Neue Institutionen für Europa?
Die institutioneile Reformdiskussion zur europäischen Integration
Johannes Preisinger
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Zusammenfassung
In den letzten Jahren sind mehrere Fortschritte in der europäischen Integration erzielt worden. Vor allem der begonnene Aufbau der Wirtschaftsund Währungsunion stellt einen Markstein auf dem Weg von der Zollunion zur Wirtschaftsgemeinschaft dar und führt mit der Kontroversität von wirtschaftspolitischen Entscheidungen zu einer europäischen Innenpolitik in absehbarer Zeit. Daneben ist auch im Bereich der Außenbeziehungen die Ergänzung des gemeinschaftlichen Außenhandels durch eine außen-politische Zusammenarbeit eingeleitet worden. Da die europäischen Verträge den institutionellen Prozeß vor allem für die Aufbauphase vorgezeichnet haben, verlangt die fortschreitende Gemeinschaftsbildung nunmehr neue Überlegungen der Arbeitsweise der europäischen Institutionen. Die vorgeschlagenen Reformen gehen einmal von der Weiterentwicklung der bestehenden Institutionen, zum anderen von der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit neben den Römischen Verträgen aus. Die diesen Konzepten zugrundeliegenden verfassungstheoretischen Idealtypen des Bundesstaates und des Staatenbundes erlauben jedoch heute keine hinlängliche Erfassung der europäischen Integration mehr. Als brauchbares Erklärungsmodell der europäischen Gemeinschaftsbildung wird das regionale Konkordanzsystem vorgeschlagen, das gerade von einem komplexen Interaktionssystem der verschiedenen nationalen und supranationalen Akteure ausgeht. In diesem Rahmen werden dann institutionelle Einzelvorschläge — wie die Europa-Minister und das Politische Sekretariat — zur Verbesserung der systemaren Leistungsfähigkeit und zur Koppelung der gemeinschaftlichen und zwischenstaatlichen Kooperationsprozesse diskutiert. Für eine Vertiefung der politischen Legitimation bei fortschreitender Gemeinschaftsbildung wird sodann die Rolle des Europaparlaments und die politische Kontrolle der anderen Entscheidungsfaktoren behandelt.
Im Rahmen der europäischen Integration ist es in letzter Zeit zu einer Wiederaufnahme der seit dem Beginn der sechziger Jahre abgebrochenen institutioneilen Diskussion gekommen. Offizielle Gutachten und Reformvorschläge im Hinblick auf die Gipfelkonferenz im Oktober 1972 werden dabei von zahlreichen Beiträgen der . Integrations-Literatur'aufgegriffen und gewürdigt Aufgabe dieser Darstellung soll es deshalb weniger sein, diese Veröffentlichungen zusammenzufassen oder durch neue Vorschläge zu bereichern, sondern es soll der Versuch unternommen wer-den, die sich beschleunigende institutionelle Entwicklung der europäischen Gemeinschaftsbildung mit ihren supranationalen und inter-gouvernementalen Elementen einer organisationstheoretischen Würdigung zu unterziehen, um zu einer Definition des Gesamtsystems zu gelangen. Hierfür scheint es zunächst angebracht, die Gründe und Auslösungsmomente der Reformnotwendigkeit darzustellen, an die sich die Diskussion einiger Reformkategorien anschließt. Das hierbei abzuleitende System-modell erlaubt es dann, einzelne vorgeschlagene institutionelle Mechanismen einzuordnen und zu bewerten.
I. Die Notwendigkeit der Reform
In Westeuropa sind seit Beginn der siebziger Jahre mehrere Ereignisse eingetreten, die zu einer weitergehenden Verdichtung der Zusammenarbeit dieses Raumes geführt haben. Dies bezieht sich einmal auf die bestehenden Gemeinschaften selbst, die im Rahmen der Erweiterung von sechs auf voraussichtlich zehn Mitglieder ihre Entscheidungsgremien ab 1973 vor allem bezüglich des 10er Rats und der 14er Kommission umgestalten. Die dabei nahe-liegende Frage, ob durch diese rein quantitative Veränderung nicht der schon bisher schwerfällige Entscheidungsmechanismus des Rates, einschließlich der Marathontagungen und der komplexen Beschlußpakete, in seiner Leistungsfähigkeit überlastet wird, ist in den Beitrittsgesprächen ausgeklammert worden, verlangt aber nunmehr eine baldige Beantwortung. Daneben ist der bisherige Kooperationsprozeß selbst schon an dem Punkt angelangt, wo neue qualitative Veränderungen seiner Verfassung eintreten. Waren die Finanzautonomie der Gemeinschaften und die Budgetrechte des Europäischen Parlaments 1965 noch ein Bestandteil der tiefgreifendsten Strukturkrise der europäischen Zusammenarbeit, so kam es 1970 doch zu einer Einigung, nach der die Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten von nun ab stufenweise durch Eigeneinnahmen aus Zöllen und Abschöpfungen sowie später auch durch eine Beteiligung an der Mehrwertsteuer ersetzt werden sollen Wenn dabei die volle parlamentarische Budgetkontrolle vorläufig noch auf den zweitrangigen Teilbereich der Verwaltungsausgaben beschränkt ist, kann sich schon 1975 ein grundsätzliches verfassungspolitisches Problem in Zusammenhang mit dem noch strittigen Zurückweisungsrecht des Parlaments für den Gesamthaushalt ergeben. Geht man einerseits davon aus, daß sich der moderne Verfassungsstaat gerade in der Auseinandersetzung um das parlamentarische Bewilligungsrecht entwickelt hat, andererseits aber mit der beschlossenen europäischen Finanzautonomie die einzelstaatlich-parlamentarische, wenn auch nur partielle Budgetkontrolle abgebaut wird, so ergibt sich im Rahmen des gültigen Haushaltsrechts insgesamt gesehen ein Defizit an parlamentarischen Kontrollrechten, das nur durch eine Ausdehnung der Budgetrechte des Europäischen auf den Gesamthaushalt der Parlaments Gemeinschaften ausgeglichen werden kann.
Eine noch weitergehende qualitative Veränderung des gesamten Kooperationssystems stellt darüber hinaus die seit 1970 beschlossene und im März 1972 begonnene Errichtung der Wirtschafts-und Währungsunion dar. Die aus diesem Beschluß folgende expansive Gemeinschaftspolitik resultiert aus der im Rahmen der bestehenden Integration gewonnenen Erkenntnis, daß in einer Zollunion eine einzelstaatliche Stabilitätspolitik unmöglich ist, wenn nicht der Rückgriff auf einseitige Wechselkursänderungen erlaubt bleibt. Die Anwen-düng dieses Instruments zeitigt jedoch erwiesenermaßen desintegrative Wirkungen auf den gemeinsamen Agrarmarkt Die Erhaltung des bereits erreichten Integrationsniveaus und erst recht jeder Fortschritt auf das Ziel der Wirtschaftsgemeinschaft hin erfordern nunmehr eine gemeinschaftliche Währungspolitik sowie die gemeinsame Steuerung des konjunktur-und finanzpolitischen Instrumentariums. Die Anerkennung dieser wirtschaftlichen Sachzwänge und der gegenseitigen Bedingung der genannten Einzelpolitiken ist von der Gipfelkonferenz in Den Haag für den Eintritt in die Endphase ausdrücklich bestätigt worden. Wenn durch den in der Folge angefertigten Werner-Plan nunmehr die stufenweise Verwirklichung dieser neuen Gemeinschaftspolitik gelingt, ist damit ein grundlegender Schritt über den vertraglich vorgezeichneten Rahmen der Zollunion, des Agrarmarktes und der Faktorfreiheit hinaus getan, der dann zurecht als „Ferment für die politische Union" bezeichnet werden kann.
Mit dem Übergang von der „negativen Integration", die vornehmlich auf die Errichtung Gemeinsamen Marktes abzielte, zur „positiven Integration" einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik wird so in absehbarer Zeit nichts weniger als eine europäische Innenpolitik entstehen Während bisher die europäische Gemeinschaftspolitik sich an einer zumindest tendenziell nichtkontroversen wirtschaftlichen Sachlogik orientierte und an einem von allen sozial relevanten Gruppen geteilten Wachstumsziel, so wird nunmehr der Entscheidungsprozeß über unausweichliche wirtsdiaftsund gesellschaftspolitische Optionen im Spannungsfeld von Wachstum und Stabilität oder im Zusammenhang mit der gemeinsamen Regional-und Sozialpolitik zunehmend von den nationalen auf das übernationale Entscheidungszentrum verlagert werden. Die Kontroversität dieser Entscheidungen im innenpolitischen Verteilungskampf wird dabei in der Folge den individuellen und organisierten Erwartungshorizont der pluralistischen Gesellschaften Europas zwangsläufig auf die Gemeinschaftsebene hin ausrichten.
Wenn die europäische Wirtschafts-und Währungsunion damit in den Kernbereich des nationalen Regierens eindringt und erhöhte Anforderungen an politisch verbindlichen Entscheidungen von dem Gemeinschaftssystem erwarten läßt, die bestehenden Verträge aber den institutionellen Prozeß vorrangig für die Aufbauphase vorgezeichnet haben, so wird die kritische Bestandsaufnahme und Reform der Gemeinschaftsorgane, wie sie im Werner-Plan in den weitreichenden Vorschlägen eines europäischen Währungsfonds und des Zentralbanksystems für einen Teilbereich bereits unternommen wurde, zur unabdingbaren Aufgabe.
Neben der entstehenden europäischen Innenpolitik erfährt die europäische Integration seit 1970 auch eine Veränderung ihrer Außenfunktion. Mit dem Eintritt in die Endphase ist die gemeinsame Handelspolitik in Kraft, die ab 1973 auch für die den wirtschaftlichen Interessenbereich im besonderen Maße übersteigenden Osthandelsfragen gelten soll. Für die neben und aus den Außenbeziehungen der Gemeinschaften sich entwickelnde europäische Außenpolitik ist mit dem Davignon-Ausschuß bereits ein neues institutionelles Verfahren eingeleitet worden. In einem intergouvernementalen, auf der Ebene der Außenminister und eines Politischen Komitees arbeitenden Gremiums wird hier bereits der Versuch unternommen, die einzelstaatlichen Beziehungen mit Drittländern zu koordinieren und ansatzweise zu harmonisieren Ob diese lose Kooperation auf die Dauer jedoch in der Lage sein wird, der von allen Mitgliedstaaten geteilten Forderung nach dem „Europa mit der einen Stimme" gerecht zu werden und den Umschlag der internationalen Objekt-zu einer aktiven Subjektrolle Westeuropas zu bewerkstelligen, muß vorläufig offen bleiben.
Sicherlich mag es hierbei eine Reihe von diplomatischen Fragen wie die Anerkennung neuer Staaten oder die Abstimmung der Haltung in den Vereinten Nationen geben, die keinen großangelegten bürokratischen Unterbau voraussetzen und die mit dem lockeren Mechanismus der „Direktintegration der Außenministerien" gelöst werden können Zweifel scheinen jedoch einmal grundsätzlich im Zusammenhang mit dem sich vollziehenden Strukturwandel des internationalen Systems berechtigt zu sein, wobei anstelle des integrationsfördernden Außendrucks durch die Bedrohung aus dem Osten und der positiven Ermunterung aus dem Westen nunmehr eine wohlwollende Indifferenz seitens der Vereinigten Staaten und der Aufbau eines rivalisierenden regionalen Ordnungssystems getreten ist. Bereits im Entwicklungsstadium wird so die westeuropäische Außenpolitik gerade durch die bevorstehende Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) einer massiven Herausforderung und Prüfung der Gemeinschaftssubstanz unterworfen. Im Besonderen ist es die Verknüpfung der Problembereiche von wirtschaftlicher Zusammenarbeit und militärischer Sicherheit als Konferenzthemen, die sich dabei als besonders kritisch erweisen könnte, da sie in Westeuropa auf die Trennung der Zuständigkeiten und der institutioneilen Prozesse für die funktionalen, zunehmend vergemeinschafteten Außenbeziehungen einerseits und der umfassenderen Außenpolitiken bei den Einzelstaaten andererseits trifft. Durch die politisch unlösbare Verkoppelung von internationalen Wirtschaftsbeziehungen und glo-S. balen Ordnungsvorstellungen gilt dies auch für die anstehenden Probleme der Neuordnung des Weltwährungssystems und der neuen Handelsrunde Um die in dieser Konstellation möglichen Störwirkungen auf die Gesamtintegration durch Drittstaaten zu vermeiden, müssen für das Außenverhältnis Westeuropas institutioneile Kopplungsmechanismen geschaffen werden, die diesen Kontinent bei den bevorstehenden Herausforderungen mit einer funktionsfähigen Organisationsstruktur ausstatten.
Die aufgeführten Beispiele der westeuropäischen Zusammenarbeit zeigen, daß sowohl der interne Integrationsprozeß wie auch seine Verflochtenheit in die internationale Politik eine qualitative Veränderung des Gemeinschaftssystems einleiten. Mit dem Einbezug immer weitergehender Felder der Zusammenarbeit ist auch dessen ursprüngliche Aufgabe einer auf die regionale Konfliktregelung gerichteten Sicherheitsgemeinschaft im Sinne von Karl Deutsch überholt Das Entstehen einer innenpolitischen Konfliktgemeinschaft und die sich andeutende Rolle eines westeuropäischen Akteurs im internationalen System lassen an die bestehende institutionelle Architektur die Frage stellen, ob diese den vermehrten und neuen Anforderungen an Entscheidungen gewachsen ist. Wenn im Unterschied zu den Anfangsjahren der europäischen Gemeinschaftsbildung heute auch die sachbezogenen Kooperationsbemühungen im Vordergrund stehen und die sie tragenden organisatorischen Strukturen als Folgeproblem erscheinen, ist dennoch vor einer neuen „Umwegtheorie" zu warnen Wie die Zollunion bisher keinen Durchbruch zur Politischen Union erreichen konnte, wird eine weitergehende und dauerhafte Gemeinschaftsbildung auch durch die Entwicklung neuer Gemeinschaftspolitiken wie der Wirtschaftsund Währungsunion allein nicht zu schaffen sein, und die parallele Reform und Erweiterung der Institutionen Westeuropas wird zum Gebot der Stunde.
II. Das Konkordanzsystem als neues Integrationsmodell
Bei den vielfältigen Vorschlägen der letzten Jahre zur weitergehenden Gemeinschaftsbildung und den ihr entsprechenden Kooperationsstrukturen scheint für die hier im Vordergrund stehende Bewertung weniger deren detaillierte Beschreibung als vielmehr deren grundsätzliche Kategorisierung von Bedeutung zu sein.
Zum einen schlagen diese Pläne vor, die im Rahmen der Römischen Verträge geschaffene institutionelle Struktur zu revidieren und weiter zu entwickeln. Besonders deutlich wird dies beim Stufenplan von Rainer Barzel der im schrittweisen, aber konsequenten Ausbau der in den Verträgen angelegten supranationalen Elemente zu einer bundesstaatlichen Verfassung Westeuropas gelangen will. Mit der Konzeption der parlamentarischen Verantwortlichkeit von Kommission und Ministerrat sowie einer Bundesverfassung knüpft er dabei an die am Anfang der europäischen Integration stehende Föderalismustheorie an. In der Klarheit des hier vorgelegten institutionellen Endziels eines parlamentarischen Regierungssystems auf föderalistischer Grundlage scheint aber auch die entscheidende Schwäche dieses Vorschlags zu liegen, da kein realisierbarer, d. h. von allen Mitgliedstaaten gangbarer Weg zur Überbrückung der Diskrepanz von Wunschbild und der zumindest seit 1965 offenbar gewordenen allgemeinen Renationalisierungstendenz der Entscheidungsstrukturen Westeuropas aufgezeigt wird.
Diese Aufgabe setzt siel dagegen der soge-nannte Vedel-Bericht vom Frühjahr dieses Jahres über seinen ursprünglichen Auftrag eines Reformgutachtens für das Europäische Parlament hinaus wird hier umfassende Bestandsaufnahme der verfassungspolitischen Entwicklung des institutionellen Systems der Römischen Verträge vorgelegt, aus der dann einzelne systemimmanente Vorschläge zur Verbesserung der Entscheidungsstruktur der Gemeinschaften abgeleitet werden. Verfassungspolitische Zielrichtung ist dabei nicht die weitgehende Transformation des Systems — die zentrale Entscheidungsposition des Ministerrats wird vielmehr ausdrücklich bestätigt —, sondern eine partielle Aufwertung und Weiterentwicklung der anderen Entscheidungsfaktoren, um eine nach den Bewertungskriterien der systemaren Effizienz und der demokratischen Legitimität ausgewogene institutionelle Struktur zu schaffen. Da dieser Bericht also einerseits das Postulat föderalistischer Zielvorstellungen vermeidet, andererseits aber pragmatische Verbesserungen für ein über die klassische inter-gouvernementale Zusammenarbeit hinausreichendes System anbietet und damit auf dem erreichbaren gemeinsamen Nenner der Europakonzeption der Mitgliedstaaten aufbaut, dürfte gerade diesem Plan in den bevorstehenden Entscheidungen eine erhöhte Chance der Realisierbarkeit zukommen.
Eine zweite Kategorie von Reformvorschlägen setzt sich die Fortführung des europäischen Einigungswerkes außerhalb des Institutionssystems der Römischen Verträge zum Ziel. Bei seiner Kritik der bislang gültigen Spielregeln der Supranationalität kommt Ralf Dahrendorf zu dem Schluß, daß sich der hierbei ursprünglich erwartete Zwangsmechanismus eines fortschreitenden Integrationsbedürfnisses aus der ökonomischen Sachlogik nicht eingestellt habe und bei fortschreitender Gemeinschaftsbildung die derzeitige, auf einem „demokratischen Defizit" beruhende Struktur nicht mehr tragbar sei. Wenn dieses „erste Europa" sowohl bezüglich der Integrationsinhalte durch die weitgehende Ausschöpfung der als auch im Hinblick Verträge auf die Entscheidungsmechanismen am Ende angelangt sei, müsse nunmehr der Aufbau des „zweiten Europa" begonnen werden. Institutioneller Rahmen hierfür bildet für ihn die Generalisierung der Davignon-Formel, die die identischen und konvergenten Interessen der Mitgliedstaaten unter Einbezug der nationalen Bürokratien und Ressortminister in je notwendig erscheinende Gemeinschaftspolitiken umsetzen soll.
Bezüglich der institutioneilen Einzelmaßnahmen überschneidet sich dieses Konzept weitgehend mit den Reformvorstellungen des französischen Staatspräsidenten Pompidou. In der Pressekonferenz vom 21. Januar 1971 hat dieser in einer bemerkenswerten Revision der gaullistischen Europapolitik die Entwicklung einer Konföderation mit eigener Regierung und Parlament in Aussicht gestellt. Als Sofortmaßnahme griff er den Vorschlag eines Politischen Sekretariats und von speziellen Europaministern auf, die nachträglich aber wieder zu Staatssekretären herabgestuft wurden. Zur Bewertung der Ernsthaftigkeit dieser neuen Europapolitik Frankreichs darf zwar nicht übersehen werden, daß auch diese Vorschläge noch an fundamentalen gaullistischen Glaubenssätzen wie der grundsätzlichen Wahrung der „nationalen Persönlichkeit" festhalten, über bei konkreten Sachfragen doch 14 die Bereitschaft zu weitergehender europäischer Harmonisierung und Koordination erkennen lassen, was sich in diesem Jahr bei der Wiederaufnahme der Wirtschafts-und Währungsunion und der Vorbereitung der Gipfelkonferenz zeigt.
Die verschiedenen, entweder im Rahmen oder außerhalb der bestehenden Institutionen ansetzenden Vorschläge lassen sich auf die traditionellen verfassungstheoretischen Ideal-typen des Bundesstaates oder des Staatenbundes zurückführen. Für die Beurteilung von Reformkonzepten der europäischen Gemeinschaften scheint diese Dichotomie eines innerstaatlichen im Gegensatz zum internationalen Organisationstyp jedoch nur noch beschränkten Wert zu haben. Hat doch einerseits der bisherige Ablauf der europäischen Gemeinschaftsbildung gezeigt, daß eine Kooperationsstrategie der „expansiven Logik funktionaler Integration", angeführt durch supranationale Kerninstitutionen, nicht notwendigerweise zu einem föderalistischen Gesamtsystem führen muß. Stanley Hoffmann hat überzeugend dargelegt, daß im Gegensatz zum ökonomischen Bereich der Spill-over-Mechanismus einer unausweichlichen Vergemeinschaftung immer weiterer Politikbereiche keine ausreichende Grundlage für die Integration bei Fragen der sogenannten Groß-politik, wie der Außen-und Verteidigungspolitik, bildet Bei der intergouvernemen-talen Zusammenarbeit im Rahmen der traditionellen Diplomatie andererseits muß jedoch in Zweifel gezogen werden, ob diese der gerade bei der Entwicklung der europäischen Innenpolitik überproportional zunehmenden Anforderung an Entscheidungskapazität gewachsen ist. Ein Vergleich der Leistungen verschiedener Organisationsformen zwischenstaatlicher Zusammenarbeit beweist jetzt schon, daß die Preisgabe des erreichten Integrationsniveaus, wie der vertraglich gesicherten Unabhängigkeit der Gemeinschaftsinstitu-* tionen, der Direktwirkung von deren Hoheitsakten sowie der weitgehend supranational agierenden Bürokratie, einen entscheidenden Verlust für das Gesamtsystem darstellen würde. Dies gilt insbesondere für den Bereich der gemeinschaftlichen Wirtschaftspolitik, deren Dynamik sich in dem oben geschilderten Fortschritt von der Zollunion zur Wirtschaftsgemeinschaft neuerdings wieder bestätigt hat.
Enthält so schon die bisherige Entwicklung der europäischen Integration Elemente beider Kooperationstheorien — Bundesstaat und Staatenbund —, so muß auch ein brauchbares Modell für die Veranschaulichung und Beurteilung der weiteren Gemeinschaftsbildung beide Idealtypen umgreifen. Dieses neue integrationstheoretische Modell läßt sich mit Donald Puchala als regionales Konkordanzsystem bezeichnen, in dem zwar die Nationalstaaten weiterhin die Primärakteure bilden, das sich vom internationalen System aber doch grundlegend durch die Existenz komplexer Interaktionen, einschließlich der supranationalen Akteure, unterscheidet und dessen Willensbildungsprozesse in Form normativ gültiger Verfahrensregeln institutionalisiert sein müssen
Gegen dieses neue Konzept läßt sich zwar einwenden, daß es nur eine Abstrahierung der vorliegenden westeuropäischen Entscheidungsstrukturen darstellt und die Finalität der gesamten verfassungspolitischen Entwicklung ausspart; aber gerade diese Praxisnähe ist zugleich auch sein Vorteil, da es den größtmöglichen gemeinsamen Nenner der am System beteiligten Akteure darstellen dürfte und damit die einzelnen Reformvorschläge in bezug auf ihre Realisierbarkeit beurteilen läßt. Wenn mit dem neuen Integrationsmodell auch das nur im Rahmen einer bundesstaatlichen Grundordnung verwirklichbare parlamentarische Regierungssystem als verfassungstheoretischer Maßstab unbrauchbar geworden ist, muß bei der institutioneilen Reform doch die Fundamentalbedingung des demokratischen Konstitutionalismus durch die Zuordnung der grundlegenden Regierungsfunktionen wie Richtlinienentscheidung, Exekutivgewalt und politische Kontrolle an „funktional unabhängige Machtträger in Kooperation" gewahrt bleiben.
Wie die verfassungspolitische Entwicklung aller Regierungssysteme zeigt, setzt dieses Erfordernis nicht voraus, daß die einzelnen Funktionen je einer eigenen Institution ausschließlich zustehen. Für das durch eine besondere Gewaltenverschränkung gekennzeichnete System der Römischen Verträge sowie für die sich in der Funktionskoordination entwickelnde intergouvernementale Zusammenarbeit kommt es vielmehr darauf an, daß eine grundsätzliche und ausgewogene Machtaufteilung im Verhältnis der einzelnen Akteure gewahrt und damit der Entscheidungsprozeß des Gesamtsystems kontrollierbar bleibt. Wenn die auch das Konkordanzsystem charakterisierenden Bedingungen des Gewaltenpluralismus und der normativen Verfahrensregeln schon im organisatorischen Aufbau der Europäischen Gemeinschaften verankert sind, müssen die institutioneilen Reformen diese sinnvollerweise zum Ausgangspunkt nehmen, zumal die Mitgliedstaaten in ihnen nach dem Kommunique der Haager Gipfelkonferenz den „Urkern der europäischen Einheit" sehen.
III. Die Reformziele
Im Rahmen dieses neuen Integrationsmodells des regionalen Konkordanzsystems auf demokratisch-konstitutioneller Grundlage können nunmehr die vorgeschlagenen institutionellen Einzelmaßnahmen diskutiert werden. Die hierin zum Ausdruck gebrachten Reformziele lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
— die Leistungsfähigkeit des Systems, die schon für die Vergangenheit als ungenügend erscheint und im Hinblick auf vermehrte Entscheidungsanforderungen verbessert werden muß] — die Legitimation der Entscheidungsträger, die zur Umsetzung zunehmend kontroverser Fragen in verbindliche Gemeinschaftspolitiken vertieft werden soll;
— die Koppelung der parallelenKooperationsstrukturen, die bisher erst andeutungsweise gefordert wird, die aber eine Voraussetzung für die dauerhafte Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems bildet. 1. Das Verhältnis von Kommission und Ministerrat Die Verbesserung der Leistungsfähigkeit bedeutet vor allem eine Reform des Verhältnisses von Kommission und Ministerrat. Nach den Römischen Verträgen besteht der gemeinschaftliche Entscheidungsprozeß aus einem Dialog beider Institutitonen, wobei der ersteren das Recht der Gesetzesinitiative und damit die Rolle des politischen Motors zusteht, während die zweite das eigentliche Entscheidungszentrum darstellt Während dabei eine gleichgewichtige Rollenverteilung vor allem durch die erhöhte Bestandsgarantie, der nur durch Einstimmigkeit abweisbaren Gesetzesvorlagen der Kommission, garantiert werden sollte ist die Berufung auf „wichtige Interessen" der Mitgliedstaaten nach dem Luxemburger Abkommen heute allgemein üblich geworden Durch diese verfassungspolitische Entwicklung haben aber die Vorlagen ihre Verbindlichkeit verloren; der hierdurch vorgesehene Harmonisierungszwang im Ministerrat ist entfallen und eine Verschiebung des vertraglich verankerten institutioneilen Gleichgewichts hat stattgefunden. Der Prozeß der Willensbildung geschieht nicht mehr nach dem Prinzip des „übergreifenden Gemeinschaftsinteresses", wie es in den Beschlußpaketen der Anfangsphase anzutreffen war, sondern zunehmend auf dem Niveau des „kleinsten gemeinsamen Nenners“. Am Beispiel von 340 verschleppten Kommissionsvorlagen zeigt sich, daß dies auch Entscheidungsunfähigkeit überhaupt bedeuten kann.
Wenn sich damit der institutionelle Prozeß der Europäischen Gemeinschaften in den letzten Jahren dem Verfahren der traditionellen Diplomatie wieder angenähert hat, so glaubte man trotz einer grundsätzlichen Renationali-sierung der gesamten Entscheidungsstrukturen doch die für die gemeinschaftliche Willensbildung erforderliche Harmonisierung der Mitgliedsinteressen durch den zunehmenden Einbezug der Ständigen Vertreter herbeiführen zu können Mit der stärkeren Beteiligung der nationalen Verwaltungen wurde jedoch die Kommission nur noch mit der ihr spezifischen Waffe des bürokratischen Sachverstands geschwächt, ohne jedoch die erforderliche Effizienz des Entscheidungssystems gewährleisten zu können. Zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit dürfte der an sich plausible Weg der Wiederherstellung des ursprünglichen institutionellen Gleichgewichts mittels der Anwendung der vertraglich vorgesehenen Mehrheitsentscheidungen im Rahmen der gegebenen Konstellation, abgesehen von einer vermehrten Praxis der Stimmenthaltung und einer vom Rat selbst auferlegten Fristeneinhaliung, nicht durchsetzbar sein.
Von den Mitgliedstaaten als Primärakteuren ausgehend erscheint es vielmehr sinnvoll, die Reform der Effizienz von der institutionellen Ausgestaltung des Ministerrats her einzuleiten. Besondere Bedeutung gewinnt hier der französische Vorschlag von Europaministern, die Sitz und Stimme sowohl in ihren nationalen Regierungen als auch im Ministerrat der Gemeinschaften hätten. Damit würde nicht nur rein optisch schon den europäischen Angelegenheiten ein besonderer Rang in der Regierungsorganisation der Mitgliedstaaten eingeräumt, sondern darüber hinaus würde der gerade im Konkordanzsystem entscheidende Interaktionsprozeß von nationaler und gemeinschaftlicher Entscheidungsebene mehr als bisher institutionalisiert. Der hierdurch entstehende Ständige Ministerrat wäre auch in der Lage, in vermehrter politischer, wenn auch weiterhin nationalstaatlich aufgeteilter Verantwortlichkeit den zunehmenden Entscheidungsanforderungen, vor allem bei den Routineangelegenheiten, gerecht zu werden
Für die genaue Kompetenzabgrenzung dieser neuen Institution erscheint es jedoch problematisch, diese als eine Art Superminister für die europäischen Fragen den einzelnen Fachressorts überzuordnen. Hierbei würden sich einmal verfassungsrechtliche Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Kollegialitätsprinzip des Kabinettsystems in der Bundesrepublik ergeben. Gravierender sind aber noch die verfassungspolitischen Bedenken, da gerade der im Zuge der europäischen Innenpolitik anschwellende Kommunikationsstrom zwischen der nationalen und der gemeinschaftlichen Bürokratie dann durch das von der Sache und der Kapazität her überlastete Nadelöhr der Europaminister geschleust werden müßte.
Wenn die Position der Europaminister durch eine Aufwertung der Ständigen Vertreter geschaffen würde, so hätte dies immerhin den Vorteil, daß deren bisher wenig transparente Rolle stärker in die parlamentarische Verantwortlichkeit eingebunden würoe; die oben beschriebene Gleichgewichtsverschiebung im Verhältnis von Kommission und Ministerrat würde aber dadurch andererseits nur noch beschleunigt werden. Sinnvoll erscheint so die neue Institution nur als ein Gremium von Kontakt-Staatssekretären oder Staatsministern ohne besonderen Geschäftsbereich im Rahmen der Außenministerien, das die Entscheidungen des Ministerrats durch die Kurz-schaltung der nationalen Entscheidungsträger effektiver vorbereiten und bei politischen Fragen von erheblicher Tragweite die Fachminister unterstützen soll sowie als Ständiger Rat bei Routineangelegenheiten selbständig, aber doch parlamentarisch-verantwortlich, entscheiden kann.
Für eine verbesserte Leistungsfähigkeit der europäischen Zusammenarbeit liegt daneben der Plan eines Politischen Sekretariats vor. Die damit mögliche Chance integrativen Fortschritts wird deutlich, wenn man in Rechnung stellt, daß hierdurch der seit dem Anfang der sechziger Jahre abgebrochene Versuch einer permanenten Institutionalisierung der politischen Kooperation gerade auf französischen Wunsch hin wieder ausgenommen würde. Zugleich könnte die Errichtung des Sekretariats die vorgezogene Antwort des zum Jahresende fälligen Revisionsberichts des Davignon-Ausschusses über die Möglichkeiten weitergehender außenpolitischer Zusammenarbeit darstellen Um eine wirksame Harmonisierung der Großpolitiken der westeuropäischen Staaten herbeiführen zu können, müßte in der weiteren Definition der Kompetenzen dieser Institution dann auch ein Weg für die Übernahme der sicherheitspolitischen Diskussionen der durch die Erweiterung der Gemeinschaften nun weitgehend obsolet gewordenen WEU und später auch der Ein-bezug in die Arbeiten der Eurogroup der NATO gefunden werden, wobei es durchaus vorstellbar ist, daß diese Entwicklung auch von Frankreich unterstützt würde.
Wenn damit das Politische Sekretariat auf die außen-und sicherheitspolitische Zusammen) arbeit ausgerichtet wird, scheint auch der französische Vorbehalt gegen die Anbindung dieser Institution an das organisatorische Gefüge der Kommission als akzeptabel. Ihre Funktion wäre vielmehr die eines institutioneilen Unterbaus des mit diesen Problembereichen befaßten Ministerrats und damit die eines Kristallisationskerns für die intergouver-nementale Kooperation des „Zweiten Europas". Wenn so durch diese neue Institution das intergouvernementale Element in der europäischen Gemeinschaftsbildung weiterhin aufgewertet wird, scheint es doch wesentlich, einen ausreichenden Koppelungsmechanismus für die verschiedenen parallelen Kooperationsprozesse vorzusehen. Dieser darf aber nach dem Willen der Mehrheit der Mitgliedstaaten nicht, wie im Falle des Fouchet-Plans II, durch die einfache Unterordnung der gemeinschaftlich-vertraglichen unter die inter-gouvernementalen Institutionen erreicht werden Bei der zunehmenden Politisierung der bislang weitgehend nur als funktional-wirtschaftlich verstandenen ökonomischen Probleme im Rahmen der Integration würde diese Hierarchisierung nur eine Verminderung der Leistungsfähigkeit darstellen.
Andererseits wird gerade bei der im Verhältnis zu Drittstaaten unleugbaren Interdependenz von handelsvertraglichen Außenbeziehungen und übergreifender Außenpolitik deutlich, daß das Konkordanzsystem nur dann arbeitsfähig sein wird, wenn es in der Lage ist, konvergente und aufeinander abgestimmte Gemeinschaftspolitiken zu erzeugen. Die hierfür erforderlichen Querverbindungen der beiden Teilsysteme könnte etwa durch den Einbezug des Kommissionspräsidenten oder des jeweils sachlich zuständigen Kommissars in das Politische Sekretariat erreicht werden. Wegen der bevorstehenden Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), bei der die gesamteuropäischen Wirtschaftsbeziehungen nicht von den globalen Ordnungsvorstellungen getrennt werden können, scheint es auf jeden Fall entscheidend, daß mit der Errichtung der neuen Institution gleichzeitig auch die Koppelungsfrage gelöst wird, da sonst diese neue Belastungsprobe für das westeuropäische System kaum ohne desintegrative Folgen bestanden werden kann. 2. Die Rolle des Europäischen Parlaments Bei der institutioneilen Diskussion im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften bildet darüber hinaus die Kritik an dem „demokratischen Defizit" den Ansatzpunkt von Reformvorschlägen. Uber den polemischen Inhalt hinaus ist dieser Begriff jedoch nur dann sinnvoll, wenn er als verfassungspolitisches und nicht als verfassungsrechtliches Legitimitätsproblem verstanden wird. Wenn die gemeinschaftlichen und intergouvernementalen Organe zwar grundsätzlich von gewählten Mandatsträgern kontrolliert werden, so ist diese repräsentative Legitimation doch über die berufenden und delegierenden Mitgliedstaaten mediatisiert und wird von einem zunehmend plebiszitär-demokratischen Bewußtsein als nicht mehr ausreichend betrachtet.
Hinzu kommt die Komplexität der Entscheidungsstruktur aus einzelstaatlichen und gemeinschaftlichen Interaktionen, die die einzelnen Nationalparlamente für eine sachliche und personelle Kontrolle des Gesamtsystems nicht ausreichend zuständig sein läßt, während das Europäische Parlament für eine echte parlamentarische Kontrolle zu schwach angelegt ist. Wenn damit die Europapolitik vielfach keiner wirksamen politischen Verantwortung unterworfen ist, würde gerade eine fortschreitende Vergemeinschaftung von kontroversen Politikbereichen und eine im gleichen Zuge erfolgende partielle Entpolitisierung der nationalstaatlichen Systeme im Rahmen des bestehenden institutioneilen Gefüges zu einem Verlust an parlamentarischer Demokratie in Westeuropa führen.
Eine Vertiefung der politischen Legitimation des westeuropäischen Systems muß deshalb an erster Stelle über das Europäische Parlament eingeleitet werden. Da dieser heute nur die Kompetenz einer unverbindlichen Gesetzes-beratung und eine durch die oben beschriebene Gleichgewichtsverlagerung weitgehend obsolete politische Kontrolle gegenüber der Kommission zustehen schlägt der Vedel-Bericht eine Erweiterung der parlamentarischen Rechtssetzungsbefugnis vor In einer ersten 5-Jahres-Stufe würde demnach die Versammlung einmal mit einem suspensiven Vetorecht gegenüber den Entscheidungen des Ministerrats ausgestattet werden, was eine Zweitberatung und erneute Beschlußfassung dieses Organs erzwingen würde. Wie bescheiden und systemimmanent auch hier dieser Bericht vorgeht, zeigt der Vergleich dieses Reformvorschlags mit dem aufschiebenden Zurückweisungsrecht des britischen House of Lords. Eine echte Institutionalisierung der parlamentarischen Kontrolle würde dagegen erst durch das volle Ablehnungsecht verwirklicht werden, das zunächst auf den Bereich der neuen, nicht in den Verträgen erfaßten Gemeinschaftspolitiken und der Außenbeziehungen beschränkt wäre, in der zweiten S ufe dann aber auf alle Gesetzgebungsfunktionen des Ministerrats ausge-
dehnt werden soll.
Verfügt das Parlament zusätzlich noch über das Recht, die erwähnte Fristeneinhaltung des Rats anzumahnen, würde durch diese Reformen die Gemeinschaftspolitik in eine effektive und unmittelbare politische Verantwortung eingebunden. Wenn darüber hinaus auch eine personelle Abhängigkeit des Ratspräsidenten vom Parlament in der gegenwärtigen Konstellation kaum durchzusetzen wäre scheint dieses Recht doch gegenüber der Kommission auch in einem vom idealtypischen Parlamentarismus befreiten Konkordanzsystem sinnvoll. Der Ministerrat würde dann wie bisher die Ernennung der Kommissare vornehmen, die aber vom Parlament bestätigt werden müßte Die beschriebene institutionelle Gleichgewichtsverschiebung könnte so durch eine begrenzte Aufwertung der Kommission wieder rückgängig gemacht werden, da mit dieser Abhängigkeit dann auch die gemeinschaftlichen Gesetzesvorlagen von einer konkreten Parlamentsmehrheit getragen würden. Statt der bisherigen Allparteienregierung würde in der Folge eine politisierte Kommission auch die Optionen der europäischen Innenpolitik personell zum Ausdruck bringen und die seit langem angeregten Aktionspläne dieses Organs würden eine Art europäischer Regierungserklärungen darstellen.
Im Hinblick auf die europäische Innenpolitik wäre es an sich sinnvoll, der Verbesserung der repräsentativen noch die Aufwertung der plebiszitären Komponente des europäischen Systems folgen zu lassen. Gerade wenn die politische Forderung weitergehender Gemeinschaftsbildung immer wieder mit dem Appell an den politischen Willen zur Integration beschworen wird, so kann dieser in der pluralistischen Demokratie letztlich nur Resultat des sozialen Kräftespiels sein, der die politischen Repräsentanten zu entsprechenden Aktionen veranlaßt.
Das geeignete Instrument zur Mobilisierung und Verdeutlichung der an die Gemeinschaft gerichteten Erwartungen und Forderungen wäre an sich die schon von den Verträgen vorgesehene Direktwahl der Straßburger Versammlung Anstelle der heute über die einzelstaatlichen Parlamente mediatisierten Mandate würde hierdurch der hypothetische durch einen konkreten Wählerauftrag ersetzt. Die damit vorgenommene Qualitätsänderung des Europaparlaments würde eine gesteigerte parlamentarische Verantwortlichkeit der Kommission rechtfertigen und die zunehmend kontroversen Entscheidungen über die Optionen von der politischen Basis her unmittelbar legitimieren. Zugleich würde durch die Institutionalisierung der Direkt-beziehungen der Wähler und der Repräsentanten auch ein wirksames Forum für die Artikulation einer öffentlichen Meinung in europäischen Angelegenheiten geschaffen werden.
Ein allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht zum Europaparlament, wie es von der Föderalismusbewegung schon seit langem propagiert wird, ist jedoch für das europäische Konkordanzsystem nur vordergründig zum gegenwärtigen Zeitpunkt sinnvoll Zum einen stellt sich hier die verfassungspolitische Schwierigkeit der Entscheidung für ein bestimmtes einheitliches Wahlsystem, das wie die britische Mehrheitswahl oder die deutsche Verhältniswahl einen verfassungsgeschichtlich begründeten und im politischen Bewußtsein verankerten Bestandteil der jeweiligen politischen Kultur bildet. Kritischer ist noch die aus dem Prinzip des gleichen Stimmgewichts folgende Majorisierung der kleineren Mitgliedstaaten, da beispielsweise auf ein luxemburgisches Mandat dann 25 deutsche Abgeordnete entfallen würden.
Ein im Rahmen des bestehenden Gemeinschaftsniveaus tragbarer Kompromiß aus Wähler-und Staatengleichheit einerseits und einem zunehmenden Legitimationsbedürfnis andererseits ließe sich aber auf der Grundlage eines Vorschlags von Christoph Sasse finden Danach könnten bei den jeweils fälligen einzelstaatlichen Parlamentswahlen die Europa-Abgeordneten mitgewählt werden, wobei deren Repräsentationsbereich nach den vertraglich vorgesehenen Staatenquoten durch die Zusammenlegung mehrerer einzelstaatlicher Wahlkreise entstehen würde. Diese Parlamentarier sollten aber auch weiterhin über ein nationales und europäisches Doppel-mandat verfügen, um die im Konkordanz-System notwendige Kommunikation der Entscheidungsstrukturen auch auf der parlamentarischen Ebene wirksamer werden zu lassen. Wenn auch für das an der Legitimationsfrage besonders interessierte Großbritannien durch den Stewart-Plan eine vergleichbare Lösung gefunden werden könnte, ist die Hoffnung berechtigt, daß hierdurch ein entscheidender und realisierbarer Fortschritt in der Legitimationsfrage erzielt werden könnte. Da eine gemeinsame Lösung aller Mitgliedstaaten vorläufig nicht möglich sein dürfte, käme auch ein einseitiges Vorgehen einzelner Gemeinschaftsstaaten mit diesem neuen Wahlmodus in Frage, das auch nicht gegen die Römischen Verträge verstoßen würde.
Durch die Konfrontation von direkt gewählten und lediglich delegierten Parlamentariern könnte im Laufe der Zeit eine „demokratische Sogwirkung“ entstehen, die schließlich alle Mitgliedstaaten nicht nur an der intergouver-nementalen Ausgestaltung, sondern auch an der demokratischen Legitimation und damit an einer echt gemeinschaftlichen Weiterentwicklung der europäischen Institutionen interessiert sein ließe.
Johannes Preisinger, Dipl. -Pol., geb. 1939; Studium der Politikwissenschaft in Berlin, München und am Europa-Kolleg in Brügge; seit 1968 wissenschaftlicher Referent am Forschungsinstitut für Internationale Politik und Sicherheit, Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen bei München. Veröffentlichungen u. a.: Europäische Raumfahrtkooperation. Stand und Aussichten an der Jahreswende 1968/69, in: Europa-Archiv, Folge 3, 1969; Prolegomena zum Europäischen Raumfahrtprogramm, in: Symposium Europa 1950— 1970, Brügge 1971; Eine Raumfahrtpolitik für die Bundesrepublik. Gedanken zur internationalen Zusammenarbeit im Bereich der Nachrichtensatelliten, in: Europa-Archiv, Folge 16, 1971; derzeit mit einer Studie über die Europäische Außenpolitik befaßt.
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