ausbeutung der Dritten Welt. Sie können geradezu das Gegenteil bewirken, indem sie uns nämlich blind machen für den Ernst der Lage. Auf diese Weise werden sie zu einem trügerischen Alibi dafür, daß man wirksame Maßnahmen gegen das Abschreckungssystem unterläßt. Das Vertrauen, auf das unsere Regierungen in solchen Dingen prinzipiell ein Recht haben, hat seine Grenzen.

Der IKV hat schon früher einmal festgestellt: „Wenn in der Welt nicht die Bereitschaft zu einer entschiedenen Wahl für ein anderes Sicherheitssystem zunimmt, dann ist für den Christen der Zeitpunkt gekommen, daß er seine Haltung in bezug auf das gegenwärtige Sicherheitssystem und in bezug auf die Politik, die sich darauf gründet, aufs neue überprüft.“

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe J. Galtung, Cooperation in Europe, Oslo 1970.

  2. Charles W. Yost, Christian Science Monitor, 20. 8. 1971.

  3. Istvan Kende, Twenty-five years of local war, in: Journal of Peace Research, 1971/1, S. 5— 22.

  4. „Het vraagstuk van de kernwapenen". Den Haag, 1962, S. 23. Eine gleichartige Verurteilung findet man in der Konstitution „Gaudium et Spes" des Zweiten Vatikanischen Konzils, beispielsweise in *Nr 80: „Jegliche Kriegshandlung, die willkürlich auf die Vernichtung ganzer Städte oder großer Gebiete samt Bevölkerung abzielt, ist ein Verbrechen gegen Gott und den Menschen schlechthin und muß schärf und ohne Zögern verurteilt werden."

  5. Siehe J. Galtung, Europa — bipolar, bizentrisch oder kooperativ? in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament", B 41/72.

  6. über die Beziehung zwischen Abrüstung und Sicherheit hat J. Luns in dem Memorandum „Entwaffnung, Sicherheit, Friede" (S. 10), mit dem er 1964 vor das Parlament trat, interessante Äußerungen gemacht: „Von alters her ist der Mensch mit dem Gedanken vertraut, daß er zu seinem Schutz über Waffen verfügen muß. Dieser Gedanke ließ oft kaum mehr Raum für die Einsicht, daß Abrüstung erstrebenswert oder möglich sein könnte. Heutzutage müssen wir unsere diesbezügliche Einstellung notwendigerweise korrigieren. Die revolutionären rüstungstechnischen Entwicklungen der Nachkriegsjahre haben die Menschheit zum ersten-mal in der Geschichte in die Lage versetzt, in der die anwachsende Rüstung, die eine Erhöhung der Sicherheit bezwecken sollte, in Wahrheit mehr und Unsicherheit erzeugt. ist darum mehr Es gerade diese Entwicklung, die die Abrüstung in unserer Zeit zu einer zwingenden Notwendigkeit und zu einem Teil der nationalen Sicherheitspolitik der Staaten hat werden lassen, aber auch gleichzeitig — solange die Abrüstung ausbleibt — dazu geführt hat, eine wirksame nukleare und konventionelle Abschreckungsmacht aufrechtzuerhalten, um damit einen Krieg zu verhindern." \

  7. Siehe Fußnote 1.

  8. IKV-Broschüre Nr. 1; „De betekenis van de Strategie Arms Limitation Talks", ein Memorandum, das auf Wunsch, und in Zusammenarbeit mit dem Interkirchlichen Friedensrat (IKV) von B. V. A, Röling verfaßt wurde (Den Haag 1970),

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