Probleme der amerikanisch-westeuropäischen Beziehungen
Dieter Dettke
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Zusammenfassung
Das Bündnis zwischen den Vereinigten Staaten und Westeuropa war lange Jahre hindurch eine Funktion des Ost-West-Konflikts. In jüngster Zeit sind jedoch auf politischer, militärischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene Veränderungen eingetreten, die eine Neuordnung des traditionellen amerikanisch-westeuropäischen Verhältnisses erforderlich machen. Dies gilt vor allem für drei Bereiche: Erstens für den zentralen Bereich der westeuropäischen Sicherheit und Verteidigung; zweitens für den nicht minder zentralen Bereich der Handels-und Währungsbeziehungen: und drittens für den gesellschaftspolitischen Bereich. Die hier anstehenden Probleme stellen aufgrund ihres zeitlichen Zusammenfalls sowie ihrer komplexen kurz-, mittel-und langfristigen Zusammenhänge außerordentlich hohe Anforderungen an die Anpassungsfähigkeit und das Koordinationsvermögen der beiden Partner. Angesichts der Interdependenz politischer, militärischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Prozesse in den Vereinigten Staaten und Westeuropa erfordert die Neuordnung eine intensive Konsultation auf allen Stufen des Entscheidungsprozesses. Das Ziel muß nicht eine identische Politik sein, wohl aber eine abgestimmte Handlungsweise.
In seiner Antrittsrede anläßlich seiner zweiten Amtseinführung am 20. Januar 1973 hat Präsident Nixon die Grundlinien der Neuorientierung in der amerikanischen Außenpolitik seit 1969 noch einmal deutlich hervorgehoben. Ähnlich wie in seiner Guam-Erklärung vom Juli 1969 und mit dem gleichen Tenor wie in seinen bisher drei außenpolitischen Berichten an den Kongreß 1970, 1971 und 1972 erklärte er abermals: „Wir werden unsere Verpflichtungen respektieren. . . . Wir werden unseren Teil zur Verteidigung von Frieden und Freiheit auf der Welt beitragen, aber wir werden von den anderen erwarten, daß sie das Ihre dazu beitragen. Die Zeit ist vorbei, da Amerika die Konflikte aller anderen Länder zu seinen eigenen gemacht hat oder da es sich verantwortlich fühlte für die Zukunft jedes anderen Landes oder da es sich anmaßte, den Völkern anderer Länder zu sagen, wie sie ihre eigenen Angelegenheiten regeln sollten." Weiter heißt es: „Wir sollten die Menschen im eigenen Lande und die anderen Völker ermutigen, selbst mehr zu tun und selber mehr zu entscheiden. Wir wollen das, was wir für andere tun, nach dem bemessen, was sie selbst für sich tun."
Dies ist der Kern der „Nixon-Doktrin", die übrigens hier zum erstenmal auch eine innenpolitische Dimension erhielt.
Von den Faktoren, die zur Formulierung dieser Doktrin geführt haben, war der VietnamKrieg zweifellos der wichtigste. Als historische Erfahrung stellt er gewissermaßen das Gegenteil der Lehren aus dem Münchner Abkommen dar. Während München zu einem Symbol der Gefahren des appeasement wurde, scheint Vietnam ganz offensichtlich zu einem Symbol
Vorbemerkung: Vietnam und Europa
für die Gefahren des Interventionismus zu werden
Nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens in Paris am 27. Januar 1973 werden die Vereinigten Staaten sich nun stärker jenen Problemen zuwenden, die der Vietnamkrieg erzeugt oder deren Lösung er verhindert bzw. verschleppt hat. In dieser neuen Phase der amerikanischen Außenpolitik werden die Beziehungen zu Westeuropa eine zentrale Rolle spielen. Ob jedoch die Ankündigung, das Jahr 1973 werde ein „Jahr Europas" sein, auf europäischer Seite zu großen Hoffnungen berechtigt, bleibt abzuwarten.
Sicher ist nur, daß mit der Beendigung des Vietnam-Krieges auch das amerikanisch-europäische Verhältnis von einer schweren Bürde
befreit wird. Dieser verlustreiche Krieg hat nicht nur zu einer schweren innen-und außen-politischen Belastung in den Vereinigten Staaten geführt. Er hat darüber hinaus in Westeuropa, insbesondere in seiner letzten Phase am Ende des Jahres 1972 und zu Beginn des Jahres 1973, offenbar ernsthaft die Gefahr eines Meinungsumschwungs zuungunsten der Vereinigten Staaten heraufbeschworen, und zwar nicht nur im Hinblick auf das amerikanische Engagement in Vietnam, für das hier stets ein Konflikt zwischen Bündnisinteressen und politischer Überzeugung charakteristisch war, sondern in bezug auf das amerikanische Engagement in Europa allgemein. In seiner Rede aus Anlaß der Entgegennahme einer Ehrendoktorwürde vor dem Newberry College in South Carolina am 11. Januar 1973 erklärte Helmut Schmidt: „Dieser Krieg ist nie eine Angelegenheit der Atlantischen Allianz gewesen, sondern er hatte seinen Ursprung in einem anderen Bündnis der Vereinigten Staaten. ... Er stört und beunruhigt nicht nur die amerikanische Nation, sondern viele Völker und auch alle Europäer. .. . Dieser Krieg muß beendet werden, weil sonst die Gefahr der Entfremdung Wirklichkeit werden und nachhaltigen Einfluß auf die europäisch-amerikanischen Beziehungen haben könnte"
Das amerikanische Engagement in Westeuropa wurde bisher von einem relativ breiten Konsensus in der hiesigen öffentlichen Meinung getragen. Die jüngsten Protestaktionen gegen die amerikanische Kriegführung in Vietnam lassen jedoch deutlicher als vorher erkennen, daß dieser Konsensus im Verlauf des Vietnam-Konflikts erheblich geschwächt wurde, ein Vorgang, der durchaus Parallelen zur amerikanischen Innenpolitik aufweist, denn auch dort ist der traditionelle Zweiparteienkonsensus als Stütze der amerikanischen Außenpolitik im Verlauf des Konflikts weitgehend verlorengegangen.
Diese Beobachtung legt es nahe, den — wie kürzlich festgestellt wurde — „Trend in Richtung außenpolitischer Neutralität" in der Bundesrepublik ebenfalls in dem politischen Zusammenhang zu sehen, in den er offensichtlich primär gehört, nämlich in der Veränderung des Meinungsklimas in Westeuropa gegenüber den Vereinigten Staaten als Reaktion auf den Krieg in Vietnam und nicht nur auf die Ost-, Deutschland-und Entspannungspolitik
Sicherlich trifft es zu, daß es auch unabhängig vom Krieg in Vietnam stets eine latente neutralistische Strömung in Westeuropa gab, aber eine Verstärkung dieser Tendenz infolge der amerikanischen Kriegsführung in Vietnam ist unverkennbar.
Solange der Krieg andauerte, gab es für die amerikanisch-europäischen Beziehungen die doppelte Gefahr, daß eine schleichende Entfremdung mit Sogwirkung für neutralistische Tendenzen in Westeuropa mit einer zunehmenden Ablehnung jeglichen außenpolitischen Engagements in den Vereinigten Staaten Zusammentreffen könnte Die Beendigung des Vietnam-Konflikts wird zwar nicht unmittelbar etwas an der Einstellung zur Außenpolitik diesseits und jenseits des Atlantiks verändern, aber sie schafft zumindestens günstigere Voraussetzungen zur Neugestaltung des Verhältnisses zwischen Amerika und Europa Eine Fortdauer des Krieges hätte die von Präsident Nixon vor und nach den amerikanischen Präsidentschaftswahlen im November 1972 bekundete politische Absicht, sich stärker Europa zuzuwenden, praktisch schon deshalb unmöglich gemacht, weil Aufmerksamkeit und Leistungsfähigkeit des amerikanischen politischen Systems in zu starkem Maße gebunden wären. Die negativen Rückwirkungen auf die westeuropäische öffentliche Meinung in dieser Situation hätten zu einem weiteren Hindernis werden können. Die dringende Reform der transatlantischen Beziehungen wäre damit weiter verzögert worden.
I. Die Perspektive der Neuordnung
Es ist nicht zu übersehen, daß im Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und Westeuropa vor allem in den letzten vier Jahren auf politischer, wirtschaftlicher, militärischer und gesellschaftlicher Ebene eine Reihe von Entwicklungen eingetreten sind, die eine Neuordnung der traditionellen amerikanisch-westeuropäischen Beziehungen notwendig erscheinen lassen.
Auf politischer Ebene ist eine bisher noch nie dagewesene Mobilität und Dynamik im internationalen System feststellbar, die sowohl den Vereinigten Staaten als auch Westeuropa neue Optionen eröffnet. Dazu sind auf amerikanischer Seite eine verstärkte Kooperation mit der Sowjetunion, die Zusammenarbeit mit China, aber auch der Rückzug auf die , Festung Amerika'und auf westeuropäischer Seite neben der Priorität beanspruchenden westeuropäischen Einigung ein gesamteuropäisches System in Form einer weiterentwickelten Entspannungskonzeption etwa im Rahmen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) sowie ausgehend vom Präferenzsystem der Europäischen Gemeinschaft die Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern zu zählen. Ob es auch für Westeuropa eine chinesische Option gibt, bleibt zunächst offen.
Sicher ist nur, daß sich im Zuge der Änderung der amerikanischen China-Politik nun auch eine Normalisierung der Beziehungen Westeuropas zur VR China nicht mehr im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten vollziehen müßte, was eine Annäherung an China außerordentlich erleichtert Andererseits könnten dabei jedoch Friktionen im Verhältnis Westeuropas zur Sowjetunion auftauchen. Die Umorientierung der amerikanischen Außenpolitik, die dieses Ausmaß an politischer Multi-polarität zum Teil bewirkt hat, stellt aber auch Anforderungen an Westeuropa, die sich möglicherweise als Belastung der westeuropäischen Gemeinschaftsbildung auswirken kön-nen. Dies gilt vor allem für den Bereich der westeuropäischen Verteidigung und Sicherheit, zunehmend aber auch für die atlantischen Wirtschaftsbeziehungen.
Auf wirtschaitlicher Ebene sind die Vereinigten Staaten im Begriffe, von ihrer früheren rückhaltlosen Unterstützung der westeuropäischen Integration abzurücken. Angesichts binnen-und außenwirtschaftlicher Probleme ist man hier vor allem nach der Entwicklung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zum größten Handelspartner und dem Aufstieg Japans zu einer der bedeutendsten Industrie-mächte weniger denn je bereit, wirtschaftliche Nachteile in Kauf zu nehmen. Gegenwärtig sind im'amerikanisch-westeuropäischen Verhältnis, insbesondere nach der Erweiterung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, sowohl im Bereich der Handelsbeziehungen als auch auf dem Gebiet der Währungspolitik Spannungen aufgetreten, die möglicherweise auch Auswirkungen auf amerikanische sicherheitspolitische Entscheidungen haben können.
Auf militärischer Ebene sind parallel zu den SALT-Verhandlungen, die zwar allein von den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion geführt werden, aber die Sicherheit Europas berühren, nunmehr konkrete Aussichten für Verhandlungen über gegenseitige ausgewogene Truppenverminderungen in Europa (MBFR) vorhanden. Diese Aussichten auf Maßnahmen der Abrüstung und Rüstungskontrolle erhalten angesichts möglicher einseitiger amerikanischer Truppenverminderungen aufgrund innenpolitischer Pressionen sowie im Zusammenhang mit der geplanten Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa eine spezifische Dynamik, die das westliche Bündnis möglicherweise unter Zeitdruck setzen könnte.
Auf gesellschaltspolitischer Ebene ist in Westeuropa wie auch in den Vereinigten Staaten eine deutliche Hinwendung zur Innenpolitik und zu inneren Reformen erkennbar. Dabei wirkt sich ein latenter, zuweilen auch manifester Anti-Amerikanismus als Reaktion auf die amerikanische Vietnam-Politik hier — und eine breite populistische Strömung mit der Tendenz, Europa den Europäern zu überlassen, dort verschärfend auf die wechselseitigen Beziehungen aus.
Die genannten Entwicklungstendenzen und Probleme stellen aufgrund ihres zeitlichen Zusammenfalls und ihrer komplexen kurz-, mittel-und langfristigen Zusammenhänge insgesamt außerordentlich hohe Anforderungen an Anpassungsfähigkeit und Koordinationsvermögen der beiden Partner. Damit stellt sich auch die Frage, ob die vorhandenen institutionellen Grundlagen im amerikanisch-westeuropäischen Verhältnis die neuen Aufgaben zu bewältigen vermögen.
II. Veränderungen im internationalen System
In welchem Ausmaß sich das internationale System der Nachkriegszeit, das sich etwa Mitte der fünfziger Jahre voll ausgebildet hatte und seither durch eine relativ straffe bipolare Struktur gekennzeichnet war, verändert hat, läßt sich oberflächlich bereits an der spektakulären China-Reise Präsident Nixons und dem offiziellen Besuch in Moskau ablesen Diese Ereignisse stellen offenbar den vorläufigen Abschluß einer Entwicklung dar, die Anfang der sechziger Jahre eingesetzt hat, aber erst jetzt ganz zum Tragen kommt. Einige Elemente des internationalen Systems, das sich jetzt allmählich herauskristallisiert, sind bereits in der Periode von 1961 bis 1963 in Erscheinung getreten. So gab es schon damals Anzeichen für eine sowjetisch-amerikanische Entspannung und als Reaktion darauf Ressentiments in Europa, Verhandlungen Großbritanniens über einen Beitritt zum gemeinsamen Markt, Auseinandersetzungen über die innere Struktur der Europäischen Gemeinschaft und erste Probleme zwischen Europa und den Vereinigten Staaten auf dem Gebiet der Handelspolitik, die damals in der Kennedyrunde erfolgreich verhandelt wurden.
Die beginnende amerikanisch-sowjetische Entspannung wurde damals vor allem durch den Krieg in Vietnam in ihrer Entwicklung gestoppt, und in Europa wirkte sich das französische Veto gegenüber dem Beitritt Großbritanniens als ein entscheidendes Hindernis für den weiteren Ausbau der Europäischen Gemeinschaft aus. Erst Anfang der siebziger Jahre mündeten die schon damals sichtbar werdenden Lockerungserscheinungen in eine Fragmentierung des Systems des Kalten Krieges ein, um eine neue Mächtekonstellation anzuzeigen. Die neuen strukturellen Elemente sind zunächst noch wenig mehr als Mosaiksteine und Abweichungserscheinungen vom bisherigen System, wie zum Beispiel die Abflachung ideologischer Frontstellungen Die wichtigsten Merkmale des Systemwandels sind im Eintritt Chinas in die Weltpolitik nach Beendigung der Kulturrevolution, im wirtschaftlichen Aufstieg Japans, im Beitritt Großbritanniens, Dänemarks und Irlands zur Europäischen Gemeinschaft, in der deutschen Ostpolitik, die wesentlich dazu beitrug, den Spielraum für Ost-West-Verhandlungen zu erweitern, in der Umorientierung der amerikanischen Außenpolitik allgemein und der China-Politik im besonderen, aber auch in Veränderungen der sowjetischen Europapolitik (wobei hier der Faktor China in gewissem Umfang mitgespielt hat) zu sehen.
In diesen Entwicklungen haben sowohl amerikanische als auch europäische Autoren einen grundlegenden Strukturwandel des internationalen Systems im Sinne der Herausbildung eines pentagonalen balance of power-Systems zu erkennen können geglaubt Diese Vor-Stellung ist durch die Berichte des Präsidenten der Vereinigten Staaten an den Kongreß aus den Jahren 1970, 1971 und 1972 außerordentlich beflügelt, von Brzezinski aber zu recht als „balance of power delusion" apostrophiert worden. So ehrenvoll ein solcher Rückgriff auf den Wiener Kongreß für Henry Kissinger auch sein mag, die vom balance of power-Konzept ausgehende Vorstellung von einem pentagonalen System der internationalen Beziehungen kann wenig mehr als eine Aufzählung wichtiger Akteure des internationalen Systems für sich verbuchen, wenn auf •die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion, China, Japan und Westeuropa als Träger des Systems hingewiesen wird.
Keines der Kriterien, die an eine balance ot power-Konstellation des internationalen Systems anzulegen sind, trifft für das gegenwärtige internationale System zu. Diese Kriterien sind
1. Ein Gleichgewicht der Macht in militärischer, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht;
2. ein gemeinsames Interesse der beteiligten Akteure am Status quo (und auch hier wäre hinzuzufügen: in militärischer, politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht);
3. eine effektive Kontrolle der bestehenden Verhältnisse durch mobilisierbare Machtmittel der Systemträger.
Mit anderen Worten: Die entscheidende Voraussetzung für ein Funktionieren des balance of power-Systems ist die Legitimität der bestehenden Verhältnisse in den Aufgaben der Akteure des Systems. Eben diese Voraussetzung ist aber nicht gegeben. Auf die ideologischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Unterschiede, Gegensätze und Interessendivergenzen soll hier nicht im einzelnen eingegangen werden. Es genügt festzustellen, daß von den fünf genannten Macht-zentren allenfalls die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion aktuell gleichgewichtige Mächte sind, wenn auch hier der ökonomische Vorsprung der Vereinigten Staaten nicht zu übersehen ist. China, Japan und Westeuropa sind damit verglichen höchstens potentiell in der Lage, gleichgewichtige Mächte zu werden. So richtig es ist, heute politische Multipolarität und diplomatische Flexibilität als wesentliche Veränderungen des Patt-Systems vergangener Jahre anzusehen, so wenig ist die Vorstellung von einem pentagonalen System geeignet, die verschiedenen Ebenen des internationalen Systems, nämlich die diplomatisch-politische, die militärische und die sozio-ökonomische strukturell adäquat zu erfassen. Dies gilt vor allem für kontinuierliche Elemente wie die militärische Bipolarität oder den Gegensatz zwischen Industrienationen und Entwicklungsländern.
Für die diplomatisch-politische und die militärische Ebene des internationalen Systems trifft vermutlich zu, was Brzezinski als die dominierenden Beziehungsmuster des gegenwärtigen Systems bezeichnet, nämlich ein trianguläres Beziehungssystem kooperativer Art zwischen den Vereinigten Staaten, Westeuropa und Japan und ein trianguläres Beziehungssystem konkurrierender Art zwischen den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion und China In dieser Charakterisierung spiegelt sich einerseits jene diplomatisch-politische Auflockerung und Multipolarität, die heute so stark als Systemwandel empfunden wird, andererseits aber auch eine — wenn auch veränderte — militärische Bipolarität als kontinuierliches Element wider. Auf sozio-ökonomischer Ebene läßt sich zwar angesichts des weltwirtschaftlichen Gewichts Japans und Westeuropas von einer Diffusion des Potentials sprechen, was den Trend zur Multipolarität zu unterstreichen geeignet ist, aber hier bleibt der Gegensatz zwischen den Industrienationen und den Entwicklungsländern das entscheidende Strukturelement des internationalen Systems.
In dieser internationalen Konstellation sind die amerikanisch-westeuropäischen Beziehungen wenigstens in drei Bereichen störanfällig: erstens im zentralen Bereich der westeuropäischen Sicherheit und Verteidigung, zweitens in dem nicht minder zentralen Bereich der Handels-und Währungsbeziehungen und drittens schließlich im gesellschaftlichen Bereich.
III. Sicherheit und Verteidigung als Problem der amerikanisch-westeuropäischen Beziehungen
Den zentralen Bereich der westeuropäischen Sicherheit und Verteidigung berühren vor allem drei verschiedene, aber interdependente Entwicklungen: erstens der Wandel des strategischen Kräfte-verhältnisses zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion; zweitens die in Aussicht genommenen Verhandlungen über gegenseitige ausgewogene Truppenverminderungen, die sowohl im Zusammenhang mit SALT als auch mit der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) zu sehen sind; und drittens — mit den genannten Entwicklungen verknüpft — das aus innen-und außenpolitischen Gründen deutlich gewordene Interesse der Vereinigten Staaten an einer militärischen Entlastung in Westeuropa.
1. Das strategische Kräfteverhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion
Die Sicherheitspolitik der Vereinigten Staaten im Zeichen der Nixon-Doktrin beruht auf drei Säulen: auf einer angemessenen militärischen Stärke, auf der Partnerschaft mit den Verbündeten und auf der allseitigen Bereitschaft der Vereinigten Staaten zu Verhandlungen über ungelöste politische Probleme und über Maßnahmen der Abrüstung und Rüstungskontrolle
Ausgehend von dieser Grundlage sind die Vereinigten Staaten heute im Gegensatz zu früher aber weniger am Ziel eines Containment gegenüber der Sowjetunion und China auf der Basis nuklearer Superiorität und weltweiter militärischer Präsenz ausgerichtet. Vielmehr deutet sich eine Haltung an, die die weiterhin zu erwartende machtpolitische Rivalität mit der Sowjetunion und China in stärkerem Maße als politischen Wettbewerb ohne direkte territoriale Kontrolle sowie auf der Basis strategischer Parität mit der Sowjetunion begreift und sich auch um Kooperation mit beiden Mächten bemüht. Das amerikanische Interesse an einer Legitimierung des nuklearen Status quo gegenüber der Sowjetunion entspringt vor allem der Auffassung, daß der Rüstungswettlauf ein Stadium erreicht hat, in dem die Vereinigten Staaten strategische Vorteile nicht zu erwarten haben, während sie von den Kosten, der innenpolitischen Stabilität und vielleicht auch von den Sicherheitsrisiken her gesehen eine Menge zu verlieren haben Einmal führen neue Waffensysteme kaum zu einem besseren Schutz, zum anderen können sie negative Rückwirkungen auf politische Verständigungsmöglichkeiten auslösen. Unter diesem Gesichtspunkt setzen auch die Neuentwicklungen auf dem Gebiet der Waffentechnik wie z. B. größere Treff-genauigkeit, MIRV-und ABM-Systeme, die die Probleme hinsichtlich der Natur des Gleichgewichts und der psychologischen Einschätzung des Gegners vermehren, Impulse frei, das Risiko der Auslösung eines Nuklearkrieges zu vermindern
In dem Maße aber wie die Vereinigten Staaten im Verein mit der Sowjetunion danach streben, das nukleare Risiko zu vermindern, wachsen auch die europäischen Sorgen im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit der Abschreckung, weil sich hier zumindest aus europäischer Sicht die Perspektive einer Entkopplung des amerikanischen strategischen Potentials von seiner Verklammerung mit Westeuropa auftut. Freilich würden diese Befürchtungen wohl erst dann eine kritische Größenordnung erreichen, wenn auf amerikanischer Seite eine Politik des Verzichts auf den Ersteinsatz nuklearer Waffen oder der Aussparung des Territoriums der Supermächte vom Einsatz nuklearer Waffen zum Zuge kommen sollte.
Das im Mai 1972 unterzeichnete SALT-Abkommen, bestehend aus einem Vertrag über die Begrenzung von Systemen zur Abwehr ballistischer Raketen und einem Interims-abkommen über bestimmte Maßnahmen hinsichtlich der Begrenzung von strategischen Offensivwaffen gibt in dieser Beziehung keinen Anlaß zur Sorge, denn es schränkt die amerikanische nukleare Garantie für Westeuropa einschließlich der Drohung mit einem nuklearen Gegenschlag als Antwort auf einen sowjetischen Angriff zunächst nicht über das Maß hinaus ein, das ohnehin durch die schon seit längerer Zeit bestehende effektive Parität, durch die moralisch gebotene Zurückhaltung beim Einsatz solcher Waffen sowie durch psychologische Hemmungsfaktoren gegeben ist In der vorliegenden Form läßt das Abkommen auch die Glaubwürdigkeit des britischen und französischen Abschreckungspotentials weitgehend unangetastet, da die gewählte Mischung aus Beschränkungen von Offensiv-und Defensivpotential die Fähigkeit Großbritanniens und Frankreichs, die sowjetische Raketenabwehr zu durchbrechen, unangetastet läßt, -vor allem bei Zugrundelegung einer counter-city-Strategie. Wenn auch die Weitergabe von ABM-Systemen und deren Bestandteilen untersagt ist, so bleibt doch die Möglichkeit für eine nukleare Zusammenarbeit mit Westeuropa offen. Das SALT-Abkommen enthält keine Vorschriften, die die Weitergabe von Offensivraketen-Technologien an Drittländer untersagen. Auf jeden Fall wird die amerikanisch-britische Zusammenarbeit auf dem nuklearen Sektor dadurch nicht andere ist, beeinträchtigt. Eine Frage ob sich im Zuge der zweiten SALT-Phase Entwicklungen ergeben, stärkere die Entkopplungseffekte auslösen. Man kann davon ausgehen, daß diese direkt und als Nebenwirkung von der Sowjetunion angestrebt werden.
In der zweiten SALT-Runde, die im November 1972 begann, wird es in erster Linie um eine Begrenzung der forward based Systems (FBS) gehen, also um alle Nuklearwaffenträger in Europa, im Mittelmeer und im Fernen Osten, die sowjetisches Gebiet erreichen können. Die damit zusammenhängenden Probleme sind zunächst ausgeklammert worden, dürften aber auf jeden Fall wieder auftauchen, entweder in weiteren SALT-Gesprächen oder im Rahmen von MBFR-Verhandlungen. Ganz gleich auf welcher Ebene auch über die FBS gesprochen wird, auf der SALT-Ebene oder auf der MBFR-Ebene, die Probleme die damit aufgeworfen werden, berühren auf sehr empfindliche Weise die Militärstrategie der NATO. Auf den ersten Blick könnte eine Verringerung der FBS in Europa gegen eine entsprechende Verringerung der auf Ziele in Westeuropa gerichteten sowjetisehen Mittelstreckenraketen sogar als ein akzeptables Tauschgeschäft erscheinen, aber die möglichen Vorteile aus einem solchen Tauschgeschäft sind sehr sorgfältig gegenüber möglichen Nachteilen, in Form einer weiteren Entkopplung des amerikanischen Potentials von der Verteidigung Westeuropas, abzuwägen. Darüber hinaus wird damit wohl zwangsläufig das Problem einer Einbeziehung des französischen und britischen Nuklearpotentials aufgeworfen, was diese ohnehin schwierige Materie weiter komplizieren dürfte.
Das entscheidende Problem in der nächsten SALT-Runde wird sein, die Befürchtungen der Westeuropäer, die die forward based Systems
als durchaus zentral für ihre Sicherheit ansehen, während sie für die USA allenfalls peripher sind, nach Möglichkeit zu neutralisieren und amerikanische und sowjetische Reduzierungswünsche so zu kombinieren, daß Entkopplungseffekte im Verhältnis der Vereinigten Staaten zu Westeuropa möglichst gering gehalten werden.
2. MBFR-und KSZE-Verhandlungen als Problem der amerikanisch-westeuropäischen Beziehungen
Parallel zu dieser zweiten, zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion bilateral geführten SALT-Runde laufen nun außerdem seit November 1972 multilaterale Vorgespräche über eine KSZE in Helsinki und seit Januar 1973 in Wien auch Vorgespräche über MBFR. Der Weg zu den von östlicher Seite schon seit Mitte der fünfziger Jahre mit wechselndem Inhalt vorgeschlagenen KSZE-Verhandlungen wurde vor allem durch die Verträge von Moskau und Warschau, das Berlin-Abkommen sowie den Grundvertrag geebnet. MBFR-Verhandlungen gehen demgegenüber auf westliche Initiativen zurück. Sie sind seit 1967 Bestandteil westlicher Politik. Im Mai 1971 hat sich auch die Sowjetunion bereit erklärt, Verhandlungen über Truppenverminderungen in Europa zu führen
Wenn auch beide Verhandlungsprozesse nunmehr in Gang gekommen sind, so kann doch nicht übersehen werden, daß es nicht nur zwischen Ost und West erhebliche Differenzen über Prozedur und Konzeption für diese Verhandlungen gibt, sondern auch innerhalb des Westens. Ebenso bestehen auf östlicher Seite unterschiedliche Auffassungen und Interessen. Zwischen Ost und West liegen unterschiedliche Beurteilungen darüber vor, welches politische Gewicht KSZE-und MBFR-Verhandlungen haben sollen. Die Sowjetunion hat eine deutliche Priorität für eine KSZE erkennen lassen, während die Vereinigten Staaten MBFR-Verhandlungen bei gleichzeitiger Reserviertheit gegenüber einer KSZE bevorzugen Auch die Bundesrepublik sieht MBFR-Verhandlungen als wesentlichen Bestandteil ihres Entspannungskonzepts an und würde sie am liebsten mit KSZE-Verhandlungen in dem Sinne verknüpfen, daß zwar MBFR-Verhandlungen ohne KSZE, nicht aber KSZE-Verhandlungen ohne MBFR möglich sind Frankreich möchte dagegen ganz auf eine MBFR-Politik verzichten, legt aber großen Wert auf eine KSZE. Wenn auch kein Junktim zwischen beiden Verhandlungsprozessen vorliegt, so läßt die Interessenkonstellation zwischen Ost und West doch erkennen, daß ein sachlicher Zusammenhang gewahrt werden soll. Auf der Frühjahrstagung der Minister des Nordatlantikrats in Bonn am 30. und 31. Mai 1972 wurde dafür die Formel gefunden, „daß multilaterale Sondierungen über beiderseitige und ausgewogene Truppenverminderungen sobald wie möglich entweder vor oder parallel zu den multilateralen Vorbereitungsgesprächen über eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa durchgeführt werden."
Das entscheidende Problem für den Westen liegt jedoch nicht in der unterschiedlichen politischen Gewichtung und Verknüpfung der beiden Verhandlungsprozesse, sondern vielmehr in einem gewissen Mangel an politisch-struktureller Betrachtungsweise des Gesamtprozesses auch in bezug auf die Rückwirkungen auf das amerikanisch-westeuropäische Verhältnis. Dies gilt vor allem für die Haltung zu MBFR-Verhandlungen. Von französischer Seite wird übersehen, daß eine Blockierung von MBFR-Verhandlungen die Gefahr einseitiger amerikanischer Truppenverminderungen nicht bremsen, sondern möglicherweise sogar beschleunigen könnte, von den negativen politisehen Rückwirkungen einer solchen Haltung auf andere Verhandlungsprozesse wie SALT und KSZE, die auch westliche Eigeninteressen berühren, einmal abgesehen Bei den übrigen NATO-Partnern stehen vor allem zwei MBFR-Aspekte im Vordergrund: einerseits instrumentale Gesichtspunkte wie die Verhinderung einseitiger amerikanischer Truppen-verminderungen, andererseits finanzielle Erwägungen wie die Senkung von Verteidigungsausgaben durch Reduzierung eigener Truppen. Beide Haltungen erscheinen kontraproduktiv bzw. unzureichend, wenn man davon ausgeht, daß sowohl eine KSZE als auch MBFR-Verhandlungen im Sinne politisch-struktureller Veränderungen im europäischen Sicherheitssystem wirken werden. Zwar wird auf westlicher Seite niemand die NATO oder die Europäische Gemeinschaft zur Disposition stellen wollen, aber es erscheint notwendig, über das Ziel der Schadensverhütung für den Westen hinaus eine Strategie zu wählen, die politisch-strukturelle Veränderungen ausdrücklich einbezieht, statt sie auszuschließen. Dabei sind vor allem zwei Fragen wichtig: Erstens die Frage, wie im Zuge der Normalisierung der Ost-West-Beziehungen das Verhältnis zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den östlichen Gemeinschaftseinrichtungen zu gestalten ist. Dieses Problem wird in erster Linie Gegenstand einer gemeinsamen Ostpolitik der Europäischen Gemeinschaft sein und muß auf der KSZE geklärt werden; zweitens die Frage, welche zusätzlichen blockübergreifenden Sicherheitselemente einschließlich Truppenverminderungen in Europa eingeführt werden können. Dieses Problem wird vor allem die NATO beschäftigen und in MBFR-Verhandlungen zu klären sein.
Für die amerikanisch-westeuropäischen Beziehungen ergibt sich daraus die Schwierigkeit, daß die beiden multilateralen Verhandlungsprozesse KSZE und MBFR „eine potentielle institutioneile Konkurrenz zwischen Allianz und Europäischer Gemeinschaft" zutage treten lassen könnten. Dieser institutionelle Dualismus wird neben der Diskussion über die längerfristige politisch-strukturelle Zielsetzung des Westens in beiden Verhandlungsprozessen Gegenstand und Aufgabe einer multilateralen Koordinierung sein müssen.
3. Die Problematik einer westeuropäischen Verteidigungspolitik
Die genannten neuen Entwicklungen im System der europäischen Sicherheit in Verbindung mit einer gewissen Unsicherheit über die zukünftige Form des amerikanischen militärischen Engagements werfen die Frage auf, ob der verteidigungspolitische Status quo in Westeuropa gehalten werden kann. Das mit der Nixon-Doktrin deutlich gewordene amerikanische Interesse daran, daß Westeuropa zur Entlastung der Bündnisverpflichtungen der Vereinigten Staaten in Zukunft in stärkerem Maße für die eigene Verteidigung Sorge zu tragen hat, wie auch die Fixierung der nuklearen Parität zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion durch SALT und die Diskussion über MBFR haben hier in Westeuropa die Debatte über eine eigenständige Verteidigungspolitik erneut aufleben lassen,
In der Tat macht der im Rahmen von SALTund MBFR-Verhandlungen bis zu einem gewissen Grad wohl unvermeidliche Bilateralismus der Supermächte in Westeuropa die Suche nach einer gemeinsamen verteidigungspolitischen Position erforderlich, denn sowohl die SALT-Verhandlungen als auch die MBFR-Verhandlungen betreffen die entscheidenden Strukturelemente des europäischen Sicherheitssystems, nämlich den Rückhalt beim amerikanischen Abschreckungspotential und die amerikanische Truppenpräsenz. Dabei ist nicht zu übersehen, daß sich in dieser Frage im amerikanisch-westeuropäischen Verhältnis unterschiedliche, ja gegenläufige Interessen zeigen. Während in Westeuropa das Interesse an der Kontinuität des amerikanischen Engagements zunimmt, weil hier das Gefühl vorherrscht, daß das angesichts eines sich wandelnden strategischen Kräfteverhältnisses und einer umstrittenen Präsenz möglicherweise entstehende Sicherheitsdefizit nicht durch eigene Verteidigungsleistungen auszugleichen ist, stellt die unveränderte Fortsetzung des Engagements der Vereinigten Staaten in Westeuropa aus amerikanischer Sicht heute ein Hindernis für den Ausgleich mit der Sowjetunion dar.
Dennoch hat aber auch Westeuropa heute kein unmittelbares Interesse daran, ausschließlich der Stabilisierung des amerikanisch-westeuropäischen Verhältnisses im Sinne einer Fixierung der gegenwärtigen militärischen Position Vorrang zu geben, denn es ist davon auszugehen, daß die Vereinigten Staaten schon zu stark auf eine Veränderung ihrer Position in Westeuropa festgelegt sind. Eine solche Haltung würde wohl in der Praxis auf den Versuch einer Blockierung von MBFR-Verhandlungen und SALT, soweit dabei die torward based Systems in Europa zur Diskussion stehen, hinauslaufen. Ob damit jedoch die erhoffte Wirkung, nämlich eine Beibehaltung des gegenwärtigen Umfangs der Präsenz und eine Aussparung der forward ba, sed Systems von SALT-Verhandlungen erreicht werden kann, ist zu bezweifeln. Es könnte sein, daß in den Vereinigten Staaten trotzdem die Reduzierungsinteressen ausschlaggebend sein werden. Dies würde den Bilateralismus der Supermächte auf Kosten Westeuropas stärken. Darüber hinaus müßte Westeuropa wohl selbst weitgehend auf Entwicklungsmöglichkeiten im Ost-West-Verhältnis verzichten, wenn es ausschließlich an der Beibehaltung des gegenwärtigen Umfangs des amerikanischen Engagements interessiert bleibt. Auch dies steht dem Eigeninteresse Westeuropas entgegen. Die schwierige Aufgabe besteht in dieser Lage darin, die amerikanischen Reduzierungsinteressen mit dem Prozeß der europäischen Gemeinschaftsbildung, mit den Bemühungen um eine Entspannung in Europa einschließlich möglicher Abrüstungsund Rüstungskontrollmaßnahmen sowie mit einer größeren Kooperation auf gesamteuropäischer Ebene so zu synchronisieren, daß weder auf der Ebene der Supermächte, noch auf gesamteuropäischer Ebene, d. h. im europäischen Ost-West-Verhältnis, noch auf westeuropäisch-amerikanischer Ebene Chancefi verlorengehen.
Die genannten Entwicklungen hängen aufs engste miteinander zusammen, und es wird notwendig sein, eine optimale Kombination aller Elemente zu suchen. Ihre jeweilige Gewichtung ist jedoch von entscheidender Bedeutung Räumt Westeuropa der Stabilisierung des westeuropäisch-amerikanischen Verhältnisses Priorität vor der westeuropäischen Einigung und vor der Entspannung im europäischen Ost-West-Verhältnis sowie zwi-sehen den Supermächten ein, so hätte es — wie schon gesagt — vermutlich auf Entwicklungsmöglichkeiten im Ost-West-Verhältnis zu verzichten. Implizit würde das wahrscheinlich den Bilateralismus der Supermächte fördern und kaum Impulse für die westeuropäische Einigung freisetzen. Gibt es der Entspannung im europäischen Ost-West-Verhältnis Vorzug vor den anderen Optionen, nämlich der westeuropäischen Einigung und der Stabilisierung des amerikanisch-westeuropäischen Verhältnisses, so wird dies vermutlich nur auf Kosten der Sicherheit zu erreichen sein. Wird dagegen dem Prozeß der westeuropäischen Einigung Priorität zuerkannt, so bleiben alle anderen Optionen, die Entspannung im europäischen Ost-West-Verhältnis wie auch die Stabilisierung der amerikanisch-westeuropäischen Beziehungen, zumindestens entwicklungsfähig. Eben in dieser Richtung liegt wohl auch die einzige Möglichkeit, um die Option für eine westeuropäische Verteidigungsorganisation offenzuhalten. Damit soll nicht gesagt werden, daß eine westeuropäische Verteidigungsorganisation Priorität erhalten soll.
Die Betonung von Verteidigungsfragen dieser Art würde sich wahrscheinlich kurzfristig negativ auf die Entspannung auswirken. Wohl aber ist vorstellbar, daß sich dieses Ziel langfristig durchaus im Rahmen einer Politik fördern ließe, die der europäischen Gemeinschaftsbildung Priorität einräumt, die Verteidigungspolitik jedoch pragmatisch behandelt. Dies ist gegenwärtig ohnehin angebracht, denn in der Debatte über die Möglichkeiten für eine spezifisch westeuropäische Verteidigungsorganisation sind sowohl im Bereich der nuklearen Zusammenarbeit als auch auf der Ebene der konventionellen Streitkräfte eine Reihe von Hindernissen deutlich geworden
Zunächst einmal befrachtet diese Debatte die europäische Gemeinschaftsbildung mit Proble-men, auf die sie institutionell nicht vorbereitet ist. Das Scheitern der EVG im Jahre 1954 hat gezeigt, daß hier ein außerordentlich empfindlicher Bereich der Souveränität berührt wird, auf dem es keinen schnellen Weg zur Integration gibt. Die Schaffung einer neuen Verteidigungsorganisation würde zum jetzigen Zeitpunkt aufgrund der damit verbundenen politischen, psychologischen und militärstrategischen Probleme nicht durchsetzbar sein und sich vermutlich als Belastung des Integrationsprozesses auswirken. Einmal besteht in allen westeuropäischen Gesellschaften ein Vorrang innenpolitischer und gesellschaftsbezogener Probleme von militärischen Fragen. Dies würde gegenüber dem Versuch, eine westeuropäische Verteidigungsorganisation zu schaffen, einen erheblichen Widerstand in der westeuropäischen Öffentlichkeit hervorrufen.
Zum anderen könnte ein solcher Versuch eine Dynamik auslösen, die das westeuropäisch-amerikanische Verteidigungsbündnis in einer Weise schwächt, die dem Eigeninteresse Westeuropas zuwiderläuft, indem es amerikanische Tendenzen zur Verringerung der Präsenz stärkt, statt sie aufzufangen. Darüber hinaus dürften sich die damit automatisch auftauchenden Probleme konventionell-militärischer und nuklearstrategischer Art hemmend auf den Integrationsprozeß in Westeuropa auswirken, vor allem im Hinblick auf den britischen und französischen Nuklearstatus, den Rahmen einer europäischen Nuklearmacht (NATO, EG oder national) und eine angemessene Beteiligung der Bundesrepublik an der nuklearen Planung.
Aus diesen Schwierigkeiten folgt, daß sich Westeuropa kurzfristig kaum mit diesen Problemen intensiv befassen wird. Ihrer Natur nach sind sie längerfristiger Art, aber zu beachten ist, daß bereits heute und jetzt Weichenstellungen erfolgen können, die ihre Lösung präjudizieren. Insofern lassen sie sich auch angesichts der zunächst wohl im Vordergrund stehenden Wirtschaftsprobleme in den atlantischen Beziehungen nicht einfach beiseite schieben.
IV. Probleme der atlantischen Wirtschaftsbeziehungen
Wenn es im Verlauf des Jahres 1973 zu Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Gemeinschaft kommt — womit vermutlich im September zu rechnen ist —, so wird es dabei in erster Linie um die Handels-und Währungsbeziehungen zwischen beiden Partnern gehen. Gerade auf diesem Gebiet, das lange als sicheres Unterpfand für die atlantische Sicherheitsgemeinschaft galt, haben sich die Beziehungen in deutlichem Kontrast zur Verteidigungspolitik entwickelt. Mit der militärischen Unselbständigkeit Westeuropas ging dabei ein wirtschaftlicher Aufschwung einher, der heute in den Vereinigten Staaten zunehmend als Konkurrenz und Beeinträchtigung amerikanischer Interessen empfunden wird.
Sorge bereitet vor allem die Entwicklung der amerikanischen Zahlungsbilanz. In den letzten Jahren stieg das Defizit der US-Zahlungsbilanz an und erreichte 1971 die Höhe von 29, 8 Milliarden US-Dollar, was vor allem auf den Abfluß kurz-und langfristigen Kapitals aufgrund von Auslandsinvestitionen, Militärausgaben und anderer Kapitalbewegungen, weniger auf ein Defizit der Handelsbilanz zurückzuführen war Ein Defizit in der Handelsbilanz stellte sich 1971 zum erstenmal in Höhe von 2, 9 Milliarden Dollar ein. Bemerkenswert ist, daß die Handelsbilanz gegenüber der Europäischen Gemeinschaft noch einen Aktivsaldo von 1, 3 Milliarden US-Dollar aufwies.
1972 stieg das Defizit in der Handelsbilanz jedoch auf über 6 Milliarden Dollar, und zum erstenmal mußten die Vereinigten Staaten auch gegenüber der Europäischen Gemeinschaft ein Defizit hinnehmen.
Währungspolitisch ergab sich für die westlichen Industrieländer ein hoher Dollarzustrom, der zunächst zu verschiedenen Währungskrisen und schließlich zu jenen berühmten Maßnahmen vom 15. August 1971 führte, in deren Folge die Konvertibilität des Dollars aufgehoben, eine lOprozentige Sonderabgabe auf alle Importe eingeführt und Steuererleichterungen für die in den USA hergestellten Maschinenbauerzeugnisse beschlossen wurden. Zunächst wurde mit den Beschlüssen vom 18. Dezember 1971 im Zusammenhang mit der
Abwertung des Dollars und der Aufwertung anderer Währungen wichtiger Industrieländer (vor allem Japans und der Bundesrepublik) eine vorläufige Lösung der dringlichsten Aufgaben gefunden, aber die jüngste Währungskrise vom Februar dieses Jahres machte erneut deutlich, daß das grundsätzliche Problem darin besteht, eine Reform des internationalen Währungssystems durchzusetzen und die internationalen Handelsbeziehungen unter Einbeziehung der Entwicklungshilfe neu zu ordnen. Auch nach der erneuten Abwertung des Dollar sowie der Freigabe des Wechselkurses des japanischen Yen, die eine kräftige Aufwertung zur Folge haben wird, bleibt die Gefahr neuer Währungskrisen bestehen. Die Spielregeln des gegenwärtigen Währungssystems können nur solange funktionieren, wie das nötige Vertrauen in den Dollar besteht. Der große Dollarüberhang im Ausland, vor allem auf dem Eurodollarmarkt, macht jedoch kurzfristige Kapitalbewegungen möglich, die Paritätskorrekturen erzwingen können, obwohl sie nicht erforderlich sind. In diesem Prozeß spielen multinationale Konzerne eine sehr wichtige Rolle, weil sie über bedeutende liquide Geldmengen verfügen, die sie je nach Zinsniveau und Wechselkursrisiko anlegen können Für das betroffene Land entsteht dadurch das zusätzliche Problem, daß eine entsprechende Geldschöpfung stattfindet, die die Inflation anheizt.
Die Vereinigten Staaten werden natürlich jetzt versuchen, ihre strukturellen Zahlungsbilanz-probleme bis zu einem gewissen Grade durch Exportsteigerungen zu lösen, was aber nur möglich ist, wenn andere Länder bereit sind, in stärkerem Maße amerikanische Produkte aufzunehmen. Solange dies nicht gelingt, wird in den Vereinigten Staaten innenpolitisch ein isolationistisches Klima begünstigt. Gelingt dies aber in größerem Umfang, so werden möglicherweise Arbeitsplätze der Handelspartner der USA, die in stärkerem Maße außenhandelsabhängig sind als die Vereinigten Staaten, gefährdet. Diese Problematik steht dem Ziel der Vereinigten Staaten, ihre Zahlungsbilanzprobleme durch Exportsteigerung zu lösen, entgegen. Hinzu kommt, daß sich die amerikanische Wettbewerbsfähigkeit infolge der Inflation deutlich verschlechtert, einen Importsog ausgelöst und zu hohen Arbeitslosenquoten und unausgelasteten Kapazitäten geführt hat Die Entwicklung wurde tendenziell durch die lebhafte Investitionstätigkeit im Ausland über die multinationalen Konzerne verstärkt. Der Gewinntransfer der multinationalen Konzerne trägt zwar einerseits dazu bei, die Zahlungsbilanzsituation zu verbessern, aber ein beträchtlicher Teil dieser Gewinne wird auch im Ausland reinvestiert. Dementsprechend wird die Arbeitsmarktlage in den Vereinigten Staaten ungünstig beeinflußt. Auch der technologische Vorsprung der Vereinigten Staaten, der lange Zeit für eine positive Handelsbilanz der Vereinigten Staaten gesorgt hat, wirkt sich angesichts der umfangreichen Auslandsinvestitionen und der Aktivität multinationaler Konzerne kaum noch exportfördernd aus. In dem Maße wie das know how dort Verwendung findet, wo möglichst billige Arbeitsplätze zu finden sind, entfällt der Direktexport.
Als Folge der binnen-und außenhandelspolitischen Probleme der Vereinigten Staaten ist innenpolitisch das Gewicht jener Gruppen, die für protektionistische Maßnahmen auf selten der Vereinigten Staaten eintreten und Beschränkungen des Kapitalabflusses und der Importe anstreben wollen, außerordentlich gewachsen. Die ehemals breite Koalition für eine liberale Welthandelspolitik im amerikanischen Kongreß droht sich jetzt aufzulösen Als eine der wichtigsten Schlüsselgruppen für diese Koalition galten bisher die amerikanischen Gewerkschaften, die aber nun angesichts ihrer gefährdeten Arbeitsplätze einen Umschwung vollzogen. Es ist zu befürchten, daß die verbleibende Koalition, bestehend aus den multinationalen Unternehmen, den Landwirtschaftsorganisationen und einigen anderen, weniger mächtigen Gruppen kein ausreichendes Gewicht mehr entfalten kann, um die Annahme protektionistischer Gesetze zu verhindern.
Nach allem, was über den Charakter der noch ausstehenden Trade Bill 1973, die dem Präsidenten das Mandat zu Verhandlungen mit der Europäischen Gemeinschaft geben soll, bekannt wurde, werden die Vereinigten Staaten unter den gegenwärtigen Umständen vermutlich versuchen, ihre Handelsposition nach Abwertung des Dollar weiter zu verbessern. Sie werden dabei bemüht sein, den europäischen Markt und die mit der Europäischen Gemeinschaft verbundenen Märkte für amerikanische Produkte weiter zu öffnen, obgleich ihre internationalen Konzerne von Europa aus gleichsam eine eigene Konkurrenz darstellen.
Gelingt dies nicht, so sind Zollerhöhungen für europäische Produkte und andere Schutzmaßnahmen gegen Importe amerikanischerseits nicht ausgeschlossen So forderte der Vorsitzende des Ways and Means Commitee im Repräsentantenhaus, Wilbur Mills, unmittelbar nach der Dollarabwertung vom Februar 1973 als zusätzliche Maßnahme der Vereinigten Staaten unter innenpolitischem Druck zu Sonderzolls von 15 °/o auf alle Importe der USA Wenn diese Haltung auch nicht mit der Administration übereinstimmt, so bleibt doch der Eindruck bestehen, daß die Vereinigten Staaten unter innenpolitischen Druck zu einer Verhandlungstaktik greifen könnten, die die Forderung nach Liberalisierung im Welthandel mit der Androhung protektionistischer Maßnahmen verbindet. Die Europäische Gemeinschaft hätte einer solchen Verhandlungstaktik wenig entgegenzusetzen. Eine Initiative der Vereinigten Staaten zur Liberalisierung des Welthandels stellt sie vor das grundsätzliche Problem, möglicherweise „das stärkste Band zu zerreißen, das sie zusammenhält, nämlich den gemeinsamen Außentarif" Sie muß befürchten, eines Teils ihres wirtschaftlichen Inhalts beraubt zu werden. Gleichwohl kann sie ein Liberalisierungsprogramm der Vereinigten Staaten kaum ablehnen, denn das würde von amerikanischer Seite vermutlich dahin gehend interpretiert werden, daß Europa sich wirtschaftlich gegenüber den Vereinigten Staaten abzukapseln sucht und politisch die Trennung in Kauf nehmen möchte Darüber hinaus wäre Westeuropa in einer Eskalation protektionistischer Maßnahmen vermutlich der schwächere Teil.
Die handelspolitische Problematik der amerikanisch-europäischen Beziehungen enthält so-mit eine Reihe von äußerst empfindlichen Fragen. In der 1973 zu erwartenden GATT-Runde kann es deshalb im Gegensatz zur Kennedy-Runde nicht um Zollsenkungen oder -abschaffung gehen, sondern es muß es auch über die Agrarpolitik und die Assoziierungs-oder Präferenz-abkommen der EG sowie über die Beseitigung nicht-tarifärer Handelsbeschränkungen (mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen, Bewertungspraktiken, Regierungsaufträge sowie gesetzliche und administrative Handelshindernisse). Gerade diese Gebiete lassen aufgrund ihrer gesellschaftspolitischen und entwicklungspolitischen Bedeutung aber nur wenig Spielraum für Kompromisse offen: — Hinsichtlich der nicht-tarifären Handelshindernisse besteht die besondere Problematik darin, daß sie ihrer Natur nach wesentlich schwerer als Zölle abzubauen sind. Im Kern laufen sie auf eine Angleichung der nationalen Gesetzgebung hinaus, was erfahrungsgemäß schwierigere Fragen aufwirft als eine Zollsenkung. — Mit ihrer Agrarpolitik verfolgen sowohl die EG als auch die USA das Ziel, die Einkommen der einheimischen Landwirte zu stützen, in der EG durch Garantiepreise und variable Abschöpfungen auf Importe und in den Vereinigten Staaten durch mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen in Verbindung mit internen Einkommensstützungsmaßnahmen. Dieser Politik würde eine Ausweitung des Handels untereinander zuwiderlaufen. — Mit ihren Assoziierungs-oder Präferenzabkommen verfolgt die Europäische Gemeinschaft das Ziel, die wirtschaftliche Entwicklung der Länder, mit denen solche Abkommen bestehen (21 afrikanische Staaten sowie Madagaskar und Mauritius, eine Reihe von Mittelmeerländern, zu denen Griechenland, die Türkei, Marokko, Tunesien, Israel, Spanien und Malta gehören. Den Entwicklungsländern des Commonwealth wurde im Zusammenhang mit der Erweiterung eine Assoziierungsoption eingeräumt), zu unterstützen. Diese Abkommen beruhen zum Teil auf traditionellen Bindungen einzelner Mitgliedstaaten zu den assoziierten Ländern, zum Teil aber auch auf rein handelspolitischen Präferenzen.
Die USA sehen darin eine Verletzung der Prinzipien des GATT, die zur Folge hat, daß die Exporte von anderen Industriestaaten und Entwicklungsländern diskriminiert werden. Sie befürchten, daß auf diesem Wege einer wirtschaftlichen Blockbildung Vorschub geleistet wird. Die amerikanischen Sorgen in dieser Beziehung sind nach dem Abschluß der Freihandelsabkommen der EG mit den Rest-EFTA-Staaten noch gewachsen. Die EG hält dem entgegen, daß die Exporte der Vereinigten Staaten auch unter diesen Bedingungen zugenommen haben. Sie weisen ferner auf den entwicklungspolitischen Effekt dieses Systems hin, obgleich die Europäische Gemeinschaft auch Gegenpräferenzen erhält. Sie sehen jedoch kaum die von den Vereinigten Staaten befürchteten langfristigen Rückwirkungen negativer Art auf den Welthandel. Es erscheint notwendig, daß die Europäische Gemeinschaft ihrer Assoziationspolitik einen Gehalt gibt, der eindeutig über handelspolitische Präferenzen hinausgeht und in stärkerem Maße entwicklungspolitische Zielsetzungen berücksichtigt In dieser Perspektive könnte sogar eine Entlastung der Vereinigten Staaten von Aufgaben der Entwicklungshilfe eintreten.
Allerdings können sich auch die Vereinigten Staaten nicht aus ihrer entwicklungspolitischen Verantwortung zurückziehen. Dem allgemeinen System von Präferenzen für Entwicklungsländer, dem sich die Europäische Gemeinschaft und Japan bereits angeschlossen haben, werden die Vereinigten Staaten auf Dauer nicht fernbleiben können. Ziel dieses Präferenzsystems ist es, den Entwicklungsländern grundsätzlich die gleichen Chancen für ihre Exporte bei verarbeiteten Produkten einzuräumen wie den Industrieländern Damit soll vermieden werden, daß die Entwicklungsländer nur Rohstofflieferanten bleiben und ihnen die Möglichkeit genommen wird, den Aufbau eigener Industrien zu fördern. Nur solche Maßnahmen scheinen geeignet, das kardinale Problem der Unterbeschäftigung in diesen Ländern zu lösen.
V. Gesellschaftspolitische Entwicklungen in den Vereinigten Staaten und Westeuropa als Problem der amerikanisch-westeuropäischen Beziehungen
Die Hindernisse und Schwierigkeiten, die sich hier wie auch im sicherheitspolitischen Bereich in den amerikanisch-westeuropäischen Beziehungen auftun, sind vermutlich nicht unlösbar, aber sie setzen eine wechselseitige Rücksichtnahme Westeuropas und der Vereinigten Staaten, der Industrieländer untereinander und darüber hinaus eine gemeinsame Verantwortung aller für die Entwicklungsländer voraus, wenn sie einer Lösung nähergebracht werden sollen. Dazu wird vermutlich mehr Sinn und Gespür für außenpolitische Entwicklungen und internationale Beziehungen erforderlich sein, als gegenwärtig vorhanden zu sein scheint. Die Probleme lassen sich weder im Sinne eines Primats der Außenpolitik noch eines Primats der Innenpolitik auflösen.
Gesellschaftliche Entwicklungen und wirtschaftliche Probleme sind Bestandteil der Außenpolitik. Die Unterscheidung zwischen high und low politics ist unter diesem Gesichtspunkt nicht nur problematisch, sondern sogar irreführend. Auch die europäisch-atlantischen Beziehungen haben stets eine gesellschaftspolitische Dimension besessen, die den Wandel in den Beziehungen nicht nur mitgemacht, sondern zum Teil selber bewirkt hat. Dazu gehört nicht allein die allgemeine Beobachtung, daß hier wie dort Innenpolitik Vorrang vor der Außenpolitik hat: in den Vereinigten Staaten also die Probleme der Armut in einer Uberflußgesellschaft, das Rassenproblem, die Probleme der städtischen Lebensbedingungen, Umweltprobleme, Kriminalität und die Verbesserung der Qualität des Lebens; in Europa Bildung, Ausbildung, Verkehr, ebenfalls Probleme städtischer Lebensbedingungen, Umwelt und die Qualität des Lebens, aber auch mehr und mehr die Probleme ausländischer Arbeitnehmer in verschiedenen westeuropäischen Ländern. Wichtiger in diesem Zusammenhang ist — als deren Begleiterscheinung oder Folge — die Infragestellung des Zweiparteienkonsensus in der Außenpolitik der Vereinigten Staaten der u. a. auch das bisherige Engagement in Europa getragen hat und in Westeuropa ein latenter und bisweilen auch manifester Anti-Amerikanismus, der einerseits aus der Reaktion gegenüber dem Vietnamkrieg, andererseits aus der Gesellschaftskritik in den Vereinigten Staaten gespeist wird. Der Vorbildcharakter, den das amerikanische Gesellschaftssystem für Europa lange besaß, und der zum Teil zur Imitation angeregt hatte, ist damit weitgehend verloren-gegangen.
Mit der Infragestellung des Zweiparteienkonsensus in der Außenpolitik als Folge der traumatischen Erfahrung in Vietnam und dem Entstehen einer breiten populistischen Strömung in den Vereinigten Staaten geht so in Europa eine gesellschaftspolitische Entwicklung einher, die möglicherweise zu einer Auseinander-entwicklung der beiden Gesellschaftssysteme führen könnte, deren Auswirkungen noch nicht abzusehen sind. Gleichwohl haben beide Partner ein gemeinsames Interesse daran, daß sich die beiden Gesellschaftssysteme nicht zu stark auseinanderentwickeln. Ebensowenig wie Westeuropa ein Interesse daran hat, daß sich in den Vereinigten Staaten eine isolationistische Strömung durchsetzt, können die Vereinigten Staaten wünschen, daß sich hier ein Gesellschaftssystem etabliert, welches sich grundlegend von dem in den Vereinigten Staaten unterscheidet. Dieses gemeinsame Interesse setzt aber auch wechselseitige Rücksichtnahme und Verständnis für die jeweiligen gesellschaftlichen Reformbedürfnisse des Partners voraus. Gegenwärtig ist es wohl in erster Linie Westeuropa, das unter außenpolitischen Gesichtspunkten ein Interesse an der Wiederherstellung der gesellschaftlichen Stabilität in den Vereinigten Staaten und an einem tragfähigen außenpolitischen Konsensus hat. Das Bündnis zwischen den Vereinigten Staaten und Westeuropa ist in einem Klima der Auseinandersetzung zwischen Ost und West entstanden. Es war lange Jahre hindurch weitgehend eine Funktion des Ost-West-Konflikts. So sehr sich auch jetzt in diesen Beziehungen ein deutlicher Wandel vollzieht, der Anpassungsprobleme und Mißverständnisse auf heilen Seiten mit sich bringt, so wenig stehen die partnerschaftlichen Beziehungen heute prinzipiell zur Debatte. Im Gegenteil: Die Interdependenz politischer, wirtschaftlicher und militärischer Prozesse auf beiden Seiten macht vielmehr heute ein Ausmaß an Koordinierung der Entscheidungsprozesse erforderlich, das die bestehenden Institutionen nur zur Teil leisten können.
In diesem Sinne gibt es auch eine institutionelle Debatte in den atlantischen Beziehungen. Sie betrifft die bestehenden Institutionen ebenso wie mögliche neue Einrichtungen. Der Nordatlantikpakt wird, wie Theo Sommer richtig bemerkte, „schwerlich noch einmal zur Seelen-achse der westlichen Politik werden", aber „als Versicherungsschutz gegen künftigen Ausdehnungsdrang der östlichen Vormacht behält er auch im kommenden Jahrzehnt seinen bleibenden Wert" Zwanzig Jahre nach ihrer Gründung hat kein europäischer Staat von seinem Kündigungsrecht Gebrauch gemacht, und selbst Frankreich, das eine Zeitlang diese Möglichkeit zumindest nicht ausgeschlossen hat, ließ erkennen, daß die amerikanische Präsenz in Westeuropa nicht nur symbolischer Natur sein kann, sondern effektiv sein muß Dies bedeutet nicht, daß die NATO ihre gegenwärtige Struktur beibehalten soll oder muß. Die Veränderung wird sich aber mehr auf ihren inneren Gehalt beziehen als auf ihre Auflösung zielen. Solche Ansätze sind bereits in der Bildung der Euro-Group erkennbar. Eine westeuropäische Verteidigungskooperation könnte hier ihren Ansatzpunkt suchen.
VI. Institutioneile Probleme
Auch der OECD könnte in Zukunft eine weit wichtigere Rolle für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik der westlichen Industrienationen zufallen, als dies bisher der Fall war. Der große Vorteil der OECD liegt darin, daß hier die Länder Westeuropas, die Vereinigten Staaten und Japan vertreten sind, jene Länder also, deren Wirtschaftsbeziehungen untereinander heute Friktionen ausgesetzt sind. Ihr Nachteil besteht freilich darin, daß auf diesem Wege der Prozeß der Abstimmung ohne die Entwicklungsländer erfolgt, ein Nachteil, dessen Gewicht nicht übersehen werden sollte.
Für die amerikanisch-westeuropäischen Beziehungen im engeren Sinn wird aber auf die Dauer weder eine veränderte NATO noch eine wiederbelebte OECD ausreichend sein. Die Europäische Gemeinschaft wird — ob sie es will oder nicht — bereits heute von außen als eine Einheit angesehen sowohl von den Vereinigten Staaten als auch von der Sowjetunion und erst recht von den Entwicklungsländern. Sie wird sich dieser Tatsache bei ihrer eigenen Entscheidungsbildung nicht entziehen können. Sie ist aber noch heute in den Vereinigten Staaten durch ihre einzelnen Mitgliedstaaten vertreten, die jeweils getrennt voneinander Einfluß auf den Entscheidungsprozeß der Vereinigten Staaten zu nehmen suchen. Wenn auch der Tag, an dem es nur noch eine einzige Vertretung in den USA und eine klare Zuständigkeit für Verhandlungen in Westeuropa gibt, fern sein mag, so wäre doch als Minimallösung schon jetzt wenigstens eine Art Caucus der Vertretungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft in Washington wünschenswert, der es erlaubt, Entscheidungen der Vereinigten Staaten nicht erst dann zu beeinflussen, wenn sie gefallen sind. Was wirklich not tut, ist ein intensiver Prozeß der Diskussion und Konsultation auf allen Stufen des Entscheidungsprozesses, also einschließlich der politischen Planung Das Ziel muß nicht eine identische Politik sein, wohl aber eine abgestimmte Handlungsweise.
Dieter Dettke, Dipl. -Politologe, geb. am 15. Januar 1941. Studium am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin sowie an der Universität Bonn. Studienaufenthalte in Frankreich (1962/63) und USA (1967/68). Seit 1969 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Bonn. Veröffentlichungen: „Verteidigungspolitik", in: Westeuropäische Verteidigungskooperation, herausgegeben von Karl Carstens und Dieter Mahncke, Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik Band 31, München, Wien 1972; „Die Westmächte", in: Außenpolitische Perspektiven des westdeutschen Staates, Band 3 („Der Zwang zur Partnerschaft"), Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik Band 30/3, München, Wien 1972. Der vorliegende Aufsatz ist eine Vorstudie zu einer größeren Arbeit über die Beziehungen der Vereinigten Staaten zu Westeuropa.
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