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Weltherrschaft durch Hegemonie. Die deutsche Politik im I. Weltkrieg nach den Riezler-Tagebüchern | APuZ 50/1972 | bpb.de

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APuZ 50/1972 Weltherrschaft durch Hegemonie. Die deutsche Politik im I. Weltkrieg nach den Riezler-Tagebüchern

Weltherrschaft durch Hegemonie. Die deutsche Politik im I. Weltkrieg nach den Riezler-Tagebüchern

Imanuel Geiss

/ 53 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Riezler-Tagebücher gewähren einen einzigartigen Einblick in die politische Situation des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg. Der Kanzler-Berater Riezler läßt in seiner eigenen Widersprüchlichkeit die inneren Diskrepanzen des Deutschen Reichs gut erkennen, an denen es 1918, später endgültig 1945 zerbrach: Riezler erweist sich als der einzige wirklich modern denkende politische Kopf im „Establishment“ des kaiserlichen Deutschland. Einerseits stammt von ihm die Konzeption der deutschen Kriegszielpolitik, die das Reich durch eine Kombination traditioneller und moderner Methoden vom Status einer Kontinentalmacht zu einer Weltmacht erhoben hätte. Andererseits erkannte er aus der Unfähigkeit der erstarrten Strukturen des wilhelminischen Reichs, auf seine elastische Politik auch nur einzugehen, aus dem von ihm immer wieder beklagten Mangel an politischer Bildung die grundsätzlichen Schwächen der deutschen Gesellschaftsordnung: die absolute Dominanz konservativ-reaktionärer Interessen-und Machtpolitik, repräsentiert durch Militärs, Alldeutsche, die meisten bürgerlichen Parteien und die Industrie. Seine Verzweiflung über die politische Starrheit trieb ihn zu immer schärferen Urteilen über die Realität des Deutschen Reichs, weit über die von ihm seit 1916 klar erkannte militärische Niederlage nach außen und die einschneidenden politischen Konsequenzen nach innen hinaus. So werden die Riezler-Tagebücher nicht nur zur insgesamt eindrucksvollen Bestätigung der neueren deutschen Forschung über die deutsche Reichspolitik im Ersten Weltkrieg, sondern auch zu einem weiteren Schlüssel für das bessere Verständnis der deutschen Geschichte in unserem Jahrhundert überhaupt. Der Aufsatz bietet ein Konzentrat und Resümee der wichtigsten Tagebucheintragungen in chronologischer, aber in sich schlüssiger Reihenfolge.

Einleitung

Nach jahrelangen Diskussionen und Ankündigungen erschienen im Sommer 1972 die Tagebücher, die Kurt Riezler, Berater und Gehilfe des Reichskanzlers Bethmann Hollweg, vor und im Ersten Weltkrieg führte Seit Fritz Fischers „Griff nach der Weltmacht" sind sie die bedeutsamste Publikation zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Sie bilden eine wichtige Quelle, da Riezler jahrelang im Zentrum der Macht die politischen Entscheidungen des Deutschen Reichs aus nächster Nähe beobachten, kommentieren und mitgestalten konnte. Die scharfsinnigen Analysen und Kurz-Prognosen, die er, vor allem ab 1916, immer wieder einstreute, machen die Tagebücher zu einem Lehrbuch für historisch-politisches Denken, da Riezlers Einsichten noch heute helfen, die deutsche Geschichte in und seit dem Ersten Weltkrieg besser zu verstehen. Außerdem kann heute jeder politisch aktive und interessierte Zeitgenosse aus bestimmten politischen Mechanismen lernen, z. B. Rückwirkungen von äußeren Niederlagen auf die politische oder gar soziale Struktur im Innern einer Gesellschaft.

Karl Dietrich Erdmann, Ordinarius an der Kieler Universität und Vizepräsident des Internationalen Komitees der Geschichtswissenschaften, hat sich daher mit der Herausgabe des Bandes ein großes Verdienst um die Geschichtswissenschaft und die politische Bildung der Deutschen erworben, schon weil es ihm in geduldigen Verhandlungen gelang, die Tochter Kurt Riezlers dazu zu bewegen, entgegen der ursprünglichen Testamentsverfügung ihres Vaters die Manuskripte zur Veröffentlichung freizugeben Weil das Riezler-Tagebuch möglich rasch in möglichst viele Hände kommen sollte, ist es zu bedauern, daß Erdmann — im ersten Anlauf wohl unvermeidlich — das Tagebuch in einer Form vorlegt, daß es zunächst nur engen Fachkreisen zugänglich wird, während sich ein breiteres Publikum nur schwer in dem vielschichtigen Material — Tagebücher, dazu amtliche Akten-stücke, Aufsätze von Riezler, die 1916 anonym erschienen, eine umfangreiche Einleitung und tausende von detaillierten Fußnoten — zurechtfinden wird. Außerdem versucht Erdmann, in seiner Einleitung Riezler mit seiner ganzen intellektuellen Komplexität vorzustellen. Erdmann, selbst aus der geistesgeschichtlichen Tradition des deutschen Historismus kommend, tut manchmal zuviel des Guten und stellt die philosophischen Ideen Riezlers, die heute höchstens noch einen engen Kreis von philosophisch Geschulten interessieren, zu breit dar, ähnlich Riezlers wissenschaftliche Entwicklung die kaum erklärt, weshalb Riezler für uns heute eine so eindringliche Bedeutung gewonnen hat.

Dagegen hat Erdmann die wirklich kapitalen Tagebucheintragungen, die auf die deutsche Politik im Ersten Weltkrieg oder die deutsche Geschichte danach neues Licht werfen, nur ungenügend in die Einleitung eingearbeitet und aus der Fülle des Stoffs herausgehoben. Schließlich ist die Flut der Tagebucheintragungen ohne Gliederung gebracht, weder systematisch noch chronologisch aufgeschlüsselt, um dem nicht-gelehrten Leser die Lektüre und das Verständnis der komplizierten Materie zu erleichtern, so daß der erwünschte politische Bildungseffekt so schnell nicht eintreten kann.

Es wäre dringend erforderlich, daß auf die streng wissenschaftliche Erst-Edition des Riezler-Tagebuchs möglichst bald eine Taschen-ausgabe folgt, die das Kernmaterial neu herausbringt, mit einer auf das wirklich Wesentliche konzentrierten Einleitung und einer didaktisch hilfreichen Aufbereitung durch knappe Einleitungen zu chronologisch angeordneten Kapiteln, um so das Material in verdauliche Häppchen aufzuteilen. Um möglichst schnell den politischen Bildungswert des Riezler-Tagesbuchs einem breiteren historisch-politisch interessierten Publikum zu erschließen, erschien-es sinnvoll, gleichsam im eigenständigen Vorgriff auf einen — vielleicht erst in Jahren erscheinenden — Taschenband, schon jetzt die inhaltliche Aufbereitung zu leisten, wie sie dem Verfasser als nützlich und wissenschaftlich vertretbar vorschwebt. Ziel ist also nicht Kritik, weshalb z. B. auf die Konfrontation mit dem früheren Aufsatz von Erdmann über Bethmann Hollweg verzichtet wird, in dem er erstmals das Riezler-Tagebuch verwertete sondern konzentrierte Informierung über den In-halt. Dem Vorwurf der Manipulierung des Texts ist hoffentlich durch die ausführliche und meist ungekürzte Wiedergabe der wichtigsten Stellen — dazu noch in strikt chronologischer Reihenfolge — vorgebeugt Der Abriß soll zugleich das Interesse einer breiten Leserschaft für die schwierige Quellenlektüre erwecken und einen Leitfaden durch das Labyrinth des komplexen Materials an die Hand geben. Der Vollständigkeit und Offenheit sei hinzugefügt, daß der Verfasser in der Diskussion über den Ersten Weltkrieg und Kurt Riezler oft entgegengesetzte Positionen zu Erdmann einnahm was sich natürlich auch in Auswahl und Bewertung der hier herangezogenen Eintragungen niederschlägt. Das ist unvermeidlich, aber im wissenschaftlichen Prozeß durchaus normal.

Kurt Riezler (1882— 1955) — Leben und Werdegang

Da Erdmann Leben und Werk Riezlers ausführlich vorgestellt hat, genügen hier zum Verständnis des Tagebuchschreibers einige zusammenfassende Bemerkungen: Riezler stammte aus dem bayrischen Bildungsbürgertum, studierte 1901 bis 1905 in München Klassische Philologie, Geschichte und Nationalökonomie und promovierte 1905 über ein Thema der Wirtschaftsgeschichte aus der griechischen Antike. Nach seinem obligaten Jahr als Reserveoffizier kam er 1906 über die Pressestelle des Auswärtigen Amts in die Wilhelmstraße, also ins Machtzentrum des Deutschen Reichs. Unter Bethmann Hollweg avancierte er zum Redenschreiber und politisehen Berater des Reichskanzlers, stets mit philosophischen und publizistischen Ambitionen. Die Kenntnis fremder Sprachen und relativ ausgedehnte Auslandsaufenthalte ließen bei ihm eine für wilhelminische Verhältnisse außergewöhnliche Weltoffenheit entstehen. Andererseits partizipierte er kräftig an den Geistesströmungen seiner Zeit, vor allem am deutschen Idealismus und am sog. „Sozialdarwinismus", wonach sich im „Kampf ums Dasein" auch im politischen Bereich der Stärkere behaupten und herrschen solle. Idealismus und Sozialdarwinismus fanden im Vorkriegsdeutschland mit Riezler ihren elegantesten Vertreter, weil er beide Komponente durch eine dritte, seine Weltoffenheit, zu kombinieren und abzuschwächen verstand.

Alle drei Komponenten schlugen sich in zwei Büchern Riezlers vor dem Ersten Weltkrieg nieder, von denen das spätere unter einem Pseudonym erschien Zentral für den hier interessierenden historisch-politischen Bereich ist die Vorstellung, alle Nationen (mithin auch die deutsche) hätten die Tendenz, ständig zu wachsen bis hin zur Welt-Herrschaft Die Wachstumsideologie mit ihrer fatalen Konsequenz eines zumindest implizierten deutschen Weltherrschaftsanspruch findet nunmehr in den Kriegstagebücher ihre explizite Formulierung, mochte Erdmann dies 1964 noch so emphatisch bestreiten

Im Kriege selbst war Riezler intensiv an der Ausarbeitung der deutschen Kriegszielpolitik beteiligt. Nach dem Sturz Bethmann Hollwegs im Juli 1917 war er zunächst in der deutschen Gesandtschaft in Stockholm. 1918 wechselte er als Gesandter zur deutschen Botschaft in Moskau nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Sowjetrußland über. Dott engagierte er sich im Sommer 1918 für den Stutz der Bolschewiki, drang aber damit nicht durch. In der ersten parlamentarischen Regierung unter Prinz Max von Baden wurde er im Oktober 1918 Kabinettschef des Staatssekretärs des Äußeren, von Solf, ohne sich für die Parlamentarisierung zu erwärmen.

Nach der Revolution im November 1918 diente Riezler als Verbindungsmann der Reichsregierung zur bayrischen Regierung bei der Niederwerfung der Münchner Räterepublik im Frühjahr 1919. Aus Protest gegen die Annahme der Friedensbedingungen von Versailles quittierte er im Sommer 1919 den Reichsdienst, wurde aber noch einmal, vom November 1919 bis April 1920, Leiter des Büros des Reichspräsidenten. Danach zog er sich endgültig ins Privatleben und in die Wissenschaft zurück. Eine letzte bedeutende Stellung bekleidete er in Deutschland bis 1933 als Kurator der Universität Frankfurt. 1938 emigrierte Riezler, der durch seine Heirat mit der Tochter des jüdischen Malers Max Liebermann ohnehin im Dritten Reich belastet war, in die USA. Dort betätigte er sich wieder als Hochschullehrer, verließ die USA aber wieder 1954. Sein letztes Lebensjahr verbrachte Riezler In Rom; er starb 1955 in München.

Die Tagebücher

In Zeiten politischer Krisen führte Riezler ausführlich Tagebuch über das, was er hörte, erlebte und sich dachte. In seiner zentralen Stellung erfuhr er sehr viel von Bedeutung, und an vielen politischen Entscheidungen war er in bisher unbekanntem Ausmaß beteiligt.

So liegt Riezlers historische Bedeutung in seiner Tätigkeit im Ersten Weltkrieg, der Stellenwert seiner Tagebücher im Beitrag zur jüngsten Forschung und Diskussion über Deutschland im Ersten Weltkrieg. Die folgende Analyse will in erster Linie diesen Gesichtspunkt hervorheben, ohne die allgemeinen historisch-politischen Einblicke zu vernachlässigen. Insgesamt bestätigen die Riezler-Tagebücher die Forschungen von Fritz Fischer Und seiner Schule über den expansiven Charakter der deutschen Kriegszielpolitik. Hatte Erdmann 1964 für die Diskussion um den Kriegsausbruch schon Auszüge aus dem Tagebuch mitgeteilt, so keineswegs das Wichtigste zur deutschen Kriegszielpolitik, das das i-Tüpfelchen auf die moderne Forschung bildet: Riezler selbst lieferte als Kanzlergehilfe die gedankliche Konzeption, die den amtlichen Kriegszielen des Deutschen Reichs erst ihre relative innere Geschlossenheit verlieh und die Fischer nachträglich herausarbeitete. Die Kombination von traditionellen und modernen Herrschaftsmitteln für das Deutsche Reich zur Gründung Und Sicherung der deutschen Hegemonie aüf dem Kontinent durch Annexionen traditionellen Stils und Formen wirtschaftlicher und indirekter Abhängigkeit wurde durch die Schaffung von „Vasallenstaaten" abgerundet, alles überwölbt durch die schon ältere Vorstellung von einem durch Deutschland beherrschten „Mitteleuropa" Neu ist, daß zumindest Riezler den „Griff nach der Weltmacht" als Etappe zur Erringung der deutschen „Weltherrschaft" im buchstäblichen Sinhe dachte

Vor dem Weltkrieg, 1910— 1911

Die wenigen Eintragungen vor dem Juli 1914 konzentrieren sich auf die zweite Marokkokrise von 1911. Einige vorausgegangenen Passagen spiegeln die innenpolitischen Spannungen im Deutschen Reich wider, so die Animositäten zwischen Konservativen und dem ihnen schon zu liberalen Reichskanzler Bethmann Hollweg: „Heydebrand contra Elsaß-Lothringen Der Kanzler gestern im Landtag gegen Heydebrand, als deutscher Kanzler gegen Preußen“ (24. 3. 1911), ein Thema, das im Krieg immer wieder anklang, u. a. mit den Divergenzen über die Reform des preußischen Wahlrechts Wichtiger für die deutsche Rolle im Ersten Weltkrieg sind Riezlers Tagebuch-eintragungen zur zweiten Marokkokrise, über die Erdmann bereits relativ ausführlich 1964 berichtet hat. Riezler enthüllt merkwürdige Sitten an der Spitze des Reiches, denn der Reichskanzler, formal der Alleinverantwortliche, mußte seinen Staatssekretär des Äußeren, Kiderlen-Wächter, erst unter Alkohol setzen, um aus ihm herauszuholen, welche Außenpolitik der eigenwillige Staatssekretär gegenüber Frankreich in der zweiten Marokkokrise zu verfolgen gedachte, obwohl der Reichskanzler immerhin diese Politik gegenüber dem Kaiser und der Öffentlichkeit zu vertreten hatte: „Gestern Bethmann und Kiderlen zusammen abends allein. Bethmann wollte viel trinken und trinken machen, um Kiderlen zum Reden zu bringen. Was der aber sagte war sehr ernst, so daß der Kanzler glaubt, Kiderlen ziehe nicht nur den Krieg in Betracht, sondern wolle es darauf anlegen. .. Bethmann wird nicht vollkommen informiert. Kiderlen läßt sich von niemandem hineinsehen, sagt, der Kanzler solle sich einen anderen suchen, wenn er ihm nicht traue. ... Kiderlens Eigensinn ist zur Zeit der größte politische Faktor. Er ist elementar und nicht zu bekämpfen. Bei dem Vertrauen, das er genießt, kann ihn weder der Kanzler noch der Kaiser gehen lassen." (30. 7. 1911)

Eine Bemerkung in diesem Zusammenhang gewährt einen instruktiven Einblick in die Mentalität an der Spitze des Reichs: „Der zweite Faktor ist die echt deutsche idealisti-sehe und richtige Überzeugung, daß das Volk einen Krieg nötig hat. Diese Überzeugung teilt auch Bethmann. Deshalb hat er auch Kiderlen zugegeben, daß wir durchhalten und das Kriegsrisiko tragen müssen. Nur auf den Krieg ablegen will er (d. h. Bethmann Hollweg; I. G.) es nicht Das wollte er sich von Kiderlen bestätigen lassen. Diese Meinung, Kiderlen könne es möglicherweise auf den Krieg ablegen, hat Hammann ihm ausgeredet. Mit Recht. Kiderlen glaubt an den Erfolg." (30. 7. 1911)

Zwei wichtige Faktoren tauchen hier bereits auf, die für den Entschluß zum Krieg im Juli 1914 wichtig wurden: Die Vorstellung von der Notwendigkeit eines Kriegs und der Wille, eine Krisensituation notfalls bis zum Risiko eines Kriegs durchzuhalten, um so politischen Gewinn für das Reich und seine Weltpolitik zu erzielen.

Im wesentlichen endet der Abschnitt mit der Rekonstruktion des riskanten und komplizierten Kalküls, das Riezler bei Kiderlen vermutete, um entweder für die deutsche Weltpolitik den entscheidenden Durchbruch durch ein Zurückweichen Englands und Frankreichs vor deutschen Forderungen zu erzwingen, oder aber für den Kriegsfall eine psychologisch möglichst günstige Ausgangsposition zu gewinnen: „Eine solche Absicht würde Kaiser und Kanzler allmählich hineinziehen und für den Kriegsfall die nötige eherne Tatsache schaffen.“ Riezler fügt jedoch vorsichtig hinzu: „Die These scheint mir richtig, aber unbeweisbar." (1. 8. 1911)

Die Vorstellung von der Notwendigkeit des Kriegs und die Bereitschaft, notfalls auch das Risiko des Kriegs durch eine eigene aktive Außenpolitik zu übernehmen, verdichtete sich während der Balkankriege am 8. Dezember 1912 zu einem regelrechten „Kriegsrat" unter Vorsitz des Kaisers: Die militärischen Ratgeber des Kaisers, in Übereinstimmung mit ihrem Obersten Kriegsherrn, faßten den prinzipiellen Entschluß, es demnächst auf den Krieg ankommen zu lassen, aber den Zeitpunkt des Krieges noch um eineinhalb Jahre hinauszuschieben, bis auch die Marine ein Minimum an Kriegsbereitschaft durch die Fertigstellung weiterer Großkampfschiffe, des erweiterten Kaiser-Wilhelm-Kanals zwischen Nord-und Ostsee und des U-Boothafens auf Helgoland erreicht hätte. Riezler berichtet über den Vorgang nichts, da sogar der Kanzler ausgeschaltet war und später nur den kaiserlichen Befehl entgegennehmen durfte, das deutsche Volk auf den Krieg, vor allem gegen Rußland, psychologisch vorzubereiten

Julikrise und Kriegsausbruch 1914

Das Tagebuch setzt erst wieder nach dem Attentat von Sarajewo ein. Riezler weilte beim Reichskanzler auf dessen Gut Hohenfinow in der Mark Brandenburg. Er berichtet während der Julikrise vorwiegend über Gespräche mit dem Kanzler: „Abends auf der Veranda unter dem Nachthimmel langes Gespräch über die Lage. Die geheimen Nachrichten, die er mir mitteilt, geben ein erschütterndes Bild. Er sieht die englisch-russischen Verhandlungen über eine Marinekonvention, Landung in Pommern sehr ernst an, letztes Glied in der Kette. Lichnowsky viel zu vertrauensselig. Der ließe sich von den Engländern hereinlegen. Rußlands militärische Macht schnell wachsend; bei strategischem Ausbau Polens die Lage unhaltbar. Österreich immer schwächer und unbeweglicher; die Unterwühlung von Norden und Südosten her sehr weit fortgeschritten. Jedenfalls unfähig, für eine deutsche Sache als unser Verbündeter in den Krieg zu ziehen. Die Entente weiß das, wir infolgedessen völlig lahmgelegt. Ich ganz erschrocken, so schlimm sah ich die Lage nicht an. Die geheimen Nachrichten bekommt man ja nicht, wenn man nicht ganz richtig zur Zunft gehört — und alles hochpolitische und noch dazu militärische ist . ganz geheim'.

Der Kanzler spricht von schweren Entscheidungen. Ermordung Franz Ferdinands. Das amtliche Serbien beteiligt. Österreich will sich aufraffen. Sendung Franz Josefs an den Kaiser mit Anfrage wegen Casus foederis. Unser altes Dilemma bei jeder östereichischen Balkan-aktion. Reden wir ihnen zu, so sagen sie, wir hätten sie hineingestoßen; reden wir ab, so heißt es, wir hätten sie im Stich gelassen. Dann nähern sie sich den Westmächten, deren Arme offen stehen, und wir verlieren den letzten mäßigen Bundesgenossen. Diesmal ist es schlimmer wie 1912; denn diesmal ist Österreich gegen die serbisch-russischen Umtriebe in der Verteidigung. Eine Aktion gegen Serbien kann zum Weltkrieg führen. Der Kanzler erwartet von einem Krieg, wie er auch ausgeht, eine Umwälzung alles Bestehenden. Das Bestehende sehr überlebt, ideenlos, . alles so sehr alt geworden'. Heydebrand habe gesagt, ein Krieg würde zu einer Stärkung der patriarchalischen Ordnung und Gesinnung führen. Der Kanzler empört über solchen Unsinn, überhaupt ringsherum Verblendung, dicker Nebel über dem Volke. In ganz Europa das gleiche. Die Zukunft gehört Rußland, das wächst und wächst und sich als immer schwererer Alb auf uns legt." (7. 7. 1914)

Hier sind bereits wichtige Elemente des deutschen Entschlusses zum Krieg in der Julikrise 1914 angesprochen: Die Angst vor Rußland, d. h. vor der wachsenden Unwahrscheinlichkeit, es auch bei einem deutschen Angriff zu besiegen, weshalb die Zeit zu drängen begann; die innere Schwächung Osterreich-Ungarns durch die wachsende Bewegung zur nationalen Selbstbestimmung der südslawischen Nationalitäten; das Attentat von Sarajewo als Vorwand zum Krieg gegen Serbien als „Strafaktion“ gegen das Rückgrat der Nationalbewegung der Südslawen; das Bewußtsein des Kriegsrisikos bis hin zum Weltkrieg; das Bewußtsein von den potentiell revolutionierenden Konsequenzen eines Weltkriegs gerade gegenüber der eigenen Staats-und Gesellschaftsordnung.

Am folgenden Tag werden die Erwägungen über Wahrscheinlichkeit und Aussichten eines Kriegs über Serbien schon konkreter: „Vielleicht entschließt sich der alte Kaiser (Franz Joseph; I. G.) doch nicht (d. h. zum Krieg; I. G.), meint der Kanzler. Kommt der Krieg aus dem Osten, so daß wir also für Osterreich-Ungarn und nicht ÖsterreichUngarn für uns zu Felde zieht, so haben wir Aussicht, ihn zu gewinnen. Kommt der Krieg nicht, will der Zar nicht, oder rät das bestürzte Frankreich zum Frieden, so haben wir doch noch Aussicht, die Entente über diese Aktion auseinanderzumanövrieren " (8 7 1914) Das deutsche Krisenkalkül im Juli 1914, mit dem sich Riezler offenbar identifiziert, ähnelte also dem in der zweiten Marokkokrise im Juli 1911

Am 11. Juli notierte Riezler, daß er „zwei Tage in Berlin" war, „mit allerlei Aufträgen“. Bei dieser Gelegenheit wurde er so gut über die Vorbereitungen in Wien für das Vorgehen gegen Serbien informiert, daß er bereits von der Absicht erfuhr, „ein kurzes Ultimatum, und falls Serbien ablehnt, einrücken“ zu wollen. Die alte apologetische These, die Berliner Regierung sei nicht über die Absichten Wiens informiert gewesen, die sich aber bereits aus den seit über einem halben Jahrhundert bekannten Akten widerlegen ließ, ist damit endgültig unhaltbar geworden Riezler wußte auch schon, daß Osterreich-Ungarn zur Mobilmachung gegen Serbien 16 Tage benötige, was ihm zu viel dünkte. In der gleichen Eintragung gab er das Konzept wieder, wie sich die Berliner Regierung eine Lokalisierung des Kriegs gegen Serbien vorstellte: „Ein schnelles fait accompli, und dann freundlich gegen die Entente, dann kann der Choc ausgehalten werden. Und mit gutem und erdrückendem Material, das keine Einwände zuläßt, gegen die serbischen Umtriebe herausrücken" (11. 7. 1914). Die Lokalisierungskonzeption war jedoch von vornherein eine Fiktion, denn seit der zweiten Marokkokrise, seit der Mansion House-Rede von Lloyd George am 27. Juli 1911, hatte England das Reich immer wieder vor der Annahme gewarnt, ein Krieg, der Frankreich mit einbeziehen werde, ließe sich lokalisieren. Ebenso hatte England seit den Balkankriegen vor der Illusion gewarnt, ein Angriff Österreich-Ungarns auf Serbien ließe sich lokalisieren.

Am 14. Juli, als In Wien die endgültige Entscheidung zum Krieg gegen Serbien fiel, notierte sich Riezler: „Unsere Lage ist schrecklich. Wenn der Krieg kommen sollte und die Schleier dann fallen, wird das ganze Volk folgen, getrieben von Not und Gefahr. Der Sieg ist die Befreiung. Der Kanzler meint, ich wäre zu jung, um nicht dem Reiz des Ungewissen zu unterliegen, des Neuen, der großen Bewegung. Für ihn ist die Aktion ein Sprung ins Dunkle und dieser schwerste Pflicht. Kiderlen hat immer gesagt, wir müssen lechten. *) Berchtold überlegt sich den Zeitpunkt, ob vor oder nach der Reise Poincares nach Peters-burg. Besser vorher , dann ist größere Chance, daß Frankreich, plötzlich vor der Wirklichkeit des Kriegstraums erschrocken, in Petersburg zum Frieden mahnt. Österreich hat sich denn auch heute dazu entschlossen. Aber die ungarische Ernte muß vorher herein."

Mit der nächsten Eintragung fällt definitiv eine weitere Legende: „Am 23. die k. k. Demarche in Belgrad. Wir haben unsere Unterstützung eindeutig zugesagt. Sehr ernste Stimmung" (20. 7. 1914). Am gleichen Tag dachte Riezler „abermals über die ganze Lage" nach:

„Rußlands wachsende Ansprüche und ungeheure Sprengkraft. In wenigen Jahren nicht mehr abzuwehren, zumal wenn die jetzige europäische Konstellation bleibt. Gelingt es, sie zu ändern oder zu lockern, so muß überlegt werden, ob und wie das ganze jetzige Bündnissystem umgestoßen und verändert werden muß. Aber ob das möglich ist? Nur wenn Rußland, bei der serbischen Sache von den Westmächten nicht bis zum letzten unterstützt, einsieht, daß es sich mit uns verständigen muß. Aber auch dann wird Rußland sehr teuer sein. Es ist zu mächtig geworden und muß schon aus innerpolitischen Gründen und als Gegengewicht gegen die revolutionären Strömungen Panslavismus machen." (20. 7. 1914).

Riezler stand also in der Bismarck-Tradition, hinter der autokratischen Fassade des Zarismus bereits die Symptome für den kommenden revolutionären Wandel im alten Rußland zu sehen — eine Überlegung, die Bismarck bekanntlich 1879 dazu bewog, bei der Option zwischen Rußland und Osterreich-Ungarn sich für die Donaumonarchie und den Abschluß des Zweibundes zu entscheiden.

Beim Grübeln, warum es soweit kam, stieß Riezler auch auf Tirpitz, dessen Schlachtflottenbau die Verständigung mit England blockierte, da „für Tirpitz die Marine Selbstzweck" sei. Von da drang Riezler jedoch in einem ersten, vorläufig noch schüchternen Anlauf zur nationalen Selbstkritik: „Die früheren Fehler, gleichzeitig Türkenpolitik gegen Rußland, Marokko gegen Frankreich, Flotte gegen England, alle reizen und sich allen in den Weg stellen und keinen dabei wirklich schwächen. Grund: Planlosigkeit, Bedürfnis kleiner Prestige-erfolge und Rücksicht auf jede Strömung der öffentlichen Meinung. Die . nationalen'Parteien, die mit dem Radau über die auswärtige Politik ihre Parteistellung halten und festigen wollen." (20. 7. 1914).

Auch hier klingt wieder ein Leitmotiv schon früh an, das in der zweiten Hälfte des Krieges, als sich die deutsche Niederlage abzuzeichnen begann, immer häufiger wiederkehrte t

Am gleichen Tag, als in Belgrad das Ultimatum überreicht wurde, berichtete Riezler über eine russische Andeutung, Sasonow sei bereit, Frankreich fallen zu lassen, wenn Deutschland vorher Osterreich-Ungarn fallen ließe. Riezler hielt ein solches Arrangement für „besser als ein Abkommen mit England", sah aber auch die größeren Schwierigkeiten, da „Rußland weit anspruchsvoller" sei: „Wenn es nur die Balkanaspirationen Österreichs, nicht aber Österreichs Bestand antasten wolle. Die Balkanaspirationen fallen weg, wenn wir sie nicht stützen. Österreich selbst müssen wir halten. Greift Rußland an die Südslawen, so sind wir verloren. Also höchstens ein deutsch-russisches Einverständnis über die Erhaltung Österreichs. Garantie mit Ausnahme des Trentino. Aber doch sehr künstlich und ohne Gewähr der Dauer." 7. 1914).

Die Erwägungen über die Südslawen sind deshalb aufschlußreich, weil sie später, in gewandelter Form, im Deutschen Weißbuch vom 3. August 1914, das Riezler entworfen hatte, zur Begründung des deutschen Vorgehens gegen Rußland erneut auftauchen 23). Die Fortsetzung der Eintragung greift einen früheren Gedanken im Tagebuch wieder auf und führt ihn weiter aus: „Geht die serbische Sache gut vorüber, ohne daß Rußland mobilisiert und infolgedessen ohne Krieg, so kann man sich mit einem über die Westmächte enttäuschten Rußland vielleicht ohne Gefahr über ein dann befriedigtes Österreich-Ungam verständigen." (23. 7. 1914)

So stellte sich Riezler das Sprengen der Entente als Alternative zum Weltkrieg vor.

Die beiden folgenden Eintragungen vom und 27. Juli geben überwiegend subjektive Eindrücke Riezlers vom Geschehen wieder. Aufschlußreich ist Riez Juli geben überwiegend subjektive Eindrücke Riezlers vom Geschehen wieder. Aufschlußreich ist Riezlers Hinweis: „Der Kanzler die letzten Tage beinahe immer am Telefon" (25. 7.), weil über die Telephonate im Zentrum der Reichsleitung während der Juli-krise 1914 so gut wie nichts bekannt ist. Manche Lücken in der Uberlieferung der Akten erklären sich also aus der offenbar intensiven Benutzung des Telefons, ohne daß sie dokumentarische Spuren von Bedeutung hinterlassen hätte. Für die Heimlichkeit der deutschen Kriegsvorbereitungen in der Juli-Krise spricht auch die sich anschließende Notiz: „Anscheinend Vorbereitung auf alle Eventualitäten, Besprechungen mit den Militärs, über die nichts gesagt wird. Handelsflotte ist gewarnt 25). Havenstein 26) finanzielle Mobilmachung. Bis jetzt durfte nichts gemacht werden, was nach außen hervortritt." (25. 7.)

Am 27. Juli waren die Dinge bereits so weit gediehen, daß Riezler wie von einer Selbstverständlichkeit sprechen konnte, „daß Mobilisation für uns Krieg ist“ (27. 7.). Riezler wandte erstmals sein Bluff-Kalkül auf die Juli-Krise 1914 an, das er bereits in seinem Ruedorffer-Buch dargestellt hatte 27): „Die Nachrichten deuten alle auf Krieg. ... Gefahr, daß Frankreich und England aus Angst vor einer Verstimmung Rußlands Unterstützung zusagen, vielleicht ohne recht daran zu glauben, daß Mobilisation für uns Krieg ist, und alles für einen Bluff halten, den sie mit einem Gegen-bluff beantworten." (27. 7.).

Riezler wußte also, daß die deutsche Mobilmachung — im Gegensatz zu der anderer Mächte — durch den Einfall ins neutrale Belgien mit der sofortigen Eröffnung der Kriegs-handlungen verbunden war. Tatsächlich war dieser schwerwiegende Sachverhalt den übrigen Mächten verborgen geblieben, aber wohl kaum dem Reichskanzler, wenn sogar Riezler offenbar davon wußte. In der Hektik der Tage unmittelbar vor Kriegsausbruch kam Riezler verständlicherweise nicht zu Eintragungen in sein Tagebuch, Seine erste Eintragung danach, vom 15. August, gibt einen zusammenfassenden Rückblick auf das, was in der deutschen Geschichte als das „Augusterlebnis" eingegangen ist, jenen verräterischen Rausch über den Krieg als Erlösung von inneren Spannungen, das überdecken von Differenzen im Innern zur Bildung der Einheitsfront nach außen.

Auf dem Höhepunkt der Siegeserwartung — vor der Marneschlacht, August/September 1914

Schon in der ersten Eintragung über den Krieg selbst taucht ein ewiges Problem der deutschen Politik im Ersten Weltkrieg auf — Polen: „Die Österreicher wollen gleich eine Verwaltung einrichten, möglichst konservativ. Sie wollen natürlich die ganze Geschichte annektieren oder alles teilen und uns ein Stück diesseits der Weichsel geben. Unannehmbar. Wir können nur ein freies Polen vertragen." (18. 8.).

Die folgende Eintragung, die erste aus dem Großen Hauptquartier in Koblenz überhaupt, spricht bereits deutsche Kriegsziele deutlicher an: „Abends langes Gespräch über Polen und die Möglichkeit einer loseren Angliederung von anderen Staaten an das Reich — mitteleuropäisches System von Differentialzöllen. Groß-Deutschland mit Belgien, Holland, Polen als engen, Österreich als weitenSchutzstaaten." (19. 8.).

Die September-Denkschrift Bethmann Hollwegs, von Riezler handschriftlich und, wie wir aus dem Riezler-Tagebuch sehen, auch intellektuell konzipiert, tritt bereits in ihrem Kern aus den Aufzeichnungen Riezlers hervor. Zwei Tage später beklagt Riezler „die Schwierigkeit, die der Deutsche hat, sich an das Gesicht der Weltherrschaft zu gewöhnen, das er nach einem Siege zeigen muß." (21. 8.).

Am folgenden Tag, als er befriedigt „die ägyptische Revolution" vom Vortag registrierte, wurden die Überlegungen noch konkreter und detaillierter: „Es beginnen schon die Siegespreispläne. Jagow will Belgien aufteilen. Wir haben uns heute die Karte angesehen. Ich predige immer Errichtung von Vasallenstaaten. . .. Meine Idee gestern dem Kanzler und dann beim Essen Jagow und Stumm auseinandergesetzt: Belgien ohne Lüttich bestehen lassen als deutschen Schutz-staat,ein Stück von Limburg an Holland, die Südecke an Luxemburg und Preußen, französisch Flandern zu Belgien und Belgien durch ein Schutz-und Trutzbündnis in loser Form an Deutschland gekettet. Die anderen sprechen von einem Korridor nach Antwerpen, den wallonischen Rest als kleinen und schwachen Staat. Mein Einwurf, daß dieser nach Frankreich tendieren würde. Das gab der Kanzler zu und meinte, wir müßten die Hand drauf legen. Ich sagte, ich käme immer wieder auf die Notwendigkeit zurück, eine Form loserer Angliederung an das Reich zu finden, auch Hollands wegen, das man nur haben kann, wenn man seine Freiheit schont. Auch hier Schutz und Trutz, eventuell koloniale Gemeinsamkeit, wirtschaftliche Vorteile für die Holländer etc." (22. 8. 1914)

Zwischendurch plädierte Riezler gegenüber dem Kanzler für Härte, der offenbar Frankreich eher schonen wollte: „Heute ließ mich der Kanzler kommen, frug mich nach Friedens-bedingungen und meinen Ideen — erzählt auch, daß Moltke kurz vor dem Krieg gesagt habe, kein Dorf wollen wir ihnen wegnehmen (den Franzosen) (l'appetit aber käme en mangeant). Der Kaiser hätte bereits gesagt, Belgien müsse annektiert werden. Er habe ihn zunächst reden lassen, ihm nur später den Floh ins Ohr gesetzt, dort wären so viele Katholiken. Belgien wollen die Militärs verschwinden machen, es zu erhalten setze er nicht mehr durch. Daher Aufteilung zwischen Holland Frankreich und uns.

Ich habe ihm gegen das letztere und gegen die Phantasie einer Schonung und Versöhnung mit Frankreich gesagt, es wäre falsch zu rechnen, daß Frankreich sich nun mit uns versöhnen würde, weil das das Vernünftigste wäre; die Elastizität Frankreichs wäre enorm, seine Vitalität wäre ganz in der Phantasie, was es seit 1870 geleistet hätte, Finanzimperialismus etc. Daher Frankreich unter Einbeziehung der Hälfte von Belgien stärker wäre, als zuvor, zumal diese Gebiete volkreich sind und fruchtbarer an Kohle und Kindern.“ (22. 8. 1914).

Wenige Tage später sprach Riezler mit Karl Helfferich, damals Direktor der Deutschen Bank, „über Kriegsentschädigung und über belgische Kontributionen", ferner über die „Möglichkeit" einer „raffinierte(n) Kontinentalsperre nach Niederwerfung Frankreichs und Belgiens etc." gegenüber England (27. 8. 1914). Der 9. September, auf dem Höhepunkt der Marneschlacht, als das sog. September-Programm offiziell nach Berlin an Vizekanzler Delbrück zur Stellungnahme geschickt wurde, war „ein Tag mit schwerer Gewitterstimmung. überall wird gekämpft, die Franzosen leisten noch (sic! I. G.) verzweifelt Widerstand." (9. 9. 1914).

Erst am 20. September registriert das Tagebuch den Ausgang der Mameschlacht mit ihren strategischen Konsequenzen. Am gleichen Tag findet sich auch der einzige indirekte Hinweis auf das September-Programm: „Ich bekomme hier die innere Politik und den Briefwechsel mit Delbrück über Siegespreis und Vorbereitung dazu zu bearbeiten." (20. 9. 1914). Riezler nahm also eine Schlüsselstellung in zwei zentralen Fragen ein: Formulierung der amtlichen deutschen Kriegs-ziele und Verhältnis zur SPD. Riezler fürchtete zwar, England werde sich gegen Deutschland auch nach einem Sieg über Frankreich stellen und hoffte auf ein „Weichwerden Englands" (13. 9. 1914) durch eine Kombination von Kontinentalblock und Revolutionierung des Britischen Empire: „Dann müssen wir eine europäische Konstellation mit einer modernen Art der Kontinentalsperre einrichten und abwarten, bis dies und die Wirkung unserer Bemühungen in Indien, Afghanistan etc., zu einem Ziele führt." (20. 9. 1914).

Krise im Westen, September bis Dezember 1914

Nachdem sich die militärischen Konsequenzen des deutschen Auflaufens an der Mame bei Riezler abzeichneten, stellte sich — gleichsam kontrapunktartig als geheime Stimme des unterschwelligen Zweifelns gegenüber der noch offiziellen und vordergründigen Siegeszuversicht — bei Riezler ein erster Ansatz zur politischen Ernüchterung ein, zunächst noch zaghaft, gegen Kriegsende immer schärfer: „Das tragische in diesem heroischen Kampf des Deutschtums ist, daß uns beinahe nichts schlimmeres passieren könnte, als nach allen Seiten zu siegen — namentlich England gegenüber. Wir haben kein Talent, diese Erbschaft anzutreten und werden ekelhaft und dumm darüber werden. Das einzige, was wir könnten, ist die englischen Flottenstützpunkte nehmen und eine Art Hansareich. Handel durch Militarismus unterstützt —-den Engländern aber alle nichttropischen Kolonien lassen.

Das einzig mögliche im Falle des Sieges, der ja ganz unwahrscheinlich ist — das einzige, was nicht unseren sofortigen Untergang bedeuten würde." (23. 9. 1914).

Aber noch herrschte die offizielle Linie vor: „Wir amüsieren uns in antienglischen Statements, in denen wir den Engländern den Freiheitswind aus den Segeln nehmen wollen." (25. 9. 1914).

Das militärische Scheitern im Westen warf bei Riezler schon Anfang Oktober die Frage nach einem Separatfrieden mit Rußland auf. Seine Vorstellung notierte er erstmals am 6. Oktober: „Rußland den kleinen Finger reichen und dann mit Frankreich verhandeln, Erzgebiet Briey gegen einen Anteil an Belgien, Kriegsentschädigung, bis dahin Okkupation des Nordens als Basis gegen England. Wirtschaftsunion. Unter großen Phrasen eine neue Form Europas. Versteckte Hilfe gegen England.“ Während Riezler gegen Tirpitz, den „Vater der Lüge", polemisierte, erkannte er aber auch: „Die Tragik — daß es keinen natürlichen Siegespreis gibt, außer dem wirtschaftlichen, daß weder die polnische noch die belgische Frage lösbar ist." (6. 10. 1914). Die belgische Frage erwies sich als noch unlösbarer, als im Großen Hauptquartier Einzelheiten über die deutschen Vergeltungsmaßnahmen gegen den angeblichen oder wirklichen Franctireurkrieg der belgischen Zivilbevölkerung bekannt wurden: „Ein Kürassieroffizier erzählte von den Erschießungen in kleinen Städten, alle Männer vom 16. — 60. Lebensjahr, lOOOe reihenweise auf den Wiesen erschossen, jede 10. Leiche lag einen Schritt vor. Die Frauen mußten sie begraben. Niemand wagt, gegen, militärische Notwendigkeiten etwas zu sagen. Es bleibe nichts anderes, als der militärische Schutzstaat für Belgien." Der nagende Zweifel anderWünsch-barkeit eines deutschen Sieges schlägt sich in der Annahme nieder, daß das deutsche Volk „an seiner politischen Herrschaft, wenn es siegt, intellektuell zugrunde gehen wird". Und er erinnerte sich selbst und den heutigen Leser an „Nietzsches prophetisches Wort bei der Reichsgründung" von der „Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des .deutschen Reiches'“. (11. 10. 1914)

In diesem Zusammenhang kam auch die Rede auf die deutsche Weltherrschaft: „Ich antwortete dem Kanzler auf seine Skepsis wegen der Befähigung Deutschlands zur Weltherrschaft, es würde schreckliche Dinge geben, schließlich aber würde das Volk sich die Eigenschaften erwerben, die e brauche. Er sagte, es wäre eine Tragödie, das deutsche Schicksal — ich antwortete, sie würde auf lange Zeiträume gespielt, und der fünfte Akt würde gut enden.“ Aber Riezler widersprach gleich selbst seinem gebrochenen Optimismus: „Eigentlich aber hat er (d. h.der Kanzler. I. G.) recht.“ (11. 10. 1914).

Am Ende des Monats notierte Riezler in einer allgemein düsteren Stimmung angesichts militärischer Rückschläge auch im Osten: „Armes großes Deutschland — vielleicht wird es durch eine Niederlage größer. Zur Weltherrschaft ist es mit dieser Unbildung nicht geeignet. Es muß ganz andere Allüren annehmen." (30. 10. 1914).

Die ausführliche Diskussion im Großen Hauptquartier zwischen der politischen und militärischen Leitung um die Frage eines evtl. Sonderfriedens in der zweiten Hälfte des November 1914 28) registrierte auch Riezler. Er führt Falkenhayns bemerkenswerte Begründung für dessen Antrag auf einen Sonderfri registrierte auch Riezler. Er führt Falkenhayns bemerkenswerte Begründung für dessen Antrag auf einen Sonderfrieden mit Rußland an: „Mit einem zerbrochenen Instrument (der Armee) kann ich keinen Krieg führen", was also auf das Eingeständnis der obersten militärischen Führung hinauslief, daß schon im November 1914 der Krieg für Deutschland so gut wie verloren war. Falkenhayn erhoffte sich nach einem Sonderfrieden mit Rußland trotzdem noch einen günstigen Abschluß mit Frankreich, um dann den Krieg gegen England fortzusetzen. Riezler wandte aber selbst skeptisch ein: „Aber wie, wenn das dann mißlingt? Dann ist der ganze Krieg verfehlt." Den in jüngster Zeit vieldiskutierten Zusammenhang zwischen Kriegseröffnung im Juli/August 1914 durch Deutschland und die späteren offiziellen Kriegsziele umreißt Riezler mit dem sich gleich anschließenden Satz: „Wir lassen die einzigen heraus, von denen wir einen Siegespreis erhalten können." (22. 11. 1914). Mit anderen Worten: der ganze Krieg wäre „verfehlt", wenn das Deutsche Reich mit Frankreich und Rußland „billig", also ohne großen „Siegespreis" Frieden schließen würde, um den Krieg gegen England fortzusetzen, das nicht nur schwerer angreifbar war, sondern auch weniger handgreifliche „Siegespreise" würden bieten können.

Riezler erkannte also deutlich das Dilemma des Deutschen Reichs zwischen Rußland und England: „Wir haben Frieden, wenn wir nachgeben, Österreich oder die Türkei lachieren, sinken aber dann zu einem Vasallenstaat Rußlands herab. Ebenso wie zur See England gegenüber, wenn wir den weltpolitischen Ehrgeiz aufgeben, nur daß dies erträglicher und für unsere Existenz ganz ungefährlich ist. Vielleicht ist eines von beiden geographisches Schicksal. Vielleicht ist der heroische Versuch dieses Krieges uns eine unantastbare Weltmachtstellung 29) I. Ranges zu sichern, halb unmöglich und daher das Volk in seinem Drange so rührend und tragisch. Der Weg ist sehr schmal. Aus allen Diskussionen über die Frage, nach welcher Seite dieser Krieg geführt und zu Ende gebracht werden soll, geht das klar hervor. Schlimm, daß gerade die Militärs erklären, wir können nach allen drei Seiten nicht fertig werden. Die Koalition sprengen, uns für einen künftigen Krieg nach Osten den Rücken im Westen decken, müßte das mindeste sein, wenn nicht, dann West und Ost wirtschaftlich so schwächen. Rußland kommt wieder, solange wir ihm nicht die Expansion nach Balkan und Konstantinopel öffnen. Der schmale Pfad eines möglichen deutschen Aufstiegs zur Weltherrschaft: Verschiedene Möglichkeiten ringsum Deutschland, d. h. nach Nordwest und Südost ein System kleiner Staaten, deren freies Leben durch Deutschland gesichert wird. Das aber nur durch leichte Hand, Freiheitsgerede, kleine Machtmittel möglich. Das würde unsere wirtschaftliche Vormacht in Europa garantieren. Das wäre gangbar, wenn wir politisch Talent hätten, das haben wir nicht. Diese politische Möglichkeit geht an der Unbildung der Deutschen, insbesondere dem politischen Gewicht der Meinung des unpolitischen Soldaten zugrunde. Das zweite ist das Erbe Englands, bei Sprengung des französisch-russischen Bundes und Anschluß an einen von beiden. Das dritte ist Verständigung mit England, Teilung des Welthandels, und militärische Hegemonie in Europa. Dieser Weg war gangbar ohne die Flotte vielleicht, sicher ohne die Verbohrtheit der Engländer." (22. 11. 1914).

Trotz aller partiellen Selbstkritik riet Riezler, als der Kanzler ihm von russischen Sondierungen durch den dänischen Staatsrat Andersen berichtete, die Angelegenheit dilatorisch zu behandeln und erst noch den militärischen Sieg über Rußland zu erzwingen (26. 11. 1914). Die Auskunft bei den militärischen Führern im Osten, Hindenburg und Ludendorff, die der Kanzler am 6. Dezember in ihrem Hauptquartier in Posen besuchte, fiel offenbar nicht ermutigend aus, sondern lief eher auf die Befürwortung eines Sonderfriedens hinaus, „wenn Rußland ein Friedensangebot macht" (12. 12. 1914).

Riezlers fröhlicher Optimismus erhielt dadurch offenbar einen neuen Stoß. Nach einem langen Gespräch mit Ernst Cassirer, u. a. „über die Zukunft des deutschen Geistes", kam Riezler wieder auf das Thema der „Tragik" in der deutschen Situation zurück: „Die Tragik in der Entwicklung des modernen Deutschland — siegt es, so werden alle Kräfte absorbiert für Aufgaben, für die der Deutsche kein Talent hat — Weltherrschaft, die seinem Geiste seiner Größe entgegen ist. Die Bücher, die heute in den Schützengräben erdacht werden, werden dann nicht mehr geschrieben. Endet der Krieg unentschieden, so werden die Anstrengungen nicht geringer. Seltsames Schicksal. Die gewaltsame Geste unserer Nationalisten, auch unserer Politik erzwungen durch die geographische Lage. Das durch sie gestellte politische Problem, inmitten großer und kleiner Staaten an und für sich nur oder jedenfalls am besten lösbar durch eine Vormacht der Freiheit für die kleinen Staaten, wirtschaftliche Hegemonie etc. und die dazu gehörige Methode. Dazu aber fehlt jetzt jede Begabung. Wenn sie erworben sein wird, wird es zu spät sein. Das ist die Tragik, daß das kausale Ineinandergreifen der verschiedenen Entwicklungsreihen nicht Ausdruck eines Planes oder Sinnes, sondern zufällig ist, die Tragik der auseinanderfallenden Zeitpunkte." (13. 12. 1914).

So überrascht nicht, daß es zum Jahresende „schlimme Tage“ gab: „Weihnacht verlief still und traurig. ... Eigentlich zum erstenmal wirklich trübe Gedanken über den Ausgang. Allgemeines Verbluten“ (29. 12. 1914). Seitdem befürchtete auch Riezler, offensichtlich nicht nur er, die Möglichkeit eines „Absprengens Österreichs", also umgekehrt einen Separatfrieden mit Österreich-Ungarn, der Deutschland völlig isoliert hätte.

Neuer Auftrieb im Osten — Januar bis Herbst 1915 .

Nach dem Jahreswechsel ging das Leben und der Krieg weiter. Schon Anfang Januar 1915 schien sich ein Silberstreifen am östlichen Horizont abzuzeichnen: Militärische Schwäche Rußlands und die Hoffnung auf die neuen deutschen Armeekorps, die noch rechtzeitig im Osten den Sieg über Rußland erzwingen könnten, um so ein Abspringen Österreich-Ungams zu verhindern (7. 1. 1915). Nur vier Tage später trat die Doppel-Hoffnung auf Separatfrieden mit Rußland und — zunächst noch indirekt in Kritik am deutschen „Ungeschick, russische Revolution vorzubereiten", — auch die Aussicht einer Revolution in Rußland hinzu (11. 1. 1915).

Riezler selbst machte Vorschläge zur Revolutionierung Rußlands, u. a. durch den gezielten Einsatz polnischer Juden (20. 1. 1915). Ende Januar besprach er mit Oberost in Posen die „Möglichkeit russischer Revolution" (25. 1. 1915). Der deutsche Sieg über eine russische Armee in Masuren vom 7. bis 22. Februar 1915 gab neuen Auftrieb, nicht nur bei den Nationalliberalen, worüber sich Riezler mit starken Worten mokierte (17. 2. 1915), sondern auch bei Riezler. Am 27. 2. notierte er, offensichtlich voll Befriedigung: „Ich bohre immer an einer deutschen Vorherrschaft über Mitteleuropa und alle kleinen Staaten unter dem Deckmantel einer mitteleuropäischen Konföderation ohne Einbuße an deutscher Macht" (27. 2. 1915). Kaum schien sich die militärische Lage zu bessern, so kehrte auch die Konzeption des September-Programms zurück, ohne daß es je explizit erwähnt wurde. Wenige Tage später tauchte auch bei Riezler in einer kurzen Skizze einer denkbaren Verhandlungsposition für Sonder-friedensverhandlungen mit Rußland (langfristig: „langsamer Ausverkauf im Osten, in Reihenfolge Afghanistan, Persien, Türkei, Österreich“, kurzfristig: Status quo für Türkei und Österreich, „Versicherung späterer Verständigung und langsamen Abbaus unserer Orientpolitik") zum erstenmal „Grenzberichtigung in Polen" als deutsche Forderung auf, außerdem „russische diplomatische Unterstützung unseres Drucks nach Westen" (7. 3. 1915).

Am 9. März war Oberost „wieder hoffnungsvoller. Sie greifen an und hoffen, die Russen zu werfen." Da zwei Tage später Andersens Auskunft über seine Mission in Petersburg die Hoffnung auf den russischen Sonderfrieden zerstörte (11. 3. 1915), war der Weg frei für die große deutsche Ostoffensive, die das Macht-denken bei Riezler noch einmal kräftig förderte. Mitte April 1915 präzisierte Riezler sein „Mitteleuropa" -Konzept, offensichtlich in großer Ausführlichkeit, wovon die Skizze im Tagebuch vermutlich nur eine stenogramm-ähnliche Zusammenfassung gibt: „Gestern lange mit dem Kanzler zusammengesessen, um ihm mein neues Europa, d. h. die europäische Verbrämung unseres Machtwillens auseinanderzusetzen. Das mitteleuropäische Reich deutscher Nation. Das bei Aktiengesellschaften übliche Schachtelsystem, das deutsche Reich eine AG mit preußischer Aktien-majorität, jede Hinzunahme neuer Aktionäre würde diese Mehrheit, auf der, als auf der preußischen Hegemonie, das Reich steht, zerstören. Daher um das deutsche Reich herum ein Staatenbund, in dem das Reich ebenso die Majorität hat wie Preußen im Reich — daher denn Preußen auch in diesem Staatenbund die tatsächliche Leitung hat. Die belgische Frage so lösen, daß sie dieser zukünftigen Entwicklung nicht im Wege steht, sondern sie im Gegenteil selbst heraufführen hilft. Dann Österreich so behandeln, daß es von selbst hineinwächst. Das wird es und muß es. Dann den europäischen Gedanken in Skandinavien und Holland stärken. Man braucht gar nicht von Anschluß an die Zentralmacht zu reden. Der europäische Gedanke, wenn er sich weiter denkt, führt ganz alleine zu solcher Konsequenz. Dito die Ermüdung und der nach dem Kriege zu erwartende Pazifismus. Man muß der Welt den ewigen Frieden versprechen" (18. 4. 1915).

So wendet sich Riezlers nationale Selbstkritik wieder vornehmlich gegen den „wahnsinnigen politischen Unverstand der Herrschaft der blinden Affekte", der eine so fein-gesponnene Politik zerstören würde. Daher Riezlers Stoßseufzer: „Armes Deutschland. Naives Land. Ideologen der Gewalt und solche der Bescheidenheit“ (28. 4. 1915).

Mitte Mai diskutierte Riezler auf einer Fahrt durch die zerstörten Ardennendörfer mit Helfferich abermals die politischen Aussichten. Dabei faßte Riezler Konsequenzen einer Eventualität ins Auge, die ihn, wenigstens in diesem Punkt, wieder in die Nähe zu den von ihm sonst so erbittert bekämpften Machtpolitikern vom Typ der All-deutschen und der meisten Militärs rückten: „Auf der Fahrt lange mit Helfferich über die Eventualität gesprochen, daß wir keinen Frieden mit England bekommen und auf dem Gebiet Stehenbleiben müssen, ja auf die Enteignung des deutschen Eigentums in England etc. mit der Austreibung der Belgier und Franzosen antworten müssen. Helfferich, der seine politische Tradition erst aus dem neuen Deutschland hat, überhaupt innerlich nicht zum alten gehört, hat am meisten den modernen Machtwillen. Der Kanzler, von all den Menschen des alten Deutschlands, die also in der Atmosphäre von 70 und 80 groß geworden sind und denen zumeist ein deutsches Weltreich ein widersinniger, undenkbarer Gedanke ist, der einzige, der mit den Erlebnissen allmählich umlernt. Lange mit ihm über den Sinn des Krieges gesprochen, nach dem er als Geschöpf der alten Humanitätskultur immerfort sucht. Die Tölpelhaftigkeit, innere Ideallosigkeit der Alldeutschen. Schreckliche Aspekte. Wenn wirklich die Welt in Zukunft dem Ruin verfallen soll, so ist die Frage dieses Krieges, ob und wie sehr, zwischen der hohlen, nichtssagenden englisch-amerikanischen Plattheit, die die Gegenwart international beherrscht und zeichnet, ein deutscher Geist nicht nur für sich bestehen, sondern der Welt ein Signum aufdrücken soll“ (16. 5. 1915).

Unter dem Eindruck der italienischen Kriegserklärung an Osterreich-Ungarn räumte Riezler ein: „Die ganze ursprüngliche Rechnung ist durch die Schlacht an der Marne ins Wanken geraten" (25. 5. 1915).

Nach der Eroberung Warschaus stellte sich im August 1915 die polnische Frage aufs Neue. Im Sog des militärischen Erfolgs sprach er sich nun auch strikt gegen die sog. austropolnische Lösung aus, die Kongreß-Polen mit Österreich-Ungarn verbunden hätte, da Polen „uns die neue Teilung — Wegscheidung der Narewund Warthelinie — nie verzeiht, zumal wenn wir, was wir dann müssen, dort germanisieren" (19. 8. 1915). Riezler akzeptierte also damals, wenn auch mit gewissem Widerstreben, die Konzeption deutscher Annexionen in Polen und die anschließende Germanisierung des sog. „polnischen Grenzstreifens in diesem Punkt übrigens in Übereinstimmung mit dem konservativ-liberalen Historiker Friedrich Meinecke In einer Aufzeichnung für den Kanzler plädierte er für einen polnischen „Schutzstaat mit einer Verfassung, die den Agrariern die Macht gibt, deutschen Prinzen als Großherzog von Warschau, Militärkonvention, keine Freizügigkeit, Zollanschluß. Kein Gebiet weg-nehmen auf unserer Seite, nur das, was Österreich konzediert werden muß" (23. 8. 1915). „Polen würde die Probe auf das Exempel“ für die Mitteleuropa-Konzeption Riezlers: „Neue Zeit — die Zukunft würde dem Reichsgedanken gehören, langsames Hinauswachsen über das Nationale durch lose Angliederung der kleinen Staaten, aber nur wenn jetzt der Grund gelegt wird oder wenn wenigstens nichts geschieht, was sich dieser zukünftigen Entwicklung in den Weg stellt. Beherrschen, aber leben lassen!“ (29. 8. 1915).

Im Rahmen einer sog. germano-polnischen Lösung trat Riezler für eine relativ milde Behandlung der Polen ein, mit einer Begründung, die ganz in sein Konzept vom zu Mitteleuropa erweiterten Reich paßt: „Polen ist der einzige Fall, wo wir die für die deutsche Zukunft nötige Form des kulturell freien Schutzstaats schaffen und beweisen können. Wenn es gelingt, zeigt es den Deutschen den einzig gangbaren Weg zu dauernder Größe" (23. 9. 1915). Denn um die „Größe“ Deutschlands ging es Riezler noch immer, selbst in der gebrochenen Form, daß er beklagte, England könne Deutschland „zur Ausnützung aller Möglichkeiten zwingen, in weltweite Probleme hineintreiben — gegen unseren Willen uns das Verlangen nach Weltherrschaft auf-nötigen" (4. 10. 1915).

Als Grundlage zukünftiger und dauernder „Größe" Deutschlands erschien ihm die engere Verbindung von Deutschland und ÖsterreichUngarn, „ein mitteleuropäischer Imperialismus der leichten Hand": „Dieser Krieg hat Europa so tief aufgewühlt, bringt so viel neue Faktoren, neue Kräfte und Motive aus der Tiefe — daß in der Fülle der Möglichkeiten niemand irgendeine Wahrscheinlichkeit der europäischen Entwicklung aufstellen kann. Auch so grundlegende Änderungen wie die Loslösung Englands von Frankreich oder umgekehrt sind möglich. Auf dem dünnsten Boden steht für die Zukunft die deutsch-russische Linie, so nahe sie vielleicht für die flüchtige Konstellation des Friedensschlusses liegt. Es ist unmöglich, eine Neuordnung Europas aus dem Boden zu stampfen — aber es ist notwendig den Keim einzulegen, der ohne Kriege wachsen kann. Es ist der Augenblick, da die nationalstaatliche Entwicklung sich überschlägt. Entweder geht Europa zugrunde, oder es entwickelt sich ein mitteleuropäischer Imperialismus der leichten Hand. Kern dazu — Deutschland und Österreich. Das kann nicht schiefgehen und gibt die Möglichkeit des Weiterwachsens. Außerdem unbedingte Notwendigkeit, Europa von den Rüstungen zu erretten“ (11. 10. 1915).

Riezler traf sich hier mit der neuen Konzeption Falkenhayns, der auf „mitteleuropäische vereinigte Staaten“ drängte, die er, im Unterschied zu Riezler, jedoch schon in sehr frühem Stadium staatsrechtlich verankert sehen wollte — etwas, was Riezler als politisch impraktikabel ansah: „Das einzige, was wir können, aber auch müssen, ist, die Dinge beim Friedensschluß so anzulegen, daß die europäische Entwicklung in diese Richtung gedrängt wird — also den Boden zu bearbeiten, die Saat auszustreuen“ (16. 10. 1915). Ähnlich wie für Polen tendierte Riezler nun auch für Belgien zu einer Lösung, die auf eine Amputierung Belgiens durch Annexionen und Herabdrücken eines Rumpf-Belgiens zum deutschen Satellitenstaat hinauslief: „Ich bin jetzt für die Annexion des Maasbogens und Gründen eines überwiegend flandrischen Staates, mit Schutzverträgen etc. Vielleicht Frankreich ein wallonisches Stück. Verzweifeltes Problem“ (16. 10. 1915). Die Unlösbarkeit des deutschen Dilemmas in Ost wie West trieb einen sensiblen und intelligenten Menschen wie Riezler schier zur Verzweiflung, als sich herausstellte, daß auch die Erfolge des Sommers 1915 noch nicht den erwarteten Zusammenbruch Rußlands brachten.

Polen und U-Boot-Krieg — Herbst 1915 bis März 1917 „Je länger der Krieg dauert, desto schwerer, langsamer, niedriger schleichen die Gedanken.“ Auf Deutschlands „dicht aufeinander-folgenden Schläge der Balkanaktion, Gallipoli, Drohung im Orient, Unterbrechung der russischen Verbindung mit Saloniki, eventueller Friede Serbiens“ mit Hoffnung auf Zer15 bröckeln der Entente folgt wieder die Einsicht in den Durchhaltewillen der Entente: „Den Frieden anbieten? Bei der allgemeinen Verblendung der Gegner schwer, kaum möglich? ... Bieten wir Frieden an, so wird der Kriegs-ertrag minimal! aller Wahrscheinlichkeit nach" (23. IQ. 1915). Als deutsche Lösung sieht er wieder: „Der mitteleuropäische Bund, der aber ist bei Hinzutritt der kleinen Staaten so stark, gegen den schließen sich die anderen zusammen. . . Schwere Gedanken, unsere Kräfte nehmen langsam ab, der eine Trost nur, daß es bei den anderen noch schneller geht" (23. 10. 1915).

Von einer Reise nach Warschau kehrte Riezler zwar mit dem befriedigenden Gefühl zurück, daß es bei allen Mängeln doch möglich sei, Polen für „Mitteleuropa" zu gewinnen (29. 10. 1915), doch plagte ihn immer wieder die „Sorge wegen Polen", vor allem wegen der Rivalität zu Osterreich-Ungarn (2. 11., 5. 11., 26. 11. 1915). Nicht minder drückte ihn die „wachsende Friedenssehnsucht im Lande", die sich auch auf die SPD auswirkte, so daß sie erst wieder im offiziellen Sinn zu bearbeiten war: „Ich glaube nicht mehr an gute Bedingungen. Wie soll verhandelt werden, mit der Friedens-sehnsucht jm Rücken! Mit dieser unpolitischen Sozialdemokratie, die dem Gegner den Rücken stärken wird" (26. 11. 1915).

Die „trübe Stimmung" über den „allgemeinen Wahnsinn" des Krieges (2. 12. 1915) brachte Riezler zum „Nachdenken Über die enormen ideellen Gegensätze zwischen uns und Westeuropa. .. Unsere Freiheit etwas ganz anderes. Schwierigkeit, eine der Formel von 1789 entgegenzusetzende zu finden" (4. 12. 19) 5). Die praktische Schwierigkeit sah Riezler schon in der Unfähigkeit der preußischen Regierung, sich zu einem wirklich neuen Kurs gegenüber den Polen in den preußischen Ostprovinzen durchzuringen (3. 1. 1916).

Anfang Januar 1916 wurde auf Drängen Falkenhayns die U-Boot-Frage wieder virulent. Admiral Holtzendorff versprach dem General (laut Riezler), nach Beginn des uneingeschränkten U-Bootkriegs im März 1916 wäre England „kraft des jetzigen technischen Standes in 4— 8 Monaten" bereits „friedensreif". Bethmann Hollweg wandte ein: „Wenn wir verlieren, würden wir wie ein toller Hund erschlagen." In diesem Zusammenhang warf Riezler bereits das „Angebot eines drei-wöchentlichen Waffenstillstands zwecks unverbindlicher Verhandlungen" in die Debatte, mit dem Ziel, so die Massen in Europa emotional zu mobilisieren. Werde das Angebot abgelehnt, könnte Deutschland „zunächst Lüttich annektieren und so mit anderen fait accomplis drohen, sie eventuell folgen lassen" (11. 1. 1916). Das strategische Mittel des späteren „Friedensangebots" der Mittelmächte vom 12. Dezember 1916 zeichnet sich in diesen Überlegungen bereits ab.

Das ganze Jahr 1916 ist gekennzeichnet u. a. durch das „Hin und Her über den U-Boot-krieg. Der Kanzler hat sich noch nicht entschieden. Schwerstes Risiko, aber unmöglich, eine erhebliche Erfolgsmöglichkeit zu leugnen. • • Immer noch furchtbare Gefahren in der Lage" (1. 2. 1916).

Die nächste Eintragung bringt wieder die beiden zentralen Probleme des Jahres zur Sprache: „U-Bootkrieg. Amerika. Schwanken des Kanzlers. Ich weiß nicht recht, warum er dies sehr große Risiko vielleicht doch laufen will. .. Polen. Meine Überzeugung, daß, wenn wir nicht vor dem Friedensschluß ein fait accompli schaffen, wir uns dann der europäischen Behandlung der polnischen Frage aussetzen und uns außerdem mit Österreich in die schlimmste Zwickmühle setzen. Schreckliche Verkettung. Wachsende österreichische Propaganda. Wir werden wohl anfangen müssen, uns zu wehren. Das ist leicht. Wir müssen bloß durchsickern lassen, daß Österreich ein Kronland will, daß wir erhebliche Grenzteile dann nehmen müssen, daß uns ein unabhängiges Polen lieber ist, etc. . . Am besten das fait accompli sofort schaffen, Unabhängigkeit Kongreßpolens und Beitritt zum deutschen Bund in Sonderstellung. Kriegserklärung Polens an Rußland. Bündnis mit uns. Aushebung, Fahnen Tam Tam etc. Dann kommt die Sache in die Schulbücher und geht leichter. Ein bißchen napoleonisches in unsere Politik. Ich glaube, unser bürokratischer Apparat mit dem langsamen Begreifen und Umlernen und dazu der zögernde, vorsichtig abwägende Kanzler — das geht in die jetzige Zeit nicht hinein. Begreifliche Sehnsucht der Leute nach Tat, Bewegung, nach dem schöpferischen Genius. Aber Gott bewahre uns vor dem falschen und ungebildeten, der kann wie ein Elefant in dem Porzellanladen hausen" (4. 2. 1916).

Die Bedächtigkeit des Kanzlers löste im Innern „große U-Boot-Hetze" der Rechtskreise gegen den Kanzler aus (11. 2. 1916), die ihn unter massiven Druck setzte. „Immer noch U-Boot-krieg. Nunwieder an Stelle der betrügerischen Taktik des stillen Torpedierens Idee einer Proklamation, worin das offen gesagt werden soll. Kriege heißt das die Desperadopolitik im Gegensatz zu der Verbrecher-politik" (22. 2. 1916).

Damals formulierte Riezler zum erstenmal ausführlich seine immer grundsätzlicher werdende Kritik an der inneren Struktur des Deutschen Reichs: „Das traurigste, wie das Volk auseinanderfällt. Unerhört alle diese Schieber und Parlamentarier, die nichts gelernt haben und nun in Weltgeschichte dilettieren, das dümmste Zeug glauben und weitergeben und außer Unbildung und Dummheit nur ein großes Maul haben. Was soll werden? Es sieht eben so aus, als wären es gerade diese, die das Denken der Nation beherrschten. Es scheint beinahe unnatürlich, daß diese nicht an der Herrschaft sind, statt einer Regierung, die vielleicht die unpolitischen Leute des Volkes, aber kaum fünf vom Hundert der politischen Menschen hinter sich hat. Deutschland muß wohl einmal durch die Herrschaft der Alldeutschen hindurch. Wie die großen Worte, die schimmernde Wehr, die Marineparaden und die chauvinistische Hetzerei und Quertreiberei der Tirpitzleute das Liebäugeln Bülows mit den Phrasen die Politik vor dem Kriege verdorben haben, so wäre es eigentlich ganz logisch, wenn Deutschland an den blinden, gemeinen Hetzereien derer um Tirpitz, an dem ganzen Unverstand der Leute, die den U-Boot-krieg erzwingen wollen, zugrunde ginge. Es sieht beinahe so aus, als dränge der Wille der Nation in den Abgrund... Seltsam. Die Zeitungen wie die Menschen machen den Eindrude, als seien sie komplett verrückt geworden, als wollten sie mit Gewalt in den Abgrund der Unvernunft hinein, der sich nun als rücksichtsloser U-Bootkrieg präsentiert. Der Kanzler kolossal angefeindet... Der uneingeschränkte U-Bootkrieg für die Menschen wie eine Orgie rücksichtsloser Gewaltanwendung, an der sie sich berauschen. Wie trunken. Es haben, wenn man das Geschrei hört, die Engländer beinahe recht, wenn sie immer sagen, die Deutschen sind toll geworden. Rausch an der gewaltsamen Methode. Daß es Grenzen der Gewalt gibt, daß alles davon abhängt, ob die Anwendung der Gewalt sich in den Gesamtfolgen lohnt: das will keiner bedenken" (22. 2. 1916).

Unter dem Eindruck der — von Riezler begrüßten — Entlassung von Tirpitz und der darauf einsetzenden neuen Welle chauvinistischer Propaganda gegen den Kanzler notierte Riezler in immer stärker werdender Verzweiflung: „Seltsam der politische Nebel in Deutschland — nirgends ein Wort, das Verständnis für die tatsächlichen Fakten der deutschen Politik verrät, überall nur Phrasen und Gefühlswallungen“ (19. 3. 1916).

Riezler sprach sich nun eindeutig gegen den uneingeschränkten U-Bootkrieg und für die Vermeidung eines Kriegs mit den USA aus: „Kein Zweifel, daß der Kreuzerkrieg mit vollkommener Rettung der Mannschaften sehr schwer und gefährlich zu führen ist. Aber schließlich kann das deutsche Reich nicht über dem Interesse der U-Boot-Kommandanten kaputtgehen" (28. 4. 1916). Gegen „das Toben der Presse" von rechts (28. 4. 1916) setzte Riezler — mit wachsender Klarheit — die Konsequenzen des U-Bootkriegs in einer Aufzeichnung vom 30. 4. 1916 für den Reichskanzler auseinander: Der uneingeschränkte U-Boot-krieg bedeute den Kriegseintritt der USA, Entmutigung für die eigene Seite, Ermutigung für die Entente. Nur ein voller Erfolg, der ohnehin nur allmählich eintreten könne, würde beim Kriegseintritt der USA genügen. Der volle Erfolg sei jedoch unwahrscheinlich, und mit Hilfe Amerikas könne England durchhalten. Am schwersten würden die Rückwirkungen auf Deutschland sein: „Das deutsche Volk will keinen neuen Feind, geschweige denn die ganze noch neutrale Welt gegen sich haben. Es würde in der durch die Phantasie gesteigerten Hoffnung auf die dann eintretenden Erfolge der U-Boote die Situation in den ersten Wochen ertragen.

Treten dann immer neue Gegner auf den Plan, spürt es den Kampfwillen der Feinde neu-belebt, werden die hochgespannten Hoffnungen auf die U-Boote enttäuscht, tritt der Erfolg zu langsam oder nicht voll ein, so wird auch bei der lauten Minderheit, die für den U-Bootkrieg sich begeistert hat, schnell eine furchtbare Mutlosigkeit eintreten. Alle diese Treiber werden schnell vergessen haben, daß sie es sind, die diese Politik ersehnt haben.

Die große Mehrheit wird gleich nach Eintritt Amerikas in den Krieg aufs schwerste erschüttert. Wird dann sichtbar, daß die schädlichen Folgen die nützlichen überwiegen, wird die Situation im Innern unhaltbar werden. Auf die in schwerer Wirtschaftsnot unentbehrliche Mitarbeit der Gewerkschaften an der Aufrechterhaltung der Stimmung kann nicht mehr gerechnet werden. Wird ein Mißerfolg sichtbar, an dem dann nicht das Schicksal, sondern die von den Konservativen und Nationalliberalen geforderte U-Boot-Politik schuld ist, so wird ein Sturm einsetzen, der nicht nur die bürgerlichen Parteien wegfegen, sondern auch das Staatswesen von Grund auf zerstören wird."

Es war dies nicht die erste oder einzige Prognose Riezlers, die im Laufe des Kriegs eintraf. Das blutige Gemetzel vor Verdun und der Erfolg der russischen Brussilow-Offensive im Juni 1916 lösten die schwere Krise aus, die zur Berufung der 3. OHL unter Hindenburg und Ludendorff führte. Riezler sah auch in Deutschland „die Macht der Lüge", d. h. „die Unterdrückung aller möglichen politischen Nachrichten und Ansichten, die das Durchhalten erschweren konnten". Riezler erkannte den „tiefen Riß zwischen Preußen und den übrigen." Ihn bekümmert der „scheinbar hysterische Zustand der Exaltados. Bei jeder Gelegenheit, Demütigung, Herausforderung, Preisgabe der Ehre des deutschen Volkes. Als Realpolitik gilt ihnen die sentimentalste von allen. Auf diesem öffentlichen Geist kein Weltreich aufzubauen" (12. 6. 1916).

Aus der zunächst eher taktisch gemeinten Kritik wird ein immer schärferes Erkennen der strukturellen Schwächen des Wilhelminischen Reichs: „Gestern abend drei Stunden allein beim Kanzler abends. Das neue Deutschland durchgesprochen, das jetzige Chaos, die Kluft im öffentlichen Geist zwischen Osteibien und dem Süden.. . Der Kanzler sprach von dem Alpdruck der Revolution und dem Kriege, der auf ihm laste. Ungeheure Ansprüche der heimkehrenden Feldgrauen, Enttäuschung über den Frieden. Unbrauchbarkeit der bürgerlichen Parteien, die sich gegen Links nur durch Aufstachelung von Leidenschaften halten können, aber sonst so innerlich ausgehöhlt sind, nichts mehr zu sagen haben. Die Parteien müssen ganz neu werden, der öffentliche Geist von Grund auf umgestaltet werden. Wird er das nicht, geht Deutschland zugrunde. Unmöglichkeit, Osteibien zu ändern — muß gebrochen werden — untergehen" (14. 6. 1916).

Die Zeit bis zur nächsten Eintragung waren „schlimme Wochen": „Die Österreicher geschlagen. Die Hoffnungen in Paris neu belebt. Italien erleichtert. .. Stimmung bei uns sehr ernst. Auch wir treiben allerdings lang-33) sam der Revolution zu. Schlimmstes die U-Bootfrage. Kommt es im Herbst nicht zum Frieden, so war die Politik in dieser Frage ein Fehler, dann war das va banque Spiel richtig. Kommt es zum Frieden, so wird er viel schlechter, als man glaubt, und daran sollen dann die U-Boote, respektive der Verzicht auf sie schuld sein. Wir hätten Sieg und Weltherrschaft aus der Hand gegeben, die Schreier behalten dann anscheinend recht, und das arme Deutschland gerät in die Hand dieser Kerle, die teils Schieber, teils Dummköpfe sind" (29. 6. 1916).

Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, wen er damit meinte, fügte Riezler einige Tage später hinzu: „Wehe dem armen Deutschland, wenn der alldeutsche Jugend-wahn siegt" (2. 7. 1916).

Ausgehend vom Entschluß, ein polnisches Königreich auszurufen, und dem permanenten Dilemma, das Riezler ständig vor sich sah, versuchte er zu Beginn des dritten Kriegsjahres eine Sinngebung für denKrieg zu finden: „Von Deutschland aus gesehen dreifacher Sinn — Verteidigung gegen das gegenwärtige Frankreich, Präventivkrieg gegen das zukünftige Rußland (als solcher zu spät), Kampf mit England um die Weltherrschaft. Fehler der deutschen Politik, daß sie die drei Ziele gleichzeitig wollte, zwischen den drei Motiven zwei Jahrzehnte unsicher hin und herschwankte. Unter dem Einfluß eines in Politik ungebildeten, vorwiegend gefühlsmäßigen öffentlichen Geistes" (1. 8. 1916). Parallel zur Forcierung des Tempos in der polnischen Frage (8. 8.): „Die alldeutsche Agitation geht weiter. Absolutes Tollhaus, überall die wildesten Gerüchte. Kaiser trübsinnig, zu schwach, der Abdankung nahe... Bei aller Hetze die Professoren voran. Armes Deutschland" (10. 8. 1916).

Auch die Ernennung Hindenburgs und Ludendorffs brachte kaum Erleichterung. Riezler erwähnte Falkenhayns Sturz nur en passant (30. 8. 1916). Bedeutsamer sind die Eintragungen des gleichen Tags zu den zentralen Themen des Jahres: „Inzwischen Alldeutsche Revolution. Polenfrage. Ängste um Rumänien. .. Die italienische Kriegserklärung, gleich darauf die rumänische... Die U-Bootfrage nach dem Loslegen Rumäniens wieder auf des Messers Schneide... Schwerste aller Entscheidungen. Wenn die Möglichkeiten nicht zu gering sind, zu wagen — so wird das ganze Volk auf ein Jahrhundert ruiniert, wenn ein schlechter Friede, der kaum zu Tragendes bringt, kommen sollte, ohne daß die Waffe, an die das Volk nun einmal glaubt, eingesetzt wurde" (30. 8. 1916).

Drei Wochen später registrierte Riezler das gute Verhältnis zwischen Reichskanzler und Hindenburg (21. 9. 1916), das die Gesamtlage jedoch nicht änderte: „U-Bootfrage und Polen. Heillose innere Verwirrung und Nervosität. Eine große Menge der Menschen, insbesondere die sog. Intellektuellen, sind gemütskrank. Gutes Zureden hilft nicht" (7. 10. 1916).

Am 5. November 1916 erfolgte die Proklamation des neuen Königsreichs Polen. In seinem Kommentar verknüpfte Riezler sie wiederum mit der Zentralfrage, der deutschen Weltmachtpolitik: „Polen. Sprung ins Dunkle, kann wie alle Taten die größte Dummheit sein und der genialste Streich — ganz wie der Krieg weiterläuft und wie die polnische Sache selbst später von uns geführt wird. Aber die große Linie, die uns aus der kleindeutschen Politik und den Methoden des preußischen territorialen Staates hinausführen soll in die alte Weltstellung des deutschen Reiches als zentraler Kristallisationspunkt der ringsum-liegenden kleinen Gebilde, die über die hinaus weiterhin zu den Vereinigten Staaten von Europa führen soll — die ist drin, dazu ist es der erste Schritt..." (11. 11. 1916).

Die Entscheidung in der polnischen Frage gab Riezler wieder solchen Auftrieb, daß er, zumal nach der militärischen Eroberung fast ganz Rumäniens, wieder auf sein Mitteleuropa-Projekt zurückkam, jetzt in scheinbar noch modernerer, stromlinienförmigerer Verpackung: „Es gibt nur eine Rettung, die liegt in den Vereinigten Staaten von Mitteleuropa mit Polen, getragen von den Arbeitsmassen und einer übernationalen Bewegung — in der Überwindung all der kleinen Nationalismen. Da liegt die Zukunft — und dahin führt der Krieg von alleine die Ideen. Überall wird eine furchtbare Dämmerung des Nationalismus kommen, aber der Deutsche allein ist imstande, ihn zu ersetzen. Zurückbiegen der bismarckschen Politik in die Paulskirche und den politischen Geist des römischen Reichs deutscher Nation. Es wäre ein Schauspiel von grandiosem inneren Sinn, wenn Preußen allein ermöglichen könnte (als notwendige Etappe), was Preußen entbehrlich macht... Ohne Preußen (und Kleindeutschland) als ein zu überwindendes kann Großdeutschland nicht entstehen" (22. 11. 1916).

Auch der Kanzler zeigte sich wieder aufgeschlossen, gleichzeitig skeptisch gegenüber dem noch weitergehenden Drängen der Militärs: „Mitteleuropa. Staatsrechtliche Zusam-sammenfassung. Kanzler sagt mit Recht, man darf die Linie nicht zu sehr betonen, man schweißt sonst die anderen zu sehr zusammen. Der Kanzler meint, die Entwicklung würde, müsse in diese Richtung führen, aber zu machen wäre sie mit den Militärs usw. nicht. Ich entgegnete, sie dürften es nicht merken; natürlich ist aber ihre ganze Tendenz der Gewalt außerstande, auf eine ausdrückliche Stipulierung der deutschen Hegemonie zu verzichten — die Hegemonie selbst ist durchzusetzen, das caudinische Joch ihrer formellen Anerkennung aber nie" (2. 12. 1916). Deshalb beklagte er den zähen Fluß der Verhandlungen mit Österreich-Ungarn über ein engeres Wirtschaftsbündnis. Nun dachte er wieder an „die Aufrichtung dieses Reiches in Grund-und Umriß", so daß es „in den nächsten 100 Jahren nach den kleinen Staaten zuwachsen kann": „Es ist doch klar, daß das isolierte Leben des kleinen Deutschland in der Mitte Europas nur auf Jahrzehnte haltbar ist, den größten Gefahren ausgesetzt bleibt und eine ganz große Zukunft nicht haben kann“ (6. 1. 1917).

Am 9. 1. 1917 wurde dann „wieder der Buchstabe U" geschrieben. Die Entscheidung für den uneingeschränkten U-Bootkrieg fiel an diesem Tag. Bethmann Hollweg fügte sich ihr ebenso wie Riezler (10. 1.). Aber die Situation inspirierte ihn zu einer weiteren hellseherischen Kritik seiner eigenen Gesellschaft: „Hauptgefahr für das Reich der (in die Politik geratene) miles furiosus. Aber grade dieser der Götze der öffentlichen Meinung — nicht des unteren Volkes, was begreiflich wäre, sondern der Gebildeten, was unbegreiflich ist... Die wenigen Sehenden in Deutschland haben insgeheim ein Kriegsziel, das ist die Vernichtung des preußischen Militarismus, des politischen oder dessen, was dieser geworden ist, seit der Soldat aufgehört hat, gebildet zu sein. Niemand darf es sagen, weil es das englische Kriegsziel ist" (12. 1. 1917).

Andererseits registrierte Riezler noch nach Beginn des zunächst überraschend erfolgreichen (im damaligen deutschen Sinn) U-Bootkriegs mit offensichtlicher Befriedigung die Übernahme seiner von ihm seit dem August 1914 hartnäckig in immer neuen Anläufen vertretenen Politik der deutschen Hegemonie in Form des Mitteleuropa-Projekts durch den Kanzler: „Die Politik des Reichskanzlers, das deutsche Reich, das nach den Methoden des preußischen Territorialstaats allein in der Mitte Europas nicht Weltmacht werden kann, wohl auch überhaupt nur begrenzte Zeit haltbar ist, in einen Imperialismus europäischer Gebärde hineinzuführen, den Kontinent von der Mitte aus (Österreich, Polen, Belgien) um unsere stille Führung zu gruppieren — ist eine Zeitlang, wenn auch langsam, vorwärtsgegangen" (11. 3. 1917).

Die Krisis des Deutschen Reichs, März 1917 bis November 1918

Es war das letzte Mal, daß sich Riezler In seinem Tagebuch an diesem 11. März 1917 positiv zu einer noch so „mitteleuropäisch" verbrämten Machtpolitik des Deutschen Reiches äußerte. Der innere Bruch in seiner eigenen Person wie in der Struktur des Deutschen Reichs läßt sich im Tagebuch gut erkennen, denn ohne weiteren Übergang geht Riezler zur wohl scharfsinnigsten und schärfsten Kritik am Deutschen Reich über: „Die alte Weisheit von der enormen Macht des Bestehenden. Es zeigt sich immer klarer, daß dieser Politik der ganze bisherige Aufbau des Staates, die geistige Disposition seiner oberen Schichten, deren wirtschaftliche Interessen etc. entgegenstehen. Auf konservativer Seite die Angst um die Vorherrschaft in Preußen, die Ideologie des preußischen Territorialstaats, aufs engste verknüpft mit der Ostmarkenpolitik, fühlend, daß die Aufgabe, die polnische Frage mit weicher Hand zu lösen, die heutige, von der konservativen Demagogie verunstaltete Ideologie Preußens gänzlich umgestalten muß. Auf der Seite der Schwerindustrie eine ganz primitive ungebildete Macht-und Herrenpolitik, auf nichts weiter bedacht, als auf möglichsten Zuwachs an industrieller Macht nach Westen, Beherrschung der möglichst zu ruinierenden belgischen Industrie — alles diskutabel in der Sache, undiskutabel in der Form, eine ungebildete Parvenupolitik, kurzsichtig, amerikanisch. In der österreichischen Wirtschaftsfrage bedacht auf die Vergewaltigung der österreichischen Industrie und kurze, schnelle Vorteile — aber ohne Weitsicht und absolut nicht verstehend, daß kein Imperium bestehen kann, wenn seine einzelnen Glieder nicht mit ihm und an ihm gedeihen. Wie die Konservativen die Gemütsart des Gutshofes, so übertragen die Schwerindustriellen die des Herren-unternehmens gegenüber den Arbeitern auf die äußere Politik. Das A und O der Politik dieser Leute ist das Verhältnis zur Sozialdemokratie. Daher kommt alle ihre Angst und alle ihre Gegnerschaft. Durch ihren anfänglichen Plan, durch Proklamierung von Eroberungen und eine Hochflut des Chauvinismus die Sozialdemokraten zuerst in die Opposition zurückzudrängen und nach einem kurzen Siege und nationalem Jubel bei den Wahlen u schlagen — haben sie die deutsche These nach innen und außen verdorben — freilich auch der Regierung die Aufgabe, die Linke zusammenzufassen, erleichtert" (11. 3. 1917).

Von nun an zeichnet sich im Riezler-Tagebuch nur noch die Agonie des Bismarckreichs und sein Zusammenbruch im November 1918 ab: „Die Stimmung im Inher nach wie vor sehr ernst und prekär... Es ist absolut klar, ... daß, wenn der Krieg bis über den Herbst dauert, wir froh sein werden, bei zunehmendem Hunger einen vollständigen Umsturz zu vermeiden" (25. 3. 1917).

Die ersten Streiks nach der russischen Februarrevolution und die wachsende revolutionäre Stimmung beschleunigten nicht nur die Forderung nach der längst überfälligen Abschaffung des preußischen Drei-Klassenwahlrechts, sondern verstärkten auch Riezlers Revolutionsfurcht im eigenen Land: „Wenn der Hunger kommt und nicht zum mindesten gleichzeitig der Friede, dann bekommen wir Zustände, die zur Revolution führen müssen, wenn sie dauern. Wir müssen mit der jetzigen russischen Regierung Frieden bekommen; die nächste wird wahrscheinlich sozialistisch sein und den internationalen Frieden des Sozialismus proklamieren” (28. 3. 1917).

Ausführlich berichtet Riezler über die Stimmung während der Auseinandersetzungen um die preußische Wahlrechtsreform, die schließlich zur Osterbotschaft von 1917 führten. Mit der Gründung der USPD, ebenfalls Zu Ostern 1917, spitzten sich jedoch die inneren Verhältnisse im Reich weiter zu. Mit einer geradezu unheimlich hellseherischen Bemerkung, die nur in einem Punkt ungerecht war („Hetze der Haase und Genossen") nahm Riezler sogar bereits kritisch die spätere Dolchstoßlegende vorweg: „Die Aufgabe, durch eih starkes Gesicht während der nächsten Monate alle die Pläne der anderen Zu durchkreuzen, kaum lösbar. Wird sie gelöst, ist der Krieg gewonnen. Brechen wir unter dem Hunger und der Hetze der Haase und Genossen zusammen oder machen wir die Miene dazu — dann wird der schlechte Friede den Arbeitern zugeschrie-1 ben, alles zugunsten der Rechten herumge-! dreht, und das physisch zu tode getroffene I Deutschland wird seelisch völlig verwirrt“ ! (19. 4. 1917). j Zwei Wochen später kommt Riezler wieder auf das deutsche „Tollhaus" zu sprechen: I „Dazu eine Kriegslage, bei der die eine Hälfte I der Nation glaubt, die Feinde in wenigen i Wochen niedergeworfen zu haben, die andere wähnt, selbst kurz vor dem Zusammenbruch zu j stehen. Daher unmöglich, die Menschen zu ; meistern und zu einigen. Die Aufgabe des Reichskanzlers, eine Gesellschaft von Irrsinnigen in den Bahnen der Vernunft zu halten oder, wenn das nicht geht, den am wenigsten irren Weg zu nehmen, mitzugehen und so zu tun, als wäre es der Weg der Vernunft“ (1. 5.

1917).

Nadi dieser ebenso brillanten wie gar nicht ironisch gemeinten Charakterisierung derBethmannschen „Politik der Diagonale" stimmte Riezler sogar dem sozialdemokratischen „Vorwärts" zu, der über die Rechts-Opposition schrieb: „Eine Handvoll Narren“. Dazu noch „der Kaiser: ich schicke eine Kompagnie nach Berlin und jage den Reichstag auseinander.

Alles morsch. Blind, ahnungslos, wie von Gott geschlagen" (13. 5. 1917).

Wegen der Verzögerungen, zu einem Waffenstillstand mit dem revolutionären Rußland zu kommen, tadelte Riezler zwar die SPD. Aber:

„Die dummen Soldaten auf der anderen Seite sehen den Krieg radikal gewonnen, und ganz Deutschland scheint in zwei Teile zu zerfallen. Reventlow tanzt den Veitstanz auf dem morschen Bretterboden über einer gänzlich unterhöhlten alten Welt. Welche Unvernunft — von beiden Seiten" (19. 5. 1917).

Aber schon nach einigen Wochen sind für Riezler „die verschiedenen Exemplare der Provinzialirrenanstalt" nur noch die Rechten und die Generalität: „Wird die OHL im Volk mit den Alldeutschen identifiziert, kommt heraus, daß der Reichskanzler durch die Generalität nach außen wie innen jeder politischen Bewegungsfreiheit beraubt ist, so kommt der Aufstand gegen das System des Militarismus und der Anfang des Zusammenbruchs" (9. 6. 1917).

Das bevorstehende Zusammentreten des Reichstag mußte die Krise beschleunigen.

Daher empfahl Riezler: „Der Kanzler muß SM und OHL im Juli zum Eingeständnis zwingen, daß der Krieg nicht gewonnen ist. Diese Idioten werden sagen, er macht schlapp — sachlich aber nichts zu entgegnen wissen. Er muß die Leute aus den Zeitungsphrasen auf die Ebene des Konkreten bringen. Die wären imstande, ihm sonst nach 6 Monaten, wenn es längst zu spät ist, mitzuteilen, wir wären am Ende und müßten jetzt Frieden schließen, natürlich einen .deutschen'Frieden — sind alle wahnsinnig" (14. 6. 1917). Die Situation trat tatsächlich ein — nur 15 Monate später, mit Ludendorffs Ersuchen um sofortigen Waffenstillstand vom 29. September 1918.

Den Sturz Bethmann Hollwegs durch die OHL in der Julikrise 1917 verstand Riezler als faktische Abdankung des Kaisers; die formale folgte nur 16 Monate später. Mit Bethmann Hollweg verließ auch Riezler die Reichskanzlei. Aus Stockholm und als Gesandter in Moskau konnte er die revolutionäre Entwicklung in Rußland 1917/18 beobachten und die deutsche Entwicklung aus räumlicher Distanz kommentieren. Bei einem kurzen Zwischenaufenthalt in Berlin registrierte er die „kaum mehr verschleierte Militärdiktatur", den faktisch abgedankten Kaiser: „Die milites glorios! sind allmächtig — gestützt auf ihre Erfolge, die namenlose Militärfrommheit des Volkes, die Parteimaschine der Vaterlandspartei etc. Notdürftig verschleierte Militärdiktatur." In einem einzigen Satz resümierte er das Elend der deutschen Entwicklung hin zum Faschismus: „Alles hängt von der Offensive (im Westen; I. G.) ab — glückt sie völlig, so kommt die freudig vom Volke ertragene Militärdiktatur — glückt sie nicht, eine schwere moralische Krise, die friedlich zu bewältigen wohl keiner der jetzigen Regierungsmänner die Kunst hat" (15. 4. 1918). Das Reich hatte also nur die Alternative zwischen siegreichem Militär — Caesarismus und — nach einer militärischen Niederlage — einer Diktatur des „alldeutschen Jugendwahns", also dem späteren Faschismus.

Das dringende Ersuchen der OHL um einen sofortigen Waffenstillstand vom 29. September 1918 erlebte Riezler wieder in Berlin. Er faßte das Ereignis sofort als Eingeständnis der Niederlage auf: „Das ist also die Niederlage. Ich glaube nicht einmal, daß wir den Waffenstillstand bekommen können. Die Niederlage in ihrer schlimmsten Form — wenn nicht ein Wunder geschieht, oder die gegnerische Koalition in Unordnung gerät, werden wir nahezu das Diktat akzeptieren müssen. Skla-B verei auf 100 Jahre. Der Welttraum zu Ende auf immer. Das Ende jeder Hybris. Die Zerstreuung der Deutschen über die Welt. Schicksal der Juden. Ich stiere immerzu ins Dunkel. Daß man nicht heulen kann wie ein Schloßhundei. .. Die Deutschen? Was werden sie bedeuten, ein Hohn auf soviel Dummheit. Und zu denken, daß der Sieg zu haben war, mit etwas weniger Hybris. Galgenhumor bei der Bourgeoisie, die immer nur Aufschwung etc. gesehen und gedacht hat und jetzt mit einer gewissen Neugierde das Schreckliche erwartet, ohne seine Bedeutung und seinen Umfang konkret zu begreifen“ (1. 10. 1918).

Die historischen Konsequenzen

Riezlers Prognose traf nur zu rasch ein. Auch seine mittelfristige Voraussage erfüllte sich: Nach dem Zwischenspiel der Weimarer Republik gelang es der Rechten tatsächlich, mit Kriegsschuldagitation und Dolchstoßlegende die Mehrheit des deutschen Volkes zu verwirren und in Gestalt der NSDAP 1933 die Macht zu erlangen, mit dem Erfolg, daß der „alldeutsche Jugendwahn" Europa und Deutschland in die noch schlimmere Katastrophe des Zweiten Weltkriegs trieb. Kein Wunder, daß der entsetzte Hellseher Riezler seinen eigenen Anteil an der deutschen Hybris im ersten „Griff nach der Weltmacht" mit grüblerisch-selbstquälerischen Schweigen in sich selbst begrub. Aber er löste sich endgültig von allen deutschen Reichs-Illusionen und empfahl 1947 für das geschlagene Deutschland eine Politik der Neutralität zur Heilung der Wunden Im Kalten Krieg war auch dies kurzfristig gewiß eine Illusion, da machtpolitische Kräfte und Interessen in West und Ost die Teilung Deutschlands kaum vermeidbar machten. Aber mit dem wachsenden Bewußtsein vom zweimal selbstverschuldeten endgültigen Ende des Deutschen Reichs im Jahr 1945, mit der wachsenden Distanz zu deutschen Weltmachtillusionen wuchs auch in einer sich von unten erneuernden und verjüngenden Demokratie die Bereitschaft zu einem Arrangement zwischen den auf den Trümmern des Deutschen Reichs seit 1945 entstandenen deutschen Staates — im Interesse des Friedens in Deutschland und Europa.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Kurt Riezler, Tagebücher, Aufsätze, Dokumente. Eingeleitet und herausgegeben von Karl Dietrich Erdmann, Göttingen 1972, 766 Seiten.

  2. Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf 1961, 3. Ausl. 1964.

  3. Näheres in der Einleitung von Erdmann zu den Tagebüchern, S. 8— 13.

  4. Ebenda, S. 22— 26, 32— 36, 145— 148.

  5. K. D. Erdmann, Zur Beurteilung Bethmann Hollwegs, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 15/9, Sept. 1964, S. 525— 540. Die kritische Auseinandersetzung erfolgt in einem Beitrag zur im März 1973 erscheinenden Festschrift für Fritz Fischer; zur Diskussion vgl. vorläufig auch Imanuel Geiss, Die Fischer-Kontroverse. Ein kritischer Beitrag zum Verhältnis zwischen Historiographie und Politik in der Bundesrepublik, in: ders.: Studien über Geschichte und Geschichtswissenschaft, edition suhrkamp 569, Frankfurt/Main 1972, S. 108— 198, vor allem S. 150— 154, 177 f.

  6. Zur Vereinfachung der Lektüre werden auch Orthographie und Interpunktion gegenüber der veröffentlichten Vorlage modernisiert und vereinheitlicht, vom Herausgeber eingefügte Wörter aus ihrer textkritisch richtigen, hier aber den Lesefluß hemmenden Klammer entlassen, sinngemäß zusammengehörige Absätze miteinander verbunden, unübliche Abkürzungen aufgelöst.

  7. Vgl. oben Anm. 5; ferner Erdmann: Einleitung, S. 57, Anm. 34. i 9i

  8. Kurt Riezler, Die Erforderlichkeit des Unmöglichen. Prolegomena zu einer Theorie der Politik und zu anderen Theorien, München 1912; J. J. Rue-dorffer, Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart, Stuttgart und Berlin 1914.

  9. Eine erste kritische Analyse bei I. Geiss, Zur Beurteilung der deutschen Reichspolitik im ersten Weltkrieg, in: Hartmut Pogge — v. Strandmann /I. Geiss, Die Erforderlichkeit des Unmöglichen. Deutschland am Vorabend des ersten Weltkrieges, Franksurt/Main 1965, S. 55— 63; jetzt auch Erdmann, Einleitung, S. 38— 48.

  10. Namentlich 1964 in einer. Polemik gegenüber Rudolf Augstein; zur Diskussion vgl. I. Geiss, Die Fischer-Kontroverse, S. 152 f.

  11. Vgl. unten S. 10 f

  12. Vgl. unten S. 10 f.

  13. Es ging damals um die Einführung einer Verfassung mit begrenzter Autonomie für Elsaß-Lothringen.

  14. Vgl. unten S. 20

  15. Vgl. auch Wilhelm II. zu Admiral von Müller am 14. Dezember 1912: „wie interessant es sei, daß selbst der Reichskanzler sich jetzt doch an den Gedanken eines Krieges gewöhnt habe, er, der doch noch vor einem Jahr ausgesprochen habe, er werde nie imstande sein, zu einem Kriege zu raten“. Zitiert nach: Der Kaiser ... Aufzeichnungen des Chefs des Marinekabinetts Admiral Georg Alexander v. Müller über die Ära Wilhelms II., Berlin, Frankfurt, Zürich 1965, S. 126.

  16. Otto Hammann, Pressechef des Auswärtigen Amts, 1894— 1918.

  17. Ausführlidi jetzt bei F. Fischer, Krieg der Illusionen.

  18. Karl Max Fürst von Lichnowsky, deutscher Botschafter in London, 1912— 1914.

  19. Vgl. oben S. 6 20) Näher ausgeführt bei I. Geiss, Julikrise und Kriegsausbrudi 1914. Eine Dokumentensammlung, 2 Bde.. Hannover 1963/64, Bd. 1, S. 122, nebst den dort angegebenen Dokumenten.

  20. Raymond Poincar 4, französischer Staatspräsident 1913— 1920; sein Staatsbesuch in Rußland war für den 20. bis 23. Juli 1914 festgelegt.

  21. Hervorhebungen in den Zitaten vom Vers.

  22. Vgl. unten S. 11 f.

  23. In seinen wesentlichen Teilen neuabgedruckt bei I. Geiss, Julikrise, II, Nr. 1089, S. 638 f.: „Wir konnten dies (Wien zur Nachgiebigkeit gegenüber Serbien raten) um so weniger tun, als auch unsere Interessen durch die andauernde serbische Wühlarbeit auf das empfindlichste bedroht waren. Wenn es den Serben mit Rußlands und Frankreichs Hilfe noch länger gestattet geblieben wäre, den Bestand der Nachbarmonarchie zu gefährden, so würde dies den allmählichen Zusammenbruch Österreichs und eine Unterwerfung des gesamten Slawentums unter russischem Szepter zur Folge haben, wodurch die Stellung der germanischen Rasse in Mitteleuropa unhaltbar würde."

  24. Vgl. oben S. 7

  25. Erfolgte auf Anregung des Kaisers vom 19. 7. bereits am 20. 7. 1914; vgl. Deutsche Dokumente Nr. 80, 90; Geiss, Julikrise, I, Nr. 147, 162.

  26. Vgl. oben Anm. 8.

  27. Ausführlich bei F. Fischer, Griff nach der Welt-macht, S. 223— 230.

  28. Zu diesem Krieqsziel vgl. I. Geiss, Der polnische Grenzstreifen 1914— 1918. Ein Beitrag zur deutschen Kriegszielpolitik im ersten Weltkrieg. Historische Studien, Heft 378, Lübeck und Hamburg 1960.

  29. Vgl. Meinecke an Walter Goetz, 6. 5. 1915: „Bez. unserer östlichen Wünsche kommt mehr und mehr ein Gedanke auf, der in dieser oder jener Gestalt vielleicht fruchtbar ist: Rußland soll uns da oder dort Land abtreten ohne Menschen. Die Menschen nimmt es in sein Inneres und gibt uns dafür die Wolgadeutschen. Vor allem aber brauchen wir mehr Raum für innere Kolonisation. Meine Idee war schon längst: einen Teil des polnischen Groß-grundbesitzes nach dem uns als autonomen Staat anzugliedernden Kongreßpolen zu verpflanzen und dadurch den deutschen Charakter Posens und Westpreußens festzulegen. Aber kann nicht auch Kur-land, einem autonomen Polen vorgelaqert, für

  30. Johannes Kriege, Leiter der Rechtsabteilung im Auswärtigen Amt.

  31. Aufzeichnung Kurt Riezlers zur Frage des U-Bootkrieges, 30. 4. 1916; als Beilage zum Tagebuch, S. 488— 491, das Zitat auf S. 490 f.

  32. SM = Seine Majestät = Kaiser Wilhelm II.

  33. Erdmann, Einleitung, S. 158 f.

Weitere Inhalte

Imanuel Geiss, Dr. phil., geb. 9. Februar 1931 in Frankfurt/Main, Wiss. Rat und Prof, für Neuere Geschichte an der Universität Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: Der polnische Grenzstreifen 1914/18. Ein Beitrag zur deutschen Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg, Hamburg und Lübeck 1960; Julikrise und Kriegsausbruch 1914. Eine Dokumentensammlung, Hannover 1963/64; Juli 1914. Die europäische Krise und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, München 1965 (dtv 293); Gewerkschaften in Afrika, Hannover 1965; Die Erforderlichkeit des Unmöglichen. Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs (zusammen mit Hartmut Pogge—von Strandmann), Frank-furt/M. 1965; Zur Geschichte der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 42/65; Nigeria. Zur Vorgeschichte und Geschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 8/67; Panafrikanismus. Zur Geschichte der Dekolonisation, Frankfurt/M. 1968; Ghana —-seine Vorgeschichte und Geschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 3/69.