Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte Europas haben sich die Botschafter fast aller europäischen Staaten, darunter gleichberechtigte Vertreter der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, sowie der beiden auf diesem Kontinent engagierten Supermächte am runden Tisch in Helsinki zusammengefunden. Ihre Aufgabe ist die Ausarbeitung eines Fahrplans für die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europä (KSZE). Der bescheidene äußere Rahmen dieses Treffens in der finnischen Hauptstadt schmälert dessen Bedeutung nicht, selbst zu einer Zeit, in der Gipfeltreffen fast schon zur Routine gehören. Der Salon der Botschafter weckt die Erinnerung an längst vergangene europäische Kongresse und löst gleichzeitig Hoffnung und Skepsis aus, ob die angestrebte Konferenz in der Lage sein wird, mehr zu leisten als ihre Vorgängerinnen, die sich mit der Bewahrung und Bestätigung des Bestehenden begnügten. Wird diese Konferenz ein Element der Veränderung sein können und nicht nur der Konsolidierung das Wort reden, oder wird sie gar die Suche nach neuen Möglichkeiten europäischer Politik verhindern? Vorschußlorbeeren sind genauso verfrüht wie hartnäckiger Pessimismus. Der gegenwärtige Zeitpunkt erlaubt noch kein abgewogenes Urteil über die Erfolgsaussichten. Dennoch mag es nützlich sein, die Entwicklung und die Veränderung eines Projektes zu verfolgen, das im letzten halben Jahrzehnt zu einem immer gewichtigeren Gegenstand für die Diskussion der ordnungs-und sicherheitspolitischen Probleme Europas wurde. In der Genesis der Konferenzidee, in der Lautstärke, mit der sie propagiert oder abgelehnt wurde und in dem Einfallsreichtum, der aufgeboten wurde, um sie als Instrument blockstabilisierender oder blocküberwindender Politik zu handhaben, spiegeln sich die wechselnden Er-
Wartungen und Befürchtungen gesamteuropäischer Politik wieder.
Eine Reihe von Veränderungen der europäischen Strukturen, in die sich während der vergangenen 20 Jahre die Konturen des Kalten Krieges tief eingruben, sind erforderlich gewesen, ehe eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa nicht nur in Angriff genommen, sondern auch mit einer — vielleicht auch nur bescheidenen — Aussicht auf Erfolg verbunden werden konnte. Diese neuen Elemente in der europäischen Politik sind mehrfach beschrieben worden: 1. Bei den in Europa engagierten Großmächten, den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, sind Positionsänderungen zu verzeichnen. Bei den USA wuchs die Neigung, ihre Präsenz in Westeuropa zu verringern und die europäische Politik in größerem Maße als bisher den Europäern zu überlassen. Der Zwang zur Konsolidierung und Sicherung ihres osteuropäischen Imperiums führte die Sowjetunion zur partiellen Kooperation mit den Vereinigten Staaten im militärischen Bereich, mit Westeuropa auf politisch-wirtschaftlichem Gebiet. Diese Veränderungen haben weitreichende Auswirkungen auf die Staaten in den Hegemonialsystemen der beiden Mächte. 2. Nach der durch den „Kalten Krieg" akzentuierten Interessenblockade zeichneten sich für die Staaten in den beiden europäischen „Systemen" erstmals wieder sowohl bündnis-wie innenpolitische Alternativen ab. Der damit einhergehende größere politische Handlungsspielraum für die einzelnen Länder war von besonderer Relevanz für und in bezug auf die Bundesrepublik, die sich in einem Prozeß der grundlegenden Neuorientierung ihrer Deutschland-Politik befindet. 3. Zwischen Ost und West ist ein kompliziertes Kommunikationssystem im Entstehen begriffen. Dieses führt dazu, daß Positionsänderungen einzelner Glieder des Systems weniB ger als bisher der prekären, paralysierenden Logik der gegenseitigen Verpflichtungen unterworfen sind
Die Vorkonferenz in Helsinki, die Art und Weise ihres Zustandekommens, noch mehr als die mit ihr verfolgten politischen Ziele, beleuchten schlaglichtartig diese Veränderungen. Als der Gedanke einer gesamteuropäischen Konferenz Mitte der sechziger Jahre von den Staaten des Warschauer Paktes wieder belebt wurde, ordnete er sich weitgehend ein in die von ihnen über ein Jahrzehnt lang betriebenen Versuche, den westlichen Zusammenhalt zu schwächen. Dies wurde auch daran deutlich, daß die USA und Kanada zunächst nicht in den Vorschlag einbezogen wurden. Die Intensivierung der bilateralen Kontakte über die Blockgrenzen hinweg, die sowohl auf der Ebene der nuklearen Groß-mächte als auch im europäischen Kontext erfolgte, veränderte jedoch den Stellenwert des Konferenzprojektes. Dieses schien nunmehr Möglichkeiten zu bieten, um sowohl die angestrebte Entspannung in Europa über das bilateral mögliche Maß hinauszuführen und zu konkretisieren, als es auch einen Rahmen abgab, um die bilateralen Ost-bzw. Westpolitiken der europäischen Staaten einzubinden und zu koordinieren. Die Synchronisierung der Behandlung der deutschen Frage mit dem Fortgang der Konferenzvorbereitungen machen dies deutlich. Die Konferenz wurde von den kleineren und mittleren europäischen Staaten vor allem in der Hoffnung befürwortet, angesichts der sich intensivierenden Kooperation zwischen den USA und der Sowjetunion — hierfür mögen die SALT-Verhandlungen als Beispiel stehen — verstärkte Mitsprachemöglichkeiten im Entspannungsdialog zu erhalten und diesen damit zu multilateralisieren. Gleichzeitig gab dieses Unternehmen jedoch den nuklearen Großmächten wieder neue Optionen an die Hand. Die Gespräche zwischen Präsident Nixon und Generalsekretär Breschnew sowie die Mission Kissingers im Sommer 1972 in Moskau, bei denen die Einzelheiten des prozeduralen Ablaufs des Entspannungsdialogs vereinbart wurden, belegen dies. In der langen Phase der Vorgeschichte der Konferenz markiert der 22. November 1972 eine Zäsur zwischen unverbindlicher Ventilierung politischer Zielvorstellungen und der konkreten Festlegung eines Konferenzfahrplans. Schon die Einigung auf ein bestimmtes Konferenzmodell, z. B. auf eine Außenministerkonferenz und von dieser einzusetzende Kommissionen, die Vereinbarung einer Tagesordnung für die Hauptkonferenz und die Formulierung von Mandaten für die Kommissionen muß erweisen, was von den zahlreichen Vorschlägen im Vorfeld der Konferenz Propaganda und was unverzichtbare politische Positionen waren. Es ist nicht zu erwarten, daß die Verhandlungspartner darauf verzichten werden, auf der Konferenz unterschiedliche politische Vorstellungen zum Ausdruck zu bringen und eigene nationale Interessen zu fördern. Jede Entscheidung in Prozedurfragen, auch wenn sie noch so peripher erscheinen mag, eröffnet Optionen und verschließt andere. Dies macht die Bedeutung der Vorkonferenz aus.
Aber auch schon in der Vorphase, z. B. durch die Ausklammerung der Verhandlungen über eine beiderseitige und ausgewogene Truppenreduzierung (MBFR), durch die Fortschritte bei der Suche nach einem für die europäischen Staaten — insbesondere natürlich für die beiden deutschen — und die Weltmächte akzeptablen Modus vivendi in der deutschen Frage, oder durch die Intensivierung der Kooperation zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten, sind wichtige Vorentscheidungen gefallen. Die dabei zutage getretenen Interessenlagen, die innerhalb der beiden Bündnisse und von einzelnen Staaten erfolgten Festlegungen und die vorhandenen Alternativen, insbesondere aber auch die Vorstellungen, mit denen die Bundesregierung das Konferenzprojekt bisher angegangen ist, gilt es, in dem folgenden Beitrag zu analysieren Die sowjetischen Vorschläge für eine Europäische Sicherheitskonferenz haben in den vergangenen Jahren bemerkenswerte Veränderungen erfahren, sowohl was die Tonart als auch was den Inhalt betrifft. Ultimative Forderungen wurden modifiziert oder fallengelassen, polemische Einwürfe verloren an Schärfe. Die Prager Deklaration vom Januar 1972 dokumentiert ein ernsthaftes Interesse an sachlichen Diskussionen über die Möglichkeiten einer Ost-West-Kooperation, vor allem auf wirtschaftlich-technologischem Gebiet.
Noch gehen die Vorstellungen darüber auseinander, welches die Ergebnisse einer derartigen Zusammenkunft sein könnten; die in den vergangenen zwei Jahren erreichte Verständigung über ihre Vorbereitung widerspricht jedoch dem von Kritikern häufig vorgebrachten Argument, die Sowjetunion sähe eine KSZE hauptsächlich unter dem Aspekt eines propagandistischen Geländegewinns. Eine Bewertung der sowjetischen Motiv-und Interessenstrukturen darf sich nicht auf die Lektüre offizieller Erklärungen der Staaten des Warschauer Vertrags beschränken, sondern muß vielmehr eine differenzierte Betrachtung der jeweiligen internationalen Situation einschließen.
Bei der Durchsicht der Konferenzvorschläge, die sich seit der Bukarester Erklärung von 1966 in jährlichem Rhythmus wiederholten, fällt auf, wie die Sowjetunion ihre außenpolitischen Zielsetzungen flexibel handhaben mußte, um den ständigen Veränderungen europäischer Politik Rechnung zu tragen und wie sie bei der Festlegung von Prioritäten angesichts der innen-und bündnispolitischen Situation manche Unsicherheiten zeigte. Marshall D. Shulman hat diese komplexen und oft widersprüchlichen Überlegungen in den Jahren 1966— 69 beschrieben: zu erwägen galt, ob es zum jeweiligen Zeitpunkt zweckmäßig war, „eine breitangelegte Kampagne zu entfalten und den Einfluß der Vereinigten Staaten abzubauen; die Bundesrepublik Deutschland zu isolieren oder neutralistische Tendenzen in diesem Land zu ermutigen-, die Möglichkeiten, die sich durch die Mitte-Links-Koalition in Westeuropa bieten, zu nutzen, oder die Reihen der kommunistischen Bewegung zu schließen und die sowjetische Position in Osteuropa zu konsolidieren" In der Retrospektive lassen sich zwei Grundtendenzen erkennen, die den Charakter der sowjetischen KSZE-Vorschläge beeinflußten. Die Sowjetunion war auf der einen Seite bemüht, Unstimmigkeiten und Ungleichgewichte in Westeuropa auszunutzen und wenn möglich zu vertiefen. Auf der anderen Seite sah sie sich jedoch ständig genötigt, ihre Vormachtstellung im sozialistischen Lager zu stabilisieren. Das langfristige Interesse, Kopf der kommunistischen Weltbewegung sein und bleiben zu wollen und die daraus abzuleitenden Strategien, sind ein wesentliches Beurteilungselement für die sowjetischen Motive bezüglich einer Europäischen Sicherheitskonferenz. Dazu gesellen sich spezifische Großmachtinteressen, die vor allem das Verhältnis zu den eigenen Bündnispartnern belasten. Der Hegemonialanspruch ist keineswegs konfliktfrei und seine Aufrechterhaltung ist es — wie die CSSR-Okkupation zeigte — noch viel weniger.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, daß sich gerade die kleineren Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrages von einer Sicherheitskonferenz einen größeren eigenen politischen Spielraum versprechen. Das sowjetische Ziel besteht dagegen darin, mittels einer KSZE eine multilaterale Bestätigung des Status quo und somit die Anerkennung ihres Einflyßbereiches in Europa zu erfahren. Eine formelle Anerkennung dieser politischen Realitäten in Verbindung mit einer Gewalt-verzichtserklärung wäre für die sowjetische Führung ein bedeutender Prestigeerfolg und durchaus geeignet, die nicht unumstrittenen Positionen von Mitgliedern der Führungsspitze zu stärken.
Im wirtschaftlichen Bereich erscheint es der Sowjetunion ebenfalls opportun, eine verstärkte Zusammenarbeit mit dem Westen anzustreben. „Auch 25 Jahre nach dem Krieg ist die sowjetische Herrschaft über große Teile Südost-und Ostmitteleuropas vom Westen nicht endgültig anerkannt, und die Konzentration der Kräfte auf die Rüstung hat zu einer Vernachlässigung anderer geführt, Bereiche so daß erhebliche wirtschaftliche Probleme bestehen." Die Erweiterung der Wirtschaftsbeziehungen, die Aufstockung westlicher Kredite und ein vermehrter Austausch von wissenschaftlich-technologischem know-how sind sicher ein weiterer Hauptpunkt auf dem sowjetischen KSZE-Wunschzettel. „Schließlich ist die außenpolitische Lage der Sowjetunion zu bedenken. Seit Lenin ist die oberste Maxime der sowjetischen Außenpolitik, daß eine . Einkreisung'unbedingt vermieden werden muß." Aus Moskauer Sicht sind die beiden Hauptgefahren der westliche Imperialismus und der chinesische Chauvinismus. Ein potentielles Zusammenwirken des Westens und Chinas löst in den Vorstellungen der Sowjetunion höchste Besorgnis aus. Dies wurde in jüngster Zeit erneut deutlich, sowohl im Zusammenhang mit der Reise von Präsident Nixon nach Peking, als auch bei der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der BRD und der VR China. Neben den sowjetischen Bemühungen, solchen Annäherungen entgegenzuwirken, ist auch die Absicht erkennbar, in Mitteleuropa Spannungen abzubauen, um ungehindert eine Auseinandersetzung mit China führen zu können. Eine KSZE könnte die Einkreisungsängste mindern.
Die offiziellen Erklärungen und Vorschläge des Warschauer Vertrags sagen freilich wenig oder gar nichts über die unterschiedlichen Vorstellungen aus, die vor allem die kleineren Partner der Sowjetunion mit dem Konferenz-Vorschlag verbinden. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, daß nicht nur in der Beurteilung, sondern auch in den spezifischen Erwartungen, die übrigen Mitglieder der sozialistischen Lager nuancierte Positionen einnehmen. Das Einbringen von divergierenden Eigeninteressen in eine KSZE wird jedoch angesichts der dominierenden Rolle der Sowjetunion im wesentlichen davon abhängen, ob und wieviel Spielraum der „Große Bruder" konzediert. Das oberste Ziel der DDR dürfte hierbei in der Aufwertung des eigenen Status bestehen. Obwohl von östlieher Seite eine Anerkennung der DDR als Vorbedingung für eine KSZE inzwischen fallengelassen wurde, ist allein schon die gleichberechtigte Teilnahme — gegen die die Bundesrepublik nichts mehr einwendet — für die DDR ein eindeutiger politischer Erfolg. Dies erklärt die sehr aktive Befürwortung einer KSZE durch Ost-Berlin. Dagegen treten die Erwartungen auf dem Sektor wirtschaftlicher Kooperationsmöglichkeiten in den Hintergrund. Die intensiven und gewinnbringenden Wirtschaftsbeziehungen zur Bundesrepublik, die sie fast in den Stand eines assoziierten EWG-Mitglieds versetzt, nötigten der DDR bisher keine besonderen Anstrengungen zur verstärkten ökonomischen Zusammenarbeit in Europa ab.
Zu den inzwischen aufgegebenen Vorbedingungen für eine Konferenz zählen auch die Forderung Warschaus nach endgültiger Anerkennung der polnischen Westgrenze und die Bemühungen der Tschechoslowakei um eine Annullierung des Münchner Abkommens. Die Bundesrepublik hat im Warschauer Vertrag zwar die Unverletzlichkeit der Grenzen bestätigt, es liegt jedoch durchaus im Interesse Polens, auf der geplanten Staatenkonferenz mit Hilfe eines multilateralen Gewaltverzichts eine zusätzliche Garantie zu erhalten.
Was die Beziehungen der sozialistischen Länder untereinander angeht, so ist es sicher nicht falsch zu erwarten, daß zumindest in Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien die insgeheime Hoffnung besteht, mit Hilfe einer KSZE den Raum für eigene politische Initiativen auszuweiten. Eine Deklaration über Grundsätze zwischenstaatlichen Verkehrs, welche eine Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates zum Kernpunkt hat, könnte einzelnen sozialistischen Ländern durchaus ein Mehr an Souveränität bringen. Allerdings sollte man gerade in dieser Frage keine allzugroßen Illusionen über schnelle Fortschritte hegen. So konzentrieren sich denn auch die Hoffnungen der kleineren sozialistischen Staaten auf die Möglichkeiten einer verstärkten Zusammenarbeit im wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Bereich. Eine KSZE als Kontakt-und Verhandlungsforum könnte hierzu entscheidende Impulse liefern und gleichzeitig Chancen für eine Anknüpfung bilateraler Beziehungen zu den westlichen Ländern bieten. Innerhalb des westlichen Bündnisses ist die Einstellung der einzelnen Mitglieder nicht ganz so einheitlich, wie es in offiziellen Kommuniques den Anschein hat. Die meist erfolgreiche Suche nach einem gemeinsamen Nenner verdeckt oft nur mühsam die unterschiedlichen Ausgangspunkte, Beurteilungskriterien und Interessenschwerpunkte. Es ist deshalb sinnvoll, auf die unterschiedlichen Motivationen im Westen hinzuweisen und die Schwierigkeiten einer Interessensynchronisation zu verdeutlichen.
Die Haltung der Vereinigten Staaten läßt sich am treffendsten mit der Formel „elastische Skepsis" umschreiben Washington hat die vorgeschlagene Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa nie als ein Anliegen von besonderer Priorität betrachtet. Die Zustimmung in Raten war stets anderen politischen Zielen untergeordnet: der bilateralen Kooperation mit der Sowjetunion, der multilateralen Einbindung der Entspannungspolitiken der westeuropäischen Verbündeten und der Selbsteinschätzung der eigenen Rolle in Europa.
Erst als der Verlauf der Gespräche über eine Begrenzung strategischer Waffensysteme (SALT) erste Ergebnisse erwarten ließ und Moskau sich seinerseits zu Gesprächen über eine Truppenreduzierung in Europa bereit erklärt hatte, gab Washington — in Form einer Rede von Außenminister Rogers am 1. Dezember 1971 — seine Zustimmung zur Aufnahme multilateraler Konferenzvorbereitungen. Die Marschroute für das Konferenzprojekt wurde weiter abgesteckt bei dem Besuch von Präsident Nixon im Mai 1972 in Moskau und bei einem erneuten Besuch seines Beraters Kissinger im Sommer des gleichen Jahres. Das ungeduldige Drängen mancher europäischer Staaten nach einer rascheren Schrittfolge bei der Planung der gesamteuropäischen Konferenz wußte die amerikanische Regierung abzublocken mit der Forderung nach gründlicher Vorbereitung in prozeduraler und inhaltlicher Hinsicht. Mit dieser Forderung ließ sich das Konferenzprojekt an geeigneter Stelle und zu* einem günstigen Zeitpunkt in die eigene Politik einpassen. Zum anderen kennzeichnete sie eine deutliche Abneigung gegenüber Konferenzen, die im Elefantenhabitus auftreten und in der Sache eine Maus gebären;
Das schließliche Eingehen der USA auf das KSZE-Projekt, das als Lieblingsspielzeug östlicher Diplomatie lange mit kaum verhülltem Argwohn betrachtet wurde, erklärt sich nicht zuletzt aus der innenpolitischen Situation in Amerika. Der wachsende Überdruß an der Rolle des Weltpolizisten, die tiefgreifenden innergesellschaftlichen Probleme und die wachsenden Bemühungen der , Mansfields“ im Kongreß, stärkeren Einfluß auf die Außenpolitik zu gewinnen, blieben im Weißen Haus auf die Dauer nicht ohne Einfluß. In diesem Zusammenhang war für die amerikanische Regierung die Abstimmung mit den SALT-Gesprächen und die Verbindung mit Maßnahmen in Richtung auf eine beiderseitige und ausgewogene Truppenreduzierung in Europa wichtig.
Zusätzlich sollten auf einer derartigen Konferenz Maßnahmen über eine größere Freizügigkeit von Menschen, Informationen und Ideen vereinbart werden. In seiner Rede vor dem Verein der Auslandspresse hatte Außenminister Rogers darauf hingewiesen, daß neben einer gründlichen Untersuchung der Spannungsursachen in Europa eine KSZE neue Klarheit über die Unabhängigkeit und die Gleichberechtigung souveräner Staaten bringen sollte. „Ganz allgemein sehen wir eine KSZE unter dynamischen und nicht so sehr unter statischen Gesichtspunkten. Wir würden jeden Versuch zurückweisen, sie zur Verewigung der politischen und sozialen Teilung Europas zu benutzen." Diese Aussage erhellt, daß die Konferenz auch für die USA ein Stück Ordnungspolitik im Sinne europäischer Strukturpolitik ist.
Frankreich hat sich schon sehr frühzeitig für das Zustandekommen einer KSZE eingesetzt und ist bis heute im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften wie auch der NATO der nachdrücklichste Befürworter geblieben. Es erhofft sich von der Konferenz die gesicherte Fortdauer des Meinungsaustausches in Europa auf nationalstaatlicher Grundlage. Auf. diesen Unterschied zur Haltung der USA ange10 sprochen, sagte Außenminister Maurice Schumann am 4. Januar 1971: „Die französische Regierung hat sich früher für diese Konferenz eingesetzt und hat ihr gegenüber lebhafteres Interesse gezeigt als die amerikanische. Aber im wesentlichen sind wir uns durchaus einig: Die Konferenz sollte stattfinden. Sie kann eine entscheidende Rolle für die Entspannung und die Verständigung unter allen europäischen Völkern spielen, indem sie Ihnen hilft, die Spaltung in Blöcke zu überwinden und die Fundamente einer breiten Zusammenarbeit zu legen. Wir wünschen ganz besonders, daß Europa dank dieser Konferenz die Barrieren fallen sehen könnte, die sich hier und da noch der Freizügigkeit der Personen, dem Austausch von Informationen und der ungehemmten Entwicklung von Ideen entgegensetzen."
Das besondere französische Interesse gilt einer Auflockerung der Blöcke mit dem Ziel eines Zusammenschlusses der europäischen Staaten, der ihre nationale Souveränität nicht beschränkt. Die Ablehnung jedweder Block-politik ist auch der Grund dafür, daß Frankreich sich einmal gegen MBFR als Thema einer KSZE wandte und zum anderen der Anregung der Bundesregierung widersprach, einen Vertreter der Europäischen Gemeinschaften nach Helsinki zu schicken. Bisher sind von französischer Seite keine inhaltlichen Vorschläge zur Tagesordnung gemacht worden. Grundsätzliches Interesse besteht jedoch auf dem Gebiet wirtschaftlicher Zusammenarbeit, weniger dagegen im kulturellen Bereich, da die bilateralen Beziehungen zu den östlichen Ländern relativ problemlos sind.
In Großbritannien gesellt sich zur grundsätzlichen Verhandlungsbereitschaft über Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit unverkennbare Zurückhaltung. Die Weiterentwicklung der europäischen Integration und die Konsolidierung der westlichen Allianz genießen Priorität. Die Zweifel an der sowjetischen Verständigungsbereitschaft sind in Großbritannien noch nicht ausgeräumt: „Für London müssen in Übereinstimmung mit den anderen NATO-Partnern Schritte zur europäischen Entspannung in einem solchen gesamteuropäischen Rahmen diskutiert werden, da es sich schließlich um die Festigung der militärisch-politischen Sicherheit in Europa handeln soll und nicht darum, auf einer solchen Konferenz Rückversicherungsverträge zu schließen, die den Status quo besiegeln." Großbritannien will auf einer KSZE genauso wie die Vereinigten Staaten und die Bundesrepublik konkrete Fragen besprochen wissen, die praktische Ergebnisse zur Folge haben. Eine sorgfältige und abgestimmte Vorbereitung ist vor allem für das diffizile MBFR-Thema erforderlich, das erst dann zur Diskussion gestellt werden sollte, wenn der Westen ein ausgewogenes eigenes Konzept erarbeitet hat.
Unter den Mittelmeeranrainern überwiegt die reservierte Haltung gegenüber einer KSZE. Eine Ausnahme bildet Italien, daß aus innenpolitischen Gründen und mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung seine ursprüngliche Zurückhaltung aufgab und für eine aktive Vorbereitung der Konferenz eintritt. Für die Türkei, Griechenland und Portugal liegt das Zentrum ihrer Entspannungsbemühungen naturgemäß im Mittelmeerraum. Die verstärkte sowjetische Präsenz in der unmittelbaren Nachbarschaft, die Furcht vor einer Gefährdung der Südflanke der NATO durch einseitige Abrüstungsmaßnahmen und die skeptische Beurteilung sowjetischer Verständigungsbemühungen, begründen die wesentlichen Bedenken. Zu eifrigen Befürwortern einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit zählen Norwegen und Dänemark. Beide Länder geben eine optimistische Einschätzung der Erfolgsaussichten und äußern keine gravierenden Bedenken. Auch Kanada steht, seit seine Teilnahme gesichert ist, der Konferenz aufgeschlossen gegenüber. Unter Wahrung der Bündnissolidarität sieht die Regierung in Ottawa in der Konferenz ein Mittel zur Entspannung und Zusammenarbeit in Europa. Dazu kommt ein besonderes Eigeninteresse an der Ausdehnung der Beziehungen zu Europa, dem es sich geschichtlich und kulturell eng verbunden fühlt. In Belgien und den Niederlanden ist das KSZE-Projekt ebenfalls auf Zustimmung gestoßen. Der belgische Vorschlag vom März 1970 für eine multilaterale Vorkonferenz in einer neutralen Hauptstadt hat die Diskussion über das Verfahren zur Vorbereitung wesentlich beeinflußt. Belgien und die Niederlande sehen in den Fragen der Abrüstung und des Gewaltverzichts zentrale Konferenzthemen.
Die Rolle und die Erwartungen der bündnisfreien Länder
Die Mehrzahl der bündnisfreien Staaten hat wiederholt ein lebhaftes Interesse an der vorgeschlagenen europäischen Konferenz bekundet. Finnland, Österreich und Jugoslawien haben in verschiedenen Memoranden und Kommuniques an die übrigen europäischen Staaten und die USA sowie Kanada zur Aufnahme multilateraler Verhandlungen aufgefordert. Der aktive Einsatz dieser Länder ist im wesentlichen mit der Erwartung zu begründen, daß die geplante Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit für sie eine geeignete Plattform darstellen könnte, um ihr politisches Eigengewicht zu verstärken. Diese Einstellung, die auch bei kleineren Staaten innerhalb beider Bündnissysteme verbreitet ist, wird verständlich, wenn man das Unbehagen bedenkt, das bilaterale Gespräche und Vereinbarungen der beiden Supermächte über die Köpfe der " Kleinen" hinweg auslösen. Zu dem Wunsch, ein Stück aus dem Schatten der Großmächte herauszutreten, gesellt sich bei den neutralen Staaten die Hoffnung, auf der Konferenz eine Bestätigung ihres Status und ihrer Politik zu erreichen. Die Vorstellung von einer Gemeinschaft der bündnisfreien Länder als dritter und ausgleichender Kraft zwischen den Blöcken hat in der Diskussion um eine KSZE neuen Auftrieb bekommen. Ein gemeinsames Vorgehen wurde allerdings bisher nicht erreicht; es blieb bei Einzelinitiativen. An der Spitze der KSZE-Protagonisten steht Finnland, das in einem Memorandum am 5. Mai 1969 den sowjetischen Konferenzvorschlag aufgriff und seine positive Haltung darlegte. Unter Betonung strikter Neutralität und mit dem Hinweis auf die guten Beziehun-, gen Finnlands zu allen europäischen Staaten bot die Regierung ihre guten Dient als Gastgeber der Vorbereitungstreffen an. Im Anschluß an dieses Memorandum folgten weitere diplomatischen Vorstöße die jenes Angebot wiederholten.
Das aktive Interesse Finnlands am Zustande-kommen der Konferenz ist vorwiegend innenpolitisch motiviert; hinzu kommt das besondere Verhältnis zur Sowjetunion. Dabei versuchte die finnische Regierung jedoch, sich auf die Rolle des Vermittlers zu beschränken und verzichtete auf eigene Tagesordnungswünsche. Die Verwirklichung ihrer Angebote machte die Regierung ausschließlich von der Zustimmung aller interessierten Staaten abhängig. Im Januar 1971 bestätigte der finnische Ministerpräsident Athi Karjalainen den konsequenten Standpunkt seines Landes zur KSZE: „Diese Grundsätze vertragen sich gut mit unserem internationalen Image, dessen Festigung wir für wichtig halten. Insgesamt verschaffen sie uns eine angemessene Rolle in der Frage einer Sicherheitskonferenz". Er fügte hinzu, daß „die finnische Regierung nicht die Absicht hat, die Konferenz um jeden Preis, beispielsweise um den Preis eines Scheiterns der Konferenz durchzusetzen. Wir haben aufgrund unserer Neutralitätspolitik gewisse internationale gute Dienste geleistet. Mehr kann man von uns nicht verlangen, und mit weniger können wir uns selbst nicht zufriedengeben".
Österreich hat sich gleichfalls bemüht, die KSZE initiativ voranzutreiben. Dabei versuchte es besonders, in der Frage von Truppenreduzierungen Ost und West einander näherzubringen. Wie das Memorandum vom 21. Juli 1970 zeigt, sieht Österreich in der „gegenseitigen und ausgewogenen Verminderung des Militärpotentials in Europa" die logische Konsequenz eines Gewaltverzichts. Österreich bezog sowohl Elemente der WP-Vorschläge als auch Vorstellungen der NATO in sein KSZE-Konzept mit ein und schlug Wien als Treffpunkt für Expertengespräche vor.
Ein Abbau der Hegemonialstellung der Supermächte mit dem Ziel einer Auflösung der Blöcke steht auch im Vordergrund des jugoslawischen Interesses. Jugoslawien hat als unmittelbarer Anrainer des sowjetischen Einflußbereiches ein besonderes Bedürfnis an sichtbarer Bestätigung seiner Unabhängigkeit und befürwortet eine KSZE nachdrücklich Auch in Schweden, wo ein sachliches Verhältnis zu den osteuropäischen Ländern im Vordergrund der außenpolitischen Bemühungen steht, wird das KSZE-Projekt unterstützt. Die schwedische Haltung gründet sich im wesentlichen auf die positive Einschätzung der NATO-Initiativen. Interessant ist die Entwicklung der Haltung der Schweiz. Nachdem diese zunächst eine mehr abwartende Haltung eingenommen und sich vor allem gegen die Vorstellung gewandt hatte, aus der Sicherheitskonferenz könnte eine „Ersatz-Friedenskonferenz" werden, hat sie in jüngster Zeit die Diskussion mit eigenen Vorschlägen befruchtet. Hierzu gehört vor allem der Gedanke eines europäischen Schiedsgerichts sowie einer europäischen Untersuchungs-, Schlichtungs-und Vermittlungskommission
Auf überraschend viel Gegenliebe stieß das Konferenzprojekt in Spanien. Die Gründe reichen von der Reduzierung von Spannungen im Mittelmeerraum bis zur Erwartung, mittels einer KSZE das außenpolitische Wirkungsfeld zu vergrößern. Im Vordergrund steht dabei das Interesse an verstärkter Zusammenarbeit mit den westeuropäischen Staaten und der Wunsch nach Entwicklung und Ausbau besserer Beziehungen zu Osteuropa Die Republik Irland nimmt dagegen eine eher reservierte Haltung ein, die in der Befürchtung gipfelt, daß sich eine Anerkennung der Unantastbarkeit der Grenzen auf einer KSZE negativ auf das Problem der irischen Teilung auswirken könnte.
Die Haltung der Bundesrepublik
Nachdem die Außenminister der NATO-Staaten auf der Tagung des Ministerrates am 30. und 31. Mai 1972 in Bonn grünes Licht für eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit gegeben hatten, zog Außenminister Walter Scheel positive Bilanz: „Unsere politische Geschlossenheit erlaubt, in die große West-Ost-Entspannungsrunde einzutreten. Sie wird mit der multilateralen Vorbereitung der KSZE beginnen, nachdem das Berlin-Abkommen in den nächsten Tagen in Kraft getreten sein wird", und er fügte noch hinzu: „ . . . wir wollen eine Konferenz, die praktische Ergebnisse zeitigt."
Die Bundesregierung hat damit ihr Interesse und ihre Erwartungen noch einmal bekräftigt, nachdem schon Bundeskanzler Brandt dem sowjetischen Parteichef Breshnjew auf der Krim seine Unterstützung für das Konferenzprojekt zugesagt hatte. Diese Haltung erklärt sich nicht nur aus der Sorge Bonns, kein Störenfried'für europäische Entspannungsbemühungen sein zu wollen, sondern birgt auch die Einsicht, daß eine solche Konferenz den politischen Zielvorstellungen des Westens gute Dienste leisten kann, wenn sie sorgfältig genug vorbereitet wird. Die „begründete Aussicht auf konkrete Ergebnisse in den Sachfra-gen der Sicherheit und Zusammenarbeit" ist eine Grundvoraussetzung in der offiziellen Argumentation. Sie wird ergänzt durch den Hinweis: „Eine Konferenz, deren ausreichende sachliche Ergebnisse nicht durch sorgfältige Vorbereitung gesichert wären, könnte die Ost-West-Beziehungen belasten, statt sie zu fördern."
Die Vorbehalte, die von deutscher Seite geltend gemacht werden, beziehen sich im wesentlichen auf zwei Punkte: Bonn betont, eine KSZE sei keine Ersatz-Friedenskonferenz und sie dürfte den angestrebten Modus vivendi im Verhältnis zur DDR nicht behindern. Die Genesis der bundesrepublikanischen Haltung zu dem Konferenz-Projekt vermittelt in der Retrospektive deshalb aufschlußreiche Aspekte, weil sie zugleich den Wandel in den Beziehungen zu den östlichen Nachbarn dokumentiert und verdeutlicht.
Im Frühjahr 1966 befaßten sich Regierung und Öffentlichkeit in der BRD zum ersten Mal mit dem Konferenzgedanken, der zwar seit langem zum Arsenal politischer Vorschläge gehörte, durch Außenminister Gromyko am 27. Mai 1966 in Rom auf einer Pressekonferenz aber aktualisiert worden war. Zu den angebotenen Gesprächsthemen zählte der Ab-zug ausländischer Truppen, eine kernwaffen-freie Zone in Mitteleuropa und eine friedliche Lösung der deutschen Frage. In einer ersten Stellungnahme lehnte Bundeskanzler Erhard den Vorschlag nicht rundheraus ab, wandte sich jedoch gegen den Versuch, „die USA aus Europa zu verdrängen oder nur noch in kontinentalen Kategorien zu denken" Ähnlich reagierte die Bundesregierung auf den Bukarester Appell des Warschauer Paktes vom l. Juli 1966. Sie verwies auf die Nützlichkeit solcher Gespräche für eine allgemeine Entspannung, betonte jedoch die „übergeordnete Zielsetzung" einer Überwindung der Teilung Europas auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts. Voraussetzung sei auch, daß die Vereinigten Staaten von Anfang an hinzugezogen würden.
Die Bundesregierung verfügte allerdings zu diesem Zeitpunkt noch über keine abgestimmte Position und maß dem sowjetischen Vorschlag vor allem propagandistische Bedeutung bei. Die Neigung zu Entspannungsinitiativen seitens einiger westlicher Partner ließ Bonn jedoch eine flexible Haltung geraten erscheinen. Eine „Ja-Aber-Position" bot so ausreichend Schlupflöcher, um sich veränderten Situationen anpassen zu können. Bei näherer Betrachtung gewinnt man jedoch den Eindruck, daß sowohl bei der Regierung als auch bei der Opposition andere Prioritäten vorherrschten. Die SPD bereitete einen Redneraustausch mit der SED vor, der zwar im Sommer scheiterte, als die politische Führung in Ostberlin Angst vor der eigenen Courage bekam; und die Bundesregierung war ihrerseits bemüht, die Risse zu kitten, die der Rückzug Frankreichs aus der NATO und die Ankündigung einer Verringerung der angloamerikanischen Truppenpräsenz im Bündnis hervorgerufen hatten. Mit der Friedensnote vom März 1966 hatte die Bundesregierung nach außen ihren Entspannungswillen dokumentiert. Gleichzeitig, mehr im Stillen, war sie dabei, über die Errichtung von Handelsmissionen mit einer Reihe von osteuropäischen Staaten amtliche Beziehungen anzuknüpfen. Daneben dominierte die Befürchtung, eine gesamteuropäische Konferenz könnte zur weiteren Erosion der NATO beitragen und darüber hinaus der DDR zu einer internationalen Aufwertung verhelfen.
Im Herbst 1966 präzisierte die Bundesregierung dann ihre Haltung und erklärte, daß die Konferenz mit dem Ziel einberufen werden müsse, die Teilung Deutschlands durch eine gerechte Friedensordnung zu überwinden. Ferner könnte die DDR nicht Teilnehmer einer solchen Staatenkonferenz sein, da sie von der Mehrzahl der europäischen Staaten nicht anerkannt werde. Schließlich unterstrich die Regierung) die Bedeutung der USA für die Sicherheit Europas und forderte die Einbeziehung der Amerikaner in jede Konferenz zur Regelung der europäischen Probleme
Mit der Bildung der Großen Koalition im November/Dezember 1966 veränderten sich einige der strukturellen und konzeptionellen Grundlinien, auf denen die bisherige Einschätzung des ESK-Projektes beruhte. Der außenpolitische Teil der Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 begann denn auch mit dem Bekenntnis zu „einer konsequenten und wirksamen Friedenspolitik, durch die politische Spannungen beseitigt und das Wettrüsten eingedämmt werden" Den Forderungen der FDP-Opposition nach mehr Aktivität in der europäischen Sicherheitspolitik begegnete Herbert Wehner im April 1968 mit der Zusage, daß die Regierung in Abstimmung mit den Allianzpartnern dabei sei, das Konferenz-projekt in ihrem Sinne zu beeinflussen und es für deutsche Interessen nutzbar zu machen Dennoch erschienen zu jenem Zeitpunkt bilaterale Gespräche, z. B. über Gewaltverzicht, erfolgversprechender, zumal die Sowjetunion keine Neigung zeigte, von ihren Maximalforderungen in der Deutschland-und Europapolitik abzugehen.
Erst nach dem Budapester Appell vom März 1969 und dem finnischen Memorandum vom Mai des gleichen Jahres begann in der Bundesrepublik eine ernsthafte Diskussion über die Chancen und Risiken einer Europäischen Sicherheitskonferenz. Der finnische Vorstoß hatte das Projekt im Westen . salonfähig'gemacht und erforderte seitens der Bundesregierung eine konkrete Antwort. Außen-minister Brandt sah in der Budapester Erklärung einen überraschenden, zumindest taktischen Kurswechsel des Warschauer Pakts. Im Gegensatz zu der ultimativen Bukarester Erklärung von 1966 und dem polemik-und ideologiebefrachteten Karlsbader Appell von 1967 zeichnete sich das östliche Schriftstück dadurch aus, daß die altbekannten Maximalforderungen nicht mehr als Vorbedingungen, sondern als Verhandlungsziele deklariert wurden. Damit lag eine akzeptable Diskussionsgrundlage auf dem Tisch. Als Voraussetzungen für die Zustimmung der Bundesregierung nannte Brandt: keine Vorbedingungen, angemessene Vorbereitung, Teilnahme der USA sowie Kanadas und realistische Erfolgsaussichten
Innerhalb des Bundestages erfuhr die östliche Initiative recht unterschiedliche Bewertungen. Unter Bezugnahme auf das negative Ergebnis des Stoph-Kiesinger Briefwechsels und die Schwierigkeiten beim Gewaltverzichtsdialog mit der Sowjetunion schrieb Rainer Barzel im Deutschland-Union-Dienst, es hieße „das Pferd am Schwanz aufzäumen, wenn man ohne ein innerdeutsches Gespräch, ohne Lösung der politischen Fragen, ohne Gewaltverzicht, ohne diplomatische Beziehungen und ohne den Blick auf die Spannungsursachen versucht, unter der Überschrift . Europäisches Sicherheitssystem'den Status quo in Europa festzuschreiben" In der SPD überwog die Auffassung, man solle die Gesprächsbereitschaft des Warschauer Pakts prüfen. Im Gegensatz zur FDP hegten die Sozialdemokraten aber wenig Hoffnung, daß die Konferenz eine Handhabe bieten könnte, um etwa Friedensvertragsverhandlungen für Deutschland einzuleiten. Unter dem Eindruck des Wahlkampfes spitzte sich im Sommer 1969 die Kontroverse zwischen den beiden Koalitionspartnern über das Konferenzprojekt noch weiter zu und zwang die Regierung zu einer dilatorischen Behandlung desselben. Besonders deutlich wurde dies bei der Formulierung der deutschen Antwort auf das finnische Memorandum, die sich durch einen hohen Grad an Unverbindlichkeit auszeichnet
Für Gegner wie für Befürworter einer Sicherheitskonferenz stellte sich vor allem das Problem einer Teilnahme der DDR. In einer Rede zum Hamburger Überseetag im Mai 1969 sprach Brandt dies an: „Schon um keine unliebsamen Überraschungen zu erleben, erscheint es mir dringend erforderlich, daß wir durch nichtdiskriminierende, gleichberechtigte Verhandlungen zwischen Bonn und Ostberlin eine Klärung des Verhältnisses zwischen den beiden deutschen Teilen erreichen. Sonst würde eine Europäische Sicherheitskonferenz zusätzlich zu anderen Belastungen durch eine übersteigerte Vorführung deutscher Querelen von ihren eigentlichen Aufgaben abgelenkt werden." Aus seiner Sicht stellte sich jedoch nicht nur die Aufgabe, nach einer akzeptablen Regelung für eine Teilnahme der DDR — jenseits vom , Katzentisch'— zu suchen, sondern vielmehr auch die Frage, ob das Konferenzprojekt als Instrument benutzt werden könnte, um die deutsche Frage im Vorfeld der Konferenz einer Lösung näher zu bringen.
Die von Außenminister Brandt in der gleichen Rede gebrauchte Formel von der „sorgfältigen Vorbereitung" erlaubte der Bundesregierung ein aktives Eintreten für das Konferenz-projekt und gewährleistete zugleich ein hohes Maß an Kontrollierbarkeit des zur Konferenz führenden Prozesses. Hinzu kamen Bemühungen, die NATO-Partner zu einer Abstimmung ihrer Position zu veranlassen, damit der Westen nicht unvorbereitet in eine Konferenz hineinschlidderte, deren Verhandlungsziele fundamentale Interessen der Bundesrepublik berührten.
Allmählich fanden neben Prozedurfragen auch konzeptionelle Elemente Eingang in die Behandlung des Konferenzprojekts. Nach Meinung der Bundesregierung konnte eine Konferenz nur sinnvoll sein, wenn in ihrem Rahmen über die ordnungs-und sicherheitspolitischen Probleme Mitteleuropas ausdrücklich verhandelt würde. Diese Zielorientierung gebot, einer Konferenz entgegenzu-wirken, die lediglich allgemeinen Entspannungswillen zum Ausdruck brächte und als Nebenwirkung die von der Sowjetunion gewünschte Bestätigung des territorialen und politischen Status quo hätte. Vor allem sah die Bundesregierung in dem seit einiger Zeit von der NATO diskutierten Vorschlag einer beiderseitigen ausgewogenen Truppenreduzierung eine Möglichkeit, das militärische Gleichgewicht auf einem niedrigeren Niveau mit geringeren Kosten und Risiken aufrechtzuerhalten. Sie setzte sich in der Folge mit Nachdruck dafür ein, diesen Vorschlag in den Kontext einer KSZE einzubeziehen. Ein weiterer Kernpunkt der Überlegungen war die Reduzierung der politischen, physischen und rechtlichen Interventionsmöglichkeiten in Europa mittels eines Gewaltverzichts. Das Hauptproblem hierbei war jedoch, daß ein multilaterales Gewaltverzichtskonzept die bilateralen Ausgleichsbemühungen der Bundesrepublik mit den osteuropäischen Staaten abblocken könnte. Gerade diese bilaterale Gewaltverzichtspolitik sollte aber verhindern, daß die deutsche Frage zum Zankapfel einer KSZE würde, indem bereits vor Zusammentritt der Konferenz ein Modus vivendi für möglichst viele der offenen europäischen Probleme gesucht würde.
Die Rahmenbedingungen der bisherigen KSZE-Politik erfuhren nach der Bildung der sozialliberalen Koalition im Herbst 1969 einige Veränderungen. Die Anerkennung der Nachkriegsrealitäten in Europa erweiterte den Spielraum der Bundesrepublik gegenüber den östlichen Nachbarn und ermöglichte ihr auch ein flexibleres Aufgreifen des Konferenzprojekts. Die Einschätzung der mutmaßlichen sowjetischen Absichten änderte sich hierbei zwar nicht wesentlich, jedoch wurde das Interesse Moskaus an einem verstärktem wirtschaftlichen Austausch mit dem Westen und an Spannungsminderung in Europa angesichts der Entwicklung in Asien mit in das politische Kalkül einbezogen.
Im Sommer 1970 verschob sich der Stellenwert, den die Bundesregierung einer KSZE in ihrer außenpolitischen Rangskala beimaß, weiter in Richtung auf deren aktive Unterstützung. In Punkt 10 des Bahr-Papiers wurde vermerkt, daß sie alles von ihr Abhängende für die Vorbereitung und erfolgreiche Durchführung einer KSZE tun werde. Die Sowjetunion hatte mit dem Abschluß des Moskauer Vertrags die Anerkennung des territorialen Status quo erreicht, und die Bundesrepublik konnte ihrerseits davon ausgehen, daß sie auf einer Sicherheitskonferenz nicht vorrangig in die Ecke eines potentiellen Aggressors gedrängt würde. Der Befürchtung einer Rangaufwertung der DDR auf einer Ost-West-Konferenz wurde mit dem Argument begegnet, daß die Teilnahme allein noch keine völkerrechtliche Anerkennung zu implizieren brauchte. Im Hinblick auf eine innerdeutsche Regelung waren eine Reihe westlicher Staaten — nach den ergebnislosen Begegnungen von Erfurt und Kassel — jedoch nicht mehr bereit, Bonn ein aufschiebendes Vetorecht gegen multilaterale Verhandlungen einzuräumen. Daß Konferenzprojekt schien damit als Instrument der Deutschlandpolitik an Wirksamkeit verloren zu haben.
Die Bundesregierung gab zwar ihre Absicht nicht auf, im Vorfeld der Konferenz die Beziehungen zur DDR zu regeln, nährte jedoch gleichzeitig die Hoffnung, daß eine erfolgreiche KSZE die Bemühungen um einen Modus vivendi befruchten könnte. Sie war sich aber auch darüber klar, daß nur das westliche Bündnis gemeinsam in dieser Hinsicht Einfluß ausüben könnte. So gesehen war ihre KSZE-Politik auch Bündnispolitik. Dies wird besonders deutlich in dem Bemühen der Bundesrepublik, auf keinen Fall eine Schwächung des NATO-Bündnisses und eine Lockerung der Beziehungen zu den USA zu riskieren. Dasselbe galt auf dem wirtschaftlichen Sektor in bezug auf die Weiterentwicklung der westeuropäischen Integration. Eine KSZE sollte die Wirtschaftsunion und die gemeinsame Handelspolitik nicht gefährden. Nur die enge Abstimmung mit den Partnern im Westen konnte daher nach Ansicht der Bundesregierung unliebsame Erosionsprozesse verhindern. Diese multilateralen Synchronisationsversuche wurden in jeder Phase durch bilaterale Kontakte auf unterschiedliche Ebenen mit einer Vielzahl von Staaten in Ost und West ergänzt Die-ser rege Gedankenaustausch war ein Ausdruck der Normalität des diplomatischen Verkehrs der Bundesrepublik und brachte zum Ausdruck, daß das Konferenzobjekt ein wichtiges Thema deutscher Außenpolitik war, jedoch eines unter mehreren anderen: der Sicherung Westberlins, des Ausgleichs mit der DDR und den Staaten Osteuropas, der Erweiterung der Europäischen Gemeinschaften sowie der Stärkung des westlichen Bündnisses, mit denen es eng verknüpft war.
Vor allem als Vehikel der Deutschlandpolitik hatte das KSZE-Projekt für die Bundesregierung Bedeutung. Die Priorität der bilateralen Gewaltverzichtsverhandlungen mit Moskau und Warschau war dadurch betont worden, daß die Aufnahme multilateraler Kontakte an Fortschritte auf bilaterale Ebene gebunden wurde. Diese Formel erbrachte einen Zeitgewinn und erleichterte überdies innerhalb der westlichen Allianz die Suche nach einem gemeinsamen Nenner bezüglich der Haltung zur KSZE. Das von der Bundesregierung aufgestellte Junktim zwischen Berlin-Regelung und Ratifizierung der Ostverträge wurde durch die Bedingung der NATO ergänzt, daß erst nach dem erfolgreichen Abschluß der BerlinVerhandlungen multilaterale Gespräche über eine Europäische Sicherheitskonferenz aufgenommen würden. Berlin wurde damit zur Trumpfkarte in der Hand der Vier Mächte, sowohl für die deutsche Ostpolitik, als auch für ein Zustandekommen der Sicherheitskonferenz. Mit der Unterzeichnung des Berlin-Abkommens am 3. September 1971 wurde dann eine entscheidende Hürde auf dem Weg nach Helsinki beseitigt.
Neben dieser direkten Konsequenz trug das Abkommen gleichzeitig zu einer Zunahme des Vertrauens zwischen Ost und West bei. „Tatsächlich könnte sich als bedeutsamer Aspekt des Viermächte-Abkommens sehr wohl der Umstand herausstellen, daß künftig keine der beiden Seiten mehr in der Lage sein dürfte, Zielvorstellungen hinsichtlich der Berliner Entwicklung zu hegen, die geeignet wären, gegenseitige Furchtkomplexe zu schaffen oder zu verstärken, sei es nun die Idee des westlichen Brückenkopfes in der alten deutschen Hauptstadt als Instrument zur Wiedervereinigung Deutschlands zu westlichen Bedingungen, sei es die entgegengesetzte Zielvorstellung der Beseitigung der westlichen Enklave durch Frontalangriff oder Salami’-Taktik" Am 19. Mai 1972 passierten schließlich die Ostverträge mühsam den Deutschen Bundestag. Das Junktim hatte seinen Zweck erfüllt, und die Bundesregierung konnte sich weiter darauf konzentrieren, das Interesse der Sowjetunion und der anderen osteuropäischen Staaten an der KSZE nutzbar zu machen. Fortschritte in den Beziehungen beider deutscher Staaten zueinander sollten zum Gradmesser für die Erfolgsaussichten der Sicherheitskonferenz gemacht werden. Damit wurde die Absicht verbunden, die internationale Aufwertung der DDR auf einer KSZE dadurch zu unterlaufen, daß zuvor die mit der Freigabe der Anerkennung durch Drittstaaten verknüpfte befriedigende Regelung der Beziehungen erfolgt sein sollte. Lange war ungewiß, ob diese Rechnung aufgehen würde. Vielleicht stärker beflügelt durch den Termin der Bundestagswahlen am 19. November als dem Beginn der multilateralen Vorbereitungsrunde für eine KSZE vier Tage später, wurde schließlich auch der Grundvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten noch termingerecht paraphiert.
Probleme des Gewaltverzichts
„In den Beziehungen zwischen den Staaten in Europa darf Gewalt weder angewandt noch angedroht werden. Alle strittigen Fragen zwischen ihnen müssen ausschließlich mit friedlich politischen Mitteln auf dem Weg von Verhandlungen entsprechend den Grundprinzipien des Völkerrechts so gelöst werden, daß die legitimen Interessen, der Frieden und die Sicherheit der Völker nichtbedroht werden." Dies ist der Wortlaut der Prager Deklaration, mit dem die Mitglieder des Warschauer Vertrags Anfang 1972 erneut die Bedeutung eines multilateralen Gewaltverzichts als hervorra-genden Verhandlungsgegenstand betonten. Ein Jahr nach dem Einmarsch in die Tschechoslowakei war dieser Appell bereits auf der Budapester Konferenz formuliert worden und hatte neben nachdenklicher Skepsis auch lautstarke Befürchtungen im Westen ausgelöst, zumal nichts darauf hindeutete, daß Breshnjews Doktrin von der begrenzten Souveränität damit hinfällig geworden wäre. „Die volle Tragweite der Idee des Gewaltverzichts zeigte sich ... anläßlich der militärischen Okkupation der Tschechoslowakei im August 1968, die die allgemeine Aufmerksamkeit darauf lenkte, daß die Unterbindung oder zumindest Reduzierung der politischen, physischen und rechtlichen Möglichkeiten einer Intervention eines der entscheidenden Probleme einer künftigen friedlichen Ordnung in Europa darstellt. Der Gewaltverzicht erschien danach als eine Definition der politischen Qualität, die Beziehungen zwischen den europäischen Staaten haben sollten." Die Einsicht in diese Problematik und das hieraus resultierende Verhandlungsziel bestimmte die Haltung der NATO-Staaten und ihre Absicht, der Breshnjew-Doktrin die Grundlage zu entziehen. Die Vorschläge reichten von der Forderung nach Widerruf dieser Doktrin, die vor allem von amerikanischer Seite erhoben wurde, bis zur Aufstellung eines Kodex zwischenstaatlichen Verhaltens, wie ihn die Briten vorschlugen.
Im Bündnis setzten sich diejenigen Staaten durch, die wie die Bundesrepublik, das Problem der Breshnjew-Doktrin durch die Formulierung von Grundsätzen zwischenstaatlichen Verhaltens zu lösen suchten. Orientierungspunkte waren die anerkannten Regeln des Völkerrechts, insbesondere die Bestimmungen der UN-Charta. Das Ziel war ein möglichst einheitliches Verständnis dieser Grundsätze, auf dessen Basis langfristig die Entwicklung eines Systems der friedlichen Streitregelung im Verkehr zwischen Ost und West eingeleitet werden sollte. Diese Grundsätze sollten in einer Erklärung oder einem Abkommen zwischen den Teilnehmern einer KSZE ihren Niederschlag finden. Die Bundesregierung, die dazu Anfang 1972 einen Entwurf vorlegte, gab einer allgemeinen Erklärung den Vorzug, durch die zum einen die Vorbehaltsrechte der Vier Mächte nicht berührt würden, und die zum anderen innenpolitisch neutral war und keine emotionsbefrachtete Ratifizierungsdebatte erforderte. Nach dem Wunsch der Bundesregierung sollte die Deklaration verpflichtende Aussagen enthalten über das Recht der europäischen Völker, ihr eigenes Schicksal frei von äußerem Zwang zu gestalten. In ihren gegenseitigen Beziehungen sollten sie sich von den Grundsätzen „souveräner Gleichberechtigung, politischer Unabhängigkeit und territorialer Unversehrtheit jedes europäischen Staates" leiten lassen. Damit verbunden wurde die Forderung nach „Nichteinmischung und Nichteingreifen in die inneren Angelegenheiten eines Staates, unabhängig von seinem politischen oder sozialen System"
Diese Haltung der Bundesregierung gewinnt noch aus einem anderen Blickwinkel an Konturen. Unterstellt man dem östlichen Vorschlag eines multilateralen Gewaltverzichts die Absicht, damit die völkerrechtliche Anerkennung des territorialen Status quo in Europa einschließlich der internationalen Anerkennung der DDR herbeizuführen zu wollen, waren Bedenken von Seiten der Bundesrepublik gewiß nicht unbegründet. Zu dem vorrangigen Interesse, die offenen Fragen im Verhältnis zu den osteuropäischen Staaten und der DDR auf dem Wege bilateraler Verhandlungen zu regeln, gesellte sich die Besorgnis, auf einer KSZE über eben diese Fragen von einer schwachen, wenn nicht gar isolierten Position aus verhandeln zu müssen. Die Verträge von Moskau und Warschau verringerten zwar diese Befürchtungen, aber es war bis zum Beginn der Vorgespräche in Helsinki ungewiß, ob es der Bundesregierung gelingen würde, die Konferenz solange hinauszuzögern, bis die Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Staaten über einen Grund-vertrag erfolgreich abgeschlossen sein würden. Die NATO-Kommuniques beschränkten sich daher auf die Formulierung, daß „Fortschritte in den Gesprächen zwischen den deutschen Staaten über einen modus vivendi, der die besonderen Gegebenheiten in Deutschland berücksichtigt, einen wichtigen Beitrag zur Entspannung in Europa darstellen würden" Im Gegensatz zur Berlin-Frage war die Mehrzahl der Verbündeten nicht bereit, der Bundesregierung ein suspensives Veto einzuräumen.
Ein weiterer neuralgischer Punkt, den die osteuropäischen Staaten mit Sicherheit im Zusammenhang mit dem Gewaltverzicht anschneiden würden, war die Frage einer Grenzklausel. Die Bundesrepublik konnte sich zwar auf den Standpunkt stellen, daß sie nach Abschluß der Verträge mit Moskau und Warschau sowie einer möglichen Vereinbarung mit Prag keine Grenzprobleme mehr habe. Sie lief jedoch durch eine multilaterale Bestätigung der Grenzen in Europa Gefahr, die in den Verträgen ausgesprochenen Friedensvertragsvorbehalte zu schwächen und den politischen und juristischen Gehalt der Vier-Mächte-Verantwortung für Deutschland als Ganzes und Berlin auszuhöhlen. Es lag daher im Bestreben der Bundesregierung, mit einem Gewaltverzicht keine Bindungen einzugehen, die geeignet wären, ihre Politik des Modus vivendi zu beeinträchtigen und einen Friedensvertrag überflüssig werden zu lassen. Dasselbe Problem gilt auch für einen multilateralen Freundschaftspakt. Will die Bundesregierung an ihrem Friedensvertragsvorbehalt festhalten, muß sie alle Festlegungen zu vermeiden suchen, die über den akzeptierten Inhalt der Ostverträge und des Grundvertrages hinausgehen. Es ist in der Tat nicht einfach, auf der einen Seite die Sowjetunion auf vereinbarte Grundsätze zwischenstaatlichen Verhaltens zu verpflichten, und auf der anderen Seite eine multilaterale Bindung vermeiden zu wollen. Die Auflösung dieses Widerspruchs ähnelt der Quadratur des Zirkels.
Sicherheitskonferenz und Truppenreduzierung
Auf einer Europäischen Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sollte nach Meinung der westlichen Bündnispartner auch über Sicherheitsfragen gesprochen werden. Eine besondere Bedeutung kam in diesem Zusammenhang dem Projekt beiderseitiger, ausgewogener Truppenverminderung (MBFR — Mutual Balanced Force Reductions) zu. Im Rahmen der NATO waren seit Mitte der sechziger Jahre — seit dem sogenannten „Harmel-Bericht" — Modelle und Vorschläge entwickelt worden, die auf eine Reduzierung des Streitkräfteniveaus in Zentraleuropa abzielten. Erstmals hatte das Bündnis auf der Tagung des NATO-Rates im Juni 1968 den Staaten des Warschauer Paktes Verhandlungen über einen Streitkräfteabbau vorgeschlagen Das „Signal von Reykjavik" war von der NATO auf ihrer Tagung im Mai 1970 in Rom wiederholt worden. In dem vom Ministerrat verabschiedeten Kommunique wurden dabei vier Kriterien für eine Herabsetzung der Truppenstärken genannt: keine Beeinträchtigung der Sicherheit; Gegenseitigkeit und Ausgewogenheit von Reduzierungen; Einbeziehung von Stationierungs-und einheimischen Streitkräften sowie ihrer Waffensysteme; ferner Verifizierung und Kontrolle
Die Warschauer-Pakt-Staaten gingen auf die Vorschläge der NATO nur insoweit ein, als sie in dem Budapester Memorandum vom Juni 1970 feststellten, die Frage von Truppenreduzierungen könnte in einem von der Sicherheitskonferenz zu bildenden Organ oder im Rahmen eines anderen annehmbaren Verfahrens behandelt werden, diese Zusage jedoch auf „ausländische Streitkräfte auf dem Territorium europäischer Staaten" beschränkten Die osteuropäischen Verbündeten ließen ferner keinen Zweifel daran, daß sie der Einberufung einer Europäischen Sicherheitskonferenz Priorität vor Verhandlungen über eine Truppenreduzierung zumaßen. An dieser Haltung änderte sich auch in der Folge wenig. Die sowjetische Regierung modifizierte ihre Haltung im nächsten Jahr jedoch dahingehend, daß sie sich grundsätzlich bereit erklärte, über eine Reduzierung der Streitkräfte und Rüstungen in Mitteleuropa — einschließlich der einheimischen Streitkräfte — zu sprechen. Besonderes Aufsehen erregte in diesem Zusammenhang eine Rede von Generalsekretär Breshnjew im Mai 1971 in Tiflis, in der dieser die sowjetische Position präzisierte
Die Rede Breshnjews in Tiflis, am Vorabend der Abstimmung im amerikanischen Senat über eine Resolution von Senator Mansfield, in welcher die Regierung der USA zu einer Verminderung ihrer in Ubersee stationierten Truppen aufgefordert werden sollte, sowie kurz vor der Tagung des NATO-Ministerrates in Lissabon, beleuchtete die unterschiedlichen Interessenlagen von Ost und West in der Frage von Truppenreduzierungen. Das sowjetische Interesse, wie es auch schon früher in entsprechenden Abrüstungsvorschlägen zum Ausdruck gekommen war, richtete sich langfristig auf eine Reduzierung der amerikanischen Präsenz in Europa. Diesem Ziel sollte, vor allem über langfristige strukturelle Änderungen, die geplante Europäische Sicherheitskonferenz dienen. Durch innenpolitischen Druck ausgelöste einseitige amerikanische Reduzierungen bargen jedoch aus Moskauer Sicht die Gefahr in sich, korrigierende Schritte der westlichen Verbündeten auszulösen oder aber das von vornherein nicht große Interesse Washingtons an dem Konferenzprojekt noch weiter zu verringern. Die sowjetische Politik benutzte daher die Aussicht auf Gespräche über eine beiderseitige Truppenreduzierung als ein Lockmittel, um die USA an den Verhandlungstisch zu bringen.
Aus westlicher Sicht besaß der Vorschlag für beiderseitige, ausgewogene Truppenreduzierungen den Vorzug, daß er ein konkretes Verhandlungsthema bot, das dem vagen Vorschlag einer europäischen Sicherheitskonferenz entgegensetzt werden konnte und an dem alle Verbündeten — mit Ausnahme Frankreichs — gleichermaßen interessiert waren.
Besondere Bedeutung maß die Bundesrepublik dem MBFR-Projekt bei. Drei Gründe veranlaßten sie dazu, dieses in der Folge durch eigene Vorschläge voranzutreiben: Aus der Sicht Bonns stellten Schritte in Richtung auf eine beiderseitige Truppenreduzierung eine Möglichkeit dar, sowohl einseitige Rückzüge der Verbündeten zu verhindern bzw. ihre destabilisierenden Wirkungen aufzufangen, als sie sich auch als Entspannungsmaßnahme im Rahmen der westdeutschen Ostpolitik operationalisieren ließen. Schließlich weckten sie die Hoffnung, innenpolitisch immer schwerer zu rechtfertigende Haushaltsmittel statt für militärische Zwecke für Sozialinvestitionen ausgeben zu können.
1 Vorerst diente dem Bündnis, insbesondere der Bundesregierung, der MBFR-Vorschlag dazu, dem sowjetischen Drängen nach dem raschen Zusammentritt einer Europäischen Sicherheitskonferenz den Wind aus den Segeln zu nehmen. Das änderte sich jedoch im Sommer 1971, nachdem Moskau seine Bereitschaft zu Gesprächen über eine Truppenreduzierung zu erkennen gegeben hatte. Innen-und bündnispolitische Gründe wirkten zusammen, um Washington zur Aufgabe seiner Zurückhaltung gegenüber multilateralen Verhandlungen zu veranlassen. Gleichzeitig erleichterten Fortschritte in den mit Priorität betriebenen amerikanisch-sowjetischen SALT-Verhandlungen den USA ein flexibleres Agieren im europäischen Kontext. Auf der Tagung des NATO-Rates im Juni 1971 in Lissabon deuteten die Minister an, daß nach einem erfolgreichen Abschluß der Vier-Mächte-Verhandlungen über Berlin auch der Weg für eine Europäische Sicherheitskonferenz frei sei. Gleichzeitig betonten sie ihr Interesse an einer Intensivierung der Sondierungen über beiderseitige Truppenreduzierungen. Im Herbst benannten die NATO-Staaten den ehemaligen NATO-Generalsekretär Brosio als ihren Beauftragten, der die Haltung der Sowjetunion sowie anderer interessierter Regierungen in dieser Frage erkunden sollte. Es bleibt offen, ob die Sowjetunion aus Abneigung gegen Block-zu-Block-Verhandlungen, angesichts des Fehlens einer abgestimmten Verhandlungsposition im Osten, oder mit der Absicht, ihrerseits das MBFR-Projekt auf die lange Bank zu schieben, dieses Gesprächangebot ausschlug.
In dem Maße, wie sich konkrete Verhandlungsmöglichkeiten über eine Truppenverminderung in Ost und West abzeichneten, wandelte sich auch die inhaltliche und prozedurale Behandlung des MBFR-Projektes. Es hatte sich gezeigt, daß umfassende Reduzierungsmodelle entweder darauf hinausliefen, die Sicherheit des Westens zu gefährden, oder aber nicht verhandelbar waren. Auf der Grundlage einiger von der Bundesregierung in die NATO-Diskussionen eingebrachter Vorschläge ging das Bündnis dazu über, sich auf die Entwicklung von unterschiedlich kombinierbaren Elementen für eine Truppenreduzierung zu konzentrieren. Diese sahen neben bzw. vor Reduzierungsschritten vertrauensbildende Maßnahmen, z. B. eine Vorausbenachrichtigung von Truppenbewegungen, den Austausch von Manöverbeobachtern und Bewegungsbeschränkungen vor. Dieses bewegliche Vorgehen erleichterte es den Verbündeten auch, Verfahrensvorschläge zu akzeptieren, bei denen einige der vorgeschlagenen Maßnahmen auf einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit, andere wiederum in einem speziellen MBFR-Verhandlungsgremium diskutiert werden konnten.
Innerhalb des Westens ebenso wie beim Austausch von Signalen zwischen Ost und West blieb die Frage lange offen, in welcher Weise beide Projekte miteinander verbunden werden sollten. Während der Westen zunächst davon ausgegangen war, daß Truppenreduzierungen ein hervorragendes Thema für eine Sicherheitskonferenz sein würden, war von den Staaten des Warschauer Paktes zu hören gewesen, die Frage der Truppenreduzierung sei zu kompliziert, als daß sie mit einiger Aussicht auf Erfolg auf dieser Konferenz erörtert werden könnte. Auch unter dem Eindruck der Abneigung der USA, über die Truppenfrage in einem sehr heterogenen multilateralen Gremium zu diskutieren, wurde die alte, ursprünglich von der Bundesrepublik geprägte Formel „KSZE ohne MBFR: nein; MBFR ohne KSZE: ja" fallen gelassen und durch das flexiblere „KSZE und MBFR getrennt, aber gleichzeitig" ersetzt. Auf der Bonner NATO-Tagung im Mai 1972 sprach der amerikanische Außenminister Rogers von einem „Parallelismus der Verhandlungen" Die NATO-Partner einigten sich denn auch darauf, daß zwar einige Aspekte der europäischen Sicherheit auch auf der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit angesprochen werden sollten, die äußerst komplizierten Fragen einer Truppenreduzierung aber gesondert und im kleineren Kreis der betroffenen Staaten er-örtert werden sollten. Die Aufnahme von Verhandlungen darüber sollte jedoch in einem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit einer KSZE stehen. Bilateral, vor allem in den Gesprächen, die der amerikanische Sonderbeauftragte Kissinger im Sommer 1972 in Moskau führte, wurde vereinbart, daß parallel zu der Vorkonferenz in Helsinki multilaterale Vorgespräche über eine Truppenverminderung in Genf stattfinden sollten. Diese Gespräche, an denen auf westlicher Seite die USA, Kanada, die BRD, Großbritannien, die Niederlande und Belgien teilnehmen würden, sollten im Januar 1973 aufgenommen werden
Die Konfrontation des östlichen Konferenzvorschlages mit den vom Westen vorgebrachten Gedanken beiderseitiger Truppenverminderung hatte durchaus ambivalente Wirkungen. Zwar war der westlichen Absicht kein Erfolg beschieden, entweder die Konferenz mit sicherheitspolitischer Substanz anzureichern oder aber sie zu verhindern. Dennoch wirkte das MBFR-Projekt als eine Art Katalysator, um die unterschiedlichem Positionen innerhalb des Westens als auch zwischen Ost und West in der Frage der Aufnahme von multilateralen Verhandlungen über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.
Gesamteuropäische Zusammenarbeit, wirtschaftliche Kooperation und westeuropäische Integration
Ein Schwerpunkt der geplanten europäischen Konferenz, die neben den Fragen der Sicherheit vor allem die Möglichkeiten für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Ost und West ausloten soll, wird zweifellos auf dem wirtschaftlichen Sektor liegen. Die Sowjetunion und ihre Verbündeten bekundeten erneut in der Prager Deklaration vom 26. Januar 1972 ihr Interesse an breiter Entfaltung vielfältiger und gegenseitig vorteilhafter Beziehungen auf wirtschaftlichem und wissenschaftlich-technischem Gebiet: „Die Zusammenarbeit bei der rationellen Nutzung der Rohstoff-und Energieressourcen Europas, bei der Erhöhung des Industriepotentials, der Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit sowie bei der Anwendung der Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution wird es gestatten, die Möglichkeiten zur Hebung des Wohlstandes der europäischen Völker zu vervielfachen."
Dieser aufmunternde Appell wurde ergänzt durch den Hinweis, daß solche Bemühungen dazu beitragen sollen, künstliche Barrieren und Ungleichheiten zwischen den europäischen Staaten abzubauen. Trotz der verbindlichen Formulierung ist gerade dieser Hinweis Indiz für die handfesten Vorbehalte der Sowjetunion gegen die westeuropäische Integrationspolitik, wie sie sich vor allem in den Europäischen Gemeinschaften manifestiert, und die den Sowjets von jeher ein Dorn im Auge ist. Die langjährige Weigerung der meisten osteuropäischen Staaten, die Faktizität der EWG anzuerkennen, und die gegen diese geführte publizistische Kampagne, die erst wäh-rend der Ratifizierungsdebatte über die Ost-verträge im Deutschen Bundestag aufgegeben wurde, ließen den Eindruck entstehen, daß die Sowjetunion in einer KSZE ein Mittel sah, um die wirtschaftliche Integration des Westens zu torpedieren oder zumindest mit der Verlockung eines verstärkten Osthandels zu imitieren.
Die Befürchtungen im Westen und die Erkenntnis, daß die Angriffe gegen die Europäische Gemeinschaften sinnvolle Verhandlungen über eine wirtschaftliche Zusammenarbeit nur unnötig belasten, veranlaßten die Sowjetunion inzwischen zu einer Korrektur ihres Standpunktes. Am 20. März 1972 erklärte Generalsekretär Breshnjew: „Die Sowjetunion ignoriert keineswegs die in Westeuropa entstandene Lage, darunter auch die Existenz einer solchen ökonomischen Gruppierung der kapitalistischen Länder wie den . Gemeinsamen Markt'." Die alten Vorbehalte sind durch diese Äußerung zwar nicht weggewischt, genausowenig wie die sowjetische Hoffnung völlig geschwunden ist, interne Rivalitäten zwischen den EWG-Partnern auszunutzen. Sie ist jedoch geeignet, die kommenden Gespräche zu erleichtern. Theodor Schweisfurth umschreibt diesen Positionswandel so: „Es hat allen Anschein, daß die Sowjetunion auf der KSZE die westeuropäischen Staaten nicht ernsthaft vor die Wahl stellen wird, entweder gesamteuropäische Zusammenarbeit oder westeuropäische Integration zu treiben. .. . Die Sowjetunion wird sich vielmehr mit der westeuropäischen Integration abfinden, um gesamteuropäische Zusammenarbeit möglich zu machen."
Die Mitglieder des Gemeinsamen Marktes und der NATO waren ihrerseits ständig bestrebt, keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, daß die auch von ihnen befürwortete multilaterale Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Bereich keinesfalls eine Alternative zu den Europäischen Gemeinschaften darstellen könnte. Die Bundesregierung setzte sich sogar nachhaltig dafür ein, die Europäischen Gemeinschaften an den Konferenzvorbereitungen zu beteiligen. Seit Ende 1970 fanden über das Konferenzprojekt rege Konsultationen, vor al-lern im Rahmen der Außenministerkonferenzen und im Davignon-Ausschuß statt. Probleme für eine verstärkte Zusammenarbeit wurden vor allem in den unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Systemen der Staaten Ost-und Westeuropas gesehen. Nach Auffassung der westlichen Partner könnte eine Zusammenarbeit durch Konvertierbarkeit der osteuropäischen Währungen, der Herstellung unmittelbarer Kontakte zwischen Herstellern und Verbrauchern in Ost und West, verbesserte Schiedsgerichtsbarkeit, ein größeres Maß an gegenseitiger Information, Angleichung der Normen und besseres Marketing für osteuropäische Waren im Westen wesentlich gefördert werden. Die EWG-Länder waren sich in ihrer Mehrheit jedoch der Tatsache bewußt, daß sie auf einer gesamteuropäischen Konferenz den osteuropäischen Staaten auf ihren Interessengebieten — Einfuhrliberalisierung, Gewährung staatlicher Kredite, Ausnahmen von der Agrarmarktordnung — nur sehr begrenzt entgegenkommen konnten. Dagegen sahen sie größere Möglichkeiten im Bereich der industriellen und technologischen Kooperation.
In einem Vortrag über „Stand und Aussichten des Osthandels" vertrat Außenminister Scheel im Mai 1972 die Auffassung, daß Gespräche über Zusammenarbeit auf einer KSZE dann sinnvoll seien, wenn sie den verschiedenen Wirtschaftsstrukturen Rechnung tragen, die wechselseitige Aktivierung von Kontakten begünstigen und somit solide Grundlagen für einen breiteren Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen schaffen. Darüber hinaus könnte sich ein intensiverer Grad wirtschaftlicher Zusammenarbeit langfristig als friedenssichernder Faktor auswirkten und eine belebende Wirkung auf die Reformdiskussion im osteuropäischen Wirtschaftsbereich ausüben. Diese hohen Erwartungen, die von östlicher wie von westlicher Seite mit einer Erweiterung der wirtschaftlichen Kooperation verbunden werden, erfordern unter Berücksichtigung der systemimmanenten begrenzten Möglichkeiten bereits in der Vorbereitungsphase der KSZE die sorgfältige Entwicklung realistischer Vorschläge. Diese analytische Kleinarbeit ist notwendig, um den vielfältigen Interessen einen wirklickeitsnahen Rahmen zu geben.
Freizügigkeit für Personen, Informationen und Ideen
Es gibt kaum eine offizielle Stellungnahme seitens des Westens, in der nicht größere Freizügigkeit als Verhandlungsgegenstand einer KSZE genannt wird. In der Bundesrepublik wird dieses Thema mit besonderer Aufmerksamkeit diskutiert, zumal multilaterale Gespräche über eine größere Bewegungsfreiheit zwischen Ost und West ein direktes Pendant zu den Verhandlungen über menschliche Erleichterungen mit der DDR darstellen. Die Befürworter der Konferenz suchen nach verbindlichen Formulierungen, um der Sowjetunion diesen Tagesordnungspunkt schmackhaft zu machen, und die Skeptiker wollen gerade in dieser Frage die sowjetische Entspannungsbereitschaft bestätigt oder geleugnet sehen. Dabei ist wohl zu berücksichtigen, daß den Forderungen nach verstärktem Austausch von Informationen und Meinungen und nach Reiseerleichterungen im Osten und im Westen ein recht unterschiedliches Verständnis zugrunde liegt.
Der Freizügigkeitskatalog, der im Westen allenthalben aufgestellt wird, ist sehr umfangreich. In den Bereich des Personenverkehrs fallen Erleichterungen für Familienzusammenführungen, Heiraten mit westlichen Ausländern, Ausstellung von Auswanderungsvisa für Bürger der sozialistischen Länder und für den touristischen Reiseverkehr. Eine größere Freizügigkeit für Informationen und Ideen bedeutet aus westlicher Sicht nicht nur einen verstärkten Austausch von Zeitungen, Rundfunk-programmen und Büchern, sondern auch die freiere Betätigung von Journalisten und mehr Kontaktmöglichkeiten, z. B. für Hochschullehrer und Studenten. Dieses Verständnis von Freizügigkeit ist weiter gefaßt als etwa die Vorstellung, daß sich Kulturaustausch auf die Entsendung von Delegationen und Symphonieorchestern beschränken kann. Es ist abzusehen, daß diese Einzelpunkte nicht auf spontane sowjetische Gegenliebe stoßen werden und deshalb behutsam angegangen werden müssen. Fortschritte auf diesem Gebiet werden im wesentlichen davon abhängen, welcher Grad an Liberalisierung von der Sowjetunion für vertretbar angesehen wird. Andererseits stößt die von den Osteuropäern gewünschte Aufhebung des Visazwangs in den meisten westlichen Ländern aus Gründen der inneren Sicherheit auf Widerstand. Ebenso würde die von den USA erhobene Forderung nach Einstellung der Störung von Rundfunk-sendungen ohne Zweifel mit der Gegenforderung nach Abbau amerikanischer Sender in der BRD beantwortet werden.
Die Bundesrepublik, die ursprünglich die Absicht verfolgte, Elemente des Kasseler 20-Punkte-Programms in die multilaterale Diskussion um Freizügigkeit auf einer KSZE einzubringen, hat inzwischen ihre Haltung geändert. Seit sich im Dialog mit der DDR Fragen der Bewegungsfreiheit als verhandelbar erwiesen, ist der bilaterale Modus vivendi als Kennzeichen der besonderen Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten vor einer Europäisierung des Grundsatzes der Freizügigkeit in den Vordergrund gerückt. Im Zusammenhang mit der Negotiabilität dieses Problembereiches wird ein wesentliches Dilemma der Position des Westens deutlich. Das erklärte Ziel einer sicherheitspolitischen Stabilisierung einerseits und einer Dynamisierung der Ost-West-Beziehungen im Sinne einer Überwindung des politischen — nicht territorialen — Status quo andererseits beinhaltet einen offensichtlichen Widerspruch: ebenso wie die bisherige Stabilisierungspolitik der NATO zur Verfestigung des Status quo geführt hat, zeigte die Intervention des War-schauer Paktes in der CSSR überdeutlich die Grenzen einer Liberalisierungsstrategie.
Umweltschutz
Die Anregung der NATO-Staaten, auch Fragen des Umweltschutzes in die Tagesordnung einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit einzubeziehen ist inzwischen von den Mitgliedern des Warschauer Pakts aufgenommen worden. Nach ihrer Auffassung gehört zur Entwicklung gegenseitiger vorteilhafter Beziehungen in verschiedenen Bereichen auch eine breit angelegte Kooperation auf dem Umweltsektor Auch die Erörterung dieses Themas, das sich weltweiter Popularität erfreut, wird nicht problemlos vonstatten gehen, da vor allem die Interessen der großen Industrienationen direkt tangiert werden. Angesichts der allgemein anerkannten Notwendigkeit, weltweite Schutzmaßnahmen einzuleiten, verspricht dieses Thema aber vielleicht am ehesten erfolgreiche Verhandlungen. Die „Stockholmer Konferenz der Vereinten Nationen über die Umwelt des Menschen vom 5. bis 16. Juni 1972" hat auf diesem Gebiet vorbereitende Arbeit geleistet und verschiedene Resolutionen verabschiedet Sie bietet damit ausreichend Bezugspunkte auch für eine KSZE. Sie gibt vor allem die Chance .der Beteiligung der War-schauer-Pakt-Staaten, die mit Ausnahme Rumäniens der Stockholmer Konferenz aus Protest gegen die Nichtzulassung der DDR fernblieben. Zum anderen ist der Umweltsektor jenes Gebiet, auf dem sich vor allem regionale Lösungen anbieten.
Themenkatalog, Prozedurfragen und Probleme der Vorbereitung
Die Vorbereitung einer KSZE soll — darüber bestehen kaum Meinungsverschiedenheiten — sorgfältig und nicht übereilt vonstatten gehen. Es ist bereits heute abzusehen, daß sich dem Auftakt in Helsinki zu multilateralen Gesprächen eine langwierige Periode zähen Verhandelns anschließt. Der am 22. November in Helsinki eröffnete „Salon der Botschafter" hat die Aufgabe, eine Tagesordnung aufzustellen, über Abstimmungsmodi zu befinden, Vorschläge zur Konferenzart zu erarbeiten und die Verhandlungsgegenstände zu bestimmen. Jede Entscheidung zu diesen Einzelpunkten wird mittelbar oder unmittelbar einen bestimmenden Einfluß auf den Verlauf und die Ergebnisse der Konferenz selbst ausüben und erfordert deshalb Vorausschau und diplomatisches Feingefühl. Die Einsicht, daß eine Festlegung von Abstimmungsmodi gleichzeitig das Kräfteverhältnis bestimmt und daß die Auswahl der Themen ebenfalls eine Aussage über die potentiellen Ergebnisse darstellt, nötigt jedem Konferenzteilnehmer besondere Bemühungen um eine günstige Ausgangsposition ab. Die Änderungen und Umformulierungen der Vorschläge des Warschauer Pakts und die langwierigen Bemühungen der NATO, eine gemeinsame Haltung zu entwikkein, gaben bereits im Vorfeld der eigentlichen Konferenzvorbereitungen einen Eindruck von den für die Vorkonferenz zu erwartenden Schwierigkeiten.
Der Ministerrat der NATO befaßte sich im Dezember 1971 in Brüssel mit vier Themenbereichen für eine KSZE:
1. Sicherheitsfragen einschließlich der Grundsätze für zwischenstaatliche Beziehungen und bestimmte militärische Aspekte der Sicherheit;
2. Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Ideen sowie kulturelle Beziehungen;
3. Zusammenarbeit in der Wirtschaft, der angewandten Wissenschaft und Technologie sowie der reinen Wissenschaft;
4. Zusammenarbeit zur Verbesserung des Umweltschutzes
Bei der Formulierung dieser Themen haften die Minister versucht, ihre eigenen Zielvorstellungen mit solchen Elementen zu kombinieren, die ein besonderes Interesse der osteuropäischen Staaten vermuten ließen. Uber die offiziellen Erklärungen des War-schauer Paktes hinaus hatten zahlreiche bilaterale Gespräche sowie diverse Entwürfe und Diskussionspapiere dazu beigetragen, die verschiedenen Auffassungen und Standpunkte zu kommunizieren. Auch der deutsch-sowjetische und der deutsch-polnische Vertrag sowie die anläßlich des Besuches von Parteisekretär Breshnjew in Paris vereinbarten Grundsätze französisch-sowjetischer Zusammenarbeit und die amerikanisch-sowjetische Erklärung vom Mai 1972 gestatten einen Ausblick auf Argumentation und Interessenlage der östlichen Seite. Zunächst hatten sich die Staaten des Warschauer Paktes darauf beschränkt, einen Gewaltverzicht und die Verbesserung der wirtschaftlich-technologischen Kooperation als Verhandlungsthemen zu nennen Auf ihrer Konferenz in Prag im Januar 1972 legten sie nun auch ihrerseits einen Katalog von Grundprinzipien vor, über die auf einer KSZE Übereinstimmung erzielt werden sollte: 1. Unverletzbarkeit der Grenzen;
2. Gewaltverzicht;
3. Friedliche Koexistenz;
4. Grundlagen gutnachbarlicher Beziehungen und Zusammenarbeit im Interesse des Friedens: Unabhängigkeit und nationale Souveränität, Gleichberechtigung, Nicht-einmischung in die inneren Angelegenheiten; 5. Gegenseitige vorteilhafte Beziehungen zwischen den Staaten auf wirtschaftlichem, wissenschaftlich-technischem und kulturellem Gebiet, sowie beim Tourismus und Umweltschutz;
6. Abrüstung;
7. Unterstützung der UNO
In einem gesonderten Teil der Prager Erklärung wurde die Bereitschaft erklärt, eine Vereinbarung über die Reduzierung der Streitkräfte und Rüstungen in Europa, und zwar der ausländischen wie der einheimischen, abzuschließen. Es wurde keine Verbindung zur Sicherheitskonferenz hergestellt, jedoch erklärt, daß diese Frage nicht Gegenstand von Block-zu-Block-Verhandlungen sein könnte.
Die formale Übereinstimmung vieler Themen, die von der NATO und dem Warschauer Pakt vorgeschlagen wurden, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß hinter den Chiffren unterschiedliche politische Ziele stehen. Die vorbereitenden Gespräche in Helsinki haben aus diesem Grund die Aufgabe, die politische Bandbreite der Begriffe abzustecken und Divergenzen in ihrem Verständnis zu klären.
Ein weiterer Punkt, der die Missionschefs in Helsinki beschäftigen wird, ist die Festlegung auf einen bestimmten Konferenztyp. Hier zeigen die in den vergangenen Jahren entwikkelten unterschiedlichen Vorstellungen, daß bereits mit der Auswahl eines Konferenzmodells spezifische Erwartungen bezüglich der Bedeutung, der Wirkung, und der erhofften Ergebnisse verbunden werden, wobei das eine jeweils zu Lasten des andern gehen kann.
Im Kleiderschrank der Konferenzmodelle, die die internationale Diplomatie entwickelt hat, hängen nicht nur zeitlose Maßanzüge, die je nach Bedarf ausgesucht werden können. Es gilt vielmehr den Bedürfnissen und dem Geschmack der Zeit Rechnung zu tragen, ohne dabei zu vergessen, daß sich modische Eleganz mit guter Paßform verbinden muß, wenn . ihre Träger Freude an dem neuen Stück haben sollen.
Seitens des Warschauer Pakts hatte man wohl zunächst an eine große, einmalige Konferenz ähnlich der Locarno-Konferenz gedacht. Ihre Wirkung wäre vor allem propagandistischer Natur gewesen, wie die Beschwörung eines neuen Geistes der Entspannung in Analogie zu dem „Geist von Genf" oder dem „Geist von Camp David", dem jedoch Berlin-Ultimatum und Kuba-Krise folgten. Im Westen bevorzugte man zunächst eher eine ständige Konferenz, vergleichbar mit der Genfer Abrüstungskonferenz, die als Kontaktorgan und Instrument europäischer Krisönmanagements dienen sollte. Die NATO-Partner tendieren jedoch dazu, sich nicht auf eine bestimmte Form festzulegen, bevor nicht Inhalt und Ziel der Konferenz konkretere Gestalt angenommen hätten.
Die größten Chancen werden gegenwärtig dem französischen Plan eingeräumt, der drei Phasen umfaßt: Außenministerkonferenz — Kommissionsrunde — Abschlußtreffen der Außenminister der Regierungschefs. KSZE auch „Die sollte nicht als ein punktuelles Geschehen, sondern als der Auftakt zur Einleitung von Ent35 Wicklungsprozessen gesehen werden." Das bedeutet, daß entsprechend dem Verlauf und den Vereinbarungen der Konferenz, Fragen einer Institutionalisierung zur Diskussion stehen werden. „Man könnte sich vorstellen, daß einige der technischen Regierungskommissionen, die im Konferenzverlauf eingesetzt werden, .. . ihre Arbeit mit einem zeitlich und thematisch begrenzten Mandat eine Weile fortsetzen." Es ist zum heutigen Zeitpunkt noch verfrüht, Aussagen darüber machen zu wollen, welche Formen gefunden werden können. In östlichen Vorschlägen wurde mehrfach die Bildung eines neuen „Organs" angesprochen, während im Westen eher daran gedacht wird, bereits bestehende Institutionen — wie z. B. die Economic Commission for Europe (ECE) — mit zusätzlichen Aufgaben zu betrauen. Die Entwicklung von Organisationsmodellen und die Entscheidung über die Verwirklichung wird der eigentlichen Konferenz Vorbehalten bleiben und nicht bereits während der Vorbereitung zur Erörterung stehen.
Besonderen Anteil am Zustandekommen der Vorgespräche in Helsinki hat die finnische Regierung gehabt. Ihre Vorschläge trugen wesentlich zur Überwindung der gegensätzlichen Einschätzung des Konferenzprojekts bei. In besonderer Weise gilt dies für das finnische Aide-memoire vom 24. November 1970 das seitens der NATO als „vereinbarte Grundlage der multilateralen Vorgespräche betrachtet wird. In diesem werden folgende Grundsätze postuliert:
Perspektiven der Konferenz
Die teils hoffnungsvoll, teils ängstlich geäußerte Vermutung, daß auf einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa der Grundstein für ein neues europäisches System gelegt würde, welches die bestehenden Bündnissysteme ablösen könnte, wird kurz-1. Teilnahme aller betroffenen Staaten 2. Garantierter Erfolg der Konferenz durch sorgfältige Vorbereitung 3. Das Erzielen eines Konsensus in Substanz-fragen, der gemeinsame Anstrengungen für die Sicherheit in Europa ermöglicht 4. Keine völkerrechtliche Anerkennung der bestehenden politischen Verhältnisse in Europa 5. Multilaterales Treffen in Helsinki auf der Ebene der Missionschefs 6. Unverbindliche Teilnahme an den Konsultationen
7. Intensivierung des Austausches relevanter Informationen, die es den Regierungen gestattet, ihre Haltung über die Möglichkeiten der Einberufung einer KSZE zu definieren fristig kaum Bestätigung finden. Der Zwang zur Abstimmung der Standpunkte und Interessen hinsichtlich des Konferenzprojektes hat in den vergangenen Jahren zu verstärkten Konsolidierungsbemühungen innerhalb der Allianzen geführt. Es bleibt abzuwarten, ob es den Neutralen und anderen interessierten Ländern wie Frankreich und Rumänien gelingen wird, alternative Positionen anzubieten bzw. Vermittlerdienste zu leisten.
Die Bundesregierung hat häufig und unmißverständlich auf die Notwendigkeit einer engen Konsultation der NATO-Partner hinge-wiesen. Diese Suche nach Rückendeckung galt auch für die Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel, die durch bilaterale Kontakte die Aufnahme multilateraler Gespräche erleichtert hat. Hinzu kommt das besondere Interesse der Bundesrepublik, die amerikanische Präsenz in Europa zu sichern und neoisolationistischen Tendenzen in den USA entgegenzuwirken. Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß das amerikanische Engagement in Europa in gleichem Maße einen Funktionswandel erfährt, wie neue Vereinbarungen der USA mit der Sowjetunion zustande kommen. „Die Atlantische Allianz wird in ihrer wesentlichen Funktion, als Rahmen für die militärische Zusammenarbeit, in künftigen Verhandlungen mit der Sowjetunion abzusichern sein. Die Sicherheit Westeuropas wird in Europa mehr an der amerikanischen Verhandlungspolitik als an den tatsächlichen militärischen Möglichkeiten der westlichen Schutzmacht abgelesen werden." Im übrigen bedeutet Präsident Nixons Ankündigung einer . Überprüfung der atlantischen Beziehungen'mehr als das bloße Bedürfnis nach stärkerem Lastenausgleich für die Kosten der amerikanischen Truppenpräsenz in Westeuropa.
Ein weiterer wichtiger Faktor für die Zukunft der westlichen Allianz ist die „potentielle institutionelle Konkurrenz zwischen Allianz und Europäischer Gemeinschaft (EG), auch wenn bisher zu einem gewissen Grad eine Komplementarität überwog, die sowohl in bezug auf Themen (Sicherheit hier, Zusammenarbeit dort) wie auf Beteiligung (EG ohne Vereinigte Staaten, Allianz weitgehend ohne Frankreich) wünschenswert war. Je stärker jedoch politische Strukturfragen in den Vordergrund einer multilateralisierten Ost-West-Diplomatie rücken, um so stärker kann dieser institutioneile Dualismus werden" Die Tragfähigkeit der Solidaritätsbekenntnisse der NATO wird bereits auf der KSZE eine Prüfung erfahren. Auch wenn die Vorstellungen über ein zukünftiges europäisches Sicherheitssystem oder eine europäische Friedensordnung noch keine konkretere Gestalt angenommen haben, sollte die Furcht vor Erosionsgefahren jedoch nicht die Möglichkeiten nützlicher Verhandlungen verdecken.
Die Konferenz kann zu einem vielseitigen Kontaktforum für bi-und multilaterale Kooperation in den Bereichen Wirtschaft, Technologie, Kultur und Umweltschutz werden. Dies setzt zunächst das sorgfältige Ausloten der realen Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit voraus und erfordert die Berücksichtigung der bestehenden Institutionen wie der Europäischen Gemeinschaften oder des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe sowie eine Anpassung derselben an veränderte Bedingungen. In Verhandlungen über Grundsätze zwischenstaatlicher Beziehungen wird sich die Frage stellen, ob nur politische Absichtserklärungen abgegeben werden sollen oder ob völkerrechtlich verbindliche Übereinkünfte, orientiert an der Charta der Vereinten Nationen, erreichbar sind. Vorausgehen muß eine Klärung von Begriffen wie Selbstbestimmung, Nichteinmischung oder Souveränität, die auf unterschiedlichen Wertvorstellungen beruhen. Dasselbe gilt für die Frage der Freizügigkeit zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung. Die Kooperationsbereitschaft beider Seiten kann hierbei zum Gradmesser ihrer Entspannungswilligkeit werden. Es wäre jedoch unrealistisch, von der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit schnelle und konkrete Ergebnisse in allen angesprochenen Sachfragen fordern zu wollen. Dies gilt gleichermaßen für die Gespräche über einen ausgewogenen Truppenabbau (MBFR). Im Januar 1973 werden — gleichzeitig zu der in Genf stattfindenden zweiten SALT-Runde — in der Schweiz Vertreter der europäischen Stationierungsmächte sowie der zentraleuropäischen Staaten zusammenkommen, um Verhandlungen über eine Stabilisierung und mögliche Reduzierung des militärischen Gleichgewichts in Europa vorzubereiten.
Eine europäische Friedensordnung oder ein kollektives Sicherheitssystem für Europa mit z. B. einer übergeordneten Schiedsgerichtsbarkeit und vereinbarten Sanktionsmöglichkeiten ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt höchstens ein Denkmodell, jedoch kein kurzfristig zu verwirklichendes Ziel. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, daß gerade von Seiten der nichtgebundenen Staaten oder denjenigen an der Peripherie der Bündnissysteme auf der KSZE interessante Anregungen ausgehen werden.
Damit die Ansprüche, die mit einer KSZE verknüpft. sind, durch ernsthafte Erfolgsaussichten gerechtfertigt werden, darf sich die Kon37 ferenz nicht mit dem Niveau eines unverbindlichen Meinungsaustausches bescheiden. Vertrauensbildende Maßnahmen, die über den rein atmosphärischen Bereich hinausgehen, können richtungsweisend werden für langfristige Prozesse, die allmählich die kooperativen Strukturen in Europa verstärken würden. Valentin M. Falin bemerkte unlängst mit eleganter Nüchternheit zur Frage der Koexistenz von Staaten: „Heute gibt es im Grunde drei Möglichkeiten: gegeneinander, nebeneinander oder miteinander. Es ist klar, daß es beinahe unmöglich geworden ist, nach den Rezepten der Vergangenheit gegeneinander zu wirken. Nebeneinander zu leben ist schon ein Fortschritt im Vergleich mit der ersten Möglichkeit. Aber auch dies ist vom Standpunkt der Erfordernisse unserer Zeit noch viel zu wenig. Miteinander — das ist eine optimale Variante, aber wahrscheinlich noch einstweilen zu gut, um Wirklichkeit zu sein."