Einleitung
Seit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches im Jahre 1945 gibt es eine Diskussion darüber, was „Deutschland" sei, was man unter der deutschen Nation, was unter deutschem Volk zu verstehen habe. Diese Diskussion wurde von den Völkerrechtlern, dann von den Staats-und Verfassungsrechtlern und schließlich von den Politologen und vor allem von den Politikern entfacht und fortgeführt. Sie blieb keineswegs auf die Bundesrepublik Deutschland beschränkt, ja, sie nahm ihren Ausgang sogar zunächst in anderen Ländern, vor allem bei den Hauptalliierten, in Italien, Österreich und selbst in der Schweiz, dies im Zusammenhang vor allem mit Fragen des internationalen Konfiskations-und Enteignungsrechtes und der Staatensukzession. Sie wurde erneut entfacht, diesmal insbesondere im innerdeutschen Bereich, durch die Ostverträge (einschließlich des „Grundvertrages" zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik). Sie ist heute in verstärktem Maße im Gange.
Gerade wenn man die Ostverträge als einen entscheidenden Wendepunkt für die Entwicklung der Deutschlandfrage ansieht — und das muß man wohl, da es doch hieße, den Kopf in den Sand zu stecken, wenn man ihre Realität nicht anerkennen wollte — und daher für ein in die Zukunft blickendes „Deutschland" ein offenes Auge und Herz hat, ist es aber notwendig, zuvor Begriffe zu klären. Dieser Klärung dient die vorliegende Studie, von welcher ihr Verfasser glaubt, es sei auf so knappem Raum bisher noch nicht mit solcher Gründlichkeit an diese Begriffsklärung herangegangen worden. Dabei ist diese Studie sicherlich dennoch sehr lückenhaft, bruchstückhaft und viel zu wenig auf die Thesen, Erfah-rungen und wissenschaftlichen Ausarbeitungen in „Deutschland" selbst abgestellt. Man müßte ein Buch von großem Umfang schreiben, um ein wirklich gerundetes Bild zu geben und absolut überzeugende Gedankengänge zu entwickeln.
Aber die vorliegende Studie könnte den Vorzug haben, daß sie von keinerlei innerdeutschen Kontroversen belastet und nicht mit politischen Glaubensartikeln befrachtet ist und daher auf der einen Seite des Verständnisses für die Bemühungen um einen deutschen Ausgleich mit den östlichen Nachbarn Deutschlands gewiß nicht entbehrt, andererseits aber aus Sorge um „Deutschland" die diesem aus den zwei bzw. drei Ostverträgen drohenden Gefahren aus neutraler Sicht aufzeigt. Unter diesen Aspekten dient diese Studie selbstverständlich auch der politischen Bildung und — über die Kenntnis dessen, was ist — der Erkenntnis dessen, was sein soll (im Sinne der Einführung in die Rechtsphilosophie von Carl August Emge).
Die Klärung der Begriffe setzt voraus, daß man sich des ungeheuren Wandels bewußt wird, den Begriffe wie „Volk", „Nation", selbst „Rasse", aber auch „Selbstbestimmungsrecht", „Heimat" bzw. „Recht auf die Heimat" „Nationalismus" und „Nationalstaat" und in weiterer Folge „deutsches Volk" und „deutsche Nation" seit 1945 durchgemacht haben. Die führenden wissenschaftlichen Arbeiten zu den Disziplinen der Völkerrechtswissenschaft, der Ethnosoziologie und Ethnopsychologie, aber auch zum Problem der Rechtslage zweigeteilter Staaten sind keineswegs in erster Linie in der Bundesrepublik Deutschland veröffentlicht worden. Hier hat man zwar bereitwilligst Amerikanismen aller Art übernommen (dabei die hohen Kulturwerte anderer Völker wie des französischen, italienischen und russischen links liegen lassend), hingegen nicht versucht, zur neuesten — auch amerikanischen — Völkerrechtslehre wie auch Ethnosoziologie (im Hinblick auf Deutschland) eine Beziehung herzustellen. Vollends wird die Fülle von einschlägigen Publikationen aus Österreich, Italien, den Niederlanden, Frankreich, Belgien, Jugoslawien, der UdSSR zum Volksbegriff und zum Begriff der Nation nur von einigen wenigen Fachleuten bewußt zur Kenntnis genommen.
Das muß um so mehr bedauert werden, als es völlig falsch wäre, zu glauben, „Deutschland" (ob BRD oder DDR ist hierbei gleichgültig) sei wirklich gleichberechtigt in die Staatengemeinschaft zurückgekehrt, der es 1933 den Rücken gekehrt hatte. Der (im Falle der Aufhebung der Deutschlandartikel der Satzung der Vereinten Nationen zu gewärtigenden) formaljuristischen, völkerrechtlichen Wiederherstellung der Gleichberechtigung Deutschlands gestellt sich jedenfalls bis zum heutigen Tage ein tiefes Mißtrauen gegenüber dem deutschen Volk, das der erfolgreiche deutsche Exportkaufmann vielleicht nicht wahrnimmt und der deutsche Tourist im Ausland mit der Kaufkraft der D-Mark und mit seinem Auftreten überspielt. Daher ist es notwendig, den Deutschen selbst so geringfügige Wissenshilfen an die Hand zu geben wie die hier vorliegenden.
Es kann nicht übersehen werden — und der Leser der vorliegenden, in der Diktion trockenen und gar nicht leicht lesbaren Studie wird dessen rasch inne werden —, daß sich wirklich allgemeingültige Definitionen von „Volk", „Nation" und „Deutschland" nicht geben lassen. Wohl aber lassen sich aufgrund der heute (außerhalb Deutschlands) hoch entwickelten Ethnosoziologie und der teilweise hervorragenden Studien der Vereinten Nationen Grundlagen und Grundbegriffe hierzu als gesichert herausstellen. Selbst wenn sie in wenigen Jahrzehnten stark gewandelt sein sollten, so sind sie doch nach dem heutigen Stande definierbar. Dazu muß freilich fast allem abgesagt werden, was bis 1933 in Deutschland für gültig angesehen worden ist. Einigen Alteren — keineswegs vielen, da das Lebensalter mit dem geistigen Alterungsprozeß keineswegs gekoppelt ist — mögen liebenswerte Romantizismen fehlen, noch mehr Junge werden ihren Blick durch einen extremen Pragmatismus sich selbst verdunkeln.
So vieles also offen bleibt, so sehr die hier gegebenen Definitionen der Endgültigkeit entbehren, so kann doch 'mit dem, was in dieser Arbeit zu lesen ist, dem deutschen Volk, das wahrlich nicht mit der jeweiligen Regierung eines der „beiden deutschen Staaten" identifizierbar ist, ein Vademecum gegeben werden, um sich über seine eigene Position in Europa klarzuwerden.
In dieser Studie wird, wie schon angedeutet, sehr viel Literatur erwähnt, und so sollten auch die Anmerkungen bei einem allfälligen zweiten Lesen sorgsam mitgelesen werden. Soweit möglich, wurden auch Tendenz und Richtung der zitierten Literatur miterwähnt. Jedenfalls handelt es sich aber um Publikationen, die Beachtung verdienen. Es wäre arg verfehlt, wollte man nur jene Literatur lesen, die dem bisherigen eigenen Standpunkt entspricht. Wer ernst zu nehmende Publikationen des wirklichen oder vermeintlichen Gegners ungelesen beiseite legt, verengt seinen eigenen Blick.
Es liegt auf der Hand, daß alles, was hier dargeboten und entwickelt wird, die subjektive Auffassung des Verfassers widerspiegelt und auch nicht etwa von irgendwem autorisiert ist. Nur eine Autorisierung kann in Anspruch genommen werden: die vertiefte Kenntnis der in anderen Sprachen, jedenfalls in englischer, französischer, italienischer, russischer, serbokroatischer und slowenischer Sprache zu unserem Thema erschienenen Werke.
I. Vorbemerkung
In der Präambel zum GG ist vom „Deutschen Volk" in den Ländern Baden, Bayern usw. die Rede, welches kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland beschlossen habe, „um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben". Berlin kommt in der Aufzählung nicht vor, obwohl in der Verfassung von Berlin — de facto nur Berlin (West) — vom September 1950 in Art. I steht: „(1) Berlin ist ein deutsches Land und zugleich eine Stadt.
Berlin ist ein Land der Bundesrepublik Deutschland.
Grundgesetz und Gesetze der Bundesrepublik Deutschland sind für Berlin bindend." Es handelt sich um einen grundsätzlichen, deklamatorischen Beschluß, der im übrigen gemäß Art. 87 der Berlin-Verfassung noch nicht in Kraft ist. Daran vermochte auch die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts 1) nichts zu ändern, die am 21. Mai 1957 erging und lautet: „Berlin (West) ist ein Land der durch das Grundgesetz organisierten Bundesrepublik Deutschland." Daß Berlin — in diesem Falle aber mit Einschluß von Berlin (Ost) — unverändert den vier Mächten unterstellt ist, obwohl es keine völkerrechtlich selbständige Einheit darstellt, ist am deutlichsten durch das Viermächte-Abkommen vom 3. Juni 1972 zum Ausdruck gekommen, an dem weder die Bundesrepublik Deutschland noch die DDR teilhatten, mochten sie auch ihre Zustimmung dazu zum Ausdruck gebracht haben 2).
Im GG war ursprünglich auch das Saarland nicht genannt. Erst durch das Saar-Plebiszit von 1955 3) war die Voraussetzung dafür geschaffen worden, daß es in das GG einbezogen und ebenfalls zu einem „Land" wurde.
Es ist damit hinreichend klargestellt, daß die Zahl der Länder, aus welchen die Bundesrepublik Deutschland besteht, keineswegs ein für allemal endgültig feststeht, so daß aus dem GG nicht geschlossen werden kann, welches Territorium nun „Deutschland" umfaßt, wozu noch der Satz in der Präambel kommt, daß dieses deutsche Volk in den vorerwähnten Ländern „auch für jene Deutschen „gehandelt hat, denen mitzuwirken versagt war". Was damit gemeint ist, bleibt unklar in dem Sinne, ob jene am Handeln gehinderten Deutschen gemeint sind, die in der SBZ — wie man damals noch völkerrechtlich wie staatsrechtlich exakt sagen konnte und mußte — an der Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts durch die dortigen politischen Machthaber gehindert waren, oder allenfalls auch die Deutschen aus den Gebieten von jenseits der Oder-Neiße-Linie (sie waren zum weitaus überwiegenden Teil in die Bundesrepublik vertrieben worden oder geflüchtet und hatten hier auch Wahlrecht und also die Möglichkeit der Mitentscheidung über das Schicksal des deutschen Volkes in der Bundesrepublik Deutschland, aber naturgemäß nicht über jenes ihrer angestammten Heimat) oder ob nicht allenfalls auch die Sudeten-und Karpatendeutschen und überhaupt alle in ihrer angestammten Heimat an der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts gehinderten Deutschen mit oder ohne deutsche (Reichs-) Staatsangehörigkeit gemeint gewesen sind. Auch die letzteren sind ja nach Art. 116 GG unter den dort angeführten Voraussetzungen Deutsche im Sinne des GG.
Auch der Begriff „Deutsches Volk" in der Präambel und in Art. 1 Abs. 2 GG und an vielen anderen Stellen dieser Verfassung ist schon deshalb unklar, weil mit der einzigen Ausnahme des Art. 146 (Geltungsdauer des GG) der Parlamentarische Rat stets „Deutsches Volk" mit einem großen „D" geschrieben hat dies freilich in Übernahme der Präambel der Weimarer Verfassung 6). Man kann nun, was sehr viel für sich hat, in dieser Großschreibung eine Festlegung auf einen Rechtsbegriff sehen, da ja die Großschreibung des Anfangsbuchstabens von Eigenschaftswörtern durchweg einen streng juristischen Gehalt andeutet, der nicht ethnisch bestimmt ist, sondern auf den Staat zu beziehen ist (etwa „Der Deutsche Presserat", „Radiodiffusion Franaise“, „Republica Italiana”, „Das Österreichische Nationalinstitut" usw.). Manche haben dem allerdings entgegengehalten, es handle sich dabei doch eher um Spitzfindigkeiten. Die Frage, warum im GG fast ausnahmslos vom „Deutschen Volk" und nicht vom „deutschen Volk" die Rede ist, ist aber bedeutsam genug, auch mit zu untersuchen, was denn das deutsche Volk heute sei, ob es rechtlich definierbar ist oder nur ethnopolitisch und allenfalls auch angesichts der allenthalben, keineswegs nur im deutschen Sprach-und Kulturraum rasch an Bedeutung gewinnenden Ethnopsychologie und Ethnosoziologie auch ethnosoziologisch 7).
Schließlich beginnt in jüngster Zeit in zunehmendem Maße die Frage nach der deutschen Nation Bedeutung anzunehmen, nicht zuletzt auf Grund der Entwicklung der sog. „innerdeutschen Beziehungen" nach den „ 20
Schließlich beginnt in jüngster Zeit in zunehmendem Maße die Frage nach der deutschen Nation Bedeutung anzunehmen, nicht zuletzt auf Grund der Entwicklung der sog. „innerdeutschen Beziehungen" nach den „ 20 Punkten von Kassel", die Bundeskanzler Brandt am 21. Mai 1970 verkündete um einen Vertrag mit der DDR vorzuschlagen, der heute „Grundvertrag" genannt wird, und wo es in Punkt 10 heißt, daß die Deutschen „in zwei Staaten leben und sich dennoch als Angehörige einer Nation verstehen". Diese Nation kann nur die deutsche Nat heißt, daß die Deutschen „in zwei Staaten leben und sich dennoch als Angehörige einer Nation verstehen". Diese Nation kann nur die deutsche Nation sein. Gibt es aber eine solche? Wenn ja, wie ist sie zu definieren? Offenkundig versteht die deutsche Bundesregierung, die sich dabei aber nicht auf das GG berufen kann, da dort der Ausdruck „deutsche Nation" nicht vorkommt, darunter (etwa in den Botschaften des Bundeskanzlers an die deutsche Nation) etwas anderes als die Regierung der DDR 9), obwohl in der Präambel zur neuen DDR-Verfassung vom 6. April 1968 10) der Satz steht: „Getragen von der Verantwortung, der ganzen deutschen Nation den Weg in eine Zukunft des Friedens und des Sozialismus zu weisen ..." Ähnliches stand zuvor schon im sog. „Nationalen Dokument" der Ulbricht-Regierung. Die Übereinstimmung der beiden Regierungen über einen Begriff „gesamte deutsche Nation“ oder „eine Nation" ist nur scheinbar gegeben. Es muß also auch der Nationsbegriff in bezug auf „Deutschland" untersucht werden. Vollends herrscht Verwirrung darüber, was unter „deutsches Volk" zu verstehen ist. Wenn in der Bundesrepublik, vor allem im GG, stets vom deutschen Volk die Rede ist, was auch in der ersten DDR-Verfassung noch der Fall war, die als Verfassung für ganz Deutschland, also auch Westdeutschland gedacht war, spricht die DDR-Verfassung von 1968 nur vom „Volk der DDR" ohne das Beiwort „deutsch". Die Bezeichnung „Deutsche" Demokratische Republik kann dieses Fehlen nicht ausgleichen. Es muß also auch untersucht werden, was nun unter dem deutschen Volk zu verstehen ist.
II. Der Begriff „Volk"
1. Historische Entwicklung des Volksbegriffes
Es bedarf keines besonderen Hinweises darauf, daß „Volk" auch im ethnischen Sinne in der Geschichte der Menschheit schon frühzeitig bekannt war. Statt aller sonstigen Hinweise kann auf die bis in die Zeit des Alten Testaments zurückgehende Darstellung im Evangelischen Staatslexikon hingewiesen werden Die katholische Gesellschaftslehre (Sozial-lehre, nicht zu verwechseln mit dem Begriff der modernen Soziologie, obwohl dieser verwandt) hat sich dem Begriff „Volk" im ethnischen Sinne weit weniger zugewandt und ihn vielfach im Sinne von Kirchenvolk gesehen, auch wenn immer wieder Ansätze zu einer ethnischen Sicht zu beobachten waren
Im nationalsozialistischen Deutschland wurde im Gegensatz zum ethnozentrischen Volksbegriff Max Hildebert Boehms, des im Gründe noch heute unerreichten Volkswissenschaftlers der ohne Überbewertung des Geisti-gen das Seelisch-Geistige des Volkes in den Vordergrund stellte, ohne den naturhaften Zusammenhang außer acht zu lassen, ein krass nationalistischer, auf den Nationalstaat und seine rein politischen Machtbestrebungen ausgerichteter ethnokratischer Volksbegriff entwickelt, dem zuliebe 1937 nach dem Einleitungsartikel von Hans Joachim Beyer sogar eine eigene Zeitschrift „Ausländsdeutsche Volksforschung" gegründet wurde
Man muß freilich feststellen, daß verschiedentlich, und zwar interessanterweise in Bereichen sogenannter progressiver, also politisch mehr oder weniger weit links (bis praktisch zum Kommunismus hin) stehender Führungsgruppen kleinerer oder doch machtloser Völker und Volksgruppen, der Ethnokratismus zu neuer Blüte gelangt (Basken, Slowenen, französische Katalanen). Ja, es gibt sogar ein „Manifest der Ethnokratie" des unstreitig namhaftesten Vertreters der großbaskischen, nationalistischen Bewegung, De Ihartza
In den letzten Jahrhunderten wurde Volk immer mehr als eine ethnische Gemeinschaft erkannt und verstanden, so daß im französischen Sprachbereich sich sogar ein eigener Ausdruck „ethnie" für Volk oder jedenfalls für Volkstum entwickelt hat, jedoch keineswegs erst in den letzten Jahrzehnten, sondern schon weit früher Es braucht hier nicht auf den Inhalt „ethnisch" des Wortes eingegangen zu -wer den, da dies zu weit führen würde. Es kommt jedenfalls aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, vor allem der Völkerkunde, der Volkskunde, der Anthropologie, der Volkswissenschaft (die heute allerdings nur noch als ein Zweig der Soziologie angesehen wird) und auch der Sprachwissenschaft, obwohl Volk (Volkstum, ethnie, Ethnos) keineswegs an das Vorhandensein einer eigenen Sprache gebunden ist.
Geschichtlich gesehen, aber auch im heutigen Sprachgebrauch, der ja seinerseits durchaus verwirrend und also nicht einheitlich ist und mancherlei Unklarheiten zuläßt, ist im Deutschen — nicht zuletzt im Einklang mit Pan
— Volk mit verschiedenen Kriterien bezeichnet worden:
a) Volk als Haufe, Menge, Leute, also als anschaulich gegenwärtige Personenzahl (gens, gente, peuple), people, b) Bevölkerung innerhalb eines abgrenzbaren Gebietes, somit Summe der Einwohner des Gebietes, welches keineswegs etwa ein Staat oder Gliedstaat sein muß, sondern auch nur eine Talschaft, Inseln usw.sein kann (populus, popolazione, population), c) Volk als Masse bzw. gesellschaftliche Unterschicht (ochlos, vulgus, plebs, couches inferieures), d) Volk als Summe der Stimmberechtigten in in Staaten freiheitlicher Demokratie (demos), e) Volk als politische Kategorie führender Staatsschichten bzw. führender ethnischer Schichten (Elite), f) Volk als Abstammungs-, Sprach-und Kulturgemeinschaft (Ethnos, ethnie, . souches ethniques).
2. Volk in der Gegenwart Wie aus der vorstehenden historischen Ableitung schon ersichtlich, wurde Volk in der Geschichte sehr unterschiedlich definiert. Auch heute lassen sich diese Unterschiede noch deutlich erkennen. In Art. 1 der österreichischen Bundesverfassung heißt es: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volke aus." In der Bundesrepublik werden die Urteile der Gerichte „Im Namen des Volkes" gesprochen. Hier ist Volk ganz sicher nicht im ethnischen Sinne gemeint, sondern entweder als Summe der Staatsangehörigen, somit als Staatsnation (s. u.), oder als demos, d. h. als Summe der zur politischen Entscheidung und Mitbestimmung im Staate berufenen Staatsangehörigen. Auch im Begriff „Volksdemokratie" (russ. HAPOIHAH IIEMO-* KPATMH) liegt die letztere Bedeutung; dies ohne Rücksicht auf den tatsächlichen Umfang einer solchen Mitbestimmung. Daß die Komponente „Volk" in Bezeichnungen wie „Volksbank", „Volkskommune", „Volksaktie" keinerlei ethnische Bedeutung hat, bedarf keiner Erläuterung. Auch „Volkszählung" kann eine solche Kennzeichnung nicht haben, denn bei Volkszählungen wird schlechthin die anwesende Bevölkerung, in den meisten Fällen ohne Rücksicht auf die ethnische Zugehörigkeit (Ausnahmen: Schweiz, wo aber wie in den meisten derartigen Fällen die Sprachzugehörigkeit ermittelt wird, und einige Nationalitätenstaaten bzw. multinationale Staaten)
Eine wesentliche Orientierung leistet das von der UNESCO herausgegebene „Mehrsprachige demographische Wörterbuch" wo Volk definiert wird als eine Menschengruppe von gemeinsamen körperlichen, sprachlichen und kulturellen Merkmalen, die sich durch gemeinsame geschichtliche Entwicklung ein Gemeinsamkeitsbewußtsein erworben hat. Allerdings wird angefügt, im Deutschen spreche man dabei meist von einer Nationalität. Das ist aber nur für jene Völker oder Volksteile (Volksgruppen) zutreffend, die sich, vor allem in einem Nationalitätenstaat (plurinationalen oder multiethnischen Staat), anderen Völkern und Volksgruppen gegenübersehen, mit denen zusammen sie den Staat politisch tragen, in den sie sich gewissermaßen teilen. Klassischer Nationalitätenstaat war das alte Österreich, mit Einschränkungen sogar überhaupt die Österreichisch-Ungarische Monarchie, die ja sogar den Begriff des Nationalitätenrechts geliefert hat Heute sind vor allem Jugoslawien und Belgien Nationalitätenstaaten. Die Schweiz ist zwar ein Nationalitätenstaat, bezeichnet sich aber nicht so, da ihr staats-und verfassungsrechtliches Denken vom Begriff der Staatsnation = Willensnation (s. u.) ausgeht und Bezeichnungen wie ethnie, Volksgruppe, Nationalität, nationale Minderheit (ausgenommen im Berner Jura) aus rein staatspolitischen Gründen ziemlich einhellig abgelehnt werden und höchstens — auch das erst seit relativ kurzer Zeit — von sprachlichen Minderheiten gesprochen wird Wenn im „Mehrsprachigen demographischen Wörterbuch" zum Begriff „Volk" auch gemeinsame sprachliche Merkmale erfordert, werden, so ist das freilich, wie schon erwähnt, in Sonderfällen kein Erfordernis. Die volksbildende Kraft der Sprache sei dabei nicht verkannt. Aber auch die UN-Publikation „Protection des minorites — Protection of Minorities" unterscheidet im Untertitel „ethnische, religiöse und sprachliche Gruppen", bringt damit also zum Ausdruck, daß ethnisch = volklich oder völkisch mit sprachlich nicht identisch sein muß. Das ist für den gegenwärtigen Stand des deutschen Volkes wichtig, weil nicht einmal alle ethnisch Deutschen auch Angehörige des deutschen Sprachvolkes, also Sprachdeutsche sind, wie der Fall der Rußlanddeutschen zeigt. Nach der Volkszählung 1970 (15. 1.) zählte man in der UdSSR 1 846 000 Deutsche (hauptsächlich in Kasachstan, wohin die Deutschen der Wolgarepublik durch Stalin zwangsumgesiedelt wurden), doch sprechen davon nur 66, 5% Deutsch noch als Umgangssprache Die unverändert — trotz Warschauer Vertrag — sehr große Zahl der Deutschen in Polen, von denen eine Anzahl als „Spätaussiedler" in die Bundesrepublik gekommen ist, gehört nach ihrem Bekenntnis und den objektiven Merkmalen ethnisch zum deutschen Volk, zu beträchtlichem Teil aber nicht mehr zur deutschen Sprachgemeinschaft Das gab Anlaß zu dem Satz: „In Polen: Deutsche, in Deutschland: Polen", wobei der Begriff der „Autochthonen" eine Rolle spielt
Es kann somit nicht auf die Sprache allein abgestellt werden, ob eine Gemeinschaft als „Volk" bezeichnet wird. Sie wird zwar meistens ein Kennzeichen dafür sein. Aber so wenig zur Existenz eines Volkes eine gesprochene eigene Sprache unbedingt gehören muß (Bretonen, Iren, Basken in Frankreich), so wenig kann aus einer von der Mehrheit der Einwohner eines Staates oder einer Region gesprochenen Sprache notwendigerweise darauf geschlossen werden, daß es sich um ein Volk im ethnischen Sinne handelt, welches dieser Sprache zugeordnet ist. Die US-Amerikaner sprechen Englisch. Ob es ein einwandfreies, „gutes" Englisch ist, sei dahingestellt In den Staaten der ehemaligen Communaute Franaise in Afrika ist noch immer weithin Französisch die langue vhiculaire; jene, die sie sprechen, gehören aber keineswegs dem französischen Volk an, wie man dies von den Franko-Kanadiern, den Valdötains, den romands der Schweiz und den Wallonen sagen kann. Inwieweit die englisch sprechenden Australier oder Kanadier dem englischen Volk angehören, ist zweifelhaft, jedenfalls weitaus überwiegend bestritten. Mit juristischen Definitionen kann man dem Begriff „Volk" nicht oder doch nur sehr schwer, gewissermaßen nachhinkend gegenüber der geschichtlichen Entwicklung, beikommen, und das zeigt sich heute mit besonderer Deutlichkeit, wenn man den Begriff „deutsches Volk" (nicht jenen des GG, sondern den soziologischen Begriff) definieren will.
3. Volkswissenschaft als ein Zweig der Soziologie
„Volk" wurde früher einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin zugerechnet, die man VolksWissenschaft genannt hat. Als Altmeister dieser Lehre galten und gelten Johann Wilhelm Mannhardt und Max Hildebert Boehm
Nirgendwo in ihren Schriften, die in vielem bis heute maßgeblich geblieben sind, obzwar sie eines gewissen Hanges zur Romantik nicht entbehren und daher trotz betonter Gegnerschaft zum universalistischen Lehrgebäude von Othmar Spann diesem in Wirklichkeit gar nicht so fern stehen findet man aber einen Hinweis, daß die Volkswissenschaft nur einer der vielen Zweige der Soziologie ist, ja selbst eine Inbeziehungsetzung zur Soziologie wird nur sehr spärlich angedeutet. Es mag sein, daß die moderne Soziologie ihrerseits noch recht wenig mit „Volk" anzufangen weiß, soweit es sich um ethnische Gemeinschaften handelt.
Im „Wörterbuch der Soziologie" wird dem Volk nur ein bescheidener Abschnitt gewidmet und es wird dort auch unumwunden zugegeben, daß „Volk" wissenschaftlich überhaupt noch so gut wie nicht erforscht wurde, sondern im wesentlichen einfach als vorhanden vorausgesetzt wird. Ja, es wird dabei sogar gesagt, daß es soziologisch ein Vorurteil sei, daß es überall „Völker" geben müsse.
Derartige Gedankengänge sind individualistisch und gehen an der Wirklichkeit ebenso vorbei wie an den Aufgaben, die der Soziologie heute gestellt sind. Gewiß kann man auch die Auffassung vertreten, daß es „Volk" und daher „Völker" nicht notwendigerweise und nicht überall geben müsse, was vor allem die an der amerikanischen Soziologie geschulten Wissenschaftler mit manch überzeugender Begründung dartun Da aber „Volk" und „Völker" — im ethnischen Sinne gesehen — nun einmal im Bewußtsein von Menschen-gruppen existieren (allein das Wort „Gruppe" ist nicht zuletzt einer der wichtigsten Grundbegriffe der Soziologie), kann die Soziologie über diese Tatsache nicht hinweggehen. Es mag auch andere Wissenschaften geben, die sich des Volks annehmen oder im Bewußtsein mancher damit zu tun haben; vor allem die Ethnologie, die Anthropologie, die Volkskunde (Brauchtumslehre), die Ethnographie (Völkerkunde) und auch die Lehre von den Rassen befassen sich damit Das sind dann aber zumeist Darstellungen am Rande. Dasselbe gilt auch von den vorvolklichen Erscheinungen, die es vor dem Christentum mit seiner volksbildenden Kraft in Mitteleuropa (germanische Stämme) gab und die heute im Ringen um die Volkwerdung in weiten Teilen Afrikas zu spüren sind, wo die Kolonialmächte ja reine Zufallsgrenzen, keine ethnischen oder auch nur stammlichen Grenzen hinterlassen haben und manche Staaten sich als volkbildende Katalysatoren zu erweisen suchen. Man muß also die Volkswissenschaft, die in anderen Sprachen schon längst Ethnosoziologie heißt, auch im deutschen Sprachbereich der Soziologie zuweisen und, ob man sie nun Ethnosoziologie oder Volkswissenschaft nennt, dort unterordnen.
4. Unterschiede bezüglich des Volksbegriffes in den verschiedenen Sprachen und Kulturen
Die Schwierigkeit, „Volk" umfassend und all-gemeingültig zu definieren, auf welche Mühlmann in den zitierten Arbeiten mit Recht hingewiesen hat, wird dadurch noch vergrößert, daß in anderen Sprachen, anderen Nationalstaaten und deren Kulturen „Volk" ebenfalls mehrdeutig gebraucht wird. Das bereits erwähnte mehrsprachige demographische Wörterbuch der UNESCO läßt dies deutlich werden. In den beiden menschenrechtlichen Welt-pakten die zwar bis heute mangels ausreichender Ratifizierung noch nicht in Kraft stehen, aber dennoch nicht als bloße Entwürfe mehr angesehen werden können, ist in Artikel 1 zum Selbstbestimmungsrecht festgelegt, daß alle Völker dieses hätten: „tous les peuples", „all peoples". Da Selbstbestimmungsrecht begrifflich nur gegen Staaten ausgeübt werden kann und einen diesbezüglichen Anspruch gegen einen Staat oder auch — wie sich im Falle der Jurassier im Kanton Bern zufolge des Zusatzes zur Staatsverfassung des Kantons Bern vom 1. 3. 1970 deutlich erwiesen hat — gegen einen Gliedstaat bzw. die darin beherrschenden sozialen Großgruppen darstellt muß also „people" und „peuple" (ital. „popolo") in diesem Zusammenhang Volk im ethnischen Sinne bedeuten. Der Minderheitenschutzartikel 27 im Weltpakt über bürgerliche und politische Rechte spricht von ethnischen, religiösen und sprachlichen Gruppen, meint also unter ethnischen Gruppen offenbar solche, die einem Minderheitsvolk angehören und sichert ihnen den Genuß eines eigenen kulturellen (Zusammen) -lebens mit den anderen „Mitgliedern ihrer Gruppe" zu, wobei unter Gruppe zwar möglicherweise nur jene im selben Staat gemeint ist, aber jedenfalls eine Volksgruppe. Volksgruppe (oft auch „nationale Minderheit" genannt) ist aber nur ein Teil eines rein ethnisch zu sehenden Volkes oder, wenn dieses nur in einem einzigen Staat lebt, das ganze Volk. Überhaupt tritt uns nicht selten die Problematik „Volk" erst dort entgegen, wo „Volk" sich in der „Volksgruppe" in der sog. nationalen Minderheit konkretisiert. Entgegen der Meinung von J. W. Brueghel ist „Volksgruppe" heute in der gesamten völkerrechtlichen und nationalitätenrechtlichen Theorie überall in Gebrauch, zumindest seit etwa zehn Jahren. So nennt sich der heute wohl weitaus bedeutendste internationale Verband europäischer ethnischer Gruppen (communautes), ob nun minoritär oder mit anderen Nationalitäten im Staat gleichberechtigt, „Föderalistische Union europäischer Volksgruppen" 39 (FUEV, Sitz Kopenhagen), und zwar auch in anderen offiziellen Sprachen (ethnic group, communautes ethniques). Im Slowenischen ist schon längst der Begriff „Volksgruppe" = narodna skupina, im Serbischen und Kroatischen aber „etnicna skupnost", im Italienischen „gruppo etnico" (dies auch wörtlich im Pariser Südtirol-Abkommen von 1946) in die Ethnosoziologie und in die völkerrechtliche Terminologie eingeführt worden (so. z. B. auch im Londoner Memorandum über die beiderseitigen Volksgruppenrechte der beiden Zonen des Freien Territoriums Triest
Vollends ist in den verschiedensten UNO-Konventionen und in Art. 27 des Weltpaktes über bürgerliche und politische Rechte der Ausdruck ethnische Gruppe oder ethnic origin (origine ethnique) zu finden, z. B. in der UN-Konvention gegen alle Formen rassischer Diskriminierung vom 21. 12. 1965 (Art. 5 und 14), und die UNESCO-Deklaration über die Grundsätze der internationalen kulturellen Zusammenarbeit vom 4. 11. 1966 spricht von der Notwendigkeit der kulturellen Beziehungen zwischen den Völkern (peoples) und meint damit nicht Staaten und auch nicht addierte Individuen.
Völker sind demnach ethnische Gemeinschaften, die von den Staaten ebenso unterschieden werden wie von zusammenhanglos zusammengewürfelten Menschen, mögen diese auch da und dort gemeinsame ethnische Merkmale haben. Vor allem wird eine geistige Komponente überall vorausgesetzt, also keineswegs nur beim deutschen Volk, dem freilich mit „Volk" bestimmte Gefühlsfrachten verbunden sind, zu denen auch „Heimat" oder Heimaterinnerung gehört sondern ebenso-gut beim italienischen und bei vielen anderen Völkern. Dazu kommt auch die Komponente der gemeinsamen politischen oder kulturellen Geschichte, kommen noch viele andere Elemente, von denen keines unbedingt vorhanden sein muß (z. B. die Sprache), wohl aber stets ein Bewußtsein der Volkszugehörigkeit.
Es fällt auf, daß der Wandel, der sich hin zu einem neuen Volksbegriff anderswo vollzogen hat, im deutschen Volk der Bundesrepublik Deutschland nahezu unbemerkt geblieben ist, als ob man in Europa nicht weithin geradezu einen Aufbruch des Ethnischen beobachten könnte. Es mag sein, daß die so antiquierten phrasenhaften ethnokratischen Ideen, die uns von Herder und aus dem 19. Jahrhundert, dort auch aus Österreich bzw. Osterreich-Ungarn, aus dem für viele heute überhaupt nicht mehr begreiflichen Bismarck’schen Reich mit seiner Volksvergötzung (bei gleichzeitiger Deutschtums-Verengung), aus dem Frankreich der ebenso übertrieben ver-herrlichten, hohlen „grande nation", aus dem italienischen Risorgimento mit seiner Folgeerscheinung eines abstrusen Irredentismus überliefert sind, es mit sich bringen, daß man Volk als ethnische Gemeinschaft schon geradezu aus dem Blickfeld verlor und viele gar nicht mehr gewillt sind, Volk überhaupt noch als einen Wert im Stufenbau und Gefüge der menschlichen Gesellschaftsordnung zu sehen. Aus Presseäußerungen in Triest geht z. B. hervor, daß Bemühungen der FUEV, lediglich den Stand des Friaulischen zu ermitteln, als „Anzettelung eines neuen Minderheitenproblems" ausgelegt wurden Andererseits zeigt sich unverkennbar und immer deutlicher international eine Hinwendung zu den ethnischen Problemen, wobei naturgemäß vor allem die gerechte Regelung von Minderheiten-(= Volksgruppen) fragen im Vordergrund steht. Hier sind zu nennen die seit 1971 bestehende Minority Rights Group, London, die sich zwar auch mit religiösen, vorwiegend aber ethnischen und rassischen Gruppen befaßt, außer der FUEV (Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen), Kopenhagen/Rungsted Kyst, die schon länger besteht, die Association Internationale pour la Defense des Langues et Cultures Menacees (A. I. D. L.
C. M.), Chur und Perpignan, seit kurzem die Kommission für Sprachfragen der europäischen Einigung, Hamburg, das Centre International pour la Formation Europeenne (CIFE), Paris und Nizza; jedoch befassen sich auch sonst nicht nur mit solchen ethnischen Problemen beschäftigte Institutionen auf Sonder-tagungen mit den Volkstumsfragen bzw.der Vertiefung ethnopolitischer Kenntnisse, so das Esperanto-Zentrum TEJO in Amsterdam, das 1972 in Paris ein wichtiges Seminar über Sprachimperialismus hielt, die Europa-Bewegung (Mouvement Europeen) auf verschiedenen ihrer Tagungen in ganz Westeuropa, das Institut za narodnostna vprasanja, Ljubljana (Laibach), das sich keineswegs nur mit slowenischen Minderheitenfragen beschäftigt, und seit neuestem auch verschiedene deutsche Stiftungen und Organisationen (Gustav-Stresemann-Institut in Bergisch-Gladbach, Hanns-Seidel-Stiftung in München, der „Nationaleuropäische Kongress" in Starnberg bzw. Brüssel, die Studiengruppe für Politik und Völkerrecht des Bundes der Vertriebenen in Bonn mit ihrer Arbeitsgruppe „Volksgruppenrecht", die seit einigen Jahren besteht
Trotz der Unterschiede, die sich bei solcher Entwicklung der Volksforschung zum Volks-begriff in den verschiedenen Kulturkreisen und auch Völkern (wie Staaten) ergeben müssen und ergeben haben, läßt sich aber doch, vor allem auf Grund der bahnbrechenden theoretischen Arbeiten von Guy Heraud (Universität Straßburg, seit 1972 Universität Pau) mit dem von ihm auch eingeleiteten Versuch einer Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Minderheiten-und Sprachenrechtes eine Annäherung auch hinsichtlich des Volksbegriffes beobachten. Es ist nicht übersehen, daß wir noch weit davon entfernt sind, auch nur in Europa in der Wissenschaft und in der nationalen wie übernationalen Rechtsordnung einen allgemein angenommenen, gängigen Volks-begriff zu haben.
Dennoch läßt sich aber in Übereinstimmung mit den großen Theoretikern auf diesem Gebiet, nämlich Lavenir, Heraud, Becquet, Morin, Pizzorusso, Sestan, Johnson, Lee Millard, Lalont, Viatte, Verdoodt, Nazzari, Fontan, Lador-Lederer und Kloss — Abweichungen in der Einzelformulierung sind freilich vorhanden —, sagen: Volk ist eine Abstammungsgemeinschaft (Generationengebilde), bei welcher zum naturhaften Element der Abstammung noch das Element einer geistigen Zielsetzung kommt (Zielsetzungsgemeinschaft). Diese geistige Komponente ist vielfach, ja meistens die eigene Sprache (Schriftsprache), kann aber auch in einem anderen oder mehreren anderen Wesenszügen sich ausdrücken wie Religion, bejahte gemeinsame Geschichte, rassische Differenzierung 48a).
Volksgruppe (im völkerrechtlichen Sprachgebrauch und auch sonst noch immer häufig „nationale Minderheit" genannt, ein Ausdruck, gegen den dann nichts einzuwenden ist, wenn man darunter eine im Staat zahlenmäßig oder in der faktischen Rechtsausübung der Grundrechte und Grundfreiheiten eine Minderheit darstellende ethnische Gruppe versteht) ist von „Volk" nicht begrifflich verschieden, ist nur ein Volksteil, der sich auf dem Staatsgebiet eines Staates befindet, der von einem anderen Volk oder deren mehreren beherrscht und politisch geführt wird.
III. Der Begriff „Nation"
Mit dem Nationsbegriff verhält es sich ähnlich wie mit dem Volksbegriff. Er schillert und wird sowohl in der deutschen Literatur (gemeint nicht nur jene, die im Gebiete der heutigen Bundesrepublik und der DDR erschienen ist) wie auch jener anderer Staaten und Völker sowie internationaler Gemeinschaften und überdies in juristischen Texten aller Art, die von Normengebern herrühren, sehr unterschiedlich gebraucht. Legaldefinitionen gibt es nicht, wenn man von „Nation" als Summe der Staatsangehörigen absieht. Während aber der Volksbegriff sich einer ausschließlich juristischen Definition weitgehend verschließt, ist „Nation" nach heutiger Auffassung ein Rechtsbegriff. In der Vergangenheit war dies nicht immer so.
1. Die Nation in der Vergangenheit
Es ist nicht sehr lange her, seit es überhaupt einen Begriff „Nation" gibt. Im Altertum sprach man von gentes, nicht von nationes. Wenn sehr oft darauf verwiesen wird, daß schon im Mittelalter Studentennationen an europäischen Universitäten vorhanden waren (z. B. in Paris, Padua, Bologna, Prag, Wien), so hatten diese mit irgendeiner ethnischen Herkunft ebensowenig zu tun wie mit einer genauer umrissenen staatlichen Zugehörigkeit, selbst wenn es damals schon ein Staatsangehörigkeitsrecht gegeben hätte, was man füglich bezweifeln muß. Auch wird immer wieder der Irrtum begangen, aus der amtlichen Bezeichnung „Heiliges Römisches Reich deut-scher Nation" den Schluß zu ziehen, es habe bis zu dessen Untergang ein auf der deutschen Nation basierendes Kaiserreich gegeben. K. G. Hugeimann hat nachgewiesen, daß es im Mittelalter einen Staat gab, der als „deutsches Königreich" einen deutschen Nationalstaat darstellte, wenn man „Volk", vorliegendenfalls also das deutsche Volk, mit „Nation" identifiziert und das Wort „national" von „Nation" ableitet. Wie er aber weiter nach-wies, hat es ein deutsches Reich im Sinne eines Reiches deutscher Nation nie gegeben. Das Hl. Römische Reich (Kaiserreich) deutscher Nation griff weit über den Siedlungsboden des deutschen Volkes hinaus, auch wenn man berücksichtigt, daß ihm längst , entdeutschte‘ Territorien oder Stadtansiedlungen angehört haben, die als deutsch galten* Andererseits blieben viele Angehörige des deutschen Volkes weit außerhalb des deutschen Nationalstaates wie z. B. die Siebenbürger Sachsen, die Deutschen des Deutschordensritterlandes, die Deutschen im Banat.
Im 19. Jahrhundert, teilweise schon im ausgehenden 18. Jahrhundert, wurde freilich bewußt der Ausdruck „Nation" an die Stelle von Volk gesetzt, was seinen leicht erklärbaren Grund in dem Bestreben der auf viele Staaten, oft auch Kleinstaaten, aufgeteilten elitären Angehörigen eines einzigen Volkes hatte, diesem Volk anstelle staatlicher und politischer Schwäche den eigenen nationalen Staat zu geben. „Volks" staat wäre vermutlich ein kaum durchsetzbarer Ausdruck gewesen, da unter „Volk" auch damals von vielen keine ethnische Gemeinschaft verstanden wurde, sondern plebs oder vulgus Den Ausgang solcher Einigungsbestrebungen hat man in Italien zu suchen, das sich seit Jahrhunderten im Volkssinne einig wußte, wie man aus Dante’s Strophe über den Gardasee entnehmen kann, wo aber erst mit dem sog. Risorgimento, dem später der schrankenlose, nationalistische Irredentismus folgte die „Idee der Nation" sich entwickelt hat Nicht anders aber taucht in Deutschland — im wesentlichen damals noch das Gebiet der Staaten des Deutschen Bundes — als Folge der napoleonischen Kriege und dann später wieder nationalistischer Ideen kleindeutscher, preußischer Nationalstaatspolitik ein Nationsbegriff auf, der als Katalysator für staatliche Einigung des gesamten deutschen Volkes oder doch wenigstens seiner wichtigsten Stämme dienen sollte.
Ob dabei die verworrenen, romantischen Gedanken von Johann Gottfried Herder nachwirkten, sei dahingestellt. Die Nation wurde im wesentlichen mit dem identifiziert, was man heute unter „Volk" versteht, zugleich zum Staat in Antithese gestellt und als Sprengstoff gegen den Staat, sofern er noch nicht „ihr" Staat, also ihr Nationalstaat war, gedacht. Vor allem waren es die großen Theoretiker im Vielvölkerstaat Osterreich-Ungarn, die sich in diesen Dienst einer Nationsidee stellten, bei welcher die Nation als das naturhafte Element (wegen der Ableitung von „nasci" — geboren werden) hingestellt wurde, das über dem Staat steht. Namen wie Renner, Bauer, Seipel treten hier vor uns, obwohl Renan und Mancini in Frankreich und Italien nicht weniger zu nennen sind 54a). Die Meinung, daß nur im deutschen (und slawischen) Bereich die Nation als die über dem Staat stehende naturhafte oder auch kulturelle Gemeinschaft angesehen wurde, im französischen und italienischen sowie angelsächsischen Bereich aber immer als Staatsnation, war lange sehr verbreitet, ist aber inzwischen, vor allem ab etwa 1930, immer mehr als unrichtig festgestellt worden, besonders durch Marcartney Es hat im deutsch-slawisch-magyarischen Raum (Naumann’s „Mitteleuropa") durchaus etatistisches Nationsdenken gegeben, repräsentiert etwa durch Frank Deäk, Ludwig Kossuth und Julius Szektü, aber auch durch Bogumil Vosnjak, durch Koellreuter, Möller van den Bruck, und umgekehrt im romanischen wie im angelsächsischen Raum Verfechter eines ethnisch ausgerichteten Nationsbegriffs (Aldo Dami, Manni, William Henry Moore, Charles Seignobos) Man kann daher die erst nach dem Zweiten Weltkrieg gewonnene, aber von so bedeutenden Theoretikern wie Karl Renner schon knapp vorher erarbeitete Erkenntnis, daß in der romantischen Zeit, die ja noch (Wandervogel-Bewegung, deutsche Jugendbewegung) bis ins beginnende dritte Jahrzehnt unseres Jahrhunderts reicht Nation und Volk miteinander verwechselt und oft identifiziert wurden, Nation aber mystifiziert wurde, heute nur bejahen. In diesem Sinne ist auf die namhaften posthumen Schriften von Karl Renner und Guido Zernatto aufmerksam zu machen, die diese erst nach 1933 mögliche kritische Neuorientierung vorsichtig vollzogen haben
Auf diesen Wandel des Nationsbegriffs in der Geschichte ist deshalb aufmerksam zu machen, weil er für den Begriff „deutsche Nation" von Bedeutung ist. Seipel sprach von „zwei Staaten — eine Nation" wobei er unter den beiden deutschen Staaten damals (1926) das Deutsche Reich und die Republik Österreich meinte und unter Nation eben das auf den deutsche Volk Heute hingegen wird von offizieller Seite der Bundesrepublik Deutschland von „zwei Staaten in Deutschland" oder von zwei deutschen Staaten und einer Einheit der Nation gesprochen womit heute sicher Österreich nicht mit gemeint ist, aber auch sonst nicht das deutsche Volk im ethnischen Sinne, sondern die auf die Bundesrepublik und die DDR herrschaftsrechtlich und somit politisch reduzierte deutsche Staats-nation. Diese „deutsche Nation" ist somit in nicht nur kontradiktorischem, sondern auch konträrem Gegensatz zum deutschen Nationsbegriff der Spät-und Neoromantik, der mit der Machtergreifung des Nationalsozialismus sein Ende gefunden hat. Es hat zwar eine durchaus ethnisch orientierte nationalsozialistische Volkslehre gegeben, sie wurde aber depraviert („mendacium incarnatum") und schließlich in reine Machtpolitik umgeformt
2. Nation in der Gegenwart a) „national" und „nationalistisch"
Vor Eingehen in die Problematik des Begriffes „Nation“ in der Gegenwart muß klargestellt werden, daß die Eigenschaftswörter „national“ und „nationalistisch" nicht notwendigerweise noch mit „Nation" Zusammenhängen, d. h., es besteht keine begriffliche Interdependenz dazu mehr. Den Durchbruch dazu lieferte das Vokabular der UNO, beginnend mit den beiden, bis heute auch nicht annähernd ausreichend wissenschaftlich ausgeschöpften grundlegenden Studien des Generalsekretärs von 1947 und von 1950 über den internationalen Minderheitenschutz unter dem Regime des Völkerbundes bzw. über die rechtliche Gültigkeit der auf dem Minderheitengebiet eingegangenen Verpflichtungen
Beide Gutachten, deren Inhalt hier nicht weiter zur Erörterung steht, sprechen zwar im allgemeinen nur von „Minderheiten" (minorites) oder von „minorites de race, de Jangue et de religion", doch wird auch der Ausdruck „nationale Minderheiten" (minorites nationales) gebraucht, womit eindeutig ethnische Minderheiten gemeint sind, also solche, die einem anderen Volk als dem den Staat beherrschenden Volk angehören. Nirgendwo ist aber mehr von „Nation" im ethnischen Sinne die Rede. „Nation" bedeutet „Staat“ und das häufig vorkommende Wort „nationalite" nicht etwa Volksgruppe („Nationalität" nach altöster-reichischem oder auch heutigem jugoslawischen oder sowjetischen Sprachgebrauch), sondern „Staatsangehörigkeit". Wo heute in UNO-Dokumenten (Resolutionen, Konventionen) von „nationalen Minderheiten" die Rede ist, wie z. B. in Art. 5 (c) der UNESCO-Konventionen gegen Diskriminierung in der Erziehung sind unter „nationalen Minderheiten" zu verstehen „ethnische oder sprachliche Minderheiten", dies nach der zwar nicht authentischen, aber doch hohen Interpretationswert genießenden UNO-Studie „Protection des Minorites" (engl. „Protection of Minorities"), herausgegeben im Juni 1967 Hingegen wird kein Zweifel daran gelassen, daß „Nation" mit „Staat" identisch ist, also nicht mit „Volk"
(peuple, people). In der deutschen Sprache ließe sich das Wort „national" in dieser heutigen (wie früheren) Bedeutung der internationalen Rechtssprache — „international" ist aber ein Wort, in welchem der Wortteil „national" mit „staatlich" identisch ist — zwar mit „volklich" oder „völkisch" übersetzen, und das ist ja zwischen 1919 und 1945 oft genug geschehen doch wurden beide Wörter vom Nationalsozialismus usurpiert, vor allem in Österreich und im Sudetenland, so daß man sie heute nur noch in Ausnahmefällen verwenden kann, will man nicht bei den Verfolgern all dessen, was von 1933 bis 1945 Geltung hatte 67), eines fortdauernden Näheverhältnisses zum Nationalsozialismus geziehen werden. So ist es denn vorzuziehen, daß in der deutschen Sprache und im übrigen auch in vielen anderen Sprachen das Wort „national" (gleichlautend im Französischen und Englischen, „nazionale“ im Italienischen, „nacional" im Spanischen, „naroden" im Slowenischen wie auch im Russischen) ebensowohl für „staatlich" wie auch für ethnisch verwendet wird.
Neben „national" gibt es auch die Bezeichnung „nationalistisch". Sie ist (s. Anm. 68) vielfach gleichbedeutend mit chauvinistisch und kann ebensosehr auf den Staat wie auf das Volk, die ethnische Gemeinschaft, bezogen sein, im letzteren Falle aber zumeist auf eine ethnische Gemeinschaft, die den Staat, ihren oder den von ihr reklamierten Staat, beherrschen will, wobei auf die Rechte und Interessen anderer Völker keine Rücksicht genommen wird.
b) Nation als auf Staat bezogenes Volk
Wenn man Nation nicht als Summe der Staatsangehörigen betrachtet, ist heute Nation auf Staat bezogenes Volk. Das mehrsprachige Demographische Wörterbuch der UNESCO definiert Nation: „Ein Volk’, von dem mindestens der Kern staatlich organisiert ist, bezeichnet man als Nation". Die UNO-Publikation über Definition und Klassifikation der Miaderheiten unterscheidet deutlich zwischen Nation und Staat mißt aber dem Staat eine nationsbildende Funktion bei („L'Etat, agent d'unification de la nation"), was gewiß nicht abwegig ist. Chr. Pan geht von einer möglichen mehrfachen Bedeutung von „Nation" aus nämlich Nation gleich Staat, Nation als das soziale Substrat des Staates, die Gesellschaft, Nation als staatstragender Kern innerhalb der Bevölkerung eines Staates, Nation als das souveräne Volk, Nation als Staats-nation oder Staatsvolk, Nation als objektive Kulturgemeinschaft, Nation als kulturelle Bekenntnisgemeinschaft mit deutlichem Streben nach Eigenstaatlichkeit, endlich Nation als Zielsetzungsgemeinschaft mit deutlichem Streben nach politischer Organisiertheit. Er mißt nach heutiger vorherrschender Lehre nur letzterer Formulierung Bedeutung bei. Dem ist zuzustimmen, jedoch mit der Ergänzung, daß Nation heute stets Volk mit Zielsetzung hin auf den eigenen Staat oder doch auf die Teilhabe am Staat ist. Die Enciclopedia Italiana definiert vereinfacht in ihrer letzten Auflage „Nation ist Wille zur Nation", womit aber nach italienischer Grundauffassung es der Staat ist, auf den sich dieser Wille erstreckt und hinorientiert. Es gibt zwar Autoren, wie Koppelmann, die verneinen, daß es „Volk" gebe aber nicht bestreiten, daß es auf Staat bezogene Bevölkerungsgruppen gibt, die den Staat ihrer Gruppe und deren Sprache erobern wollen.
Der Nationsbegriff ist also zwar auf einer nicht-juristischen Grundlage, nämlich dem Volk, aufgebaut, aber im wesentlichen doch mit juristischen Maßen zu messen, da ja der Staat ein Phänomen nicht zuletzt auch der Rechtssphäre ist.
Daß Nation auf Staat oder doch politische Organisiertheit hin orientiertes Volk ist, läßt sich deutlich durch die Vielzahl der Bemühungen einzelner Völker erweisen, die entweder keinen Nationalstaat haben und nach einem solchen streben oder wenn sie ihn haben, erhalten wollen, oder die doch wenigstens in einem Staat „zuhause" sein wollen, der auch ihrem politischen Gestaltungswillen entspricht. Während es Völker gibt, die nie nach einem eigenen Staat getrachtet haben und für eine Staatsbildung kaum in Betracht kämen wie die Lappen (Samen) und Volksteile (Volksgruppen), für die so etwas nach der Realität (geographische Lage, Bevölkerungszahl usw.) nicht in Betracht käme, wie z. B. heute für die Siebenbürger Sachsen oder auch solche, die den eigenen Staat gar nicht haben wollen und diesem Nichtwollen durch Plebiszit oder Beschluß eines frei gewählten Vertretungskörpers Ausdruck gaben (Färinger 1948), gibt es Völker, die geradezu nachdrücklich auf die Schaffung eines Staates ihres Volkes oder doch mit maßgeblicher Mitbestimmung durch ihr Volk hinsteuern oder sich an einen solchen Staat anschließen wollen. Man braucht hierzu nur etwa an die „Nations" bemühungen der Bretonen, eines Teiles der Franco-Canadier, der spanischen Basken, der Katalanen, der Kurden zu denken. In der Vergangenheit bis hinein in jüngste Zeiten haben viele Völker immer wieder erreicht, daß sie — wenigstens zeitweilig — als „Nation" den eigenen Staat, in welchem sie staatsführend waren, bekamen: die Italiener im Zuge der sog. Einigung Italiens, die Griechen, die Slowaken 1938 die Kroaten 1941 die Slowenen 1945 die baltischen Völker 1917/19, die Magyaren 1848 bzw. 1867.
Bei all diesen Bemühungen, mögen sie nun erfolgreich gewesen sein oder nicht — sie spielen , heute in Afrika und Asien eine sehr große Rolle —, spielt das Selbstbestimmungsrecht der Völker entscheidend mit herein. Dieses richtet sich notwendigerweise gegen den Staat, in welchem das betreffende Volk oder Teile davon (Volksgruppen) leben, und ist auf freie Entscheidung über den eigenen politischen Status gerichtet Dies bedeutet zwar nicht notwendigerweise eine Verwirklichung durch Schaffung eines eigenen Nationalstaates oder Anschluß an einen solchen, sondern je nach der von der ethnischen Gruppe zu treffenden Entscheidung auch Autonomie oder föderale Einrichtungen, stets aber eine politische Verwirklichung. Diese Zielsetzung aber macht erst aus dem Volk eine Nation (sofern es „Nation" überhaupt gibt, was zwar nicht etwa allgemein zu bestreiten ist, aber je nach Lage des Einzelfalles bezweifelt werden kann, nämlich dann, wenn große Teile des — ethnisch gesehenen — Volkes gar nicht zu einer Nation vereinigt werden oder bleiben wollen und können).
c) Nation und Nationalismus
Mit Recht wird die Idee des Nationalismus heute weitgehend abgelehnt. Abgesehen von den historischen Erfahrungen haben dazu vor allem die bahnbrechenden Arbeiten von Hans Kohn beigetragen Für den deutschen Bereich wird man auch der Arbeiten von Eugen Lemberg nicht entraten können Guido Zernatto, dessen Studie (Vom Wesen der Nation) leider viel zu wenig bekannt ist, zitiert (S. 88) einen Satz von Berlioz, der, auch wenn er nicht von Berlioz sein sollte, sehr treffend den Nationalismus kritisiert mit den Worten: „Die engen Ideen des Nationalismus scheinen allen geraden Geistern von einer unendlichen Lächerlichkeit zu sein." So wenig man den Begriff „Nation" wirklich befriedigend definieren kann — auch die oben gegebene Definition macht das deutlich —, so eindeutig ist es, daß der Nationalismus, der ja mit der extremen Nationalstaatsidee einhergeht, die Nation als auf ihren nationalen Staat hin tendierendes Volk überbewertet und damit jeglicher Friedenssicherung zuwiderhandelt, die man heute wohl als das oberste völkerrechtliche Gebot ansehen kann
Der Nationalismus wird heute vielfach als eine vorwiegend dem 19. Jahrhundert zugehörige politische Kraft bezeichnet. Im Neuen Evangelischen Soziallexikon wird er als „die bedeutendste politische Kraft des 19. und 20. Jahrhunderts" bezeichnet, für Europa aber vor allem des 19. Jahrhunderts, während die neuen Staaten und die Dritte Welt erst am Beginn eines erwachenden Nationalismus stünden. Letztere Beobachtung ist durchaus richtig Doch wäre es ein Irrtum, zu glauben, daß die europäischen Nationalismen, die in den Nationalbewegungen des vorigen Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht hatten heute erloschen und endgültig nur noch Geschichte seien. Der Nationalismus ist, nachdem er im deutschen Nationalsozialismus, im italienischen, rumänischen (Eiserne Garde), magyarischen (Pfeilkreuzler-Bewegung), portugiesischen und spanischen Nationalismus bis 1945 Triumphe gefeiert hatte, um mit der Auswirkung des Potsdamer Abkommens in Ost-und Ostmitteleuropa noch verstärkt zu werden — die Austreibung der Volksdeutschen und der deutschen Staatsangehörigen aus Ostmitteleuropa, der Italiener aus den adriatischen Küstengebieten und der Karelier aus den abgetretenen karelischen Gebieten Finnlands beweist , nur im deutschen gänzlich — Volk fallen gelassen worden, im übrigen ist er weithin so virulent wie eh und je, wenn auch teilweise in anderen Erscheinungsformen, so z. B. im wirtschaftlichen Bereich unter der Oberfläche der EWG. Nationalismus ist eine chauvinistisch übersteigerte Ausformung der Idee der Nation mit Blickrichtung auf den Nationalstaatsgedanken.
Der Nationalismus hat viele Gesichter. Er begegnet uns in heroisierenden „nationalen" Denkmälern zur Erinnerung an irgendwann in der Geschichte erfolgreich geschlagene Schlachten und gewonnene Kriege einschließlich der Denkmäler zur Erinnerung an Kämpfe gegen die „Barbaren" — womit in Italien (Bozen, Genua, Aquileja usw.) und auch sonst meist die Deutschen (und Österreicher) gemeint sind —, nationalistisch begründete Benennungen von Straßen und Plätzen historisierenden Spielen und Umzügen, solchen in katholischen Gegenden sogar in Verbindung mit Wallfahrten und religiös verbrämten Feiern, der Gründung von sogenannten Traditionsverbänden und -vereinen, Patenschaften Ortsnamengebungen und Erfindung oder einseitig-willkürlich gebrauchten topografischen Bezeichnungen; er begegnet uns aber vor allem auch in der Nationalstaatsidee.
Der Nationalstaat als solcher ist dann gerechtfertigt, wenn ohne Verletzung von Rechten anderer Völker und der ohne Gefährdung Friedenssicherung, die seit der Charta der UN schlechthin im Vordergrund steht und selbst vor Völkervertragsrecht Vorrang hat Völker, die bis dahin in verschiedenen Staaten lebten (einschließlich von Grenzlandvolksgruppen), den eigenen Nationalstaat anstreben („Einigung", „Zusammenschluß", „Wiedervereinigung", „Anschluß") und dies in Ausübung des Selbstbestimmungsrechts, nicht nur dieser Völker als solcher, sondern auch der nicht im Nationalstaat des Volkes lebenden Volksteile oder Volksgruppen, geschieht. Diese Ausübung erfolgt in der Regel durch Plebiszit
Das „nationale" Gefühl, das so oft in der Geschichte dem Nationalstaatsgedanken als treibende Kraft zugrunde lag und auch heute noch liegt ist an sich nicht verwerflich, solange es nicht dazu verführt, andere Völker in ihren Entfaltungsrechten zu behindern. Bloße Schutzrechte formaler Art („duldendes Nationalitätenrecht" in der Terminologie von Heinz Kloss) genügen nicht, vielmehr muß es sich um förderndes Nationalitätenrecht handeln, also an die Stelle rein formaler Gleichheit materielle Gleichberechtigung treten. Nationalbewußtsein im Sinne von Liebe zum eigenen Volk gilt als eine Tugend — und das mit Recht („valori" im Sinne der päpstlichen Enzyklika „Pacem in Terris" vom 11. 4. 1963). Und wenn ein Staat der Selbstverwirklichung eines bestimmten Volkes tatsächlich dient, das für ihn „Nation" im nationalstaatlichen Sinne ist, so wird er dadurch wohl erst zur eigentlichen raison d’tre gelangen — und das kann, wie der Fall der Schweiz zeigt, auch im Nationalitätenstaat der Fall sein Der Nationalstaat ist nichts an sich Böses, sofern er sich an die naturrechtlich (präpositiv) verpflichtende Ordnung hält, die ein Zusammenleben der Staaten und der Völker fordert, ohne die eine Friedensordnung nicht möglich ist (Verdross). Nur gibt es sehr wenige Staaten in Europa und sogar noch weniger in Asien, Afrika und Amerika, auf deren Territorium nur Angehörige eines einzigen Volkes ihre angestammte Heimat haben. Fast alle Staaten haben mehr oder weniger zahlreiche ethnische und sprachliche Nationalitäten oder minoritäre Gruppen, deren Lebensrechte durch extremes Nationalstaats-denken gefährdet werden (Beispiele: Frankreich, Polen, Tschechoslowakei, bis zu einem gewissen Ausmaß auch Italien, Österreich).
Hingegen haben sowohl die Bundesrepublik Deutschland wie die DDR, die an sich völkerrechtlich zu keinerlei Minderheitenschutz verpflichtet sind, vorbildliche minderheitenrechtliche Regelungen getroffen
IV. Das deutsche Volk
1. Das deutsche Volk als ethnische Gemeinschaft
Die Frage, ob und inwieweit unter „deutsches Volk" (auch) ein Rechtsbegriff zu verstehen ist, setzt eine Klärung dessen voraus, was überhaupt das „deutsche Volk" ist. Wenn man von dem oben entwickelten Volksbegriff ausgeht, der im wesentlichen heute von den dafür zuständigen Fachleuten und auch in der politischen Theorie und der Soziologie akzeptiert wird so gab es nicht nur früher das deutsche Volk als ethnische Gemeinschaft, die über die Staatsgrenzen hinausreichte. Othmar Spann hat in seiner noch heute lesenswerten kleinen Schrift „Vom Wesen des Volkstums. Was ist deutsch?" die Begriffe wegweisend mit geklärt, was unter deutschem Volk zu verstehen ist. Man wird sich noch vielfach an die zahllosen Organisationen, Buchpublikationen und Vorträge erinnern, die bis zum Anbruch der nationalsozialistischen Herrschaft mit ihrer Preisgabe einer ursprünglich durchaus dem Wesen des Volkes gerecht werdenden deutschen Volkslehre ein die Staatsgrenzen überschreitendes deutsches Volk als eine gesellschaftliche Realität erwiesen haben und zugleich als etwas, was zu Wert und Würde des Menschen gehört und hochgehalten werden muß. Fragen des Grenz-und Auslandsdeutschtums spielten hierbei eine bedeutende Rolle, zu deren Behandlung sehr mächtige Organisationen entstanden wie der VDA (Verein, später Verband für das Deutschtum im Aus-lande) in Berlin, Reichsverband der Katholischen Ausländsdeutschen in Berlin, Österreichischer Verband für volksdeutsche Auslandsarbeit (unter dem kürzlich verstorbenen Prof. Hugo Hantsch) in Wien. Das nationalsozialitische Regime hat diese Organisationen entweder verboten oder gleichgeschaltet. Es gab auch bis 1938 und für viele bis 1945 kaum einen Zweifel daran, daß auch die deutschsprachigen Österreicher dem deutschen Volk angehörten (für die Sudetendeutschen war dies ohnehin selbstverständlich und blieb es) — auch bis heute — und erst recht bestanden daran keine Zweifel hinsichtlich der nicht einem deutschen Staat — Österreich, Schweiz, Liechtenstein, Danzig — angehörenden sog. Volksdeutschen (der Ausdruck tritt heute mehr in den Hintergrund).
Die „Deutschen" schlechthin sind nicht nur Menschen, die einem deutschen Staat angehören, sondern sind die Menschen, die dem deutschen Volk angehören — „Volk" im oben gedeuteten, soziologischen Sinn gesehen —, und zwar ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit und den Wohnsitz. Auch das italienische Volk ist nicht nur jenes, welches in der Italienischen Republik lebt (abzüglich der Angehörigen anderer Volksgruppen), vielmehr gehören dazu auch die Italiener in der Schweiz (offizieller Ausdruck „Svizzera italiana"), in den adriatischen Küstengebieten Jugoslawiens und in Übersee. Die rasche Zunahme ethnischen Denkens bei den Franzosen, vor allem freilich bei jenen außerhalb der Französischen Republik, zeigt deutlich, daß man sich zunehmend mehr der Existenz eines französischen Volkes (ethnie franaise) unabhängig von Staatsgrenzen bewußt ist und immer mehr bewußt wird Wenn sich in Amerika so etwas nicht darzustellen scheint, so liegen dort die Verhältnisse weithin anders als in Europa. Dennoch nimmt ethnisches Denken sowohl in Kanada wie in den USA aber rasch zu, wie neueste Studien von Heinz Kloss ergeben haben.
Das deutsche Volk als ethnische Gemeinschaft ist eine gesellschaftswirkliche Tatsache und umfaßt somit die Angehörigen dieses deutschen Volkes nach deren Bewußtsein und Bejahung etwa in Eupen-St. Vith, in Nordschleswig (Dänemark), in Siebenbürgen, in Südtirol, in den früheren Kolonien (Siedlungs-und Erschließungsgebieten) in Nord-und Südamerika (z. B. in Südbrasilien), in Ungarn und auch in der Sowjetunion Es kann sich nur die Frage stellen, ob die Deutsch-Schweizer und die Österreicher heute als dem deutschen Volke zugehörig anzusehen sind. Bezüglich der Deutsch-Schweizer wird in der Regel nicht gesagt, daß sie (dem Volke nach) Deutsche seien. Dennoch läßt schon die durchaus übliche Bezeichnung „DeutschSchweizer" deutlich werden, daß es sich um 1 Angehörige des deutschen Sprach-und Kultur-volkes handelt und der Erhaltung dieser Kultur und Sprache dient z. B.der Deutsch-Schweizerische Sprachverein ebenso wie der Deutsch-Schweizerische Schulverein (mit zahlreichen Publikationen und auch gedruckten Informationsblättern, aus denen die Eingebundenheit der alemannischen Schweizer in das deutsche Sprach-und Kulturvolk hervorgeht). Was Österreich anlangt, so fehlt es zwar nicht an Versuchen, die deutschsprachi-gen österreichischen Staatsangehörigen als Angehörige einer keineswegs nur politisch verstandenen Nation und somit ethnisch als vom deutschen Volk verschieden zu erklären doch sind diese Versuche nur sehr vereinzelt wirkungsvoll. Soweit man unter Volk eine ethnische Gemeinschaft in dem hier dargestellten Sinne erblickt, besteht auch in der österreichischen politischen Terminologie kein ernsthafter Zweifel daran, daß die Österreicher dem deutschen Volk angehören, also im ethnischen (und sprachlichen) Sinne Deutsche sind. Man gebraucht, um politisch dabei nicht mißverstanden zu werden — für einen neuen Anschluß an „Deutschland" (was immer das heute sei) dürfte sich in Österreich kaum eine Stimme erheben —, den Ausdruck „deutsches Sprachvolk". Bemühungen, eine eigene österreichische Sprache (ja sogar eine österreichische, ein wenig abweichende Schrift) zu entwickeln oder als bereits vorhanden zu behaupten können als völlig gescheitert angesehen werden. Die Zugehörigkeit der Österreicher deutscher Sprache (vielleicht mit Ausnahme der zahlreichen während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft emigrierten, großenteils aus Gründen rassischer Verfolgung bzw. Furcht vor einer solchen 1938/39 ausgewanderten deutsch-sprechenden Österreicher, bei welchen ihrem erklärten Willen nach sich deutsche Sprachzugehörigkeit mit deutscher Volkszugehörigkeit nicht deckt zum deutschen Volk wurde auch von den führenden österreichischen Politikern der Gegenwart stets bejaht
2. Das deutsche Volk als Rechtsbegriff
Es bedarf wohl keines Hinweises, daß unter „deutsches Volk" nach der bisher gegebenen Definition nur ein ethnischer, ethnosoziologischer, allenfalls auch ethnopsychologischer, möglicherweise auch sprachwissenschaftlicher Begriff verstanden werden kann — letzterer über die Hochsprache bzw. Schriftsprache vermittelt, die sich freilich lebendig aus der Mundart regeneriert — und somit kein juristischer Begriff ist.
Der ethnische Begriff „deutsches Volk" hat allerdings in vielfältiger Weise im Zusammenhang mit der Vertreibung bzw. Massenzwangswanderung von Angehörigen des deutschen Volkes sich auch als Rechtsbegriff niedergeschlagen, der definierbar ist. Damit sind noch nicht die Präambel zum GG und dessen sondern Art. 116 Art. 146 gemeint, GG.
Zwar kann sich die Wiedereinbürgerung nur auf einen staatsangehörigkeitsrechtlichen Sachverhalt beziehen, und das kommt in Art. 116 GG auch nicht zum Ausdruck. Der Wortlaut dieser Norm ist für unsere Studie von grundlegender Bedeutung. Danach ist Deutscher im Sinne des GG vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat. Der zweite Absatz gewährt auf Antrag die Wiedereinbürgerung an jene deutschen Staatsangehörigen, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, dies unter Voraussetzungen, die in einem zweiten Satz zu diesem Absatz angeführt sind.
Daß man nicht deutscher Volksangehöriger sein muß, um die deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen, liegt auf der Hand. Die Angehörigen der Volksgruppen und Sprachminderheiten, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder besessen haben und wiedereingebürgert wurden, gehören nicht dem deutschen Volke an Auch die fremdsprachigen Flüchtlinge, in der Bundesrepublik Deutschland vielfach „heimatlose Ausländer" genannt, sind auch nach erfolgter Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit — diese Verleihung erfolgt im Vergleich etwa zu Österreich, den USA oder Kanada mit äußerster Zurückhaltung — sicherlich keine Angehörigen des deutschen Volkes, selbst wenn sie sich dazu bekennen sollten. Ohne die Voraussetzung objektiver Merkmale wird man nicht Angehöriger eines Volkes durch „Bekenntnis" oder Erklärung
Art. 116 GG teilt somit die Deutschen ein in Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und solche — selbst ohne sie zu besitzen —, die als Flüchtlinge oder Vertriebene deutscher Volkszugehörigkeit usw. in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden haben. Das eine ist ein reiner Staatsangehörigkeitsbegriff ohne jede ethnische Kennzeichnung, also ein juristischer Begriff schlechthin, das andere ein Begriff, der von der ethnischen Zugehörigkeit ausgeht. Unter „Flüchtling" ist hier nicht der „heimatlose Ausländer" oder „internationale Flüchtling unter der Obhut des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge zu verstehen. Art. 116 GG meint Flüchtlinge deutscher Volkszugehörigkeit, die heute in aller Regel im Sinne des BundesvertriebenengeSetzes (BVFG) als Vertriebene bezeichnet werden (die Bezeichnung „Heimatvertriebene", der man häufig begegnet, entspricht keiner gesetzlichen Formulierung, stellt eine Tautologie dar und bringt — durchaus berechtigte — emotionale Erwägungen ins Spiel). Da selbstverständlich an die Feststellung, daß eine Person Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit sei, zahlreiche Rechtsfolgen geknüpft sind (etwa nach dem LAG), spielt somit nach Art. 116 GG die Zugehörigkeit zum deutschen Volk über die rein ethnosoziologische (volkswissenschaftliche) Bedeutung hinaus auch rechtlich eine Rolle. Auch Österreich hat an die Zugehörigkeit zum deutschen Volk hinsichtlich der Vertriebenen, die in Österreich meist nur „Volksdeutsche" genannt werden, zahlreiche Rechtsfolgen geknüpft, die in vielen Gesetzen ihren Niederschlag gefunden haben, vor allem in dem auf den Vermögens-und Ausgleichsvertrag von Bad Kreuznach mit der Bundesrepublik Deutschland gestützten Anmeldegesetz und dem UVEG
Rechtlich ist nach all diesen deutschen und österreichischen Normen — die letzteren sind praktisch aus dem bundesdeutschen Recht übernommen worden — Deutscher, wer in seiner „Heimat nach bestimmten Merkmalen, wie Abstammung, Erziehung, Sprache, Kultur, zur deutschen Volksgruppe gerechnet wurde" (Anlage 1, Abschnitt B, Abs. 2 des Finanz-und Ausgleichsvertrages von Bad Kreuznach). Die Definition entspricht weithin der in dieser unserer Abhandlung gegebenen Definition von Volk und Volksgruppe mit dem einzigen Unterschied, daß noch eine objektive Beweis-regel dazukommt, nämlich, ob jemand „... zur deutschen Volksgruppe gerechnet wurde". Von wem? In welchem Ausmaß? Wie verhält es sich mit schwebendem Volkstum? Es liegt auf der Hand, daß kein Gesetzgeber für den einzelnen Fall darüber etwas festlegen kann und konnte, so daß die Praxis den Weg beschritten hat, diese Frage jeweils durch die Judikatur klären zu lasen. Diese ging und geht wohl notwendigerweise nicht vom reinen Bekenntnis aus, sondern verlangt dazu objektive Merkmale und entsprechende Beweise.
3. Das deutsche Volk nach der Präambel zum GG und in Art. 1 GG
Auch die Präambel zum GG ist, unabhängig davon, ob sie nun unmittelbar anzuwendendes Verfassungsrecht ist oder nicht, jedenfalls Teil des Textes eines Gesetzes, hat also juristischen Charakter. Nach der Präambel hat „das Deutsche Volk in den Ländern Baden, Bayern . . . dieses Grundgesetz beschlossen". „Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war". „Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden."
Es fällt auf, daß hier wie auch sonst im GG — wir erwähnten dies bereits — mit Ausnahme von Art. 116, der ja von einem ethnosoziologischen bzw. rein ethnischen deutschen Volksbegriff ausgeht, bzw. Art. 146, konsequent geschrieben wird „das Deutsche Volk" mit großem Anfangsbuchstaben. Falls diese Großschreibung nicht etwa ad pompam vel vom ostentationem Parlamentarischen Rat gewählt wurde, worüber heute wohl niemand mehr eine authentische Auskunft geben kann muß diese Schreibweise doch eine (verfassungs) rechtliche Bedeutung haben. Diese kann nur darin erblickt werden, daß der Begriff „deutsches Volk" zu einem Rechtsbegriff verdichtet werden sollte. Das kann nur den Sinn haben, daß nicht das deutsche Volk im ethnischen Sinne als Souverän der vom GG umgriffenen politischen Gemeinschaft gemeint war, denn das wäre angesichts der dargestellten Ausklammerung aller Teile und Gruppen des deutschen Volkes außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. 12. 1937 (sie steht in Art. 116 GG in etwa erwähnt und wird, in Verbindung mit Art. 2 d der „Berliner Erklärung" vom 5. 6. 1945 auch als dem Potsdamer Abkommen vom 2. 8. 1945 zugrunde liegend angenommen) undenkbar. Mit der erst spät von der Bundesrepublik Deutschland in Gesetzesform anerkannten Nichtigkeit des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich sind wohl auch die letzten Zweifel behoben, daß auch das deutsche Volk in Österreich nicht dem Deutschen Volk als Rechtsbegriff im Sinne des GG zugehört. Dasselbe gilt auch von dem deutschen Volk in und aus den sudetendeutschen (nicht auch: slowakeideutschen, da die Slowakei ja mit Ausnahme von Theben/Devin und Engerau/Petrzalka nicht dem Deutschen Reich eingegliedert worden ist) Gebieten, soweit es auch nach der umfassenden Austreibung zufolge des Potsdamer Abkommens dort verblieben ist. Im übrigen gehören die Sudetendeutschen zu den Deutschen nach Art. 116GG. über ihre Staatsangehörigkeitsfragen nicht Sie bilde kann hier gesprochen werden. -ten im Herbst 1972 Gegenstand eines Rechtsgutachtens von Fritz Wittmann, MdB, das aber noch nicht gedruckt veröffentlicht ist.
In Art. 1 GG bekennt sich das „Deutsche Volk" zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
Das GG wiederholt mit dieser Schreibweise nur, was bereits in der Reichsverfassung von 1871 und später in der Weimarer Verfassung geschrieben stand. Auch das deutet darauf hin, daß es sich um einen Rechtsbegriff handelt, der vom ethnischen oder gar volkswissenschaftlichen (ethnosoziologischen) Volksbegriff losgelöst ist, denn die kleindeutsche Auffassung Bismarcks und der Reichs-gründer von 1871 schließt jeden Gedanken an ein deutsches ethnisches Volk aus, das über die Reichsgrenzen hinausgreift Ob dabei unter „deutsches Volk" nur die ethnisch dem deutschen Volk angehörigen deutschen Staats-(Reichs-) Angehörigen gemeint sind oder auch die deutschen Staatsangehörigen anderer Volks-und Sprachangehörigkeit, so wird man nur auf die Staatsangehörigkeit abzustellen haben, so daß Angehörige nationaler Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit auch zum „Deutschen Volk" gehören, dies einschließlich der rassischen Minderheiten
Andererseits handelte es sich sogar bei der Weimarer Republik gezielt um einen deutschen Nationalstaat, dem nicht einmal Minderheitenschutzvorschriften auferlegt wurden Es handelt sich daher in allen drei Verfassungen, also auch derjenigen der Bundesrepublik Deutschland, um solche, die dem in dem Staat (Deutsches Reich, BRD) lebenden Teil des deutschen Volkes (ethnie) den Rechtscharakter des staatstragenden, staatsführenden Volkes einräumen, wobei aber im GG über den in der Bundesrepublik lebenden Teil des deutschen Volkes mit voller Absicht hinausgegriffen wird auf das „gesamte deutsche Volk" (Präambel), worunter nur und ausschließlich das deutsche Volk (mit den Deszendenten) im Gebiete des Deutschen Reiches in den Grenzen des 31. Dezember 1937 verstanden werden kann. Das schließt die deutschen Volksgruppen aus, die erst nach diesem Zeitpunkt durch — im übrigen teilweise völkerrechtswidrige und erst recht verfassungswidrige — Annexionen in das Deutsche Reich einbezogen worden sind, wie z. B. Danzig oder die durch die Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechtes wie-der daraus ausgeschieden sind wie Österreich oder die als Ergebnis einer communis opinio ihm nicht mehr angehören können wie z. B. die sudetendeutschen Gebiete (obwohl das Münchner Abkommen gültig zustande gekommen ist und sich völkerrechtlich — staats-und verfassungsrechtlich ist die Lage vielleicht anders — nur eine Aufhebung ex nunc rechtfertigen läßt).
Der Begriff „deutsches Volk" ist daher heute für die Bundesrepublik Deutschland identisch mit den Deutschen in und aus dem Reichsgebiet nach dem Stande vom 31. Dezember 1937, ohne Rücksicht darauf, ob diese deutschen Staatsangehörigen deutscher Volkszugehörigkeit bzw. ihre Abkömmlinge heute noch auf dem Territorium dieses Reichsgebietes leben oder überhaupt leben können und dürfen. Das „Deutsche Volk in den Ländern Baden, Bayern, Bremen ..." (also im Gebiete der Bundesrepublik), welches nach der Präambel zum GG dieses beschlossen hat, hat nach derselben Präambel für die übrigen Deutschen gehandelt, welchen „mitzuwirken versagt war".
4. DDR und deutsches Volk
Wir haben bisher nur die Frage nach dem Rechtsbegriff „deutsches Volk" gemäß dem bundesdeutschen (Verfassungs-) Recht in Verbindung mit den ethnopolitischen und ethnosoziologischen Gegebenheiten zu beantworten versucht.
Wenn man von der Beurteilung der Frage, was die deutsche Nation und was schließlich „Deutschland" sei, absieht, die weiter unten beantwortet werden soll, muß auch noch die Verfassungswirklichkeit der DDR beurteilt werden. Gibt es auch in und für die DDR ein deutsches Volk als Rechtsbegriff?
Daß die Staatsangehörigen der DDR, soweit sie nicht einer nationalen Minderheit oder Volksgruppe angehören — als solche kommt 117 nur die sorbische Volksgruppe in Betracht, die in vorbildlicher Weise als solche in ihrer Entfaltung gefördert und gegen Assimilierung weitestgehend geschützt ist (obwohl sich die Assimilierung offenbar nicht aufhalten läßt) —, dem deutschen Volke (ethnie) genau so angehören wie diejenigen in der Bundesrepublik Deutschland (und in West-Berlin) oder die österreichischen Deutschen, die Südtiroler die Eupener, die Wolgadeutschen in Kasachstan usw., dürfte kaum einmal bestritten worden sein. Gerät eine solche Frage ins Zwielicht politischer Auseinandersetzungen, so wird nicht selten von einer Gruppe im Volk gesagt, sie repräsentiere die echten oder die besseren Deutschen, wie das im Österreich des Ständestaates 1933— 1938 offiziell gesagt wurde. In der Präambel der ersten DDR-Verfassung heißt es ähnlich wie im GG der Bundesrepublik Deutschland . hat sich das deutsche Volk diese Verfassung gegeben" („deutsche" klein geschrieben).
Auch nach dieser Verfassung ist unter „deutschem Volk", obwohl kein Hinweis auf die Volksdeutschen analog zu Art. 116 GG darin vorkommt, offenbar ein Rechtsbegriff verstanden, der aber auf dem ethnischen Begriff fußt. In der neuen Verfassung vom 6. April 1968 wird nicht mehr von einem deutschen Volk gesprochen, sondern von „der ganzen deutschen Nation" bzw. von einem Staat „deutscher Nation". „Volk" kommt nur noch als Summe der Staatsbürger vor („... hat sich das Volk der Deutschen Demokratischen Republik ... diese sozialistische Verfassung gegeben"). Darauf deutet auch die Bezeichnung „Volkskammer" (Art. 48 ff.) hin. Hingegen kann aus dem neuen Gesetz über die Staatsbürgerschaft der DDR auf die Frage nach dem deutschen Volk nichts geschlossen werden, insoweit Volk eben ethnisch verstanden wird.
Im übrigen wird selbst nach Abschluß und Ratifikation der Ostverträge in der bundesdeutschen Judikatur und Lehre an dem Fortbestehen einer einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit festgehalten und denselben Standpunkt nehmen auch Verwaltungsgerichte und andere Instanzen in anderen Staaten ein. Aus dem umfangreichen amtlichen Kommentar zur neuen DDR-Verfassung ist zur Frage nach dem deutschen Volk nichts zu entnehmen, da dort stets nur vom „Volk der DDR", also an sich keinem ethnisch bestimmten Begriff, die Rede ist Selbst wenn man die DDR-Verfassung als auch für die Bundesrepublik Deutschland maßgeblich ansehen wollte, würde sich daraus nichts ergeben, was aus „deutsches Volk" einen Rechtsbegriff werden lassen könnte, wie dies nach dem GG der Fall ist.
V. Die deutsche Nation
Während in der Verfassung der DDR an vielen Stellen von der deutschen Nation die Rede ist, ist dies im GG nicht der Fall. Berücksichtigt man, daß in der DDR-Verfassung vom 7. Oktober 1949, und zwar auch in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 12. September 1960, — ein früheres Änderungsgesetz vom 8. Dezember 1958 hatte die sehr entscheidende Beseitigung der Länder bzw.der Länderkammern gebracht — nur das Wort „deutsches Volk" vorkommt, so etwa in der Bestimmung des Art. 51, wonach die Volkskammer aus den Abgeordneten des deutschen Volkes besteht, kann in dem durchgehend gebrauchten Ausdruck „deutsche Nation" in der jetzt geltenden Verfassung allenfalls eine Auffassung in der theoretischen Wandlung zum Begriff „deutsche Nation" erblickt werden, die das GG noch nicht durchlaufen konnte, da dieses aus dem Jahre 1949 stammt (keines der zahlreichen Anderungsgesetze hat hieran einen Wandel vollzogen).
Die Frage nach der deutschen Nation wird in letzter Zeit immer mehr gestellt, wobei zugleich auch die Frage nach dem Deutschland-Begriff gestellt wird. Die neuere nicht-deutsche Literatur zum Nationsbegriff wird hierbei meist völlig außer acht gelassen, für gewöhnlich auch die neuere österreichische, belgische, amerikanische Literatur das heißt, daß man in Deutschland (BRD und DDR) es sich angewöhnt hat, von Nation — gemeint: von der deutschen Nation — zu sprechen, ohne sich hinreichend theoretisch über den Nationsbegriff klar zu sein oder, wenn man sich darüber klar ist, in diesen Begriff bestimmte Zielvorstellungen rein politischer Art einzubauen und dann bei den Adressaten solcher Slogans die Hinnahme derartiger Sprachregelungen vor-auszusetzen oder herbeizuführen. Daß dies für den kommunistischen, d. h. marxistisch-lenini-stischen Herrschaftsbereich geschieht, kann nicht verwundern, und über ausgesprochene Sprachmanipulationen weiß die Politikwissenschaft genügend Kenntnisse zu vermitteln
Aber auch in der Bundesrepublik wird sehr viel von deutscher Nation proklamiert und geschrieben, ohne daß — offenbar — hinreichend Klarheit darüber besteht, was man heute darunter zu verstehen hat. Vor allem ist hier zu nennen Punkt 1 der 20 Punkte, die Bundeskanzler . Willy Brandt am 21. Mai 1970 vormittags in Kassel in den „Grundsätzlichen Ausführungen" über die Regelung gleichberechtigter Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik gemacht hat Dort ist von der Vorbereitung des später „Grundvertrag" genannten Vertrages über die Regelung gleichberechtigter Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik die Rede mit dem Hinweis, daß beide Staaten in ihren Verfassungen „auf die Einheit der Nation" ausgerichtet seien. Während die Präambel zum GG nur die Deutung zuläßt, daß es sich hier um die deutsche Nation, also einen Rechtsbegriff, handelt, gilt von der DDR-Verfassung tatsächlich, daß sie eine staatliche Verwirklichung der deutschen Nation zum Ziel hat. Die Schaffung einer eigenen DDR-Staats-bürgerschaft ändert daran nichts Vielmehr gilt noch immer das „Nationale Dokument" mit der Rede des Vorsitzenden des Staatsrates, Walter Ulbricht, wo erstmals in einer grundsätzlichen Festlegung neben den Interessen des „deutschen Volkes" (unter I „Es geht um den Frieden und die Rettung der Nation") von der deutschen Nation die Rede ist und es im Vorspruch des Staatsrates zu dem Dokument (das offiziell lautet: „Die geschichtliche Aufgabe der Deutschen Demokratischen Republik und die Zukunft Deutschlands") heißt, es handle sich um einen Beschluß des Nationalkongresses betreffend das nationale Kampfprogramm des ganzen deutschen Volkes. Und in der Ulbricht-Rede auf diesem Nationalkongreß dazu wird eine nationalstaatliche deutsche Politik gefordert; Adenauer, Erler und Brandt hätten mit ihrer NATO-Politik die Spaltung Deutschlands erreicht Immer mehr wird seit der Unterzeichnung der Ost-verträge in völkerrechtlichen Darstellungen der kommunistischen Staaten von der deutschen Nation gesprochen, die freilich nicht von der Bundesrepublik (im Sinne der einstigen Hallstein-Doktrin) repräsentiert werde, sondern durch die DDR Und wo die Souveränität der DDR ganz besonders herausgestellt wird, vor allem bei deren Bemühen um Aufnahme in die UNO handelt es sich nur um eine vorübergehende Anerkennung der Souveränität auch der Bundesrepublik Deutschland für die ebenso vorübergehende Dauer der Koexistenz bzw.des Völkerrechts der Koexistenz, zumal ja nach marxistisch-leninistischem Völkerrecht die staatliche Souveränität einen anderen Inhalt hat als nach „westlichem" Völker-recht, nämlich einen Klasseninhalt So ist es zu verstehen, daß in einer Art Umkehr der Hallstein-Doktrin heute die DDR die Auffassung entwickelt, der Wiedervereinigungsanspruch — wobei die Wiedervereinigung aber zufolge des Görlitzer Vertrages die Oder-Neiße-Gebiete ausgeklammert läßt — führe zum Alleinvertretungsanspruch der DDR bzw. ihrer Regierung, so daß die (Wieder-) Vereinigung der „ganzen deutschen Nation" die Einrichtung des sozialistischen Staates der Bauern und Arbeiter auch auf dem Gebiete der heutigen Bundesrepublik Deutschland voraussetzt. Eine Wiedervereinigung im Sinne des GG scheidet aus.
Helmut Rumpi hat in einer grundlegenden Studie, die viel zu wenig bekannt ist die Frage nach dem Begriff der „deutschen Nation" gestellt, wobei er auch die (west) deut-sehen Gegenstimmen gegen den Bestand oder Fortbestand einer deutschen Nation untersucht und — wie der Verfasser — davon ausgeht, daß Nation nicht mit Staat identifiziert werden kann. Er untersucht dabei den Zersetzungsprozeß des deutschen Nationalbewußtseins seit 1945 Dieser Zersetzungsprozeß hat den Verfasser sogar zu der freilich überspitzten Formulierung geführt, daß es. heute eine deutsche Nation überhaupt nicht (mehr) gebe
Wenn nämlich das deutsche Volk als solches nicht mehr nach dem eigenen Staat strebt, sei es dem Nationalstaat, sei es dem Staat, in welchem es seine ethnischen Anlagen verwirklichen bzw. wenn diese Verwirkli kann es -chung im polyethnischen (multinationalen) Staat findet wie in der Schweiz oder in einem zufolge Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes errichteten und bejahten „zweiten" deutschen Staat (Österreich, Liechtenstein), dann kann von einer deutschen Nation nicht mehr in jenem Sinne gesprochen werden, wie es dem hier entwickelten Nationsbegriff entspricht. Daran kann auch die „Gemeinsame Erklärung" der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP im Deutschen Bundestag vom 10. Mai 1972 nichts ändern, wo es in Punkt 3 heißt: „Das unveräußerliche Recht auf Selbstbestimmung wird durch die Verträge nicht berührt." Menzel hat mit Recht gesagt daß die gemeinsame Entschließung nicht im BGBl, veröffentlicht und „daher" — dieses „daher" ist ein Fehlschluß, denn auch eine solche Veröffentlichung würde daraus kein völkerrechtlich relevantes Instrument machen, wenn sie vom Vertragspartner nicht zustimmend (nach Notifikation) zur Kenntnis genommen worden ist — nicht Bestandteil des VertragsWerkes ist. Erst recht ist der „Brief zur deutschen Einheit" vom 12. August 1970 nicht Vertragsinhalt
Gibt es also keine deutsche Nation? Die Frage stellen, heißt sie dennoch zugleich verneinen. Man muß nur dahin kommen, zu erkennen, daß sich auch das juristische Bild der deutschen Nation als Folge des Zweiten Weltkrieges verändert hat, indem eine Art Schrumpfung des Umfanges eingetreten ist. Es bedarf keiner Erklärung mehr, daß die österreichischen Deutschen und damit Österreich selbst, das im übrigen nach dem Zweiten Weltkrieg ja keineswegs wie von selbst wieder in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 entstanden ist aus dem Bereich der deut-sehen Nation, dem sie einst zugehörten (die Anschluß-Bewegung war nichts als ein Ausdruck dieser Zugehörigkeit), ausgeschieden sind, sofern man unsere oben gegebene Definition der Nation akzeptiert. Selbst die FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs), die am längsten an einer solchen Idee festhielt, hat nach und nach ihr Parteiprogramm geändert und ist sogar von der früher bekannten deutschen Volks-und Kulturgemeinschaft abgerückt 144). Darüber hinaus hat das deutsche Nationalstaatsdenken allein schon durch die starke Einbuße der deutschen Sprache als Folge des Zweiten Weltkrieges einen entscheidenden Stoß erlitten und überdies sind die meisten Gebiete deutschen Siedlungsbodens in Ost-mitteleuropa zufolge von — selbst nach der Meinung von angesehenen Autoren die die Anerkennung des endgültigen Verzichts auf den deutschen Osten als völkerrechtsgemäß ansehen — völkerrechtswidrig gewesenen Massenzwangswanderungen und Austreibungen der deutschen Volks-und/oder Staatsangehörigen als Territorien der deutschen Nation weggefallen. Schon Hitler begann mit diesen Zwangsumsiedlungen Deutscher aus ihren angestammten Heimatgebieten. Das kann aber nur besagen, daß heute der räumlichen Ausdehnung der deutschen Nation weit engere Grenzen gezogen sind als vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges und daß die Verengung eben mit eine Folge des Krieges ist, wie es sich wohl aus den Peripetien weltpolitischer Geschehnisse zwangsläufig ergibt. Die israelische Nation, an deren Existenz gewiß niemand zweifeln wird, hat sich umgekehrt durch ihre militärischen Erfolge gegenüber den arabischen Staaten territorial ausgedehnt
Da die Existenz einer Nation, also eines Volkes mit politischer Zielsetzung in Richtung auf (den) Staat, nicht vom Territorium abhängt, auf welchem es lebt oder etwa staatlich organisiert ist, ebensowenig aber auch davon, ob und in welchem Ausmaß an der Macht befindliche politische Führer die Nation bejahen oder verneinen, sondern vielmehr davon, ob und in welchem Maße der Kern des Volkes sich selbst auch als Nation bejaht, ist nur zu fragen, ob und in welchem Ausmaß in „Deutschland" — hier sei der noch zu erklärende Rechtsbegriff vorweggenommen — das deutsche Volk auch die deutsche Nation und damit den deutschen Staat bejaht und ob und inwieweit sich dafür auch juristische Grundlagen geben lassen.
Trotz des erwähnten „Substanzverlustes des Nationalen" in der Bundesrepublik Deutschland — in der DDR kann davon kaum gesprochen werden, zumal dort vielfach ein geradezu extremer, an die Zeiten zwischen 1933 und 1945 erinnernder Nationalismus verherrlicht und auch verwirklicht wird, insbesondere im Bereich des Militärischen — wird man nicht sagen können, daß die deutsche Nation keine politische und auch juristische Realität wäre. Sie wird nicht nur in den Erklärungen der gewählten Repräsentanten des bundesdeutschen Wahlvolkes, auch seit den Ostverträgen, konsequent als Grundlage der gesamten Außen-und Innenpolitik angesehen. Auch der Verkehrsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR beweist dies, denn außerhalb einer sowohl die Bundesrepublik wie die DDR (und Berlin) umfassenden deutschen Nation wäre ein solcher Vertrag in dieser Form nicht notwendig gewesen auch wenn es sich nur um einen Transitvertrag handelt.
Die Reden des Bundeskanzlers „über die Lage der Nation" beziehen sich ganz gewiß nicht nur auf die Lage der bundesdeutschen Staats-nation, sondern auf das deutsche Volk als Nation. Man kommt auf Grund der konkreten Auslegung des GG ebenso wie auf Grund des Nationsbegriffes in der DDR-Verfassung so-mit zum Ergebnis, daß unter „deutsche Nation“ juristisch auf jeden Fall das deutsche Volk in der Bundesrepublik Deutschland, in der DDR und in Berlin zu verstehen ist, gleichgültig wie die völkerrechtliche Lage ist, die ja auch hinsichtlich Berlins zufolge des Besatzungsstatus und nach dem neuen Viermächte-Abkommen über Berlin sich wesentlich von jener der Bundesrepublik und der DDR unterscheidet Deutsche Nation ist also kein Begriff, der sich nur auf das Deutsche Volk laut Grundgesetz, etwa auf das von diesem umgriffene deutsche Volk im Territorium der BRD, oder nur auf das deutsche Volk auf dem Boden der DDR (in beiden zuzüglich West-bzw. Ost-Berlins) erstreckt. Es kann sich nur um die deutschen Staatsangehörigen deutscher Volkszugehörigkeit in beiden Staaten handeln.
Der Rechtsbegriff der deutschen Nation ist vor allem deshalb in dieser Ausdehnung, ohne Rücksicht auf das Territorium, gegeben, weil die deutsche Nation wie jede andere ein Recht auf Selbstbestimmung hat. Das Recht auf Selbstbestimmung steht selbstverständlich nicht Staaten oder Staatsnationen zu, da es seiner Natur nach gegen den Staat gerichtet ist, sofern dieser Staat nicht der eigene (National-) Staat des selbstbestimmungsberechtigten Volkes ist. Demgemäß heißt es in Art. 1 der beiden Menschenrechtspakte der UN „All peoples have the right of self-determination. By virtue of that right they freely determine their political Status and freely pursue their economic, social and cultural development." Das Schwergewicht bei diesen Welt-pakten, die freilich mangels hinreichender Zahl an Ratifizierungen noch nicht in Kraft getreten sind, liegt auf .der Entscheidung „in Freiheit" (freely) über den politischen Status. Die einst bestandene Meinung, daß das Recht auf Selbstbestimmung nur den Kolonialvölkern zustehe (salt water theory, d. h. daß nur Völker jenseits des Salzwassers ein solches Recht hätten, das ursprünglich nur diesen zuerkannt worden war ist heute überholt, nicht zuletzt durch die Einräumung des Selbstbestimmungsrechts mittels Plebiszits an Gibraltar und im Berner Jura Also hat auch das deutsche Volk — ethnisch gesehen — das Recht auf Selbstbestimmung, die dort, wo dieses Recht nicht, wie in Minderheitengebieten, durch die verschiedenen Formen der Autonomie verwirklicht werden kann, auf die Erhebung zur Nation, also auf den frei gewählten politischen Status hinausläuft. Man kann die Frage stellen, ob das Recht auf Selbstbestimmung heute bereits eine allgemein anerkannte Regel des Völkerrechts ist oder nur ein politisches Prinzip (principle) oder eine Völkerrechtsnorm in statu nascendi. Uber diese Frage gibt es tiefschürfende Studien Es kann kaum überzeugen, wenn bundesdeutsche Autoren wie R. Quist dem deutschen Volk ein Recht auf Selbstbestimmung aberkennen wollen, jedenfalls dem deutschen Volk in der DDR denn wenn das Recht auf Selbstbestimmung auch die Bestimmung des eigenen politischen Status mit umfaßt, kann von der Gewährung dieses Rechtes nicht die Rede sein, wo dem Volk eine solche Bestimmung nicht zugestanden wird, vielmehr ein fremdes Volk oder ein fremder Staat über den politischen Status eines Volkes bestimmt. Das ist aber im Bereich des Ostblocks der Fall, nicht nur hinsichtlich des deutschen Volkes in der DDR, sondern auch hinsichtlich aller sozialistischen Staaten gemäß der im Westen so genannten, im Osten allerdings als nicht vorhanden bestrittenen Breschnew-Doktrin Nach dem „Brief zur deutschen Einheit" ist es auch für die Zukunft das Ziel der deutschen Bundesregierung und der BRD, „auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt". Unter „das deutsche Volk" ist offenkundig die deutsche Nation gemeint. So unverbindlich und praktisch sinnentleert solche Formulierungen auch sind, so zeigen sie doch das von Überzeugung getragene Ringen um das Selbstbestimmungsrecht der deutschen Nation.
Da in aller Regel Selbstbestimmung von Völkern nur durch ein „in Freiheit", womöglich unter neutraler Kontrolle durchgeführtes Plebiszit ausgeübt wird, kann von der Gewährung eines solchen Rechtes an die Deutschen in der DDR bisher trotz Volkskammerwahlen nicht die Rede sein. Ob und inwieweit durch Erscheinungen einer kapitalistischen Staats-und Gesellschaftsordnung Inhalte des Selbstbestimmungsrechtes auch in der Bundesrepublik Deutschland nicht gegeben sind, wie die DDR-Lehre (vor allem Arzinger) behauptet, braucht hier deshalb nicht untersucht zu werden, weil jedenfalls die Staats-und Regierungsform in der Bundesrepublik vom Volk (demos) in Freiheit durch Abstimmung bejaht wird und es sich sogar um ein „plebiscite de tous les jours" handelt. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker gewährt also, insoweit es eine Völkerrechtsnorm darstellt, was wir bejahen, dem deutschen Volk in der DDR auch das Recht, mit dem deutschen Volk in der Bundesrepublik Deutschland zusammen eine „gesamte" deutsche Nation zu sein, also in einem Staat zu leben.
VI. Deutschland als Rechtsbegriff
Wenn die deutsche Nation einen Rechtsanspruch darauf hat, in ihrem Staat zu leben und sich staatlich zu organisieren, so ergibt sich als letzte und wohl am schwersten zu lösende Frage, was für ein Staat das sein kann, ob dieser Staat „Deutschland" ist oder heißen soll, ja, was überhaupt unter „Deutschland" zu verstehen ist. „Deutschland — was ist das eigentlich?" fragen die angesehenen „Bücherkommentare" im Zusammenhang mit zwei Neuerscheinungen zum Thema. Sie zu beantworten, ist auf verschiedenen Ebenen möglich. ja auf der Suche nach einem Rechtsbegriff sind. Immer wieder unternehmen aber Politiker oder politisch orientierte Geographen auf dem Umweg über die Geographie den Versuch, die Geographie vor den politischen Karren zu spannen. Das versucht z. B. Melik hinsichtlich des geographischen Begriffes „Slowenien" oder geschah mit der Einführung des Begriffes der „Catena Mediana" (AlpenHauptkette) als der geographischen — gemeint aber als Zielsetzung auch: politischen — Grenze Italiens Was „Deutschland" geographisch ist, müssen die Geographen beurteilen. Offenbar hat man früher weithin dar-
1. „Deutschland" als geographischer Begriff
Selbstverständlich kann hier ein rein geographischer Begriff nicht interessieren, da wir unter auch Gebiete verstanden, die staatlich nicht zum Deutschen Reich (ab 1871) gehörten, denn im Deutschland-Lied heißt es doch,, Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt", was als ein geographisch und ethnisch begründetes politisches Programm gelten mochte. Schon Goethe schrieb 1796 „ „Deutschland’ — aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden." In der Vergangenheit wie auch heute kann man jedoch allenfalls die jeweilige Siedlungsgrenze des deutschen Volkes, dieses ethnisch gesehen, lokalisieren und beschreiben wenn sie auch im übrigen überall zum Nachteil des deutschen Siedlungsbodens zurückgegangen ist, was keineswegs immer auf militärisch-politischen Ereignissen beruht So hat sich der geographische Begriff „Deutschland" nie so recht abgrenzen lassen.
Es ist dabei auch das Phänomen festzustellen, daß sich der geographische Deutschland-Begriff immer wieder und immer mehr eingeengt hat und heute, im Unterschied zu einer noch gar nicht lange vergangenen Zeit, wohl niemand mehr die Schweiz, Österreich, das Elsaß und Liechtenstein zu „Deutschland“ rechnen wird, auch nicht geographisch. Es gab eine Zeit, da wäre die Einengung des geographischen Deutschland-Begriffes durch den rheinischen Separatismus durchaus nicht völlig ausgeschlossen gewesen, worüber eine neue Studie interessante Aufschlüsse gibt
Und hinsichtlich des Saarlandes, das heute zum Deutschland des GG gehört, bestand durchaus die Möglichkeit, daß es auch geographisch nicht mehr zu Deutschland gerechnet würde Ja, heute ist es jedenfalls in weiten Bereichen der an die Bundesrepublik Deutschland angrenzenden Staaten üblich geworden, nur die Bundesrepublik einschließlich Westberlin in Gespräch und Journalistik als „Deutschland" zu bezeichnen, und daß Ostdeutschland, also die Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937, die jenseits der Oder-Neiße-Linie liegen, geographisch zu „Deutschland" gehört, ist außerhalb der Bundesrepublik noch kaum jemandem bewußt; unter „Ostdeutschland" bezeichnet man im politischen und geographischen Jargon und auch z. B. im Österreichischen Rundfunk die DDR.
2. „Deutschland" als völkerrechtlicher Begriff
Auf einigermaßen gesichertem Boden bewegt man sich hingegen, wenn man den völkerrechtlichen Deutschland-Begriff untersucht. Ein Völkerrechtssubjekt mit dem offiziellen Namen „Deutschland" hat es nie gegeben, jedoch gab es die auch völkerrechtlich gängige Bezeichnung „Deutschland" für den deutschen Staat, sei dieser eine bloße Staatenverbindung gewesen wie z. B.der Deutsche Bund und schon vor ihm das Heilige Römische Reich deutscher Nation („deutscher Nation" war ein Zusatz seit dem 15. Jahrhundert) in bezug auf das (von Hugehnann hinreichend erforschte) Phänomen „Deutsches Königreich"
Dieses Deutschland war das Deutsche Reich in den Grenzen vom 31. Dezember 1937, wobei es selbstverständlich durch einen Friedensvertrag, den es bis heute nicht gibt, um Gebiete verkleinert werden kann, die 1937 zum Territorium Deutschlands gehört haben. Es kann auch kaum einem Zweifel unterliegen, daß es in einem solchen Friedensvertrag tatsächlich um solche Gebiete verkleinert werden wird, und es hieße wohl, die Realitäten völlig verkennen, nähme man eine solche völkerrechtliche Neuregelung der deutschen Grenzen nicht als wahrscheinlich an. Hierbei geht es selbstredend nur um die sog.deutschen Ostgebiete, etwas unsystematisch auch Oder-Neiße-Gebiete genannt, die gemäß dem „Bericht über die Dreimächtekonferenz in Berlin" vom 2. August 1945 (auch „Potsdamer Abkommen" genannt) unter polnische bzw. sowjetische Verwaltung gestellt wurden. Man wird auch in der Annahme kaum fehl gehen, daß die sog. Ostverträge vom Jahre 1970 die die Bundesrepublik Deutschland mit Polen und mit der Sowjetunion geschlossen hat und die ratifiziert worden sind, der Anerkennung dieser faktischen Verhältnisse dienen sollen, ohne formell daraus völkerrechtlich relevante Tatbestände werden zu lassen. Tatsächlich kann weder die „normative Kraft des Faktischen", noch die Effektivität im Völkerrecht gegen geltendes Recht aus Unrecht Recht (im Sinne der zuteilenden Gerechtigkeit: iustitia distributiva) schaffen
Tatsächlich besteht das Deutsche Reich als Völkerrechtssubjekt unverändert weiter, und zwar auch nach den Ostverträgen, die ja mit keinem Wort etwa an die Stelle des verheißenen Friedensvertrages mit und über „Deutschland" getreten sind oder nach den dazu abgegebenen Erklärungen des bundesdeutschen Vertragspartners treten sollten. Die nicht selten geäußerte Meinung, daß das Potsdamer Abkommen, das ja nur eine vorbereitende oder provisorische Zwischenregelung „bis zur endgültigen Regelung der Gebietsfragen beim Friedensschluß" (P. VI, Abs. 1) bzw. für die Dauer der „Vorbereitung eines Friedensvertrages mit Deutschland" (P. II Abs. 2 3 I) bedeutet, durch die Ostverträge abgelöst sei kann aus völkerrechtlichen Erwägungen insoweit und solange nicht anerkannt werden, als man sich nicht auf den Standpunkt stellt, das Deutsche Reich sei durch debellatio untergegangen. Derartige Meinungen sind zwar vereinzelt vernehmlich gewesen, in ernst zu nehmender Weise aber nur in einem Lehrbuch des englischen Völkerrechtlers Schwarzenberger Die Mehrheit der deutschen Völkerrechtler, aber auch der Völkerrechtler außerhalb der Bundesrepublik, bejaht den Fortbestand des Deutschen Reiches als Völkerrechtssubjekt über das Kriegsende und über Potsdam hinaus Hierbei können für den Gegenstand dieser Studie die verschiedenen Theorien darüber, was nun angesichts dieses Fortbestandes des Deutschen Reiches als Völkerrechtssubjekt dann die Bundesrepublik Deutschland für eine Rechtsstellung habe, wie z. B. die Kontinuitätstheorie, die Dachtheorie, die Kernstaatstheorie, die Staats-kern-Lehre, die Identitätstheorie(n) oder die Teilordnungslehre außer Betracht bleiben.
Sie können nichts daran ändern, daß das Potsdamer Abkommen unverändert Geltung hat, auch wenn es, da „Deutschland" daran nicht beteiligt war (inter alios pactum), für „Deutschland" nicht völkerrechtlich bindend ist, und also „Deutschland", dem sogar ein ganzer Abschnitt mit der Überschrift „Deutschland" gewidmet ist, fortbesteht. Demgemäß hat z. B. Österreich in seiner Gesetzgebung und Rechtsprechung (die sich durchwegs nur unter dem Gesichtspunkt des sog.deutschen Eigentums mit dieser Frage zu befassen hatte, außerdem hinsichtlich der Dienstrechtsstellung öffentlich-rechtlicher Bediensteter) das Deutsche Reich bis heute als fortbestehend betrachtet, und selbst Prozesse sind in großer Zahl gegen das Deutsche Reich, vertreten durch einen Kurator, geführt worden
Es hieße, die Realitäten verkennen, wollte man aus dem völkerrechtlichen Fortbestand des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 (Pesch betrachtet unbegreiflicherweise einen solchen Fortbestand in den Grenzen vom 7. Mai 1945 für gegeben an, was der communis opinio der Völkerrechtsgemeinschaft ebenso widerspricht wie dem klaren Wortlaut des Potsdamer Abkommens) den Schluß ziehen, daß damit tatsächlich seine Grenzen von 1937 gewissermaßen durch die drei bzw. (später, nach dem völkerrechtlich sehr fragwürdigen und umstrittenen Beitritt Frankreichs) vier Mächte anerkannt und garantiert seien. Hinsichtlich der Grenzen läßt sich viel eher das Gegenteil aus dem Abkommen entnehmen, wobei Potsdam nicht etwa einen Ersatzfrieden bedeutete Unter den vielen Ost-West-Vorurteilen figuriert auch jenes, daß wegen des Wortlautes des Potsdamer Abkommens Deutschland in den Grenzen von 1937 wieder herzustellen sei Nur nationalistische Verblendung kann heute noch ein solches Deutschland als Leitbild oder sogar unumstößlichen juristischen Tatbestand ansteuern Das besagt nicht, daß für die Wandlung dieses völkerrechtlichen Sachverhalts Rechtspositionen aufgegeben werden müssen, die zum Deutschland-Begriff nach dem Völkerrecht gehören. Ein gutes Beispiel bietet hierfür wohl die völkerrechtliche Stellung der Zone B des freien Territoriums Triest (T. L. T.), die durch das Londoner Memorandum von 1954 unter jugoslawische Verwaltung gestellt ist und gewiß nie mehr — kriegerische und andere Umsturzentwicklungen ausgenommen — zu Italien zurückkommen wird, aber völkerrechtlich zum Völkerrechtssubjekt „Italien" gehört Warum sollte man hinsichtlich des Deutschen Reiches, welches die Mächte in Potsdam als „Deutschland" ansahen und bezeichneten, womit sie einen völkerrechtlichen Sachverhalt bestätigten, anders vorgehen?
Es ist die Frage aufzuwerfen, ob durch die Ostverträge und den „Grundvertrag" dieser völkerrechtliche Deutschland-Begriff eine Änderung erfahren hat. Dazu ist von Verfechtern wie Gegnern der Ostverträge viel gesagt und geschrieben worden Ein Blick in die Ost-verträge selbst zeigt aber, daß dem nicht so sein kann. Art. 4 des Moskauer Vertrages lautet: „Dieser Vertrag ... berührt nicht die von ihnen früher abgeschlossenen zweiseitigen oder mehrseitigen Verträge und Vereinbarungen", und Art. 4 des Warschauer Vertrages:
„Dieser Vertrag berührt nicht die von den Parteien früher geschlossenen oder sie betreffenden zweiseitigen oder mehrseitigen internationalen Vereinbarungen". Der Warschauer Vertrag schließt eindeutig das Potsdamer Abkommen mit ein durch die Worte „ . . . oder sie betreffenden . ..", die im Moskauer Vertrag nicht stehen. Aber zu den von ihnen, also auch von der Bundesrepublik Deutschland früher abgeschlossenen Verträgen gehört auch der Deutschland-Vertrag, der davon ausgeht, daß eine endgültige friedensvertragliche Regelung später erfolgen wird. Im „Grundvertrag" heißt es in Art. 9: „Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik stimmen darin überein, daß durch diesen Vertrag die von ihnen früher abgeschlossenen oder sie betreffenden zweiseitigen oder mehrseitigen internationalen Verträge und Vereinbarungen nicht berührt werden." Womit freilich unlösbare Widersprüche entstehen, vor allem zwischen den Ostverträgen und dem „Grundvertrag" einerseits und dem Pariser Vertragswerk andererseits.
Demnach ist völkerrechtlich „Deutschland" ein Rechtsbegriff und bedeutet auch nach Ab-Schluß der Ostverträge, die ja auch dann völkerrechtlich nicht beseitigt werden können, wenn verschiedene Verfassungsbeschwerden in der Bundesrepublik gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertragsgesetz an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG.) erfolgreich sein sollten das völkerrechtlich nicht untergegangene Deutsche Reich, jedoch ohne Festlegung eines bestimmten Territoriums (maximal mit dem Territorium nach dem Stande vom 31. Dezember 1937). Wenn durch einen Friedensvertrag mit Deutschland, das hierbei deutscherseits durchaus durch die Bundesrepublik und die DDR repräsentiert sein kann, auf der anderen Seite aber als Vertragspartner alle Staaten oder deren Rechtsnachfolger umfassen muß, mit welchen sich das Deutsche Reich durch formelle Erklärung oder via facti im Kriegszustand befunden hat, das Territorium Deutschlands neu bestimmt wird, kann dafür den Deutschen in den abzutretenden Gebieten als Gegenleistung Minderheitsschutz im Sinne eines modernen Volksgruppenrechtes und Sicherung ihrer Menschenrechte ausbedungen werden. Darin liegt vielleicht die Hauptbedeutung dieses juristischen Deutschland-Begriffes.
3. Das zweigeteilte Deutschland
Verfassungsrechtlich umfaßte der deutsche Nationalstaat — ein Pseudo-Nationalstaat, da er niemals das ganze deutsche Volk umschloß — seit jeher, d. h., seit es kein Reich mehr gibt, nie das ganze deutsche Volk. Nur das deutsche Reich des Mittelalters umschloß, neben anderen Völkern oder Volksteilen das deutsche Volk, obwohl auch damals immer noch Teile davon außerhalb geblieben sind (z. B. Siebenbürger Sachsen). Das Regnum Teutonicum war sowohl ein Reich der Deutschen (mit einem System eines gestuften Gefüges von Abhängigkeiten im Sinne Liermann's) als auch ein ausgewogenes System von Zuordnungen verschiedener Völker zueinander unter einem deutschen Dach Daß es staats-wie völkerrechtlich „Deutschland" war, wurde schon gesagt. Dasselbe gilt vom Deutschen Bund, obgleich diesem bereits weniger Staaten deutscher Bevölkerung angehört haben als dem Regnum Teutonicum. Hingegen war das Bismarcksche Reich trotz der offensichtlichen Bemühungen um eine nationalstaatliche deutsche Einigung zwar verfassungsrechtlich „Deutschland", ließ aber weite Teile dessen, was damals zur deutschen Nation in dem hier entwickelten Sinne gerechnet wurde, außerhalb („kleindeutsche Lösung"). Man hätte schon damals von einem zweigeteilten Deutschland sprechen können, da die Teilung (durch Königgrätz) erzwungen war. (Von zweigeteilten Staaten kann man nur sprechen, wenn die Zwei-oder Mehrteilung gegen den Willen des selbstbestimmungsberechtigten, auf NationsVerwirklichung ausgerichteten Volkes durch militärische oder sonstige äußere Gewalt herbeigeführt und aufrechterhalten wird.) Trotz der Bezeichnung „Deutsches Reich" war das Zweite deutsche Kaiserreich vom einstigen Reichsgedanken weit entfernt, zumal es Schauplatz vielfach ungehinderter Aktionen der Verachtung und Diskriminierung nichtdeutscher Volks-gruppen war, was heute noch so sehr nachwirkt, daß noch immer Ost-West-Vorurteile da und dort vorhanden sind, die abgebaut werden müssen
Auch vom Weimarer Staat ließe sich sagen, daß er Deutschland zwei-oder mehrgeteilt habe hinnehmen müssen, denn Österreich und das Sudetenland blieben entgegen dem erklärten Willen des dort lebenden deutschen Volkes zufolge des Machtspruches der Sieger außerhalb dieses deutschen Staates Das hat heute nur noch historische Bedeutung, denn weder Österreich noch die Sudetengebiete gehören mehr zu einem zwei-oder mehr-geteilten rechtlich begriffenen Deutschland.
Wenn heute von einem zweigeteilten oder auch mehrfach geteilten Deutschland als Rechtsbegriff gesprochen wird, so bezieht sich dies nur auf das Deutschland der beiden deutschen Staaten, also der Bundesrepublik und der DDR. Daß Berlin nicht dazu gehört, ergibt sich daraus, daß Ost-Berlin zur DDR gehört, seitdem sich die vier Mächte offenbar darauf geeinigt haben, ihre Kontrollfunktion nur noch über West-Berlin auszuüben, West-Berlin aber (entgegen einer — allerdings wechselnden — Meinung der DDR-Regierung) kein dritter deutscher Staat und auch keine selbständige politische Einheit, sondern auf Abruf der Bundesrepublik Deutschland zugehörig ist
Daß die Sudetengebiete heute, obwohl das Münchner Abkommmen vorwiegend als völkerrechtlich gültig zustande gekommen angesehen wird nicht unter die begriffliche Zwei-oder Mehrteilung Deutschlands fallen, wird wohl von niemandem ernstlich bestritten. (Daß eine rückwirkende Anerkennung der Nichtigkeit des Abkommens weder völkerrechtlich möglich noch auch volks-und nationalpolitisch vertretbar ist, steht auf einem anderen Blatt.) Bezüglich der Ostgebiete („OderNeiße-Gebiete“) kann nach dem bereits Gesagten von einer Zwei-oder Mehrteilung juristisch (im Gegensatz zur faktischen Lage) nicht gesprochen werden, solange kein Friedensvertrag mit Deutschland im Sinne der Verheißung des Potsdamer Abkommens (und des Deutschland-Vertrages) geschlossen ist. Außerdem sind diese Gebiete ja kein eigener Staat (der völkerrechtliche Begriff der Zwei-oder Mehrteilung setzt das Vorhandensein zweier oder mehrerer Staaten oder doch quasi-staatlicher Gebilde voraus), sondern lediglich okkupiert bzw. polnisch oder sowjetisch verwaltet (die Analogie zur Zone B des T. L. T. drängt sich wiederum auf). Auch die Ostverträge haben daran nichts geändert; denn sie haben zwar bisherige Demarkationslinien zu Grenzen — gemeint offenbar Staatsgrenzen — erklärt, dies aber aus der Absicht heraus, auf jegliche Gewalt zugunsten einer Änderung der bestehenden Linien (1t. Potsdamer Abkommen) ein für allemal zu verzichten. Es steht also die Friedenssicherung bzw.der Gewaltverzicht im Vordergrund und insofern bedeuten die Ostverträge tatsächlich einen bedeutenden Beitrag zur Friedenssicherung in Europa, falls durch sie die sowjetische, polnische oder anderer Staaten Sorge vor deutscher Revanche oder deutschen Gewalt-maßnahmen anderer Natur ein für allemal beseitigt wurde. Nur unter einem solchen Gesichtspunkt kann auch die Anerkennung heute bestehender sonstiger Grenzen in Europa (also z. B.der Grenze zwischen den Six Counties und der Republik Irland, zwischen Bulgarien und Jugoslawien im mazedonischen Streit-Raum oder zwischen Spanien und Großbritannien in Gibraltar) verstanden werden, denn was sollte die Bundesrepublik Deutschland veranlassen, diese höchst ungewissen Grenzen zu garantieren, wenn nicht ihr erklärter Wille, ohne Rücksicht auf die staats-und völkerrechtliche Lage aus keiner Grenzfrage eine Friedensbedrohung entstehen zu lassen. Somit bleibt das Problem „Ostgebiete" für dn juristischen Deutschland-Begriff einer endgültigen Klärung vorbehalten.
Es ergibt sich nun der Deutschland-Begriff als Rechtsbegriff aus der Zweiteilung Deutschlands nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 — daß dieses Deutschland ein Rechtsbegriff war, steht wohl fest — auf zwei deutsche Staaten, nämlich die Bundesrepublik Deutschland und die DDR. Daß es sich um Staaten handelt, steht außer jeder Diskussion, gleichgültig wieviele Staaten völkerrechtlich die DDR anerkennen oder nicht. Die Anerkennung ist ja nicht konstitutiv für die Existenz eines Staates Die Zweiteilung von Staaten oder von staatsähnlichen Rechtsgebilden ist eine nach dem Zweiten Weltkrieg aufgetretene, politisch bedingte Erscheinung, mit welcher man sich auseinandersetzen muß. Die Betonung eines einheitlichen Staates wie z. B. für China oder für Vietnam und jüngst auch für Korea läßt sich nicht übersehen. Die Fachwissenschaft in der Bundesrepublik sagt nicht selten, es gebe jenseits der Ostgrenze der Bundesrepublik „das andere Deutschland", sieht in dem „Mit-der-Teilung-Leben" eine gemeindeutsche Aufgabe oder auch eine Spaltung, die schließlich zum doppelten Europa führe In der DDR wendet man sich dem Nationalstaatsproblem an sich zu und sieht die Teilung Deutschlands ebenfalls nur als ein Provisorium an, dies freilich mit umgekehrten Vorzeichen wie in der Bundesrepublik. In beiden Fällen ist man zur Erkenntnis gelangt, daß für den Nationsbegriff das Territorium viel von seiner früheren Starre verloren hat. Darauf haben Autoren wie Rudolf Laun schon früher und Max Hildebert Boehm nach dem Zweiten Weltkrieg hingewiesen. Allerdings sollte diese Relativierung des nationalen Territoriums nicht so weit gehen, daß daraus ein „Staat auf Rädern" wird In diese Gefahr würde man aber „Deutschland" bringen, wenn man einerseits sein Territorium ohne friedensvertragliche Regelung ein-schrumpfen ließe und den Rest durch Zweiteilung in voneinander völlig unabhängige, völ-kerrechtlich souveräne Staaten (jeder mit UN-Mitgliedschaft) gegen den Willen der deutschen Nation aufteilen wollte
Es wird deutlich, daß sich jedenfalls in der Bundesrepublik gerade bei den Initiatoren der Ostverträge das kundgibt, Bemühen die -„Ein heit Nation" wahren der zu und „ganz Deutschland" in die Zukunft hinüberzuretten. Man muß diese Bemühungen im Licht der aufgezeigten völkerrechtlichen Gegebenheiten beurteilen. Denn das GG gibt dazu keine Auskunft, weil es zwar von einer Bundesrepublik Deutschland spricht, also jedenfalls „Deutschland" voraussetzt, aber nur für die darin genannten Länder gilt und jedenfalls sogar nach Art. 146 außer Kraft tritt, sobald für das gesamte Deutschland eine neue Verfassung in Kraft tritt, „die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist." Auch die Ostverträge bilden kein Hemmnis gegen diese Art der Wiedervereinigung. Eine Anerkennung der DDR durch die Bundesregierung schließt diese Wiedervereinigung nicht aus, während sie einer Ausdehnung des Geltungsbereiches nach Art. 23 GG im Wege stünde, da es dann keine „anderen Teile Deutschlands" mehr gäbe, auf die das GG nach Art. 23 Satz 2 noch ausgedehnt werden könnte.
Da nun aber Deutschland völkerrechtlich weiterbesteht und unter „Deutschland" das Deutschland in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 sowohl nach dem Potsdamer Abkommen als auch nach dem mit den drei Westmächten geschlossenen Deutschlandvertrag zu verstehen ist kann auch die Tatsache der Teilung und der Existenz von zwei deutschen Staaten nichts daran ändern, daß Deutschland heute so wenig wie je zuvor ein rein geographischer oder nur ein geographischer Begriff ist. Weder ein bundesdeutscher noch ein DDR-Gesetzgeber könnte etwas, was die Allierten zur Grundlage ihrer gesamten Politik gemacht haben, beseitigen. Und da Deutschland kein geographischer Begriff ist, kommt auch dem Territorium in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 keine ausschlaggebende Bedeutung zu, vielmehr nur die Bedeutung, daß von diesem Deutschland „in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 auszugehen ist". Der Satz „nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet" kommt auch hier zur Anwendung. Kein partikulärer deutscher . Gesetzgeber kann über Rechte verfügen, die ihm gar nicht anheimgegeben sind, und die deutsche Bundesregierung will das gewiß auch nicht, sonst würde sie nicht mit solcher Zähig-keit an den „innerdeutschen Beziehungen", an „ganz Deutschland", an der „gesamtenNation“ festhalten, wobei freilich in bezug auf den Deutschland-Begriff sowohl die Ostverträge als auch der „Grundvertrag" einer gefährlichen Relativierung dienen. Die Vor-und Randbemerkungen zum Vertragsgesetz, durch welches der „Grundvertrag" seine verfassungsrechtliche Bestätigung erhält und womit die Bundesregierung ihren Willen und ihr Bekenntnis zu einem ganzen „Deutschland" ausdrückt, werden von vielen als Bestätigung dafür genommen werden. So heißt es etwa im Vorblatt zum Vertragsgesetz: „Dieser Vertrag hat das Ziel, über das organisierte Nebeneinander der beiden Staaten in Deutschland zu einem Miteinander zu kommen. „Der Lösung dient die mit dem Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen eingeleitete Politik einer umfassenden. Zusammenarbeit." Solche jeder rechtlichen Ausdeutung unzugänglichen Formulierungen lassen ein verzweifeltes Bemühen erkennen, Deutschland als rechtliches Gebilde, wie es hier verstanden worden ist,, in eine friedlichere Zukunft hinüberzuretten. Die französische Terminologie spricht aber nicht von einem „Grundvertrag" (Traite de fond), sondern von einem traite fondamental (Grundlegender Vertrag) und erkennt damit besser als die deutsche politische Terminologie, welch weitreichende RechtsWirkungen der „Grundvertrag" haben wird oder doch haben kann
Und da es sich bei Deutschland gerade wegen der faktischen Teilung („zweigeteiltes Deutschland") um eine Einheit handelt, von der ja sogar beide Verfassungen das Wort „Deutschland" oder „ganzes (deutsches) Volk" bzw.
„Nation" gebrauchen, da man sonst von einer Zweiteilung nicht einmal reden müßte (Osterreich-Ungarn war kein zweigeteilter Staat und niemand hat das behauptet besteht Deutschland auch in einer Zeit vielleicht noch stärker betonter Teilung unverändert als Rechtsbegriff weiter. Es handelt sich um einen elastischen Begriff. Geht die DDR unter, so dehnt sich automatisch die Bundesrepublik auf das deutsche Volk in der DDR, sofern es deutsche Nation sein und zu ihr gehören will, aus, wird also im Vollsinn „Deutschland" gemäß dem Auftrag in der Präambel und nach Art. 146 GG. Auch der umgekehrte Vorgang ist durchaus denkbar. Allerdings muß in beiden Fällen die Einschränkung gemacht werden, daß das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes im Sinne eines Willens zur deutschen Nation nicht übersehen werden darf. Deutschland als Rechtsbegriff ist nur denkbar, wenn das deutsche Volk als deutsche Nation auch den Willen zu Deutschland hat und diesen Willen in freier Entscheidung („freely" im Sinne von Art. 1 der Menschenrechts-Welt-pakte, denen im übrigen ja auch die sowjetische Doktrin grundsätzlich zustimmt und zwar auch frei von jeglicher Diskriminierung äußern kann und äußert. Das ist heute in der DDR allerdings noch nicht möglich.
VII. Schlußbemerkung
Diese Abhandlung wird manchem zu theoretisch sein. Man wird einwenden, daß die Wirklichkeit — zufolge der „normativen Kraft des Faktischen", zufolge der Effektivität im Völkerrecht oder zufolge einer teils aktiv betriebenen, teils im Wege der auch der Rechtswissenschaft wohl bekannten „Hinnahme" —über „Deutschland" hinweggeschritten sei, daß es weder ein deutsches Volk noch eine deutsche Nation noch ein Deutschland mehr gebe, außer in kleinsten Dimensionen, wie etwa jener der Bundesrepublik Deutschland mit Deutschen, die auf dem Weg zum anethnischen Europäer oder Weltbürger seien, daß „Deutschland" entweder nur noch ein geographischer Begriff oder aber ein Ausstellungsobjekt für das Ethnographische Museum in Berlin sei.
Aber bisher haben sich immer noch auch die Rechtspositionen als Realitäten von großer Wirkung und auch Dauer erwiesen, mögen sie auch weithin geleugnet oder als professorale Spitzfindigkeiten abgetan worden sein. Wer als deutschsprachiger Österreicher das Phänomen der so groß ausgebreiteten und vielfach aufgefächerten Diskussion über Deutschland und seine ethnischen und nationalen Grundlagen beobachtet, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß dabei viel zu heftig reine Glaubensartikel vorgetragen und natürlich dann auch als solche verteidigt werden und daß darüber einerseits die immanenten Schranken des Rechts — und zwar auch der präpositiven Normen, wie sie vor allem dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und daher auch des deutschen Volkes nicht fehlen — unbeachtet bleiben oder unbewußt nicht einmal wahrgenommen werden und andererseits viel zu wenig an die Tatsache gedacht wird, daß Deutschland auch ein Rechtsbegriff, ja vielleicht nur ein Rechtsbegriff ist, der aber für das deutsche Schicksal entscheidende Bedeutung hat.