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Olympische Nachlese -ein politisches Feuilleton | APuZ 52/1972 | bpb.de

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APuZ 52/1972 Vom Unbehagen in der Kulturpolitik Frag-würdigkeiten, Bedenk-lichkeiten, neue Perspektiven Olympische Nachlese -ein politisches Feuilleton

Olympische Nachlese -ein politisches Feuilleton

Oskar Splett

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das politische Feuilleton ist in zeitgenössischen Periodika selten zu Gast, da es sich von vornherein im Widerspruch zur Rationalität der Politik empfindet: seine Autoren neigen dazu, sich als Nachfolger der Hofnarren zu sehen. Dennoch ist der Autor der Meinung, daß während der Olympischen Spiele auch das Publikum zumeist unwillkürlich einen Ausdrude und ein Bewußtsein für bestimmte politisch-gesellschaftliche Vorstellungen gefunden hat, die man mit dem Begriff „Lebensqualität" zu bezeichnen pflegt. Das Eindringen des Politischen in die Spiele — die Boykottdrohung afrikanischer Staaten, die wahlkampfartige Selbstdarstellung von Politikern und zuletzt die Morde arabischer Terroristen — hat die olympische Bevölkerung mit größerer Kraft bewältigt, als die Politiker und die Mehrheit der „Offiziellen". Sie reagierte im ersten Fall mit Parteinahme, im zweiten Fall mit Distanz, im dritten mit einer eindrucksvollen Verwandlung der harmlosen Heiterkeit der ersten Tage in eine dunkler getönte tragische Heiterkeit nach dem Ereignis. Eine Ursache des Mißverständnisses zwischen den „Offiziellen" und dem Publikum besteht offenbar in dem Gegensatz von abstrakt-begrifflichem und bildhaftem Denken, dem — neben anderem — die Unterschiede zwischen theoretischen und existentiellen Themen in der politischen Auseinandersetzung entsprechen. Zwar meinen nicht wenige Politiker, es sei nur eine Frage der Ausbildung und der Bildungsmöglichkeiten für alle, damit ihre Spiache allgemein verstanden werde. Viele denken, der Ballast der in die Sprache und damit in das Denken und Empfinden eingewachsenen Bilder werde in einem historischen Fortschritt zugunsten der abstrakteren Begriffe abgestoßen, bis die Rational-sprache zur Gemeinsprache geworden sei. Ist es aber so sicher, daß die Entwicklung der politischen Verständigung diesen Lauf nimmt? Wäre es nicht möglich, daß in der Bevölkerung der Wandel im unmittelbaren Übergang von der überlieferten Sprache der Bilder zu einer neuen bildhaften Sprache erfolgt?

Ein Feuilleton zu schreiben —• das bedeutet, in lockerer Folge Bilder und gedankliche Assoziationen aneinanderzureihen. Von dem kritischen Kommentar, dem Tagungsbericht oder der Denkschrift unterscheidet sich das Feuilleton, weil es der Systematik logischer Schlüsse entbehrt, vielmehr von Gedanken zu Gedanken, von Bild zu Bild hinüberwechseln darf, ohne die Folgerichtigkeit der Überlegungen zu schmälern. (Logik ist nur einer unter vielen möglichen Wegen der Folgerichtigkeit!)

Das politische Feuilleton befindet sich somit von vorneherein im Widerspruch zur Rational-politik der verantwortlichen Zeitgenossen, die in ihm bestenfalls eine Sammlung „schöner Gedanken" finden, die nach ihrer Meinung immer haarscharf an den Realitäten vorbeitreffen. Deshalb Ist das politische Feuilleton in den zeitgenössischen Periodika selten zu Gast, und seine Autoren neigen dazu, sich als Nachfolger der Hofnarren zu sehen. Aber wie auch immer: vielleicht ist es bei der Darstellung einiger olympischer Impressionen auf den folgenden Seiten gelungen, den kurzfristigen und einmaligen Ausdruck der Sehnsucht und Zufriedenheit einer Bevölkerung einzufangen, die sonst über ihre Vorstellungen von Politik und „Lebensqualität" zu schweigen pflegt. Während der XX. Olympischen Spiele haben viele Zeitgenossen anscheinend unwillkürlich ein Bewußtsein von der gegenwärtigen Lebenswirklichkeit und von einer notwendigen Veränderung erhalten, die sich von dem verwissenschaftlichten und materialisierten Leben abwendet.

Erstes Bild: Die Tage der Heiterkeit

Es waren heitere Spiele programmiert worden, aber die Skepsis der rundum wohnenden Bevölkerung war trotzdem nicht zu überwältigen. Satire, Witz, dröhnendes Gelächter auf der einen, das Granteln, Frotzeln und den Sarkasmus der Kabaretts auf der anderen Seite kannte jeder aus den vergangenen Jahrzehnten der Bundesrepublik. Aber Heiterkeit schien einer jener Werbeslogans zwischen der „superweißen Sauberkeit" und der „Lebensqualität" zu sein, welche die Wirklichkeiten des persönlichen und sozialen Lebens, die aus Licht und Schatten tragisch gemischt sind, mit einem schönen Schein zu übertünchen trachten. Heiterkeit ergab die Assoziationen von Unbefangenheit, Eintracht und Friedfertigkeit, die so oft beschworen, aber so selten vorgelebt werden. Heiterkeit schien sogar mit Schönheit und somit mit der altmodischen „heilen Welt" etwas zu tun zu haben.

Eine nicht geringe Zahl der Münchner Einwohner ergriff deshalb die Flucht in den Urlaub oder faßte den Entschluß zur „inneren" Emigration in der Stadt, mit dem Kompromiß, gelegentlich in die Fernsehübertragungen „hineinzuspitzen". Nach der Übertragung der Eröffnungsfeier war die Lage völlig verändert: die heiteren Spiele waren Wirklichkeit geworden, ein in der Bundesrepublik in das Märchen versetzter Zustand wurde Ereignis. Aus Ausländern, zugereisten Deutschen und Münchenern bildete sich in einem überraschend schnellen Mischprozeß die olympische Bevölkerung auf Zeit, die eine einmalige kollektive Erscheinung wurde.

Mehr noch: Als Zusammenfassung der Harmonie von Architektur, Landschaft und menschlichem Betragen stellte sich sogar das schon fast verschollene Wort „Urbanität" ein: es hatte sich eine Menge gebildet — es fand keine Massenveranstaltung statt.

Woher rührte nun aber dieser Einbruch vor Heiterkeit, die sich im einzelnen nur mit der altmodischen Worten Frohsinn, Freundlichkeit Gelassenheit ausführlicher beschreiben läßt!

Den Anlaß zur Heiterkeit gab die Gestaltung des Olympiageländes. Sehr im Gegensatz zi den neuen Bauten in den nach dem Kriegt wiederhergestellten Großstädten und in dei neuen Industriebezirken der Mittelstädt zeigte nur die Boxhalle die markanten rechte: Winkel der Funktionsbauten. Funktion ist be uns heute aber angewandter Rationalismus die gerade Linie und der rechte Winkel sin ihr nicht nur dienlich, sondern bilden auch de ihr gemäßen Ausdruck. Egon Eiermann hat des halb einmal gesagt, es sei für ihn völli gleichgültig, ob er eine Kirche oder eine Fabrik baue. Alle anderen Hallen und Tribünen bis hinaus zur Basketballhalle oder zur großen Zuschauertribüne in Riem sind durch geschwungene Kurven, ovale oder Kreisrundungen charakterisiert, die wohl nicht immer das Funktionieren erleichtern, aber Spaziergängern und Teilnehmern gefallen. So entsteht ein architektonisches Bild, ein Zusammenhang von Bauten, in dem die Rationalität eine dienende Funktion hat. Die Ratio hat Wissenschaft, Kritik und Satire, aber niemals ein beschwingtes Lebensgefühl hervorgebracht, das die rhythmische Grundlage der Heiterkeit bildet. Es gab sogar Aufbauten, die keinem Zweck dienten, sondern den Schwung des vielumstrittenen Daches lediglich augenfällig fortsetzten. Die Schwingungen der Bauformen sprangen hinunter in die geschwungenen Spuren des Wegenetzes und hinüber zu den in einer anderen Dimension geschwungenen Konturen der Geländeerhebungen. Wie der japanische Garten eine Nachbildung kleinen Maßstabes der großen Natur ist, so bildet das Olympiagelände die bayerische Voralpenlandschaft in einer kleineren Form nach, eine Landschaft also ohne klobige Konturen und hart aneinander stoßende Grundfarben, deren schönen Schein und föhniges Zittern die Romantiker Kobell und Dillis am besten in Pastell-und Aquarelltönen eingefangen haben. Es fehlten also die grellen Farben: die Fahnengruppen wiederholten, besonders wenn sie das Zitronengelb und Ocker neben Lichtblau, Hellgrün und Weiß eingereiht hatten, die Farbigkeit der weiteren Umgebung in einer verdichteten Mischung von Frühlings-und Herbsttönen im engeren Bezirk des weiträumigen Sportgeländes. Die letzte Besonderheit lag in der Vielfalt der Bäume, die nicht nur dem süddeutschen Raum entstammten und ebenfalls einen Gegensatz zu den sonst üblichen und ausgerichteten Monopflanzungen der Großstadt-gärtnereien bildeten. Die Symmetrie, die regelmäßige Wiederholung des Gleichen, wurde durch Rhythmus, durch die unregelmäßige Anordnung des Ähnlichen ersetzt.

Was im Außenbezirk durch neue Bauformen und Gestaltung der Natur als Kleinmuster einer modernen Kulturlandschaft geschaffen wurde, fand in der neugeordneten Innenstadt Münchens mit Hilfe vielfältiger Brunnen und Plätze zwischen alten Bauten seine Entsprechung. Beides wirkte auf Fremde und Einheimische wie eine unbewußte Erlösung, die sich in Heiterkeit ausdrückte. Das Ineinander-schwingen von Natur und künstlichen Gebilden in neuer Form, die Zutraulichkeit zwischen Überlieferung und Moderne, für welche der Brunnen vor dem Münchener Dom vielleicht das fugenloseste Beispiel der fruchtbaren, auf die dritte Dimension ausgedehnten Spannung ist, erzeugte den Eindruck der sonst in den Konfrontationen des Alltages vermißten Harmonie. Die Auswirkung fand sich in der Friedfertigkeit und dem freundlichen Kontakt der Menschen, auch zwischen sehr Alten und sehr Jungen. Nirgends auf den Tribünen war ein mißtrauisches oder aggressives Gegeneinander zu bemerken. Die Heiterkeit teilten die zugelassenen Zuschauer mit den anderen ohne Eintrittskarten, die auf dem Olympiagelände und in der Fußgängerzone der Innenstadt mit ihren Stühlen, Standerl und Baumgruppen nun nach vergessener Art „lustwandelten". Auf einmal veränderten die Menschen ihr Verhalten und ihre Bewegungen. Sie hatten Zeit und hatten vergessen, daß Zeit für Materialisten Geld bedeutet. Nach dem Kriege sagte mir ein in München eingesessener, damals aber aus Unbehagen an den Tegernsee ausgewichener Universitätsprofessor angesichts derselben Neuhauser Straße, die heute den Freiraum für Fußgänger bildet: „So ging man dort früher nichtI" Er meinte die hastende Eile und wollte die menschliche, soziale und demographische Veränderung seiner Stadt mit diesem einen Satz charakterisieren. Heute geht man auf derselben Straße wieder so — schlendernd, von einer Seite auf die andere wechselnd, kurz gesagt: rhythmisch, dem momentanen Einfall folgend und gelassen, und die Menschen aus dem Oberland fahren hinein, um sich das anzuschauen. Gerade an diesem Punkt kann man der Heiterkeit noch tiefer auf den Grund sehen. Dem Wiederaufbau unserer Städte hat die Arbeitsgemeinschaft von Männern und Frauen in der Planung gefehlt. Die Rationalität der Stadtbaumeister hat einseitig die Grundrisse und Konturen ihrer wiedererstehenden Erscheinungen bestimmt, denen alle ungeraden Schwingungen fehlen. Schwingung und Stimmung sind nicht nur ähnlich lautende Worte, sondern auch besonders leicht aufeinander einwirkende Zustände. Wir hatten wohl vergessen, daß in unserer Sprache die Stadt wie auch die Natur weiblich sind. Der nun auf einmal sichtbar werdende Einklang von männlichen und weiblichen Strukturen schuf aus dem Humus der Harmonie die besondere Heiterkeit. Für die noch zu planenden Satellitenstädte und für die Grundlagen der Kommunalpolitik ist deshalb ein Vorbild gegeben.

Aber auch die Langeweile hatte ihren Anteil an der Heiterkeit. Heute finden manche Journalisten Parteitage langweilig, wenn auf ihnen die verbalen Fanfarenstöße zugunsten gründlicher Sachreferate ausbleiben, erscheinen Pausen des Schweigens in den Massenmedien ebenso langweilig wie alle leisen Vorgänge friedlicher Entwicklungen. Langweilig finden auch deutsche Touristen jene außereuropäischen Landschaften, die nicht nach Art des raschen Filmschnitts einer Wochenschau ihre Ansichten und Perspektiven spätestens nach zehn Kilometern verändern. Langeweile ist in der veröffentlichten Meinung ein wertloser Zustand des Daseins. In München herrschte aber in den meisten Stunden — von den Minuten der Hochspannung bei Endentscheidungen abgesehen —-Langeweile. Wir müssen erst wieder erfahren, daß Langeweile eine neutrale Zeitspanne ist, deren Qualität davon abhängt, ob sie mit Freude oder mit Leere, mit Gerede oder Gespräch, mit freiwilliger oder auferlegter Tätigkeit gefüllt wird. Die Langeweile der Arbeit am laufenden Band ist unvergleichbar mit der Langeweile auf dem Olympiagelände, die voller Vergnügen war. Und das Gespenst der Langeweile, das über der zunehmenden Freizeit hängt, verschwindet bei produktivem Tun oder Meditation, kehrt aber mit dem Dösen ins Leere und mit der Ausübung schematischer Tätigkeiten zurück.

Den Brennpunkt der Zusammenkunft und den anderen Pol bildeten die Leistungen, die bei den Wettkämpfen hervortraten. Zwar gab es einige, deren Aufmerksamkeit nur den potentiellen und tatsächlichen Medaillengewinnern galt und die Sportler vom vierten Platz abwärts nicht mehr beachteten. Ihr Verhalten war nur die individuelle Folgerung aus der allgemeinen Tatsache, daß wir weniger in einer Leistungsgesellschaft als in einer Erfolgs-gesellschaft leben. Die Mehrheit der olympischen Bevölkerung bekannte sich aber zum Beifall für jede klare, mühsam errungene Leistung. Sie fand die 70jährige Engländerin, die an der Dressurprüfung teilnahm, den 67-jährigen Australier, der einen der vorderen Plätze in der Military-Vielseitigkeitsprüfung belegte, ebenso als angenehme Leitbilder wie sie sich über deutsche Erfolge freute. Leistung beruht auf persönlicher Disziplin neben dem angeborenen Talent. Die Disziplin wurde sogar gelegentlich zum Maßstab des Urteils und zur Richtschnur des eigenen Verhaltens. Jede undisziplinierte Unart, gleichgültig ob von amerikanischen Leichtathleten oder pakistanischen Hockeyspielern vollbracht, verfiel dem Verdikt dieses Publikums.

Jedenfalls kann jetzt nicht mehr zweifelhaft sein, wie die psychosomatischen Krankheiten der Großstadtbevölkerung zu heilen sind, und was in Deutschland von der Bevölkerung unter Lebensqualität verstanden wird: Sie zielt auf das Gleichgewicht von anstrengender Leistung und fruchtbarer Langeweile, auf den Einklang von Natur und Architektur, auf die maßvolle Gleichzeitigkeit von materiellem Einkommen und Freude und auf das friedliche Auskommen mit einer sozialen Umwelt in einer Ordnung ohne aufgeputschte Konfrontationen. Die Absage an jede Beherrschung des Lebens durch Rationalismus und Materialismus war ebenso sichtbar wie die Ablehnung einer totalen Organisation des sozialen Lebens. Es wird kaum nur eine Eigenart der olympischen Bevölkerung gewesen sein, daß sie diese Tage wie ein Fest der persönlichen Befreiung vom beruflichen und politischen Alltag empfand, als sie die seelisch-geistige Klimaveränderung erlebte und rundum in Anlagen und Bauten verkörpert fand. Wer ernsthaft Friedenspolitik gestalten will, muß offensichtlich Lebenspolitik nach diesen Leitbildern der Bevölkerung machen und diese in deren Art ansprechen. Auf die Frage der Sprache werden wir noch zurückkommen. Hier soll nur ein Beispiel vorweggenommen werden, das zugleich zeigt, wie Heiterkeit im Kleinen erzeugt wurde. In der Gestaltung der olympischen Einrichtungen wurden die Einzelheiten ebenso wichtig genommen wie die großen Umrisse. Wer zum Beispiel zur Tribüne des Riemer Reitstadions hinaufging, fand sich von einem in lustiger Unregelmäßigkeit und wechselnder Farbgebung zusammengefügten Staketenzaun auf beiden Seiten des Weges geleitet. Es war ein heiterstimmender Anblick.

Unternehmer, Funktionäre und Politiker fügen gerne in ihre Darlegungen den Satz ein: „Der Teufel steckt bekanntlich im Detail!" Einmal abgesehen davon, daß diese Sprecher „ganz privat" oft genug die Existenz eines Gottes und seines leibhaftigen Widerpartes bestreiten — von jeher ist nachweisbar, daß das Geheimnis des Gelingens jeder großen Gestaltung, vom Dombau bis zur Staatskunst, vom Schmuckstück bis zur Organisation, im Detail versteckt liegt. Das Detail des Staates ist nun aber kein Ding, sondern der einzelne Staatsbürger. Gewiß steckt in ihm nicht der Teufel. Logiker der Politik wissen aber offenbar zuwenig von der Schnelligkeit und dem Tiefgang der Assoziationen, die die Mehrheit ihres Volkes — trotz der Anwendung logischer Methoden im Arbeitsprozeß — bevorzugen. Das Denken und Urteilen der Mehrheit aller Menschen beB wegt sich von der Anschauung verschiedener Einzelheiten zur Grundauffassung und nicht auf dem umgekehrten Wege von der Theorie zur Praxis. Das Sichtbare wird deshalb meist für den einzelnen unbewußt zum lebendigen Gleichnis. Daß auf dem Olympiagelände die Kleinigkeiten aufmerksam behandelt und lustig gestaltet wurden, war ein solches Gleichnis, ein Bild menschlicher Ordnung, das die Heiterkeit steigerte.

Zweites Bild: Die politische Einmischung

In den äußeren Verlauf der Olympischen Spiele — man kann auch sagen, in das heitere Leben der olympischen Bevölkerung — sind politische Absichten in mehrfacher Weise hineingetragen worden. Jedesmal sind Dissonanzen entstanden, wie sie beim engen Aneinander-rücken nicht zueinander passender Akkorde hörbar werden.

Da war zunächst die ultimative Revisionsforderung der Organisation für Afrikanische Einheit und des getrennt, aber im Einverständnis mit ihr handelnden Obersten Afrikanischen Sportrates. Sie beruhte auf vorgeplanten Täuschungen des Internationalen Olympischen Komitees. In diesem Zusammenhang werden wir uns erinnern müssen, daß die einseitige Aufkündigung feierlicher Vereinbarungen zu den Gewohnheiten der zwischenstaatlichen Politik afrikanischer Staaten gehört. Die Belege liegen in großer Fülle für den weiten geographischen Raum zwischen Algier und Brazzaville, zwischen Kampala und Tripolis bereit. Das IOC gab jedoch in seiner Mehrheit der offensichtlichen Beugung völkerrechtlicher Sitten nach. Und der Präsident des deutschen Organisationskomitees ließ sogar den Sprecher einer rein politischen Institution, der Organisation für Afrikanische Einheit, einen Monolog auf der olympischen Pressekonferenz vortragen. Die Anerkennung der Staatspolitik als eines maßgebenden Elementes der olympischen Veranstaltung war dadurch vollständig. Geschah dies alles aus elementarer Schwäche gegenüber starkem Druck oder aus opportunistischer Real-politik zur „Rettung" der wohlvorbereiteten Spiele, obwohl solche Nachgiebigkeit eine Fortsetzung des afrikanischen Wortbruches in einen eigenen nach der rhodesischen Seite hin bedeutete? Die unter der Schwelle der Realpolitik fortwährend lauernde Frage nach der Glaubwürdigkeit der Verantwortlichen sprang hervor: die Bevölkerung erhob Widerspruch und erkannte diese politische Sittenlosigkeit für die „Volksdiplomatie" nicht an. Seitdem wurden die rotberockten Mitglieder des IOC bei ihren Auftritten mit innerer Distanz beobachtet. Die imponderablen Nachwehen können, vor allem nach Afrika hinüber, immer wieder aktuelle Anlässe für Konflikte verstärken. Am Ort der Olympiade wurde bereits von dem Tage des IOC-Beschlusses an jeder politischen Einmischung mit Mißtrauen begegnet, auch wenn sie als joviale Infiltration in Erscheinung trat.

Amtierende Politiker hätten als stille Beobachter im Großraum des Oberwiesenfeldes, im Riemer Reitstadion oder entlang der Military-Strecke bei Poing und auch innerhalb der großzügig angelegten Münchener Fußgängerzone einiges über den Eigensinn der anwesenden internationalen Bevölkerung lernen können, sofern sie sich unter die gutgelaunte Menge während der Spielzeit mischten. Doch schien es oft, als ob sie sich in diesem nach äußerer Erscheinung und menschlicher Art bunt gemischten Publikum nur spiegeln und die Aufmerksamkeit dieser besonderen Volksversammlung für sich — oder als Ausländer für einen acte de presence nationale — nutzen wollten. In einer Schilderung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist der Eindruck der deutschen Auftritte geschildert worden:

„Regiert in Bonn überhaupt noch jemand? Haben die Ämter dort geschlossen? Wohin man in München auch geht, man trifft auf irgendeinen Politiker. Ahnungslos sitzt der Journalist an seiner Schreibmaschine, und wer steht hinter ihm im Türrahmen? Der Bundeskanzler! Auf dem Wege zu einer Sportstätte begegnet jedermann bestimmt einem Minister, mindestens einem Staatssekretär. Ob Hockey oder Fußball gespielt wird, in der Schwimmhalle, auf den Schießständen, überall tauchen sie auf, die Herren aus Bonn. Alles gibt sich jovial und sportbegeistert. Begehrtes Besuchs-objekt ist natürlich das Pressezentrum. Vielleicht schreibt dort irgendeiner über den Händedruck, den er von der Prominenz erhalten hat, drückt ein Fotograf auf den Auslöser. So geht es treppauf, treppab, hier Arbeitsraum, dort Zentrallabor, die Journalisten an der Arbeit, ein freundliches Kopfnicken den Bar-, besuchern, Schulterklopfen für ein blondes Botenmädchen, zwei Sätze an einen Soldaten. Die Begleiter beobachten die Uhr, denn der nächste Auftritt kommt bestimmt. Arbeitsessen mit wichtigen Leuten oder mit Leuten, die eine solche Einladung wichtig nehmen. Dann schnell auf eine Tribüne, lange Stehenbleiben und sich umsehen, um gesehen zu werden. Was machen die denn da? Aha, Wasserball. Zehn Minuten später brummt die Karosse gen Volleyball. Dort sitzen schon zwei Minister und zwei Staatssekretäre, auch vom Bundestagspräsidium winkt einer herüber. Auch den Abgeordneten wird die Hand geschüttelt. Wer spielt denn da? Aha, Kuba. Noch ein Blick in die Runde und weiter zur Cocktailstunde. Zum Olympischen Dorf müssen wir auch mal. Schon notiert, wird angekündigt. Wie wichtig muß das in Bonn zugehen, fragt sich der Beobachter, wenn hier schon jeder Oberregierungsrat tut, als sei er der Nabel der Welt. Wie ein Nichtnormaler wird angeschaut, wer schlicht und einfach sagt, zum Cocktail des Herrn Staatssekretärs werde er nicht kommen, weil er hier etwas anderes zu tun hab. Aber viele hundert sind dienstlich zu den Spielen geeilt, weil es „in" ist, teilzunehmen an der Weltshow mit der Möglichkeit, beachtet zu werden. Man muß etwas tun, denn der Wahlkampf steht bevor. Nein, er hat schon begonnen — in München bei den Olympischen Spielen. Auf den Fernsehschirmen zu erscheinen, in den Zeitungen erwähnt zu werden, könnte das Wohlwollen des Wählers einbringen. Sieh mal an, sportbegeistert ist er, der Herr Abgeordnete, sehr sympathisch. Und der Minister erst! Müssen doch nette Leute sein, wie du und ich. Olympischer Wahlkampf. Fehlt nur noch, daß der Bundestag zu einer Sondersitzung in die Sporthalle einberufen würde. Das Plenum wäre vermutlich vollständiger von Regierung und Parteien besetzt als im Bonner Durchschnitt. Allerdings würde niemand zuhören und zusehen, denn der Sport lockt viel zu sehr." (Karlheinz Vogel. 29. August 1972)

Der Wille zu Selbstbestätigung, zur Ablenkung der Scheinwerfer von den Kampfbahnen auf die Ehrentribüne war also ein politisches Motiv. Selten ist die innere Kontaktlosigkeit mit den Meinungen der Bevölkerung so offenbar geworden wie bei diesen sichtbaren Auftritten. Niemand unter den Politikern kam offensichtlich auf den Einfall, daß der x-beliebige Sitzplatz 17, Reihe 11, Block C den gesuchten Kontakt mit dem Publikum und damit Wohlwollen und Publicity erbracht hätte, die auf dem Wege der Routine der politischen Oligarchie jedoch völlig mißlang und Schlüsse auf sonstige Ahnungslosigkeiten über die Lebens-wünsche und Verhaltensbilder der Allgemeinheit zuließ. Vielleicht war es eine Überraschung, daß die olympische Bevölkerung die Politiker sah, aber nicht wirklich beachtete, oft sogar deren Bemühen um Selbstbestätigung als störend empfand.

In dem neuen Zustand der Heiterkeit, den wir eingangs geschildert haben, empfand sie die Vertreter der routinierten Tagespolitik mehr oder minder als Erscheinungen einer ungeliebten Gegenwelt, wie etwa in ganz anderer und extremer Weise Hippies und andere Sondergruppen der jugendlichen Bevölkerung die durchrationalisierte Zivilisation betrachten.

Diese beiden Welten gingen also auf dem Gelände aneinander vorbei. Zusammengestoßen sind sie nur an einer Stelle: auf der Spiel-straße. Sie wurde zum ausgelassenen Vergnügen, wo die Flanierenden ihrer freien Selbstbestimmung mit klingenden oder schwingenden Spielzeugen überlassen blieben. Sie wurde zur Mühsal, sobald die installierten Truppen sehr unvermittelt und mit Gedanken überfrachtet den Spaziergängern Politisches einflößen wollten. Diese wiesen sofort die rationalen Schlagseiten mit dem Gleichgewicht ihrer Heiterkeit ab, sofern sie nicht nur zum Applaus aus Schwabing herübergekommen waren, sondern zur olympischen Bevölkerung gehörten.

Die vorstehenden kritischen Anmerkungen zum Verhalten politischer Personen sollen nicht ohne Angabe eines positiven Gegen-bildes abgeschlossen sein. Es erschien mit dem Herzog von Edinburgh, der immer wieder auf dem Gelände gesehen wurde, wenn er zurückhaltend und ohne Show an den Nöten der Wettkämpfer teilnahm. Wer ein differenzierendes Gehör hatte, konnte die Antwort der Zuschauer aus den Beifallsgeräuschen bei seinem gelegentlichen protokollarischen Hervortreten heraushören. Durch Bescheidenheit und Distanz gewann er mit der olympischen Bevölkerung Kontakt, deren Bild vom verantwortlichen Menschen er mangels Anbiederung entsprach.

Dieselbe Dissonanz aus dem Streben nach Selbstbestätigung erzeugte das „offizielle Geschenk für die Teilnehmer der Olympischen Sommerspiele", ein Lesebuch für Zeitgenossen, „Deutsches Mosaik" genannt. Es handelte sich um eine Anthologie jener Literatur in deutscher Sprache, die sich in des Wortes weiter Bedeutung über Fragen der Politik, über Freiheit, Frieden, Staatsangehörigkeit und Staatsumwälzung ausspricht. Der Inhalt beginnt mit Frank Wedekind und endet mit Willy Brandt und sollte wohl zeigen, wie friedenspolitisch orientiert die Deutschen in dem Deutschland von heute sind. Audi hier drängte die aus politischer Unsicherheit ge-borene deutsche Angst nach vorne, wir könnten in unseren Fortschritten konformer Gesinnung nicht ausreichend beachtet werden. Liegt aber das häufige Weghören der Ausländer nicht gerade darin begründet, daß wir unablässig und so intensiv von uns selbst reden?

Und schließlich: wurde die beabsichtigte Lektion über die Deutschen nicht viel fröhlicher und ohne so viele Worte beim Anblick der Amalienburg neben dem Abreitplatz zur olympischen Dressurprüfung im Nymphenburger Schloßpark und auf andere sinnliche Weise in München und Kiel als mit diesem literarischen Nachdruck erteilt? Es gab im übrigen einen kleinlichen politischen Streit über dieses Buch, so daß es in raschem Nachgeben während der Spiele zurückgezogen wurde.

Die lauteste aus dem Einbruch des Politischen herrührende Dissonanz entstand, wie wir alle wissen, durch den Mord arabischer Terroristen an israelischen Wettkämpfern. Die Bilder und Berichte sind noch in unserem Gedächtnis.

Alle drei Anfechtungen hat die olympische Bevölkerung mit größerer Kraft bewältigt, als die Politiker und die Mehrheit der „Offiziellen". Sie reagierte im ersten Fall mit Parteinahme und Herzlichkeit gegenüber den Verfemten, im zweiten Fall mit Distanz, im dritten mit einer eindrucksvollen Verwandlung der harmlosen Heiterkeit der ersten Tage in eine dunkler getönte tragische Heiterkeit nach dem Ereignis. Dies geschah freilich ohne ausdrückliches Bewußtsein und ohne daß diese Vorgänge in intellektueller Manier reflektiert wurden.

Drittes Bild: Die Stunden der Entscheidung

Im politischen Leben der Gegenwart kann die Bevölkerung kaum jemals audiovisuell an einem Entscheidungsprozeß teilnehmen. Auch in den Fernsehübertragungen aus dem Deutschen Bundestag erfahren die Zuschauer meist nur die Begründungen zuvor getroffener Entscheidungen. In der Dichte der olympischen Tage ereignete sich wenigstens teilweise — die Ausnahme. Als der Überfall geschehen war, konnte, wenn auch in aufeinanderfolgenden Bruchstücken, das Entstehen einer Entscheidung miterlebt werden.

Die Deutschen hatten in den letzten Jahrzehnten vielleicht mehr als andere Völker die Möglichkeit, ihre in den sogenannten normalen Zeiten gewonnenen Urteile über ihre Mitmenschen und „Führer" mit deren Verhalten in den plötzlich hereinbrechenden äußersten Situationen zu vergleichen. In ausgesetzten Lagen, in den aussichtslos scheinenden Kampf-situationen des Krieges, in den inneren Entscheidungen gegen politische Systeme, in der Hungersnot der Kriegsgefangenenlager oder in der Lebensangst anderer Gefangenschaften, vor und auf dem Flüchtlingstreck und heute inmitten der Autounfälle und in der Bedrohung durch unheilbare Krankheiten erweist sich, daß der einzelne in solchen Augenblicken, die nur die unwillkürliche Reaktion zulassen, lotgerecht zu seinem Schwerpunkt handelt. Oft haben sich dann der unbequeme, kontaktlose Nachbar als selbstloser Kamerad, der angesehene, stets im Mittelpunkt der allgemeinen Zuneigung Stehende als rücksichtsloser Egoist oder Drückeberger erwiesen. In München hat nun unter anderen der Bundesinnenminister, obwohl alle formalistischen Ausreden für eine Zuschauerrolle bereit Tagen, in der äußersten Situation ein Beispiel gegeben, als er der Notwendigkeit zur Verantwortung statt dem Protokoll der Zuständigkeit entsprach. Im übrigen war die allgemeine Genugtuung spürbar, daß die exponierten Verhandlungsführer und potentiellen Geiseln drei verschiedenen Parteien der deutschen Innenpolitik angehörten und ohne Zwietracht zusammenarbeiteten. Es scheint, daß ins Extreme treibende Konfrontationen nicht die Sympathie der meisten finden, schon weil sie in der geopolitischen Lage der Bundesrepublik unangemessen erscheinen. Niemand träume davon, die Bevölkerungen würden die wesentlichen Unterschiede existentiellen Verhaltens nicht auch als Unterschiede politischen Verhaltens assoziieren und das Geschehen nicht sofort dem Fallbeil wortlosen Urteilens unterwerfen. Da der Vorgang sowohl den Zuschauern am Ort wie auch denen am Fernsehschirm nur als lautloses Bild erschien, war die Wirkung um so eindringlicher. So entstand auf dem olympischen Feld für kurze Zeit ein vollständiger Einklang zwischen Bevölkerung und politischer Regierung, wie nur noch einmal im Laufe der Trauerfeier bei einem bestimmten Satz in der Ansprache des Bundespräsidenten.

Wer die Wirkungslosigkeit so vieler politischer Reden und Publikationen mit dem Einschlag dieser wenigen Bilder aüs den Stunden der Entscheidung vergleicht, konnte Zweifaches erfahren: die Bevölkerung wünscht im Raume der Politik das durch Verkörperung glaubwürdig werdende Vorbild; die Gewohn-heit, in politischen Begriffen statt in Bildern zu sprechen, trägt wenig zur Verständigung mit dem Staatsbürger bei.

Die Ursache der Mißverständnisse zwischen den Funktionären verschiedener Art und vielen Gruppen der Gesellschaft besteht in dem Gegensatz von abstrakt-begrifflichem und bildhaftem Denken, dem — neben anderem — die Unterschiede zwischen theoretischen und existentiellen Themen in der politischen Auseinandersetzung oder Propaganda entsprechen. Zwar meinen nicht wenige Politiker, es sei nur eine Frage der Ausbildung und der Bildungsmöglichkeiten für alle, damit ihre Sprache allgemein verstanden werde. Viele denken, der Ballast der in die Sprache und damit in das Denken und Empfinden eingewachsenen Bilder werde in einem historischen Fortschritt zugunsten der abstrakteren Begriffe abgestoßen, bis die Rationalsprache zur Gemeinsprache geworden ist. Ist es aber so sicher, daß die Entwicklung der politischen Verständigung diesen Lauf nimmt? Wäre es nicht möglich, daß in der Bevölkerung der Wandel im unmittelbaren Übergang von der überlieferten Sprache der Bilder zu einer neuen bildhaften Sprache erfolgt — unter Aufnahme einiger Begriffe gleichsam als Lehnworte? Einstweilen gilt es jedenfalls für den politischen Redner, nicht nur in Bildern, sondern auch von Bildern zu sprechen, wenn er außerhalb jener Minderheiten, die sich in der Sprache der Kürzel auskennen, überzeugen will. Zu solchen Bildern gehören die mit fünf Sinnen faßbaren Themen des Jugendlebens, des Wohnens, Sich-Ernährens, des Krankwerdens und Sterbens.

Jedenfalls in den olympischen Tagen wurden Politiker nur bemerkenswert, wenn sie ein lebendiges Bild abgaben wie jener Minister. Und das war auch ein Zeichen unserer Zeit.

Viertes Bild: Die Trauerfeier

Das Bild der offiziellen Trauerfeier im großen Olympiastadion steht uns noch vor Augen. Die Beschreibung muß nicht wiederholt werden.

In der Folge der Ansprachen erhielt der Präsident der Bundesrepublik Deutschland den ersten Beifall der nach Herkunft, Bildung, parteipolitischer Bindung und Weltanschauuung sehr unterschiedlichen olympischen Bevölkerung, als er von der Mitschuld jener Staaten sprach, die Terroristenorganisationen Heimrecht gewähren. Den tiefsten Eindruck hinterließ die Ansprache des Missionschefs der überlebenden israelischen Sportmannschaft durch die in Worten und Haltung spürbare Bewältigung des mörderischen Ereignisses nach so kurzer Zeit: Wir verlassen diesen Ort, aber wir werden an kommenden Olympischen Spielen wieder teilnehmen, um den friedlichen Wettkampf fortzusetzen, lauteten seine Kern-sätze. Es war das Zeugnis einer tragischen Heiterkeit. Der einzige, dem Beifall entgegen-schlug, ehe er am Rednerpult ein Wort gesprochen hatte, war Avery Brundage, der Präsident. Er verkündete einen Tag der Trauer und die anschließende Fortsetzung der Spiele. Nicht zuletzt bildeten diese zwei Stunden eine politische Trauerfeier. Die Reaktionen der Zuhörer waren von ihnen selbst nicht vorbedacht und standen nicht im Programm der Veranstalter; die wechselnde Tiefenwirkung der Worte war phonetisch nicht zu messen. Und doch lassen sich gerade dank der Unwillkürlichkeit Erkenntnisse über die Vorstellungen dieser klassenlosen Versammlung von Trauer, Würde, Vorbild und Haltung gewinnen.

In unserem Lande fehlen feste Gewohnheiten der Trauer über das äußere Zeichen der schwarzen Todesfarbe hinaus. Nur auf den Friedhöfen und an offenen Gräbern werden noch traditionelle Verhaltensweisen fortgesetzt. Die großformatigen Traueranzeigen in der Tagespresse, in denen Firmen und Organisationen den Todesfall in beschämender Weise für ihre Public-Relations ausbeuten, stoßen eher ab. Im politischen Raum hat die Trauer nur einmal — beim Tode des ersten Bundeskanzlers — überzeugende Gestalt angenommen, die bei anderen Staatsbegräbnissen mißlungen ist. Im übrigen hat auch in dieser Beziehung die junge Republik ihren eigenen Ausdruck noch ebensowenig gefunden, wie sie Feste nicht zu feiern, Empfängen weder Anmut noch Bedeutung zu geben und Dank nur in der altmodischen Weise der Ordensverleihung abzustatten vermag. Ihr fehlen die zeitgemäßen Gesten und Haltungen, die bildend wirken. Die Mehrzahl der Menschen jedoch benötigt und benutzt Vorbilder des Ausdruckes — auch solche von geringerer Qualität. Das zeigt das klischeehafte Nachahmen allerorten: der Freudentaumel nach dem Torschuß eines Stürmers, die an den F’ußballtagen von den Mannschaften stets nach denselben Riten zelebrierte männliche Umarmung —. Der Trauer aber fehlt jedes Vorbild in einer Gesellschaft, in welcher die Mißhellig-keiten des Daseins — von den Anstrengungen der Geburt über die schwere Erkrankung bis zum Sterben —, eilends aus den Augen und damit aus dem Bewußstein geräumt werden. Das hat sich auch in München erwiesen, als die Manager der Organisation das Gebot des Präsidenten durchbrachen und bereits am Nachmittag des Trauertages Wettkämpfe unter Hinweis auf technische Schwierigkeiten wieder aufnehmen ließen. Die Trauer wurde der Organisation untertan.

Erst später, in der regunglsosen Erstarrung der Volkstänzer auf der Schlußfeier, kam die Trauer abermals zum Ausdruck, eine Trauer ohne Worte, die zugleich auf der Schattenseite der olympischen Idee eine lebendige Verbindung zur Antike schuf. Im übrigen aber blieben die Gebärden und Handlungen der Trauer hilflos, die deshalb in den tieferen Schichten des Unbewußten gemeistert werden mußte.

Ehe der Katarakt der Bestürzung in die Dauer-strömung der Trauer überging, wurde diskutiert, ob die Spiele abgebrochen oder fortgeführt werden sollten. Es gab erwachsene Kinder, die aus Zorn, daß an ihrer Spielpuppe etwas zerrissen war, das ganze Spielzeug wegwerfen wollten; es gab andere, die sich nicht um die Medaillenmöglichkeiten ihrer Trainingsmonate bringen lassen wollten und unerschüttert blieben, und es gab Schwankende ohne eigene Entscheidung. Doch diese waren Nebenfiguren neben jenen Dritten, die erschüttert waren und wie der israelische Mannschaftsführer hartnäckig und gelassen, eben selbstsicher angesichts dieses Schicksalsschlages blieben. Ihre Artikulation lautete: man könne sich von dem bösen Element des Terrorismus nicht das Tun und Unterlassen diktieren lassen. Meinungen, Stimmungen, tagespolitische Interessen, sportliche Egoismen strudelten im ersten Augenblick durcheinander. Die Entscheidung fiel nicht zufällig dank eines alten Mannes, den die Erfahrungssumme eines langen Lebens gelehrt hatte, daß das Dasein ein Gleichgewicht aus Positivem und Negativem bilde und somit die Gleichzeitigkeit von Mord und heiterem Spiel einer elementaren Wirklichkeit entspreche, deren Dramatik angenommen und nicht teilweise auf die eine oder andere Weise ausgeschaltet werden könne, um entweder mit der Sehnsucht nach einer ungestört heilen oder mit der selbst-befriedigenden Vorstellung von einer heillosen Welt Recht zu behalten. In diesem Augenblick, in welchem viele panisch auf die helle oder auf die dunkle Seite des Lebens zudrängten, bedurfte es der Führung, und es fiel eine Entscheidung, die im Einklang mit der Wirklichkeit des menschlichen Daseins stand, also schon Realpolitik in einem überhöhten Sinne war. Avery Brundage wurde jedenfalls am Ende seiner Aufgabe von der olympischen Bevölkerung noch einmal geprüft — und bestand, wie die bei Medaillenverleihungen und bei der Schlußfeier immer wieder aufbrandende Zustimmung zu diesem Manne offenbarte. Das Wunsch-oder Leitbild ist nicht der Vater oder gar Großvater, sondern der in eine Position gerückte Mann, der einen selbsterarbeiteten Kurs konsequent durchhält und die Vorschriften von Vernunft und Würde in Einklang zu bringen vermag.

In der Zeit der Trauer gab es keine Regungen der Rache, sondern nur den Ausdruck passiver Entschlossenheit. Die Qualität der Heiterkeit hielt sozusagen auch auf ihrer Kehrseite der Prüfung stand. Wann immer unsere Sprache für — scheinbar — den gleichen Vorgang über mehrere Worte verfügt, bestehen wesentliche Unterschiede oder werden grundlegende Wandlungen bezeichnet. Die Fröhlichkeit wird erst als Heiterkeit erwachsen und schließlich ein wenig weise, wenn sie sich trotz aller Enttäuschungen und Schrecken behauptet, wenn sie sich auch von der Ausgelassenheit zur Gefaßtheit wandelt. Diesen Wandel brachte die Trauer ohne Rachedurst in München hervor. — Dies war „der eigentliche Grund" der Fortsetzung der Wettkämpfe, wenn auch die Offiziellen vor allem von der Sorge um die Fortdauer der olympischen Veranstaltungen bestimmt wurden.

Schlußwort

Für die absehbare Zukunft ist eine Entscheidung über den Fortgang der Spiele gefallen. Unentschieden geblieben ist jedoch das zukünftige Verhältnis zwischen politischen Kräften und den olympischen Veranstaltungen.

Im Verlaufe der Münchener Wettkämpfe ist, wie wir gesehen haben, immer wieder eine Spannung zwischen den Einwirkungen der Staatspolitik und den Regungen der Volks-diplomatie entstanden. Sie ist in einem unfreiwilligen Dialog zwischen dem scheidenden IOC-Präsidenten und dem Präsidenten des Organisationskomitees nach der Schlußfeier noch einmal sichtbar geworden. Avery Brundage hatte in seiner letzten Rede die Hoffnung geäußert, daß die Sitten des sportlichen Wettkampfes auf das gegenseitige Verhalten in der widerspruchsvollen Politik der vielen verschiedenartigen Menschengruppen dieser Erde ausstrahlen werden. In einem anschließenden Interview wollte Willi Daume in solchen Erwartungen eine völlige Überschätzung der Wirkungsmöglichkeiten des Sportes sehen. Er übersah wohl, daß der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees an den möglichen Einfluß sportlicher Wettkampfsitten auf die Gestaltung der internationalen Gruppen-beziehungen dachte und nicht auf die Aktionen der Staatsregierungen. Er hoffte, daß die oft mehr von der Intuition als vom Vorsatz gesteuerten Äußerungen der Volksdiplomatie, die sich in unserem Jahrhundert die Gleichberechtigung neben der Diplomatie der Regierungen erobert, nicht nur die Härte und den Leistungswillen, sondern auch die Fairneß und Menschenachtung der olympischen Wettkämpfer zum Vorbild nehmen könnte, während ihn sein deutscher Stellvertreter mißverstand, als ob er eine Einflußnahme auf das außenpolitische Verhalten der Obrigkeiten erwarte. Wie dem auch sei: Die Suche nach der salomonischen Lösung im Spannungsverhältnis von Weltpolitik und Weltsport wird andauern.

Doch kehren wir noch einmal an unseren Ausgangsort, nach München, zurück. Die Heiterkeit der olympischen Bevölkerung ist — wir haben es in verschiedener Beleuchtung geschildert — aus einem überraschenden Einklang von Körper, Seele und Geist hervorgegangen. Die Bauten und Anlagen des Olympiageländes dienen aber nur dem körperlichen Training und dem vielfältigen sportlichen Wettkampf. Läge es nicht nahe, den einmaligen menschlichen Zustand der olympischen Bevölkerung in dem dauernden Erscheinungsbild dieses Geländes wiedererscheinen zu lassen? In Zukunft könnten Bauten für geistige Ereignisse in den bereits entworfenen Rahmen eingeordnet werden. München fehlt unter anderem noch immer eine Konzerthalle und ein Zentrum für die Begegnung mit anderen Kulturen. Diese Neubauten könnten inmitten dieser Nachbildung der bayerischen Voralpenlandschaft eine ähnliche Heimstatt finden und das vorhandene Bild zum Ganzen ergänzen, wie es die Barockkirchen vollbracht haben, die im Oberland neben Arbeits-und Festplätzen stehen. Die vorübergegangene Wirklichkeit der beiden olympischen Wochen könnte zum Ausgangspunkt einer Zukunft werden, in der das einmal belebte Gelände niemals verödet.

Fussnoten

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Oskar Splett, Dr. phil., Studium der Geschichte, des Staats-und Völkerrechts sowie der Theologie an den Universitäten Berlin, Marburg und München, von 1957— 1970 Generalsekretär der Deutschen Afrikagesellschaft, freier Publizist für zeitgeschichtliche und kulturelle Themen, veröffentlichte neben Schriften und Aufsätzen zu politischen und kulturellen Problemen der zeitgenössischen Weltgeschichte u. a.: Jugendbauten unserer Zeit, 1953; Afrika und die Welt, 1955; Die Neuordnung der Erde, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 22— 23/72.