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Politisch-gesellschaftliche Erziehung auf der Primarstufe Relevanzkriterien für ein sozialwissenschaftliches Curriculum | APuZ 49/1972 | bpb.de

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APuZ 49/1972 Politisch-gesellschaftliche Erziehung auf der Primarstufe Relevanzkriterien für ein sozialwissenschaftliches Curriculum Schulische Bildung und politisches Handeln

Politisch-gesellschaftliche Erziehung auf der Primarstufe Relevanzkriterien für ein sozialwissenschaftliches Curriculum

Paul Ackermann /Ernst H. Ott

/ 38 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Notwendigkeit der Reform des Sachunterrichts der Grundschule wird heute in dei Bundesrepublik allgemein anerkannt. Wie einige wenige Ansätze beweisen, fehlt es jedoch weiterhin für den Bereich des gesellschaftlich-politischen Lernens an curricularen Kriterien, mit deren Hilfe die in der Praxis noch vorherrschende Heimatkunde abgelöst werden kann. Die traditionelle Heimatkunde, die in ihrem Gesellschaftskonzept von einem vorindustriellen Erfahrungshorizont ausgeht, gaukelt mit ihrer Gemeinschaftsideologie eine konfliktlose Welt vor und verstellt den Zugang zur politischen Öffentlichkeit und zur wissenschaftlich bestimmten Industriekultur. Entgegen den Prämissen der älteren Entwicklungspsychologie, nach denen politisches Lernen erst mit der Pubertät möglich ist, zeigen Ergebnisse der politischen Sozialisationsforschung, daß bereits in der frühen Kindheit politische Einstellungen und Verhaltensmuster präformiert werden. Auch die neuere Begabungsforschung läßt vermuten, daß die Grundschüler durchaus in der Lage sind, relativ komplexe soziale und politische Prozesse zu verstehen. Wie Lernmaterialien zu diesen Problemen organisiert und strukturiert werden können, zeigen beispielhaft verschiedene amerikanische New Social Studies-Projekte, wenn auch deren Wissenschaftsoptimismus und Mittelstandsorientierung vermieden werden muß. Der Unterricht muß den Schülern solche Lernsituationen anbieten, in denen ihnen ihr eigener Sozialisationsprozeß und dessen bestimmende Faktoren bewußt gemacht werden können. Dabei geht es nicht in erster Linie um die Vermittlung von Sachwissen, sondern um die Aneignung von wissenschaftsadäquaten Verfahren und Instrumenten, mit denen die Kinder den gesellschaftlichen und politischen Hintergrund ihrer Probleme erschließen können. Reflektierte politische Sozialisation ist auf die Ergebnisse und Methoden verschiedener Sozialwissenschaften angewiesen. Es ist daher innerhalb des Sachunterrichts der Primarstufe ein sozialwissenschaftlicher Bereich zu schaffen, der nicht an den traditionellen Schulfächern, sondern an den Bedürfnissen und Interessen der Schüler orientiert ist. Projekt-und Kursunterricht erscheinen unter diesen Gesichtspunkten als geeignete Unterrichtsform.

Im Rahmen der Diskussion über die Revision des Grundschulcurriculums stand bisher der naturwissenschaftlich-mathematische Bereich im Vordergrund, während die politische und soziale Erziehung noch vernachlässigt wurde. Im folgenden Beitrag soll es darum gehen, mögliche Bedingungen und Voraussetzungen für ein Grundschulcurriculum im sozialwissenschaftlichen Bereich zu prüfen, zu entwickeln und zu begründen. Dabei stehen Zielfragen des Unterrichts und nicht -curriculumstrategi sche Probleme im Vordergrund. Die Bemühungen um eine Reform des Sachunterrichts in der Grundschule gehen gegenwärtig in eine Richtung, welche retrospektiv und prospektiv durch zwei Merkmale zu kennzeichnen ist: — Absage an das Konzept der Heimatkunde und kritische Überprüfung der diesem Konzept zugrunde liegenden didaktischen Hypothesen. — Abwendung der Curriculumentwicklung von dem traditionellen Fächerkanon der Schule und Suche nach neuen gesellschaftsbezogenen Orientierungspunkten bei der Bestimmung realisierbarer Lehrziele.

Zunächst scheint es notwendig, den politisch-gesellschaftlichen Hintergrund und die didaktischen und psychologischen Prämissen der Heimatkunde, deren Konzept noch die Lehrpläne der meisten Bundesländer bestimmt, aufzuzeigen. Auf dieser Folie sollen dann mögliche Neuansätze diskutiert werden.

I. Die didaktische und politische Fragwürdigkeit des heimatkundlichen Ansatzes

Klaus Sochatzy:

Schulische Bildung und politisches Handeln .............................. S. 20

Der gesellschaftspolitische Kontext der Heimatkunde Die Heimatkunde, für deren didaktische Konzeption neben dem Heimatbegriff vor allem die Kategorien „volkstümliche Bildung" und „Gemeinschaftsgefühl" kennzeichnend waren, trat in den frühen zwanziger Jahren mit dem Anspruch auf, den gesamten Erfahrungshorizont des Grundschulkindes vergegenwärtigen und ihn didaktisch aufbereiten zu können. 1920 schreibt E. Hauptmann über den Sinn der Heimatkunde: „Heimatkunde ist die Erziehung zum Gemeinschaftsgedanken, zur Gemeinschaftsempfindung" ; und weiter unten fährt er fort: „Das ausschließliche Ziel der Heimatkunde ist die Einführung in diese Welt, die Öffnung des jugendlichen Sinnes für die verborgenen Persönlichkeitsbeziehungen zwischen ihm und der Heimatgemeinschaft, für den Sinn und Zweck des Heimatlebens." 1)

Es würde zu weit führen, die gesellschaftlichen Hintergründe dieser ganzen Bewegung aufzuzeigen. Nicht zu verkennen sind dabei antizivilisatorische und kulturpessimistische Tendenzen. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg versuchte die Heimatbewegung, den scheinbar entwurzelten Menschen der sich ausbreitenden Stadt-und Industriegesellschaft eine neue Geborgenheit zu vermitteln. Sie griff dabei auf restaurative Tendenzen des 19. Jahrhunderts zurück, ohne deren antide-mokratischen Akzent zu sehen. So hat W. Jeismann neuerdings herausgearbeitet, daß das heimatkundliche Prinzip ursprünglich „ein Ergebnis reaktionärer Volkschulpolitik nach der Revolution von 1848 (war), ein Mittel im Kampf gegen die Emanzipation der unteren Schichten und gegen die nationale und liberale Idee" Die Heimatkunde verfolgte nach Jeismann eine „Besehränkung des einfachen Volkes auf enge Erkenntnisgrenzen und Lebensbezirke, d, h. aber eine politische Ideologie des neu verstandenen, als christlich bezeichneten Ständestaates, setzte den unteren Ständen enge Bildungsgrenzen und verwies die Volksschule auf den Lebenskreis von Familie und engster Heimat, verbot geradezu einen über diesen Kreis hinausgehenden Un= terricht auch im Lehrerseminar, spannte die Volksbildung zwischen zwei Pole: Heimat und Kirche"

Trotz der Pervertierung des Heimat’ und Gemeinschaftsgedankens im Dritten Reich knüpfte man in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg, wieder an diese Tradition an. Die Zielsetzung des Lehrplanes von Baden-Württemberg aus dem Jahre 1958 klingt wie ein ferner Nachhall der frühen zwanziger Jahre: „So dient der Heimatkundeunterrieht der geistigen Durchdringung, Klärung und Ordnung der kindlichen Lebenswirklichkeit. Er führt die Kinder dazu, daß sie ihre Heimat lieben und erzieht sie zu dem Bewußtsein, in einer Gemeinschaft zu leben und ihr zu dienen." Es erhebt sich die Frage, weshalb die administrativen Verlautbarungen dar Nachkriegszeit ge= rade auf diese Tradition zurückgriffen und die kritischen Einwände der Bildungstheoretiker selbst gegen ihre eigenen Positionen völlig außer acht ließen. Unter dem Eindruck der starken gesellschaftlichen, politischen und weltwirtschaftlichen Veränderungen wurden nämlich bereits seit der Mitte der zwanziger Jahre kritische Stimmen laut, welche im Zusammenhang mit einer Neuorientierung der Pädagogik überhaupt auch eine gründliche Überprüfung der Voraussetzungen der sog. Heimatkunde forderten

2. Die apolitische didaktische Grundkonzeption

Wir fragen zunächst; Was ist in den vorliegenden Zielsetzungen des Unterrichts der Grundschule unter dem Begriff „Gemeinschaft 1'zu verstehen? Am besten läßt sich die Frage beantworten mit Hilfe von E. Sprangers Denk2 modell der konzentrischen Lebenskreise Danach ist die Gesellschaft ein stets sich erweiterndes Gefüge von gemeinschaftlichen Beziehungen, das sowohl in den „naturnahen, gemeinschaftsverbundenen Verhältnissen" der Familie als auch in der „Verbundenheit mit der großen Welt" von jedem einzelnen Menschen eigentätig und selbständig erfahren werden kann und muß, und zwar in doppeltem Sinn von „Do and undergo" (J, Dewey). Die Gesellschaft existiert nur insofern, als sie sich durch gelebte interpersonelle Beziehungen darstellt. Menschliche Aktivitäten sind grundsätzlich auf das Wohlergehen des anderen Menschen und des ganzen Gemeinlebens ausgerichtet.

Alles Handeln hat einen tieferen Sinn, seine tiefere Bedeutung. Die Gemeinschaft ist nicht ein der zweckhaften Gesellschäft vorgelagertes Selbsterfahrungsgebilde wie etwa Tönnies meinte, sondern die Gesellschaft ist im letzten Gemeinschaft, in der alle an allem partizipieren. Primärgruppen, wie z. B. die Familie, werden also den Sekundär-Systemen von Wirtschaft und Politik gleichgesetzt.

Von dieser Grundkonzeption ausgehend, erscheint es unter didaktischem Aspekt konsequent, wenn in der Heimatkunde zunächst versucht wurde, die Menschen in ihren persönlichen, beruflichen und öffentlichen Beziehungen zu befragen und die ermittelten Querverbindungen dann lehrbar zu machen. Was mit diesem abbildenden und mehr informierenden Vorgehen im Hinblick auf den Lern-und Erkenntnisprozeß des Schülers geleistet wurde, läßt sich in folgende Frage fassen: Welche Personen stehen im Dienste der Gemeinschaft, des Gemeinwesens? So wird in der Heimatkunde z. B. das Problem der Feuerwehr oder der Krankenfürsorge unter dem Motto „Alle für Einen — Einer für Alle“ behandelt, obwohl diese Probleme heute nur im Zusammenwirken der sekundären Systeme von Gesetzgebung, Verwaltung, Technik und Wissenschaft gelöst werden können. Anstelle des „Dienst“ gedankens erscheinen heute die Kategorien Organisation, Solidarität und Kritik gesellschaftsadäquater. G. Kudritzki kommt daher zu dem Ergebnis, daß der Heimatkunde-unterricht sich letztlich als pädagogische Ideologie des Obrigkeitstaates erweist

Neuerdings hat H. Müller darauf hingewiesen, daß die Heimatkunde in extremer Weise dazu Verhältnisse einzufügen und sie anzupassen, und zwar dadurch, „daß Ohnmacht und Resignation vor dem Realen oder vermeintlich Faktischen eingeübt und damit im gesellschaftli-dien Bereich die unkritische Anerkennung des Bestehenden erreicht wird" In der Tat verhindert die Gemeinschaftsideologie der Heimatkunde und die rein strukturierende Repräsentation der bestehenden Verhältnisse die Einsicht in die Gesellschaft als einen dynamischen Prozeß von rivalisierenden und konkurrierenden, auf Macht bedachten Gruppen und Kräften. Das Vorhandensein von „Konflikten, Pannen, Fehlentscheidungen, Ausnahmen, Randerscheinungen und Unberechenbar-keiten" im öffentlichen politischen heben wird im Unterricht als Erfahrungsobjekt aus-geblendet und verdrängt, Es ist außerdem zu fragen, ob die Heimatkunde wirklich noch den politischen und gesellschaftlichen Erfahrungshorizant der Kinder trifft) Vorstellungen, wie sie Gemeinschaft und Heimat suggerieren, sind durch die Verwissentsehaftliehung der Kultur und Industrialisierung weitgehend fragwürdig geworden, So muß überlegt werden, ob heute die Verhaltensregeln eines gemeinschaftlichen Zusammenlebens überhaupt noch im Familienleben erfahren werden können, Das Verhalten des Einzelnen in den Primärbezügen ist heute weitgehend durch soziopolitische Strukturen bestimmt, Durch die Massenkommunikations-mittel ist das Ausgehen von den sog, „nächsten Verhältnissen", wie z. B, der Gemeinde als erstem politischen Erfahrungsbereich der Kinder, fragwürdig geworden, Der Schüler wird vielmehr mit einer verwissenschaftlichten Zivilisation konfrontiert, die mit ihren operationalisierten Aussagesystemen durch die heimatkundliche Primärerfahrung nicht mehr zugänglich ist. Angesichts dieses Realitätsverlustes ist die Heimatkunde somit zu einer Sackgasse geworden, Sie führt die Kinder nicht in die Wirklichkeit ein, sondern verfälscht diese-Sie verstellt den Zugang zur politischen Öffentlichkeit mit ihren Kommunika-tiensmitteln und den Weg zur wissenschaftlich bestimmten Kultur.

II. Psychologische Implikationen des polltischgesellschaftlichen Unterrichts

1, Kritik der entwieklungspsycholegisehen Befunde Mit dem Volkstumsgedanken der Heimatkunde verband sich ein entwicklungspsychologisches Argument. Als Entwicklung ist hier die Ausdifferenzierung einer ursprünglichen Ganzheit zur strukturierten Gestalt zu verstehen. Daraus folgerte man eine Lehre von bestimmten Entwicklungsphasen des Kindes bzw.des Jugendlichen, die mit einer Pädagogik des Reifen-und Waehsenlassens verbunden wurde. Die erlebnisbezogene Unterrichtsgestaltung und der heimatbezogene Unterricht sollten zur Grundlegung einer volkstümlichen Bildung beitragen, die dann vollends in der Oberstufe erschlossen werden sollte. Nach diesem Modell durchläuft das historische und politische Verstehen des Jugendlichen mehrere Stufen, vom märchenhaften Verständnis der Geschichte beim Grundschüler bis die Jugendlichen schließlich in der Pubertät eindeutig einen Bezug zum Politisehen bekommen Empirische Untersuchungen, die diese Phasenlehre au untermauern suchten, geben nur die Wirkungen eines Unterrichts wieder, der von diesen alterspsychelogischen Prämissen ausgeht Daß Politik auch heute zum großen Teil als nech nicht kindgemäß gilt, sieht man U, a, daran, daß in den meisten Bundesländern im Gymnasium erst im 9, Schuljahr — also in der Pubertät — dieses Fach unterrichtet wird.

Die wissenschaftliche Diskussion der leisten Jahre hat gezeigt, daß eine Reihe entwiek-lungspsychelogisch relevanter Tatbestände dureh das Stufenmedell nicht erfaßt werden können-Das betrifft U, a. die Zusammenhänge zwischen Sprache und Sezialstatus und die Abhängigkeit der Entwicklung und Erziehung von soziokulturellen Normen-Vor allem die Ergebnisse der politischen Sozialisatiensfer-schung und die tiefenpsychologischen Aspekte, auf die im folgenden mehr eingegangen wird, machen deutlich, daß Entwicklung nicht als ein „endogen" bestimmter Reifungsprezeß, sondern als sozialer Lernprozeß zu verstehen ist Bei der Erforschung der Möglichkeiten des politischen und sozialen Lernens in der Grundschule wird man also nicht von dem Prinzip der Kindgemäßheit ausgehen, sondern eher die bekannte Prämisse des amerikanischen Psychologen J. S. Bruner zugrunde legen müssen: »Wir setzen die Hypothese voran, daß jeder Stoff jedem Kind in jedem Stadium der Entwicklung in intellektuell redlicher Weise wirksam vermittelt werden kann.... Es gibt Befunde, die dieser Hypothese widersprechen, jedoch eine Reihe von Befunden, die sie unterstützen. “ 2. Die Bedeutung der tiefenpsychologischen Befunde Der Beitrag der Psychoanalyse für eine differenziertere Betrachtungsweise der kindlichen Entwicklung ist vor allem darin zu sehen, daß Entwicklung als eine Resultante der ersten Gefühlsbeziehungen zwischen Kind und leibnahen Bezugspersonen interpretiert wird. Im Gegensatz zur Heimatkunde, die von einem harmonischen Eltern-Kind-Verhältnis ausging, wird von der Psychoanalyse hervorgehoben, daß die Entwicklung in hohem Maße von der Art der individuellen Lösung von unausweichlichen sexuellen Konflikten abhängig ist. Nach dem individualpsychologischen Modell von S. Freud durchläuft das Kind vom zweiten bis zum fünften Jahr das Stadium der infantilen Sexualität (orale, anale und phallische Phase) und tritt mit dem zwölften, dreizehnten Jahre in das Stadium der pubertären Sexualität. Dazwischen befindet sich die etwa sieben Jahre dauernde Latenzzeit.

Die Latenzzeit als sexuelle „Ruhepause“ ist nun in unserem Zusammenhang von besonderer Bedeutung. Denn gerade in dieser Zeit beginnt das Kind, auf der Matrix der elterlichen sexuellen Gefühlsbindungen sein individuelles Sozialverhalten in Schule und Gesellschaft auszubilden. Repressive Sexualerziehung der Eltern in den ersten Lebens-jahren beeinträchtigt zumindest nach der Theorie Freuds Ich-Entwicklung, Triebausbildung und vor allem das Sozialverhalten in der Latenzzeit

In neuerer Zeit wurde besonders von Seiten der Aggressionsforschung darauf aufmerksam gemacht, daß sich die Psychoanalyse nicht nur mit dem individuellen, sondern auch mit dem kollektiven Erfahren und Erleben von Situationen zu befassen habe. Die Forschung habe sich der zusätzlichen Frage zu widmen, welche Folgen überpersönlich erfahrene gesellschaftliche Verhältnisse und Zwänge für die Entwicklung von Individuen haben könnten. A. Mitscherlich fordert dazu auf, nach Gründen zu fragen, aus denen heraus „die Wegwendung von sozialen und politischen Problemen, oder auch das Gegenteil, konsequent erscheint. Denn auch die hier entstehenden Gefühle der Hilflosigkeit, der Aussichtslosigkeit, durch eignes Zutun die Lage ändern zu können, werden intrapsychisch verarbeitet. Die apathische Nichtbeteiligung an politischen Entscheidungen erfüllt eine Schutzfunktion gegen heftige Affekte — gegen Wut, Haß, Neid (wegen der erfahrenen Ohnmacht).“ Es besteht Grund zu der Annahme, daß das soziale und politische Verhalten eines Menschen in gleicher Weise von den frühkindlichen Objektbezie-hungeh und von den objektiven Lebensbedingungen einer Gesellschaft abhängt, und daß bereits das Kind in der Latenzzeit diesen beiden Bedingungen ausgesetzt ist. Durch die „Entfunktionalisierung der Vater-und Mutterfiguren als Vermittler der Sozialisation" scheinen sogar eher gesellschaftliche Interessen schon in diesem Alter sich in erhöhtem Maße des entstandenen familiären „Sozialisationsvakuums'1 zu bemächtigen

Unter didaktischen Gesichtspunkten lassen die psychoanalytischen Befunde den Schluß zu, daß das Kind, wenn es in die Grundschule kommt, sich im Hinblick auf soziale Erfahrungen in einer sehr offenen Phase befindet. Zwar sind seine Gefühle durch die psychosexuelle Konstellation des Elternhauses präformiert, aber Aufgabe der Schule könnte es sein, sie vor Verfestigungen zu bewahren. Die Über-windung der infantilen Abhängigkeit von den Eltern nützt jedoch nichts, wenn die Kinder nicht lernen, daß auch von gesellschaftlichen Situationen Zwänge ausgehen, die ihr Verhalten wirksam bestimmen. Die schulpädagogische Konsequenz der psychoanalytischen Tatbestände liegt darin, daß die Schüler die Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu erlernen haben.

--------------. AEU

III. Die didaktische Relevanz der politischen Sozialisationsforschung

Die Ergebnisse der politischen Sozialisationsforschung erhärten und erweitern die psychoanalytischen Befunde, Während die latente politische Sozialisation vorrangig in den ersten drei Lebensjahren von Bedeutung zu sein scheint, -setzt nach Easton und Hess der Prozeß der politischen Sozialisation im engeren Sinne, d. h. die manifeste politische Sozialisation etwa mit drei Jahren ein. Aus den empirischen Untersuchungen über diesen Prozeß scheinen uns folgende drei Gesichtspunkte für die didaktische Diskussion wichtig zu sein 1, Stellung zum politischen System Im Kindesalter bilden sich schon Bindungen an das politische System aus. So identifizieren sich beispielsweise US-Kinder mit ihrem Land, dessen politischen Autoritäten und Institutionen, Werten und Normen. Eine Schlüssel-rolle in diesem Sozialisationsprozeß nimmt der amerikanische Präsident ein, Er erscheint den Kindern als mächtigster und bester Mann der Welt, als charismatischer Führer und großer Wohltäter, wobei empirisch keine sichere Relation zwischen der Bindung an den Vater und der an die Person des Präsidenten nachgewiesen wurde. Außerdem sehen die Kinder in den USA einen Hort der Freiheit in der Demokratie, während für sie Kommunismus und unfreie Staatsform identisch sind. 2. Persistenz des frühen politischen Lernens Die genannten Untersuchungen weisen vor allem auf die Stabilität dieser in der Kindheit gewonnenen politischen Einstellungen hin. Greenstein spricht von einer „Persistenz des frühen Lernens" Das zeigt sich u. a, auch daran, daß die Kinder in der Mehrzahl dazu neigen, der Parteienpräferenz ihrer Eltern zu folgen. Obwohl die Einstellung zum politi-* sehen System durch schulische und außerschulische Lernprozesse kognitiv differenziert wird, bleibt die grundlegende affektive Bindung an das politische System des eigenen Landes erhalten. 3, Einschätzung der Partizipationsmöglichkeiten Besonders beachtenswert erscheint uns, daß nach einer Arbeit von Easton und Dennis die Kinder die Möglichkeiten zur politischen Partizipation ganz verschieden einschätzen Der Glaube an die politischen Einflußmöglichkeiten des Einzelnen hebt demnach einmal ab vom Grad der Intelligenz und zum anderen vom sozioökonomischen Status der Eltern, d. h. Kinder aus sozial niedriger gestellten Familien glauben, politisch wirkungslos zu sein. Dies hängt sicherlich auch mit der geringeren Sprachkompetenz dieser Kinder zusammen, wie wir aus soziolinguistischen Untersuchungen wissen. Als weitere Variable wird in der genannten Untersuchung das Alter hervorgehoben. Die Einschätzung der Wirkungsmöglichkeiten steigt mit zunehmendem Alter, was wohl auch auf eine bessere Kenntnis der politischen Prozesse und Institutionen zurückzuführen ist.

Da über den politischen Sozialisationsprozeß der Kinder in der Bundesrepublik Deutschland so gut wie noch keine repräsentative Untersuchungen vorliegen, ist die Frage zu stellen, ob die empirischen Befunde aus den USA auch für die Bundesrepublik Deutschland Gültigkeit besitzen. Voruntersuchungen von E. H. Müller deuten darauf hin, daß Grundschüler vor allem den Bundeskanzler kennen, und daß auch schon relativ konstante Einstellungen gegenüber den Parteien bestehen. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß bei den Kindern schon ähnliche grundlegende Bindungen an das politische System und seine Institutionen bestehen. Die vergleichende Studie über die politische Kultur verschiedener Länder von Pye/Verba hat gezeigt, daß sich die Deutschen im Gegensatz zu den US-Bürgern weit mehr mit den wirtschaftlichen Vorzügen ihres Systems identifizieren als mit dessen Verfassung und den politischen Institutionen ihres Landes 4. Konsequenzen für die politische Bildung Trotz der angedeuteten Einschränkungen ergeben sich aus der politischen Sozialisationsforschung für das Problem des frühen Lernens in der Bundesrepublik Deutschland einige'Kon-sequenzen oder zumindest Fragestellungen. Daß im Kindesalter entgegen entwicklungspsy-

chologischen Prämissen politische Lernprozesse stattfinden, scheint offensichtlich zu sein. Da nach den genannten Ergebnissen politische Einstellungen und die Bindungen an das politische System im Kindesalter nicht nur vorgeformt, sondern auch verfestigt werden, ist eine organisierte politische Erziehung in der Schule nicht nur möglich, sondern auch notwendig. G. Behr-mann, der mehr von der Perspektive der Stabilität des politischen Systems in der Bundesrepublik Deutschland ausgeht, weist darauf hin, daß bisher in der politischen Bildung dem Problem des Legitimitätsglaubens und „einer auch affektiv grundierten politischen Kultur" zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt worden sei.

F. Nyssen befürchtet dagegen, „daß die im vorkognitiven politischen Sozialisationsprozeß erworbenen, tief verwurzelten Loyalitätsbindungen gegenüber den Grundlagen des bestehenden politischen Systems zugunsten einer kritischen Distanz (nicht mehr) aufgebrochen werden können" Er sieht deshalb die einzige Chance einer emanzipatorischen politischen Erziehung darin, daß der politische Sozialisationsprozeß den Schülern möglichst früh durch Sachinformationen und durch die Aufklärung über die Ursachen des eigenen Verhaltens bewußt gemacht wird. Dabei müßten die schichtspezifischen politischen Erfahrungen der Kinder in angemessener Weise berücksichtigt werden.

Die Tatsache, daß den Grundschulkindern indirekt erfahrbare politische Phänomene, wie z. B.der amerikanische Präsident oder bei uns der Bundeskanzler, leichter zugängig sind als etwa ein Dorfbürgermeister deutet darauf hin, daß der politische Lernprozeß anderen Gesetzen folgt als dem didaktischen Prinzip der Heimatkunde „vom Nahen zum Fernen". Außerdem muß gefragt werden, ob für das Kindesalter der Einfluß der Familie als Sozialisationsagentur gegenüber anderen Instanzen, wie z. B.den Massenmedien, nicht überschätzt wurde. Der Überschätzung der Familie entsprach bisher einer Unterschätzung des frühen politischen Lernens in der Schule.

IV. Neuere didaktische Ansätze zur politischen Bildung in der Grundschule

Um die Bedingungen und Voraussetzungen für ein sozialwissenschaftliches Curriculum in der Grundschule der Bundesrepublik Deutschland besser herausarbeiten zu können, ist es notwendig, bereits vorliegende Teilcurricula bzw. Lehrpläne zu sichten und auf ihre didaktischen Implikationen hin zu befragen. 1. The New Social Studies Ähnlich wie in der Bundesrepublik Deutschland wurde auch in der Social-Studies-Diskussion der USA der Grundschule anfangs weniger Aufmerksamkeit geschenkt Wie in den höheren Schulstufen wurde auch in den Lehrplänen der Grundschule das didaktische Prinzip der konzentrischen Kreise im Unterricht zugrunde gelegt. Der Lehrplan für die verschiedenen Jahrgangsklassen sah etwa so aus: Heim — Schule — Nachbarschaft — Gemeinde — Transportwesen — Stadt — Großstadt — Kreis — amerikanische Regionen und Staaten. Die Curriculumforschung in den USA, die am Anfang der sechziger Jahre die Social Studies erfaßte, konzentrierte sich nicht zuletzt auf die Primarstufe. Dabei ist ein für bundesrepublikanische Verhältnisse ungewöhnlich starkes Engagement der Fachwissenschaftler zu verzeichnen. In kurzer Zeit wurden viele didaktisch strukturierten Unterrichtsmaterialien entwickelt, während in der Bundesrepublik Deutschland bis heute noch so gut wie keine Unterrichtsmodelle für die Sozialkunde in der Grundschule vorliegen. Im folgenden greifen wir drei unseres Erachtens repräsentative Ansätze heraus und versuchen sie gegeneinander abzugrenzen. Wir sind uns dessen bewußt, daß wir dabei die vorhandenen Überschneidungen der verschiedenen Positionen in den einzelnen Curricula vernachlässigen.

Disziplinorientierte Curricula Um den Sozialisationsprozeß zu strukturieren und die Kinder zu einer rationalen Bewältigung der immer mehr verwissenschaftlichten Umwelt zu befähigen, orientieren sich viele Entwürfe an der Struktur der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Dabei wird der Begriff der Struktur sowohl auf repräsentative Themata und Bereiche einer Disziplin als auch auf fachimmanente Begriffs-und Denkstrukturen bezogen. J. Bruner als Hauptvertreter dieser Richtung vertritt die These, daß die wissenschaftlichen Disziplinen die geeignete Quelle zur Identifizierung von curricularen Inhalten seien. In dem von ihm angeregten sozialwissenschaftlichen Lehrgang für die Grundstufe: «Man: A Course of Study', steht der Mensch selbst im Mittelpunkt, seine Eigenart als biologisches Gattungswesen und die Kräfte, die sein Wesen als Mensch formten und weiter formen Hier wird das Verhalten von Menschen verschiedener Kulturen und von Tieren beobachtet und verglichen und damit die biologische und soziokulturelle Bedingtheit des menschlichen Verhaltens aufgezeigt.

In der wissenschaftlichen Diskussion über dieses curriculare Strukturierungsverfahren wird einmal eingewandt, daß der Erkenntniswert der einzelnen Disziplinen für den Schüler nicht von vornherein gegeben sei. Die Entscheidung darüber, welche Struktur des Wissens auf welche Weise auf eine kognitive Struktur der Lernenden übertragen werden kann, ist nicht leicht auszumachen. „Die Fragen, warum bestimmte Wissenschaften, Methoden und Untersuchungsfelder ausgewählt wurden und was ein solches elementarisiertes Denken für die politische Sozialisation bedeutet, bleiben letztlich ungeklärt." Vor allem stellt sich für die politische Erziehung das Problem, daß die für sie relevante Wissenschaftsstruktur nicht in dem eindeutigen Maße vorgegeben ist, wie es etwa bei mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächern der Fall ist. Wenn man zudem davon ausgeht, daß es u. a. die Aufgabe des politischen Lernens in der Schule sei, gesellschaftliche und politische Erfahrungen der Kinder zu reflektieren, erhebt sich zum anderen die Frage, ob die disziplin-orientierten Curricula die soziale Realität der Schüler genügend treffen.

Inquiry/Discovery/Curricula Einen anderen Weg in der Konzipierung von Curricula beschreibt eine Gruppe von Wissenschaftlern, deren Ansatz mit Begriffen, wie „Problemlosen", „Kreatives Denken", „Induktive Methoden", „Untersuchungsmethode" (Inquiry method) oder „Entdeckungsmethode" (Discovery method) gekennzeichnet wird. Ihnen geht es in erster Linie darum, dem Schüler die Möglichkeit zu verschaffen, sich selbst als Fragenden und Problemlösenden zu erfahren. Dabei gehen sie nicht so sehr von Wissenschaftsstrukturen aus, sondern orientieren sich pragmatisch an konkreten Problemen, die ihnen in der Commonsense-Erfahrung für die Schüler wichtig erscheinen. L. Senesh z. B. greift in dem dritten Teil seines Grundschulcurriculums „Our Working World“ Probleme der Stadt heraus Fragen wie: Warum ist eine Stadt gerade da, wo sie ist? Oder: Weshalb wächst eine Stadt? Oder: Weshalb brauchen wir Stadtplanung? charakterisieren die Richtung seines methodischen Ansatzes.

Die Fruchtbarkeit dieser Inquiry-Discovery-Methode hängt weitgehend davon ab, ob es gelingt, solche unterrichtlichen Bedingungen zu schaffen, in denen der Schüler über Auswahl und die Lösungsmöglichkeiten von Problemen selbst entscheiden kann.

Methodenorientierte Curricula Lipitt/Fox und Schaible kritisieren in ihren für das 4. — 6. Schuljahr entwickelten Social Science Laboratory Units (SSLU), daß die in den Social Studies vermittelten Lehrinhalte für den Schüler keine aktuelle Bedeutung haben Sie bemängeln vor allem, daß die bei den Schülern oder in der Gesellschaft vorhandenen Einstellungen und Vorurteile zu wenig berücksichtigt und nicht zum Gegenstand des Unterrichts gemacht wurden. Nach ihrer Ansicht haben die Schüler gar keine andere Möglichkeit, „als jeden Tag soziale Erfahrungen zu machen. Sie verkehren mit ihren Familienmitgliedern, Klassenkameraden, Spielkameraden, Mitgliedern von Kirchen und Clubs. Tagtäglich treffen sie verallgemeinernde Feststellungen über soziales Verhalten und fällen Werturteile.“ Diese Werturteile sollen die Schüler mit einem einzuübenden wissenschaftlichen Instrumentarium analysieren. So werden sie in einer Grundeinheit mit wissenschaftlichen Methoden, wie z. B. Datensammlung, Interview-technik und Meßverfahren, vertraut gemacht. Nach Beschäftigung mit den SSLU sollen die Schüler in der Lage sein, „Probleme menschlichen Verhaltens mit der Objektivität von Wissenschaftlern zu untersuchen"

Im Gegensatz zu den disziplinorientierten Curricula sind die SSLU demnach stärker methodenorientiert. Hier wird versucht, die Denkoperationen der „Inquiry-Curricula" durch konsequentes sozialwissenschaftliches Methodentraining zu verfeinern und damit zu erleichtern. Obwohl die SSLU vom Ansatz und von der umfassenden Aufbereitung des Unterrichts-materials her als das bisher brauchbarste Curriculum gelten können, müssen doch einige kritische Bemerkungen gemacht werden Die Einheit erhebt den Anspruch, von der sozialen Realität der Kinder auszugehen. Sie ist jedoch eindeutig am amerikanischen Mittelstand orientiert. Daß Kinder aus Unterschichten ganz andere soziale und politische Erfahrungen machen, d. h. ganz andere Werteinstellungen haben, wird überhaupt nicht berücksichtigt. Außerdem ist es den Verfassern bei der Einführung der wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden nicht gelungen, den Schülern deutlich zu machen, daß auch diese Zugriffsweisen zur soziopolitischen Wirklichkeit selbst interessengeleitet und in ihrer Reichweite begrenzt sind. Auffallend ist auch die eindeutige Beschränkung der SSLU auf mikrosoziale Situationen. Die strukturelle Bedingtheit von Konflikten im Primärbereich, wie z. B.der Familie, wird nicht gesehen. 2. Neue Lehrpläne in der Bundesrepublik Die Ausführungen haben gezeigt, daß in den USA bereits einige sozialwissenschaftliche Grundschulcurricula konkurrieren. Das liegt nicht zuletzt an der fortgeschrittenen Curriculumdiskussion und an den etwa fünfzig finanziell und personell gut ausgestatteten Instituten. In der Bundesrepublik Deutschland gehen noch die meisten Lehrpläne von dem oben skizzierten Konzept der Heimatkunde aus. Nur in den Ländern Berlin, Nordrhein-Westfalen und Bayern wurde versucht, die bestehenden Lehrpläne den neuen gesellschaftlichen Erfordernissen anzupassen.

Zunächst werden wir fragen, welchen Ort-und Stellenwert die politisch-gesellschaftliche Erziehung innerhalb der neuen Lehrpläne hat. In allen drei Fällen ist sie dem Sachunterricht zugeordnet. In den verschiedenen Bezeichnungen „Sozialkundlicher Aspekt der Sachkunde" (Berlin), „Soziale Studien" (Nordrhein-Westf.), „Sozialund Wirtschaftslehre" (Bayern) spiegeln sich unterschiedliche Konzeptionen wieder. Uns geht es im folgenden nicht um eine Gesamtanalyse, sondern darum, einzelne Aspekte, die uns für die Curriculumsdiskussion im sozialwissenschaftlichen Bereich der Grundschule wichtig erscheinen, hervorzuheben.

Bayern Beim bayrischen Lehrplan fällt auf, daß innerhalb des Sachunterrichts neben der sog. Sozial-und Wirtschaftslehre die Bereiche Geschichte, Erdkunde, Biologie, Physik/Chemie gesondert ausgebracht sind. Weil von der Voraussetzung ausgegangen wird, daß „sich das Kind in der Grundschule in einer besonders lerneffektiven und bildsamen Phase der Entwicklung befindet" hat der Grundschulunterricht nach Meinung der Verfasser des Lehrplans eine „propädeutische Aufgabe ... für den Sachunterricht der weiterführenden Schulen" Dabei scheint man von der Struktur und der Rangordnung des tradierten Fächerkanons auszugehen. Neuere lernpsycho-logische Erkenntnisse sind nicht eingearbeitet. Für diesen Lehrplan dürfte der Hinweis Theodor Wilhelms gelten: „Der Kanon der Fächer erscheint im Grunde auch heute noch wichtiger als der Kanon der Aufgaben." Die Vorschläge im Bereich der sozialen Wirtschaftslehre bringen zwar einige neue Themen, wie z. B. „Möglichkeiten der Produktion“, „Der Wandel in der Wirtschaft" und „Erweiterte Freizeit" Es tauchen jedoch einige heimatkundlich orientierte Themen wieder auf, wie z. B. „Berufsbilder aus der Umwelt des Kindes". Es besteht hier leicht die Gefahr, daß die Lehrer unter der Hand diesen neuen Lehrplan unter das bewährte Konzept der Heimatkunde subsumieren.

Nordrhein-Westfalen Im Gegensatz zum Bayrischen Lehrplan aus dem Jahre 1971 versuchen die „Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule" aus Nord-34) rhein-Westfalen den sozialwissenschaftli-chen Bereich des Sachunterrichts unter dem Titel „Soziale Studien" zu integrieren. Dabei ist es verwunderlich, daß Probleme, die dem „tradierten Schulfach Erdkunde“ herkömmlicherweise zugeordnet werden, hier nicht den Sozialen Studien zugerechnet sind. Soziale und politische Erfahrungen sind jedoch nicht von der „Erschließung der räumlichen Umwelt des Kindes“ zu trennen.

Die Zielsetzung der Sozialen Studien steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der neuen Konzeption des Sachunterrichts in der Grundschule. Der nordrhein-westfälische Lehrplan nennt folgende Relevanzkriterien für den Sachunterricht:

1. Rezeption von Erfahrungen der Kinder;

2. Systematisierung und Theoretisierung dieser Erfahrungen;

3. Vermittlung von Instrumentarien zum Wissenserwerb für die Schüler.

Bei diesen Zielformulierungen liegt der Hauptakzent auf einer „bewußteren Erfahrungsaufnahme 1'. Es geht um „bewußtes Auffassen von Erscheinungen und Vorgängen", um „erste Schritte einer Theoriebildung" Für den Bereich der Sozialen Studien soll mit Hilfe der Kategorien „Mensch als Konsument und Produzent“, „Mensch und Zeit" und „Mensch und Mitmensch" die soziale Erfahrungswelt der Kinder strukturiert werden. Die genannten Kategorien sind als „Rahmenplan" zu verstehen. Dieser didaktische Bezugsrahmen fungiert nur als Raster, der den örtlichen Gegebenheiten angepaßt und für aktuelle soziopolitische Probleme offen gehalten werden soll.

Es ist zu fragen, ob die genannten Kategorien von ihrer Auswahl und Formulierung her nicht eine bestimmte Sicht der Wirklichkeit des Menschen und eine statische Gesellschaftsauffassung determinieren. Am deutlichsten wird diese Tendenz bei der dritten Kategorie „Mensch und Mitmensch". Dabei „soll die Einsicht geweckt werden, daß im Zusammenleben der Menschen Ordnungen notwendig sind, jeder Verantwortung für sich, für den andern und für das Ganze trägt, Konflikte bestehen und durch Diskussionen und Kompromisse gelöst werden können“ Gesellschaftliche Wirklichkeit wird hier als gegeben und nicht veränderbar hingestellt. Die strukturelle Bedingtheit von aktuellen Konflikten, welche nicht durch Diskussionen und Kompromisse zu lösen sind, kann den Schülern auf diesem Wege nicht zum Bewußtsein kommen.

Bei der oben genannten Zielbestimmung des Sachunterrichts ist die Forderung erhoben, daß die Schüler in die Lage versetzt werden, selbständig und bewußt ihre Umwelt zu erschließen. Für die Sozialen Studien hieße dies, daß die Gesellschaft nur dann didaktisch adäquat erfahrbar zu machen ist, wenn die Schüler bei der Analyse von gesellschaftlichen Realsituationen auch die Kriterien für deren Beurteilung und Wertung kennen lernen. Diese Aufgabe leisten die Richtlinien nicht. Im NRW-Lehrplan ist also eine deutliche Diskrepanz zwischen allgemeiner Zielbestimmung und der Konzeption, die für die Strukturierung der einzelnen Themenbereiche maßgebend ist, festzustellen. Antonius Holtmann pointiert seine Kritik folgendermaßen: „Gesellschaftliche Wirklichkeit bleibt draußen, eine didaktische Reduktion in Richtung auf eine vereinfachte idealtypisierende Institutionenkunde, idyllische Soziale Studien also, die bestätigen, was ist und Probleme auf später verschieben, nachdem der Anpassungsdrude der familiären Sozialisation seine erste schulische Bestätigung erfahren hat."

Berlin Die „Rahmenpläne für Unterricht und Erziehung in der Berliner Schule" bezeichnen die politische Bildung als „dominierendes Prinzip" in der Grundschule. Fachlich ist die „Sozialkunde" der „Sachkunde“ zugeordnet, innerhalb derer zwischen fünf Aspekten, dem technisch-physikalischen, dem biologischen, dem erdkundlichen, dem geschichtlichen und dem sozialkundlichen unterschieden wird. So ist im Lehrplan vorgeschlagen, die Hafenstadt Berlin unter technisch-physikalischem, erdkundlichem und sozialkundlichem Gesichtspunkt zu behandeln. Die Aspektierung der Unterrichtsgegenstände hat die Funktion, die Erschließung von Sachverhalten nur von einem einzelnen Unterrichtsfach her zu verhindern. „Auch innerhalb der integrierten Unterrichts-einheiten soll stets berücksichtigt werden, daß die den einzelnen Aspekten entsprechenden Arbeitsweisen berücksichtigt werden.“ Dies schließt die Erörterung von rein fachlithen Themen nicht aus. Im Gegensatz zum bayri-sthen Lehrplan sind die Berliner Rahmenpläne stärker an gesellschaftlich relevanten Problemen und Erfordernissen als am tradierten Fä-

cherkanon orientiert.

Bei den vorgesehlagenen Unterrichtsgegen-ständen für die Sozialkunde fehlen die kon-kreten Aufschlüsselungen der Themen und Angaben über die dabei zu erlernenden Arbeitstechniken. Der Berliner Lehrplan lehnt den Stufengang Vom Nahen zum Fernen ab und empfiehlt die Verfremdung des Nahen durch das Ferne, Andersartige und Fremde. In dem Kapitel „Sozialkunde“ fehlen jedoch entsprechende Themenangaben.

V. Relevanzkriterien für ein sozialwissenschaftliches Curriculum

In den bisherigen Ausführungen haben wir versucht, unter ideologiekritischen und didaktischen Aspekten die vergangenen und gegenwärtigen Bemühungen um die politisch-gesellschaftliche Erziehung auf der Primarstufe zu analysieren. Dabei fragten wir nicht zuletzt danach, ob und in welcher Weise die Ergebnisse der empirischen Sozialisationsforschung bei der Organisierung von Lernprozessen berücksichtigt wurden. Die vorgelegte kritische Bestandsaufnahme hat einmal gezeigt, daß die sog. Heimatkunde den Kindern, denen sie die Fähigkeit zu politischem Denken und Verhalten absprach, ein obrigkeitsstaatliches und harmonisierendes Gesellschaftsbild oktroyierte. Die Lehrer, welche vorgaben und noch vorgeben, sich im vorpolitischen Raum zu bewegen, erteilten einen Unterricht, der für die Schüler trotzdem von hoher politischer Relevanz ist. Die Möglichkeit und die Notwendigkeit einet sozialen Und politischen Erziehung ist der Grundschule Sind zwar heute kaum mehr bestritten) es fehlen aber weitgehend theoretisch fundierte Konzepte. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, daß heimatkundliche Denkweisen unter neuem Namen perpetuiert oder ausländische Curricula unreflektiert übernommen werden.

Wir wollen nuh Versuchen, zusammenfassend in Form von Thesen — die jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben — einige Relevanzkriterien für ein sozialwissenschaftliches Curriculum zü entwickeln. 1. Reflektierte politische Sozialisation Die Ergebnisse der empirischen Sozialisationsforschung weisen darauf hin, daß sich die politischen Einstellungen der Kinder bereits gegen Ende des Grundschulalters verfestigen. Für die organisierte politische Bildung besteht eher die Gefahr der Verspätung als der Ver-frühung. Bei der augenblicklichen Forschungs-lage ist es schwer möglich, so differenzierte und gesicherte Aussagen über den sozialen und politischen Lernprozeß der Kinder zu machen, daß man daraus entsprechende didaktische Konsequenzen ziehen kann. Die folgenden Überlegungen müssen daher teilweise hypothetischen Charakter haben. Wit vertreten die These, daß emanzipatorisches Lernen nur möglich ist, wenn die Schüler schon im Grundschulalter die Sozialisationsprozesse, denen sie selbst unterworfen sind, reflektieren. a) Reflexion des Vermittlungsproiesses Der Stellenwert der verschiedenen Sozialisa-tionsfaktoren. Wie 2: B. Familie, peer-groups, Schüle, Massenmedien, Parteien und Verbände, und ihre Interdependenz ist jeweils gesondert nach Situation und sozio-kulturellem Milieu auszumachen. Die oben genannten Untersuchungen machen beispielsweise deutlich, daß die Familie als . politischer Sozialisationsagent’ im Vergleich zu den Massenmedien an Bedeutung verloren hat. Die sozialen Normen und Wertvorstellungen der Familie werden immer mehr durch die Massenmedien bestimmt. So suggeriert z. B. die Werbung den Kindern selbst Oder indirekt über die Eltern, auf welche Weise sie sich kleiden oder ernähren sollen. Die Kinder richten ihr Verhalten in peergroups bewußt oder Unbewußt an „Vorbildern", wie sie ihnen das Fernsehen darbietet, aus. Bei Schuleintritt sind die Kinder einem z. T. gegensätzlichen Erwartungsdruck von Eltern und Lehrern ausgesetzt. Aufgabe der Schule Wäre es, diesen Vermittlungsprozeß selbst zum Gegenstand des Unterrichts zu machen, wobei die Schüler die Funktion und den Stellenwert der verschiedenen Sozialisationsfaktoren erkennen sollten. b) Analyse von Werteinstellungen Bel der Untersuchung des Vermittlungsprozesses ergibt sich die weitere Frage, welche Interessen hinter den einzelnen Sozialisationsagentureh bzw.den von ihnen verbreiteten Meinungen und Auffassungen stehen. Wenn z. B. amerikanische Kinder ihr Land als das beste und demokratischste bezeichnen und die Sowjetunion verteufeln, dann wird daraus ersichtlich, Wie stark die Kinder durch die aller-orts betriebene Schwarz-Weiß-Malerei beeinflußt sind. Durch den Vergleich von Schulbuchtexten könnten die Kinder erkennen, welche politischen Wertvorstellungen hinter einfachen Landesbeschreibungen stehen können. Selbst auf den ersten Blick als besonders objektiv erscheinende Darstellungsweisen wie Karten und Statistiken müssen auf ihren eventuell interessengeleiteten Zusammenhang hin befragt werden. c) Rekonstruktion von Sachverhalten Werteinstellungen wollen bestimmte Sachverhalte treffen, die den Grundschulkindern nur bruchstückhaft entgegentreten. Wenn die Kinder auch diese Bruchstücke der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit nicht in ihrer vollen Reichweite verstehen können, so bilanzieren sie sie doch in ihren Vorurteilen und Meinungen. Die Politik z. B. begegnet den Kindern nach der Untersuchung von Greenstein in der Person des amerikanischen Präsidenten. Die Grundschüler spüren, daß ihm eine hervorragende Rolle zukommt. Da sie aber die politische Funktion des Präsidenten nicht rational erklären können, schmücken sie ihn mit Eigenschaften von Führungspersönlichkeiten Wie 2. B. Helden, Vätern u. a.

An dieser Stelle wird deutlich, daß die Sachverhalte nicht Isoliert von dem oben erörterten Vermittlungsprozeß und den dabei einfließenden Wertentstheidungen gesehen werden können. Um eine Verfestigung der genannten unpolitischen Einstellungen zu vermelden, kommt es im Unterricht darauf an, durch gezielte Sachinformationen diese Vorurteile aufzubrechen und aufzuarbeiten. Der Grundschüler sollte langfristig in die Lage versetzt werden, sich selbständig Informationen Zur genauen Rekonstruktion von Sachverhalten zu beschaffen. d) Konflikt als politische Gtundkategorie „Die Zuwendung zum sozialen Konflikt und zur politischen Kontroverse als Brennpunkt der allgemeinen politischen Bildung" muß auch für die Grundschule gelten. Ein unpolitischer Sachunterricht läuft Gefahr, gesellschaftliche Machtverhältnisse zu verdecken. Die Schüler erkennen z. B. »bei den Experimenten zwar, wie das Wasser gereinigt wird, erfahren aber nicht, warum es nicht gereinigt wird, obwohl in der unmittelbaren Nähe der Schule das Schmutzwasser einer Fabrik ungereinigt in den Fluß läuft" Auch die Grund-schüler können vor sozialen Konflikten wie z. B.dem Arbeitskampf nicht bewahrt werden, da sie diese Auseinandersetzungen zumindest indirekt in ihrer Familie miterleben. Wenn die Schule solche Konflikte nicht thematisiert und reflektiert, übernehmen die Kinder die z. T. resignierenden und apathischen politischen Vorstellungen ihrer Eltern. e) Reflexion des eigenen Verhaltens Die Grundschule kann nicht bei der rationalen Durchdringung von Konflikten stehen bleiben. Wenn sie den Erfahrungshorizont der Schüler treffen will, muß sie die Konfliktsituationen aufnehmen, an denen die Schüler selbst als Akteure beteiligt sind. Der Leistungsdruck etwa, durch Lehrer und Eltern ausgeübt, kann bei Kindern zu Schuld-und Trennungsängsten führen. Ein Interaktionsfeld wie das der Klasse bedeutet Rivalitäten und der stetige Kampf um Positionen innerhalb der Gruppe. Zu einer reflektierten Sozialerziehung gehört es einmal, die Schüler zu befähigen, diese gruppendynamischen Prozesse zu artikulieren. Zum anderen müssen die Kinder lernen, Muster von Konfliktregelungen zu finden und sie praktisch anzuwenden. Ein so verstandenes soziales Lernen führt zu höherer Sensibilität für soziale Beziehungen. f) Entwickeln von PdrtiHpationsinöglichkelten Wenn die gesellschaftlich-politische Erziehung auf der Primarstufe letztlich zum politischen Handeln führen soll, dann müssen soziales und politisches Lernen integriert werden. Unter politischem Lernen verstehen wir im Gegensatz zum sozialen Lernen die rationale Analyse von gesellschaftlichen Konflikten und die Erörterung und Erprobung von Handlungsmodellen zu ihrer Überwindung. Nur Wenn den Schülern bewußt wird, daß ihr Konflikt-verhalten in der Klasse und anderen Gruppen durch gesellschaftliche und politische Faktoren mitbestimmt ist, können sie ihre eigenen Einflußmöglichkeiten richtig abschätzen. Die Mitbestimmungsdiskussion in einer Klasse kann nur dann sinnvoll geführt werden, wenn die Schüler neben der individuellen auch die politische und institutionelle Bedingtheit der Lehrerrolle sehen. Erst auf diesem Hintergrund können mögliche Solidarisierungen mit dem Lehrer politisch wirksam werden.

Die von uns entwickelten Kriterien einer reflektierten politischen Sozialisation könnte man auch unter dem von Alexander Mitscher-lieh geprägten Begriff der „aktiven Anpassung" subsumieren, d. h. ihre Aufgabe besteht darin, „in die Gesellschaft einzuüben und gegen sie immunisieren, wo diese zwingen will, Stereotypen des Denkens und Handelns zu folgen, statt kritischer Einsicht" 2. Wissenschaftsorientierung Eine reflektierte politische Sozialisation, die zur Emanzipation führen soll, setzt beim Schüler „das Erschließen, Ordnen, Durchsichtig-machen und Ermöglichen von Erfahrungen durch Methoden, Begriffe und Denkmodelle wissenschaftlicher Erkenntnis" voraus. Der hochkomplexe Sozialisationsprozeß, der vor allem durch die Interdependenz von Primär-und Sekundärerfahrung gekennzeichnet ist, kann nicht durch unmittelbares Erfahren und Erleben, wie es in der Heimatkunde geschah, bewußt gemacht werden. Wissenschaftlich-operationelle Denkweisen sind notwendig. a) Operationelles Denken Da politisches Lernen die Konfliktsituation, in die der Schüler verstrickt ist, und die Sachverhalte, mit denen er konfrontiert wird, auf-arbeiten muß, sollte der Unterricht auf der Primarstufe nicht Bildungsinhalte vermitteln, die bisher der Sekundarstufe vorbehalten waren, Linie Fähigkeiten. sondern erster intellektuelle So fordert etwa H. Taba in ihrem Beitrag „Die Entwicklung des Denkens als Ziel der Bildung" Ausbildung politischen die kognitiver folgender Fähigkeiten:

„ 1. Die Begriffsbildung oder die Organisation von Informationen in einem System von Gruppen und Klassen;

2. Die Interpretation von Werken, das Schlußfolgern und Abstrahieren;

3. die Anwendung bekannter Begriffe, Abstraktionen und Daten zum Zwecke der Ausbildung einer Hypothese oder Theorie." Diese eingeübten Denkoperationen befähigen den Schüler, soziale Verhaltensweisen und ge47) sellschaftliche Prozesse gedanklich zu antizipieren. Allerdings sind insbesondere die Sozialwissenschaften, welche gesellschaftlich relevante Tatbestände zum Gegenstand ihres Forschens gemacht haben, in erhöhtem Maße von diesen gesellschaftlichen Prozessen selbst abhängig. Dem Schüler müßte einsichtig gemacht werden, daß hinter den genannten Denkoperationen und wissenschaftlichen Modellen ein bestimmtes gesellschaftlich geleitetes Erkenntnisinteresse steht und sie daher nur einen Aspekt der gesellschaftlichen Wirklichkeit treffen können. Sozialwissenschaftlicher Unterricht muß also die Grenzen seiner eigenen Instrumentarien mitreflektieren, wenn er nicht zu einem Wissenschaftsfetischismus führen will. b) Politische Artikulationsfähigkeit K. Giel hat im Zusammenhang mit der Wissenschaftsorientierung des Unterrichts auf die didaktische Bedeutung des Unterschiedes von Umgangssprache und Wissenschaftssprache hingewiesen Die Konfrontation von umgangssprachlich artikulierten Meinungen mit wissenschaftlich formalisierten Erklärungsweisen im Unterricht soll deren spezifische Leistungsfähigkeit erweisen. Daraus sind für den sozialwissenschaftlichen Unterricht folgende Konsequenzen zu ziehen: Durch die Auseinandersetzung mit sozialwissenschaftlichen Fachtermini wird die sprachliche Ausdrucks-fähigkeit des Kindes gefördert. Es lernt die wissenschaftlich durchsetzte Sprache des öffentlichen Lebens zu verstehen und gewinnt damit Einsicht in dessen anonyme Strukturen. Das Kommunikationsmodell z. B. hilft dem Schüler die Wirkungen der Massenmedien zu verbalisieren. Da politisches Verhalten weithin auf sprachliche Artikulation angewiesen ist und die Kinder verschiedener Gesellschaftsschichten hierzu nicht die gleichen sprachlichen Voraussetzungen mitbringen, dürfte ein sozialwissenschaftlich orientierter Unterricht einen wichtigen Beitrag für eine kompensatorische politische Erziehung leisten. c) Fähigkeit zur Rollendistanz Eine wissenschaftsorientierte politische Bildung ermöglicht nicht nur eine Analyse politischer und gesellschaftlicher Phänomene, sondern gibt dem Schüler Instrumente an die Hand, sein eigenes Verhalten in sozialen Gruppen zu beobachten und zu beschreiben. Da die Artikulationsfähigkeit des Kindes begrenzt ist, besteht die Gefahr, daß es seine soziale Rolle nur passiv „rezipiert" und nicht „interpretiert". Wenn es aber die verschiedenen, an ihn gerichteten Rollenerwartungen isolieren und in ihrem Stellenwert erkennen kann, gewinnt es Distanz zur eigenen Rolle und die Fähigkeit, sie individuell auszugestalten. Es müßte auch in der Schule möglich sein, Ergebnisse und Methoden der Gruppendynamik anzuwenden. Die Schule sollte sich als offenes Konfliktfeld verstehen, in dem die Schüler ihre Gefühle und Aggressionen formulieren und rationalisieren können. Auf diesem Hintergrund könnte sich bei den Schülern eine reflexive Einstellung im Handeln und eine Ich-Autonomie entwickeln. 3. Curriculare Organisationsprinzipien a) Der Stellenwert der einzelnen Disziplinen Ausgehend von den beiden grundlegenden Kriterien . Reflektierte politische Sozialisation'und . Wissenschaftsorientierung'stellen wir nun die Frage, nach welchen Gesichtspunkten ein Grundschulcurriculum strukturiert sein muß, um diesen Anforderungen zu genügen. Für die Rezeption der wissenschaftlichen Disziplinen in ein Curriculum gibt es nach dem bisherigen Diskussionsstand zwei Verfahrens-möglichkeiten: „Man kann sich entscheiden, die Sozialwissenschaften als akademische Disziplin zu lehren oder aber ihre Inhalte in den . social studies'dazu zu benützen, die allgemeine intellektuelle Kompetenz aller Bürger zu vermehren." In unseren bisherigen Überlegungen vertraten wir die These, daß der sozialwissenschaftliche Unterricht von den politischen Sozialisationsprozessen auszugehen habe. Die Reflexion dieser Erfahrungen soll zugleich gesellschaftliche Integration und Emanzipation ermöglichen. Reflektierte politische Sozialisation benötigt wissenschaftliche Instrumentarien und die Ergebnisse der einzelnen Sozialwissenschaften. Die Orientierung an einer einzelnen akademischen Disziplin als organisierendem Prinzip für die Auswahl der Gegenstands- und Problembereiche erscheint uns für ein Grundschulcurriculum nicht angemessen, da hier die Bedürfnisse und Interessen der Kinder im Vordergrund stehen müssen. Von hier aus erscheint uns die Option für dezentrale sozialwissenschaftliche Curricula, die den soziokulturellen Hintergrund der Kinder berücksichtigen, angebracht b) Der sozialwissenschattliche Bereich und die Schuliächer Wenn wir die kritische Sozialisation als organisierendes Prinzip für ein Curriculum fordern, ergibt sich daraus die Funktion und der Stellenwert der sozialwissenschaftlichen Dizi-plinen: Sie müssen danach befragt werden, ob und in welcher Weise ihre Methoden und Ergebnisse reflektierte politische Sozialisation in der Schule initiieren können. Wir sprechen bewußt von einem sozialwissenschaftlichen Bereich, für den uns folgende Disziplinen relevant scheinen: Politikwissenschaft, Soziologie, Psychologie, Geographie, Ökonomie und Geschichte. Je nach Problemstellung und Konfliktsituation der Kinder kann zwar einzelnen Disziplinen eine Priorität zukommen; es besteht aber keine grundsätzliche Rangordnung. Der sozialwissenschaftliche Bereich durchbricht den tradierten Fächerkanon der Schule. Er relativiert die Stellung herkömmlicher Schulfächer und bezieht bisher ausgeschlossene und nicht berücksichtigte Disziplinen in curriculare Entscheidungen ein. Damit widersprechen wir der Ansicht, daß der Sachunterricht als „Propädeutik der Schulfächer“ zu organisieren sei. b) Projekte und Kurse Die Konzeption eines sozialwissenschaftlichen Bereichs in der Grundschule hat Konsequenzen für die Organisationsform schulischen Lernens. Der Projektunterricht scheint reflektierte politische Sozialisation am ehesten in Gang zu setzen. Ohne auf definitorische Probleme des Projektbegriffes und entsprechender Verfahren einzugehen, seien hier wenigstens einige Kriterien für Projekte in der Grundschule genannt:

— Motivation und Bedürfnisse der Schüler — aktuelle politisch-gesellschaftliche Konfliktorientierung

— Integration der Fächer und Methodenpluralismus

•— Kooperation und Kommunikation Die genannten Kriterien sollen am Beispiel des Projekts Kinderspielplatz verdeutlicht werden Die Kinder sind in ihren eigenen Interessen betroffen. Es handelt sich dabei nicht um ein persönliches Problem der Kinder, sondern um eine Frage, die gesellschaftspolitisch umstritten ist. Für die Planung von Kinderspielplätzen sind u. a. geographische, soziologische, politische, hygienische und psy-— chologische Kenntnisse erforderlich. Die Informationsbeschaffung zu diesem Problem erfordert die Arbeitsteilung in Kleingruppen, die Kommunikation zwischen den Gruppen und die Kooperation mit Erwachsenen. Das Projekt darf nicht dabei stehen bleiben, das Problem der fehlenden Kinderspielplätze zu analysieren. Die Kinder sollen vielmehr auch politische Handlungsstrategien zur Verbesserung der Lage (z. B. durch Flugblattaktionen, Solidarisierung mit den Eltern u. a.) entwickeln lernen.

Der Projektunterricht mit dem Ziel der reflektierten politischen Sozialisation ist ohne Kurse nicht durchführbar. In Lehrgängen sollen die Kinder Fertigkeiten wie z. B. Interviewtechnik oder Interpretation von Statistiken erwerben, die sie selbständig auf verschiedene Sachverhalte anwenden können. Die Durchführung und Erprobung eines nach solchen Kriterien entwickelten Curriculums erfordert freilich einen schulorganisatorischen Handlungsspielraum, den Politiker und Behörden gewähren und garantieren müßten.

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Fussnoten

Fußnoten

  1. E. Hauptmann, Heimatkunde, Leipzig 1920; zit. in: H. Fiege (Hrsg.), Die Heimatkunde, Weinheim 19642, S. 60 f.

  2. W. Jeismann, Landesgeschichte im Unterricht der Schulen, in: Mitteilungen des Deutschen Heimatbundes, 1969, Nr. 9, S. 16 f.

  3. Ebd.

  4. Bildungsplgn für die Volksschulen inBaden-Würt-temberg, eingeführt durch Erlaß des Kultusministeriums vom 10. 1. 1058, Eßlingen 1958, S. 70.

  5. Vgl. zum ganzen Problemkreis: E. H. Ott, Grundzüge der hermeneutisch-pragmatischen Pädagogik in Deutschland. Eine Monographie über die Zeitschrift „Die Erziehung" von 1925— 1933. Göppinger Akademische Beiträge, Bd. 41, Göppingen 1971.

  6. Vgl. E. Spranger, Per Bildungswert der Heimat-künde, Stuttgart 1962* (Reclam Nr. 7562).

  7. Vgl. G. Kudritzki, Die Kategorie des Volkstümlichen, in: Die Deutsche Schule, 1962, Nr. 3, S. 113 ff.

  8. H. Müller, Affirmative Erziehung: Heimat-und Sachkunde, in: H. J. Gamm (Hrsg.), Erziehung in der Klassengesellschaft, München 1970, S. 215.

  9. H. Müller, a. a. Ö„ S. 216.

  10. Vgl. H-Roth, Kind und Geschichte, Psychologische Voraussetzungen des Geschichtsunterrichts in der Volksschule, München 1958’.

  11. Vgl. W. Küppers, Psychologie des Geschichts-Unterrichts, Stuttgart 1961.

  12. Vgl. H. Ritter, Entwicklungsphasen und Grund-

  13. J. S. Bruner, Bereitschaft zum Lernen, in: F. Weinert (Hrsg.), Pädagogische Psychologie, Köln-Berlin 1967, S. 105 ff.

  14. Vgl. dazu S. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, in: S. Freud, Gesammelte Werke V, Frankfurt 19613, S. 133.

  15. A. Mitscherlich, Psychoanalyse und die Aggression großer Gruppen, in: Psyche, 25. Jg. (1967), 6/7, S. 473 f.

  16. H. Holzer, Frühkindliche Entwicklung und politisches Verhalten der Erwachsenen, in: Politische Studien, 1970, Nr. 193, S. 584 f.

  17. D. Easton und R. Hess, The Child’s Political World, in: Midwest Journal of Political Science, 6/1962, S. 229— 246.

  18. Vgl. dazu auch die zusammenfassenden Berichte von G, Behrmann, Politische Sozialisation in den USA und Politische Bildung in der BRD, in: Gesellschaft — Staat — Erziehung, 1969, Nr. 3, S. 145— 160, und F. Nyssen, Kinder und Politik, in: betrifft; erziehung 1970, Nr. 1, S. 20— 26.

  19. F. J. Greenstein, Children and Politics, New Haven 1969, S. 80.

  20. D. Easton und J. Dennis, The Child’s Acquisitial of Regime Norms; Political Efficacy, in: American Political Science Review 61/1967, S. 25— 38,

  21. Politisches Lernen im Kindesalter, in; Müller/Rehm/Nußbaum, Politikunterricht und Gesellschaftskunde in der Schule, Ulm 1971.

  22. Pye/Verba, Political Culture and Political Development, Princeton, New Jersey, 1965.

  23. G. Behrmann, a. a. O., S. 195.

  24. F. Nyssen, a. a. O., S. 26.

  25. Vgl. im Rahmen eines Seminars durchgeführte V oruntersuchungen.

  26. Chr. Wulf, Die New Social Studies in den USA, in: Die Grundschule 1971, Nr. 4, S. 20 f.; vgl. auch Jutta B. Lange-Quassowski, Curriculum-reform und New Social Studies in den USA, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 21/72, S. 16 ff.

  27. Vgl. P. B. Dow, Man: A Course of Study, ein sozialwissenschaftlicher Lehrgang für die Grundschule, in: Politische Bildung 1971, Nr. 3, S. 73.

  28. H. Prokasky, Politische Bildung in den USA, in: Politische Bildung 1971, Nr. 3, S. 11.

  29. L. Senesh, „Our Working World", Cities at work, Chikago 1964.

  30. R. Lipitt, R. Fox, L. Schaible, Social Science Laboratory Units, Chikago.

  31. Lipitt u. a., SSLU — The Teachers Role in Social Science Investigation, TR, S. 6.

  32. Ebd., S. 2.

  33. Vgl. dazu auch J. Schwenk, Schulfunksendung: Didaktische Ansätze zur Politischen Bildung, Südd. Rundfunk Stuttgart, März 1972.

  34. Lehrplan für die Grundschule 1. — 4. Jahrgangs-stufe, München 1971, S. 335.

  35. Ebd., S. 370.

  36. Th. Wilhelm, Theorie der Schule, Stuttgart 1967, S. 208.

  37. Lehrplan, a. a. O., S. 373.

  38. Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule, Schulversuch in Nordrhein-Westfalen, Schriftenreihedes Kultusministeriums, H. 40, 1969.

  39. Richtlinien und Lehrpläne, a. a. O., S. 253.

  40. Richtlinien und Lehrpläne, a. a. O., S. 248.

  41. Richtlinien und Lehrpläne, a. a. O., S. 259.

  42. Antonius Holtmann, Soziale Studien ohne soziales Lernen, in: Die Grundschule, 1971, Nr. 4, S. 17.

  43. Rahmenpläne für Unfetricht und Erziehung in der Berliner Schule, hrsg. v. Senator für Schulwesen, Sonderdruck aus dem Werk „Schulrecht in Berlin“, Berlin o. J.

  44. Berliner Rahmenpläne, B II 1, S. 101.

  45. Donald W. Oliver und James P. Shaver, Die Auswahl voh Unterrichtsinhalten in der politischen Bildung, in: Politische Bildung, 1971, Nr, 3, S. 24.

  46. R. Engelhardt, Fünf Thesen zür politischen Bildung in der Grundschule, in: Die Grundschule, 1971, Nr. 4, S. 7.

  47. A. Mitscherlich, Auf dem Wege zur vaterlosen Gesellschaft, München 1965, S. 350 f.

  48. W. Popp, Zur Reform des Sachunterrichts in der Grundschule, in: Die Deutsche Schule, 62. Jg. 1970, Nr. 6, S. 407.

  49. H. Taba, Die Entwicklung des Denkens als Ziel der politischen Bildung, in: Politische Bildung, 1971, Nr. 3, S. 46.

  50. K. Giel, Operationelles Denken und sprachliches Verstehen, in: Zeitschrift für Pädagogik, 7. Beiheft, S. 111— 124.

  51. D. W. Oliver u. J. P. Shaver, a. a. O., S. 17.

  52. Vgl. W. Edelstein, Sozialwissenschaftliches Curriculum für die Schule: Eine dezentrale Entwicklungsinitiative, in: Bildung und Erziehung, 1972, Nr. 2, S. 28— 40.

  53. H. Kasper, Das Projekt als Forschungsund Studienreform in der Lehrerbildung, in: PH-Information, Reutlingen, Nr. 3 (1971), S. 5.

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Paul Ackermann, Dr. phil., Professor Ernst H. Ott, Dr. phil., Dozent für Schulpädagogik für Politikwissenschaft an der Pädagogischen an der Pädagogischen Hochschule Hochschule Reutlingen und Lehrbeauftragter Weingarten/Württ.; geb. 1938; Studium der an der Universität Tübingen; geb. 1939; Studium Pädagogik, Philosophie, Psychologie und Geographie.der Politikwissenschaft, Geschichte, Arbeitsgebiete: Curriculumtheorie Agrarpolitik und Altphilologie. und -praxis, Analyse schulischer Lernprozesse, Veröffentlichungen: Der Deutsche Bauernver-„Rechtskunde" in der Schule. band im politischen Kräftespiel des Bundesrepublik, Veröffentlichungen: Grundzüge der hermeneutisch-pragmatischen Tübinger Studien zur Geschichte und Pädagogik in Deutschland. Politik Bd. 27, Tübingen 1969; Erziehung und Eine Monographie über die Zeitschrift „Die Erziehung" Friede (Mitherausgeber und Agtor), München 1925— 1933, Göppingen 1971. 1971; Beiträge für das Staatslexikon, Freiburg 1969 ff.; Demokratisches System und politische Praxis der Bundesrepublik, Festschrift für Theodor Eschenburg, München 1971; Didaktische Aufsätze in Zeitschriften und Sammelwerken.