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Der „Hürdenlauf" zur ideologischen Koexistenz | APuZ 8/1973 | bpb.de

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APuZ 8/1973 Sozialdemokratie oder Kommunismus? Wie der Sozialdemokrat Ulrich Lohmar den objektiven Verlauf der Geschichte aufhalten will Das „strategische Zielbündel" des Herrn Lohmar Der „Hürdenlauf" zur ideologischen Koexistenz

Der „Hürdenlauf" zur ideologischen Koexistenz

Ulrich Lohmar

/ 15 Minuten zu lesen

Drei Parteitheoretiker der SED haben sich mit meinem Aufsatz über die inhaltlichen Beziehungen zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus in zwei führenden Organen der DDR auseinandergesetzt. Wer den innerdeutschen Dialog und darüber hinaus das gesellschaftstheoretische Gespräch über die Grenze hinweg will, der kann aus den beiden Antworten der SED entnehmen, wo die Schwierigkeiten und die begrenzten Möglichkeiten solcher Streitgespräche liegen.

Die erste Hürde: Wir veröffentlichen hier die beiden Aufsätze der Herren Winkler, Kalex und Klug ohne jede Auslassung, an eine Publikation unserer Argumente in der DDR in vollem Umfang ist jedoch einstweilen offenbar nicht zu denken.

Die zweite Hürde: Die Autoren der SED behaupten mancherlei, was den Tatsachen einfach widerspricht.

Die dritte Hürde: Meine Diskussionspartner gehen in beiden Aufsätzen auf die gleichen

Acht falsche Behauptungen

1. Um mit dem Formalen, aber inhaltlich nicht Belanglosen zu beginnen: In der „Einheit"

(S. 918) wird mein Aufsatz aus der „Zeit"

mit „Sozialdemokratie und Sozialismus"

in der Anmerkung zitiert. Tatsächlich hieß der Beitrag „Sozialdemokratie und Kommunismus". 2. Herr Winkler meint (S. 1482), ich hätte mich zu Unrecht als Sprecher der ganzen Sozialdemokratie ausgegeben. Für eine solche Selbsteinschätzung findet sich in meinem Aufsatz nirgendwo ein direkter oder indirekter Hinweis. Da die SPD eine demokratische Partei ist, wäre ein solcher Anspruch auch sachlich nicht möglich.

3. Herr Winkler sagt, „rechte sozialdemokratische Führer bekennen sich in aller Öffentlichkeit zum staatsmonopolistischen Herrschaftssystem" (S. 1484). Ihm steht nicht einmal ein Zitat zur Verfügung, mit dem diese Behauptung auch nur annähernd gestützt werden könnte. Das Gegenteil trifft sachlich zu.

4. In der „Einheit" wird gesagt, die Politik der SPD gefährde die Arbeitsplätze in der Thesen ein und vermeiden ebenso übereinstimmend, andere wesentliche Thesen meines Beitrages auch nur zu erwähnen.

Diese drei Hindernisse für eine wirkliche Diskussion müssen schrittweise überwunden werden. Erst dann kommt man zu dem eigentlichen Kern des Steitgesprächs: der unterschiedlichen Bewertung von Zielen, Wegen und Wirklichkeiten des freiheitlichen Sozialismus einerseits und des Kommunismus andererseits. Ich will mich in meiner Antwort an meine drei Gesprächspartner auf die von ihnen aufgenommenen Punkte der Auseinandersetzung beschränken, um wenigstens hier einen ersten Einstieg in ein Gespräch zu versuchen. Aber das Bemühen um Klarheit in der Bestimmung der Ausgangsposition veranlaßt mich, zunächst einige behauptete „Tatsachen" richtigzustellen und diejenigen Thesen aus meiner Kritik am Kommunismus noch einmal zu nennen, auf die beide Beiträge überhaupt nicht eingegangen sind.

BRD (S. 908). Herr Winkler fügt hinzu, den Monopolherren in der BRD sei z. B. die massenweise Aussperrung möglich und sie könnten bei Betriebsstillegungen ganze Belegschaften auf die Straße setzen (S. 1486). Daß wir unter der Regierung von Bundeskanzler Brandt eine stabile Vollbeschäftigung haben, verschweigen die Autoren der SED. 5. Herr Winkler unterstellt mir die Aussage, ich hätte die Kommunisten der Absicht bezichtigt, ihr militärisches Potential zum gewaltsamen Export der Revolution einzusetzen (S. 1494). Der Text meines Aufsatzes gibt nicht einmal einen Hinweis in dieser Richtung. 6. Den „rechten" SPD-Führern wird vorgeworfen, sie gehörten in der BRD zu den Hauptinitiatoren des Wettrüstens und des weiteren Ausbaues der Armee in der Bundesrepublik (S. 1495). Die Friedenspolitik der Bundesregierung beweist das genaue Gegenteil. 7. Die Autoren der SED werfen mir vor, ich hätte keine Kritik am Kapitalismus geübt.

Jede einzelne meiner Thesen ist ein Beweis dafür, daß eben dies doch geschehen ist.

8. Die Darstellung des neuen Betriebsverfassungsgesetzes in der BRD (S. 915/916)

stellt die tatsächlichen Regelungen, die dieses Gesetz zugunsten einer stärkeren Einflußnahme der Arbeitnehmer getroffen hat, geradezu auf den Kopf.

Läßt man alle diese falschen Behauptungen in ihrer politischen Auswahl insgesamt auf sich wirken, dann wird klar, daß es sich hier nicht um zufällige Ungenauigkeiten oder Fehlinformationen handelt, sondern daß hinter diesen Aussagen eine ideologische Absicht steckt: den Diskussionspartner durch die Behauptung von nicht zutreffenden „Tatsachen“ zu diskreditieren, um auf diese Weise eine bessere Ausgangsbasis für die Darlegung der eigenen Argumente zu finden. Wie muß es um das intellektuelle und wissenschaftliche Selbstbewußtsein des Marxismus-Leninismus bestellt sein, wenn seine Vertreter sich solcher Tricks bedienen müssen!

Zwei „vergessene" Thesen

Auf zwei Themenbereiche sind meine Diskussionspartner überhaupt nicht eingegangen: Auf die Probleme der innerparteilichen Meinungsbildung in den kommunistischen Organisationen und auf wesentliche Merkmale der kommunistischen Militärpolitik und -Struktur.

1. Innerparteiliche Meinungsbildung

Ich habe mich in meinem Aufsatz mehrfach mit dem demokratischen Zentralismus, dem grundlegenden Organisationsprinzip aller kommunistischen Parteien, auseinandergesetzt und darauf verwiesen, daß dieser Grundsatz in der Verschränkung mit der anderen These der Kommunisten, Freiheit sei Einsicht in die Notwendigkeit, zu einer innerparteilichen Diktatur der „Einsichtigen" und ihrer Entscheidungen führe. Das mag meinen Gesprächspartnern nicht einleuchten — aber kennen sie nicht die diesbezüglichen Äußerungen in dem politischen Testament des verstorbenen italienischen Kommunistenführers Togliatti? Wissen sie nichts von den theoretischen Verlautbarungen der dänischen und der schwedischen Kommunisten zu diesem Thema, und haben sie die zurückliegenden Entwicklungen im Hinblick auf einen innerparteilichen Pluralismus in Polen, in der ÖSSR und in Ungarn vergessen? Was sagen sie zu der These Mao Tse-tungs, es sollten auch innerparteilich in der Volksrepublik China 100 Blumen blühen? Warum setzen sie sich nicht mit der Forderung der Jungsozialisten in der SPD auseinander, innerparteiliche Demokratie auch in der Form von Gruppenbildungen und durch Diskussion inhaltlich sehr unterschiedlicher Zielvorstellungen anzustreben? Das nennt man, wie ich gesagt hatte, in der SED nach wie vor „Revisionismus" und „Fraktionsbildung". Sind die Jungsozialisten für die SED nur dann brauchbare Gesprächspartner, wenn sie einmal in einer Detailfrage mit der DKP übereinstimmen? Und warum gehen die Autoren der SED nicht ein auf den in unserem Verständnis fundamentalen Sinn der Mehrheitsentscheidung, die eine Willensbildung von unten nach oben ermöglicht? Was halten sie von unserer Ansicht, daß man mit Mehrheit darüber entscheiden muß, was geschehen soll, nicht aber darüber befinden kann, was „wahr“ oder „objektiv richtig" ist?

2. Strukturen und Ziele militärischer Streitkräfte

Keine Antwort läßt sich in den Aufsätzen meiner Gesprächspartner auch zu meiner Kritik finden, daß in kommunistischen Staaten eine Wehrdienstverweigerung nicht erlaubt sei, daß das Militär ein Instrument der hegemonialen Machtpolitik innerhalb des kommunistischen Blocks sei und daß das Selbstverständnis mancher Armeen im Ostblock von nationalistischen Traditionen und Vorstellungen geprägt werde. Aus welchem Grunde wird dazu nichts gesagt? Will man sich in der Frage der Wehrdienstverweigerung wiederum nicht mit den Jungsozialisten in der SPD anlegen? Ist es meinen Diskussionspartnern unangenehm oder halten sie es für richtig, was ich über die hegemonial-politische Funktion des Militärs und über den Nationalismus angemerkt habe? Die DDR wird, wenn sie jetzt in großem Maße diplomatische Kontakte mit anderen europäischen Ländern aufnimmt, ganz sicher auch von den Franzosen, den Schweden oder den Norwegern erfahren, was diese Länder von der Restauration preußischer Militärformen in der DDR halten. Vielleicht hat die völkerrechtliche Anerkennung der DDR dann auch die Wirkung, den Gesichtskreis politischer Diskussionen etwas auszuweiten.

Der Fall Hitler

Den Sozialdemokraten Ebert, Scheidemann und Noske wirft A. Winkler vor, sie hätten durch ihre Politik in der Weimarer Republik der Machtergreifung Hitlers Vorschub geleistet (S. 1484). Wer das unermeßliche Leid kennt, von dem Sozialdemokraten, Kommunisten, Juden, Katholiken und Protestanten im Dritten Reich betroffen wurden, sollte wenigstens soviel Takt haben, angesichts dieser menschlichen Tragödien für Millionen von Antifaschisten eine Geschichtsklitterung zu vermeiden. Wie war es denn in den Jahren vor 1933? Die Kommunisten haben, ihrer verhängnisvollen und naiven Auffassung von dem geschichtsnotwendigen Sieg des Sozialismus nachhängend, vor der Machtergreifung Hitlers geglaubt, sein Regime werde den Prozeß des Übergangs zum Sozialismus eher beschleunigen als verzögern. Aus diesen und anderen Gründen verteufelten sie die Sozialdemokraten in der Weimarer Republik als „Sozialfaschisten" und haben Hand in Hand mit der äußersten Rechten alles getan, um die erste deutsche Republik zum Einsturz zu bringen. Für diese illusionäre Einschätzung der Situation haben Hunderttausende, auch von überzeugten Kommunisten, später mit ihrem Leben bezahlen müssen. Es gehört ein großes Maß an historischer Blindheit oder an Zynismus dazu, angesichts dieser schrecklichen Entwicklung nach 1933 ausgerechnet den Sozialdemokraten, die um den Bestand der ersten deutschen Demokratie mit ihrer ganzen Kraft gerungen haben (wenn auch wohl nicht immer mit den angemessenen Mitteln), die Rolle eines Helfershelfers für den Faschismus zuzuschreiben.

Sein und Bewußtsein

A. Winkler meint, ich hätte die Grundfrage nach dem Verhältnis von Sein und Bewußtsein idealistisch beantwortet. Seine beiden Co-Autoren in der „Einheit" verweisen auf die These von Friedrich Engels, daß die Beziehungen zwischen der ökonomischen Basis einer Gesellschaft und dem überbau keine einfache Ursache-Wirkung-Relation seien. Ehen das ist auch meine Auffassung. Man kann darüber streiten, ob die Vergesellschaftung der Produktionsmittel eine notwendige Bedingung für die Entfaltung von Freiheit und Gerechtigkeit ist oder ob eine gesellschaftliche Basis dafür auch unter Einschluß privaten Eigentums an Produktionsmitteln gegeben sein kann. Was ich den Kommunisten als einen Denkfehler vorwerfe, ist ja nicht die Vergesellschaftung der Produktionsmittel (sehr wohl aber Form und Folgewirkungen!), sondern ihre kaum begründbare Ansicht, daß mit der Vergesellschaftung automatisch zureichende Bedingungen für die Entfaltung von Freiheit und Gerechtigkeit geschaffen werden könnten. Hier, an genau diesem Punkt, denken sie monokausal, eingleisig. Viele der Widersprüche, in die sich der Marxismus-Leninismus theoretisch verwickelt, haben in diesem grundlegenden Denkfehler ihre Ursache. Das wird an zwei Beispielen in dem Beitrag der „Einheit" überaus deutlich. Ungeachtet der behaupteten monopolkapitalistischen ökonomischen Struktur der BRD meinen die Autoren, die Arbei-B terklasse fühle sich bei uns zum Sozialismus (im Verständnis der SED) zunehmend hingezogen. Daß die Wahlergebnisse dies hinsichtlich der DKP der Zahl der Wähler und ihrer sozialen Struktur nach widerlegen, nehmen die Autoren zwar indirekt zur Kenntnis, aber sie erklären diesen Umstand damit, daß die Monopolbourgeoisie eine grandiose Bewußtseinsmanipulation vornehme (S. 912). Nun werden die Autoren der „Einheit" nicht davon beeindruckt sein, wenn man sie darauf hinweist, daß selbst in Gebieten der Bundesrepublik, wo die Springer-Presse ein eindeutiges Übergewicht hat, die Wahlergebnisse für die SPD überwältigend waren, denn die SPD halten sie ja für einen Bestandteil des Monopolkapitalismus. Aber gibt es ihnen nicht zu denken, daß Millionen westdeutscher Arbeiter die SPD und nicht die DKP gewählt haben und daß die ideologischen Sprecher der DKP weit häufiger aus bürgerlichen Familien kommen als aus der Arbeiterschaft? Können unsere Diskussionspartner in der DDR es denn nicht begreifen, daß man Sozialdemokrat sein kann, ohne deshalb ein verbohrter Antikommunist zu sein? Die westdeutschen Arbeiter lehnen ja keineswegs die beachtlichen sozialen Errungenschaften der DDR ab, aber sie halten die geistige Enge, den kleinbürgerlichen Provinzialismus und die innerparteiliche Diktatur in der SED für falsch. Deshalb, nicht aus einem blinden oder emotionalen Antikommunismus, votieren sie in der Mehrheit für die Sozialdemokratie.

Die Aufgabe des Abgeordneten

A. Winkler meint, wir hätten in der BRD ein imperialistisches Wahlsystem. Unser Grundgesetz stelle den Abgeordneten bewußt neben und über das Volk. Der Abgeordnete sei nicht seinen Wählern, sondern seinem „Gewissen" verantwortlich (S. 1491). Kalex/Klug fügen hinzu, die Abgeordneten in der BRD seien keinem verbindlichen Wählerauftrag unterworfen, und die Wähler hätten nicht das Recht, Abgeordnete auch wieder abzuberufen (S. 915). Wir können von dieser Kritik gewiß das eine oder andere übernehmen. Es ist z. B.sehr die Frage, ob man den Artikel 38 des Grundgesetzes mit seiner Festlegung der Gewissensbindung des Abgeordneten so weit fassen kann, daß der Fraktionswechsel rechtlich möglich bleibt. Darüber wird der Bundestag ernsthaft nachdenken müssen. Aber der Abgeordnete hat sich bei uns ja nicht nur seinem „Gewissen" zu stellen, sondern er muß sich in den Wahlkreisen, in den Parteien, in vielfältigen gesellschaftlichen Bindungen verantworten, behaupten und immer wieder um sein politisches Mandat ringen.

Wie sieht demgegenüber die Wirklichkeit etwa in der DDR aus? Man wird den Abgeordneten der Volkskammer nicht vorwerfen können, daß sie sich im Regelfall weniger um ihre Wahlkreise oder um konkrete Nöte ihrer Mitbürger kümmerten als die Mitglieder des Bundestages bei uns. Aber sie sind nicht dem Volk verantwortlich, sondern den jeweiligen Parteigliederungen der SED. Sie haben keinen Wählerauftrag im politischen Sinn, sondern einen Parteiauftrag gegenüber den Wählern. Sie erhalten ihr imperatives Mandat nicht von der Bevölkerung, sondern von der Parteileitung. Ist das mehr Demokratisierung als bei uns oder weniger? Die Alternative zu einer unverbindlichen „Gewissensbindung" und zum imperativen Mandat nach dem Modell der SED — um die Schwachpunkte in der Funktion der Abgeordneten in beiden deutschen Staaten einmal nebeneinander zu stellen — kann nur in der Entfaltung stärkerer basis-demokratischer Einflußmöglichkeiten in vielen Bereichen der Gesellschaft bestehen. Aber davon ist in der DDR sehr viel weniger die Rede als bei uns. Mein Hinweis darauf, daß die Räte-Idee innerhalb der kommunistischen Welt heute in Europa nur noch in Jugoslawien eine begrenzte Chance habe, wird von den Autoren (S. 1492) zwar erwähnt, aber inhaltlich mit keinem Wort kommentiert. Der „demokratische Zentralismus" läßt das — wie so manches — offenbar nicht zu.

Die Arbeiter und die Staatsmacht

Das Verständnis für die Bedeutung gesellschaftlicher Selbstverwaltungs-und Selbstgestaltungsmodelle fehlt den Theoretikern und Praktikern der SED aber nicht nur wegen der Einengung ihrer Denk-und Handlungsmöglichkeiten durch den demokratischen Zentralismus, sondern auch auf Grund der Auffassung, daß mit der Abschaffung des privaten Produktionsmitteleigentums die Arbeiterschaft automatisch zum Inhaber der Staatsmacht geworden sei. Die konkrete Verteilung gesellschaftlicher Produktion ändert sich dadurch aber nicht notwendig. Wie kommt es z. B., daß man vor allem in den Städten der kommunistischen Länder verschiedene Gruppen von bevorzugten oder weniger bevorzugten Konsumenten hat? Es gibt ja nicht nur unterschiedliche Verdienstspannen, sondern auch Naturalzuweisungen in der Form von repräsentativen Häusern, Dienstpersonal, großen Autos, bevorzugten Geschäften. Entscheiden die Arbeiter darüber? Wir bestreiten gar nicht, daß es in der DDR Volksaussprachen über Gesetze gibt und viele kluge Vorschläge und Ideen von Seiten der Bürger vorgebracht werden (S. 1492). Nur: Gegen Aussprachen und anregende Vorschläge haben konservative Unternehmer auch bei uns nichts einzuwenden. Das ist nicht die Frage. Es geht vielmehr darum, wer wo und mit welchen Kompetenzen darüber entscheiden kann, was aus solchen Aussprachen und Vorschlägen wird. Und eben hier werden die von mir genannten Strukturmerkmale der gleichen Chance, der Transparenz, der Kontrolle, des Mandats auf Zeit, der Partizipation wesentlich, um den erreichten Grad an konkreter Demokratisierung einer Gesellschaft feststellen zu können. Meine Diskussionspartner sind nicht einmal bereit, solche Maßstäbe auf der Basis der Vergesellschaftung der Produktionsmittel ernsthaft zu erwägen. Sie erklären sie schlicht für formal — weil sie in ihrer Anwendung den demokratischen Zentralismus und das ideologische Alleininterpretationsrecht der Parteiführung aushöhlen würden. Ich hatte gesagt, niemand solle bei uns ohne die Zustimmung anderer Herrschaftspositionen einnehmen dürB fen. Kalex und Klug fragen zurück: Wer ist denn „niemand" und wer sind „die anderen"? (S 914). Das ist eine gute Frage. Nehmen wir zwei Beispiele: Bei uns in der SPD darf (und kann) niemand in die Parteiführung gelangen, ohne daß er von unten (und nicht auf Grund verbindlicher Vorschlagslisten der amtierenden Parteiführung) gewählt wird. Bei uns gibt es mehrere innerparteiliche „Richtungen", die miteinander diskutieren und ringen, aber einander nicht ausschelten oder verketzern. Von alledem ist die SED weit entfernt. Innerparteiliche Demokratie — für die DDR würde das bedeuten: Der demokratische Zentralismus müßte abgeschafft werden, und die Vorrangstellung der Parteiführung gegenüber der Staatsführung wäre zu beseitigen, wenn man dem Prinzip der demokratischen Legitimation entsprechen wollte. Personal-entscheidungen dürften dann nicht durch Kooptation (in der formalen Fassung von Wahlen), sondern sie müßten in einem tatsächlichen Meinungs-und Willensbildungsprozeß von unten her erfolgen.

„Wissenschaftlicher Sozialismus"?

Die „Einheit" hält mir vor, ich leugnete den wissenschaftlichen Sozialismus. Das tue ich in der Tat. Wissenschaft ist in ihrer Aufgabe und Arbeitsweise gebunden an Logik, empirische Nachweisbarkeit und Experimente. Eine formal, aber nicht inhaltlich offene Ideologie wie der Marxismus-Leninismus entspricht diesen Grundsätzen wissenschaftlicher Forschung in einer inhaltlich vorgegebenen Weise nur im Hinblick auf die formale Logik. Empirisch nachweisbare Tatbestände werden hingegen nur soweit aufgenommen, als sie dem Argumentationshaushalt der Ideologie des Marxismus-Leninismus „widerspruchsfrei" eingefügt werden können. Lassen sich andere Tatbestände ihres Gewichts wegen nicht völlig übergehen, dann handelt es sich um „Übergangsschwierigkeiten" auf dem Wege zum Sozialismus oder vom Sozialismus zum Kommunismus. Auf ähnliche Weise haben sich die christlichen Kirchen oft über den Widerspruch zwischen den Zehn Geboten und den tatsächlichen Verhaltensweisen von Christen weggeholfen. Der Maxismus-Leninismus als Ideologie ist eine strategische Zielkonzeption. Er hat politischen Charakter, während es zur notwendigen Verhaltensweise der Wissenschaft gehört, nicht in Aufgaben, sondern in Problemen zu denken, Gewißheiten zu vermeiden und statt dessen den Zweifel zur Grundlage der Forschung und des Experiments zu machen. Wir verdanken dem Marxismus-Leninismus viele wertvolle Hinweise auf die Einschätzung der Produktivkräfte in unserer Gesellschaft, auch der Produktivkraft Wissenschaft. Aber daraus zu folgern, die Wissenschaft sei das Instrument einer ideologischen Zielkonzeption, verkennt den Charakter von Wissenschaft. Gerade die kritische Wechselbeziehung strategischer gesellschaftlicher Zielkonzeptionen und wissenschaftlicher Forschung und Entwicklung macht die fortschreitende Produktivität beider aus. Muß man die Theoretiker des Marxismus-Leninismus daran erinnern, zu welchen Peinlichkeiten ein Mann wie Lysenko in der Einschätzung der Naturwissenschaften in der Sowjetunion zur Zeit des Stalinismus beigetragen hat? In der inhaltlich verengten These vom wissenschaftlichen Sozialismus als immanentem Kern des Marxismus-Leninismus kommt eine monokausale, einseitige Betrachtungsweise zum Ausdruck, die wir in der Geschichte unserer Zivilisation nicht erst in Form dieser Ideologie kennengelernt haben. Sie ist dadurch allerdings nicht überzeugender geworden, daß es in früheren Jahrhunderten um die Rechtsgläubigkeit, heute hingegen um eine spezifische Form der Linksgläubigkeit geht.

Welche Grundwerte gelten?

Ich hatte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität als die Grundwerte genannt, von denen der demokratische Sozialismus ausgeht und die zu realisieren er sich vorgenommen hat — Schritt für Schritt und wohl wissend, daß man sie nie voll wird realisieren können. A. Winkler stellt diesen Grundwerten Frieden und Geborgenheit zur Seite. Er meint, der Kommunismus werde es dem Menschen ermöglichen, „über seine Geschicke selbst zu bestimmen, seine menschlichen Qualitäten zum eigenen Nutzen und zum Nutzen der ganzen Gesellschaft voll auszuprägen" (S. 1483). Er hat andere Werte gewählt als ich, aber der Sinn bleibt im wesentlichen der gleiche. Ich würde lediglich zögern, die Gebor-B genheit als ein politisches Ziel zu nennen. Sie gehört meiner Auffassung nach in die Privat-bereiche unseres Lebens. Aber man sieht an der Wertordnung Winklers, daß wir hier nicht sehr weit auseinander sind. Nur bleibt die entscheidende Frage, was denn die Sozialdemokraten konkret unter Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität verstehen und was die Kommunisten mit Selbstbestimmung und Entfaltung im Sinne haben. Gerade weil die Sozialdemokraten im Gegensatz zu den klassischen bürgerlichen Idealisten von den gesellschaftlichen Bedingungen und Erfordernissen bei der Verwirklichung ihrer Grundwerte in der Gesellschaft ausgehen, ist für sie der Weg zu einem Ziel von entscheidender Bedeutung. Und sie sind nun einmal, vielleicht in dieser Grundfrage wissenschaftlicher vorgehend als der Marxismus-Leninismus, der Ansicht, daß die Identifizierung von Freiheit und Einsicht in eine vermeintliche geschichtliche Notwendigkeit, das Prinzip des demokratischen Zentralismus und die einseitige Betonung der Produktionsmittelfrage keine möglichen Voraussetzungen dafür sind, Demokratisierung im Sinn der diskutierten Strukturmerkmale unserer Gesellschaft zu erreichen. Es bleibt dabei: Für die Kommunisten ist die Gesellschaft das Maß, die Person das Mittel und die Partei das Instrument zur Erreichung ihrer Ziele, für die Sozialdemokraten ist die Person das Maß, die Partei das Mittel und die Gesellschaft der Handlungsrahmen. Man muß nicht Antikommunist sein, um diesen Unterschied klar zu sehen und beim Namen zu nennen.

Der dritte Weg

Besonders aufgebracht hat meine Diskussionspartner der Hinweis, es gäbe für Sozialdemokraten keinen Grund, die Welt weder kapitalistisch noch kommunistisch, sondern eben sozialdemokratisch sehen zu wollen. Kalex und Klug meinen, dies könne — bezogen auf die sozialistischen Länder — doch nichts anderes bedeuten, als den Wunsch, die dort eingetretene Entwicklung wieder rückgängig zu machen (S. 907). Ich möchte mich bei beiden dafür bedanken, daß sie mich ungeachtet dieser zutreffenden Anmerkungen nicht als „Revanchisten" bezeichnet haben. Die Sozialdemokraten nehmen lediglich ernst, was Chruschtschow auf dem berühmten Parteitag der KPdSU über die ideologische Koexistenz gesagt hat. Wir sagen wie er , ja‘ zum Wettbewerb der gesellschaftlichen Systeme. Wir setzen dabei weder auf den Kapitalismus noch auf den Kommunismus, sondern wir bemühen uns, in unserem politischen Wirkungsbereich eine sozialdemokratische Ordnung zu entwikkeln. Das Ergebnis der letzten Bundestagswahlen hat uns in dieser Absicht ermutigt und in der Einschätzung der Erfolgsaussichten bestärkt. Und wir können leider nur fragen: Warum hat die Führung der SED offen-sichtlich Hemmungen, sich auf einen solchen Wettbewerb auch in der ideologischen Diskussion einzulassen? Müßte sie nicht davon ausgehen, daß unter den gesellschaftlichen Bedingungen etwa der DDR die Bürger dieses Staates vor jeder Versuchung sicher seien, etwa einem sozialdemokratischen „Revisionismus" zu erliegen? Warum aber ist die Führung der SED sich offensichtlich keineswegs sicher? Wir wollen das Godesberger Programm der SPD, das Langzeitprogramm oder das der Jusos nicht in die DDR exportieren, aber wir sind andererseits so sehr beeindruckt von der dialektischen Dynamik der industriellen Gesellschaften, daß wir uns nicht vorstellen können, irgendein ideologisches System und die daraus abgeleitete politische Ordnung könnten sich dem entziehen. Sollten wir nicht wirklich mit einer Diskussion über die wechselseitigen Inhalte grundlegender Auffassungen beginnen und dabei die drei einleitend genannten Hürden hinter uns lassen, die dem Wettbewerb der Systeme und der Diskussion ihres ideologischen Hintergrundes heute in der DDR offensichtlich noch im Wege stehen? Diese Publikation mag eine Einladung dazu sein.

Fussnoten

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