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Die parlamentarische Regierung zwischen Subordination und politischer Führung Darstellung und Kritik der Parlamentarismustheorien im gegenwärtigen deutschen Verfassungsrecht | APuZ 38/1972 | bpb.de

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APuZ 38/1972 Die parlamentarische Regierung zwischen Subordination und politischer Führung Darstellung und Kritik der Parlamentarismustheorien im gegenwärtigen deutschen Verfassungsrecht

Die parlamentarische Regierung zwischen Subordination und politischer Führung Darstellung und Kritik der Parlamentarismustheorien im gegenwärtigen deutschen Verfassungsrecht

Hans-Joachim Veen

/ 74 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Untersuchung stellt in ihrem Tenor eine Kritik der herrschenden verfassungstheoretischen Deduktionen des parlamentarischen Regierungssystems dar. Sie versucht, neben der Sichtung der rein verfassungstheoretischen Darstellungen des parlamentarischen Systems in Verfassungslehren, Allgemeinen Staatslehren etc., auch die hinter den Kommentaren zu einschlägigen Verfassungsnormen verborgenen Parlamentarismustheorien systematisch herauszufiltern. Da die einschlägige verfassungsrechtliche Literatur seit Beginn dieses Jahrhunderts mit einbezogen wurde, fällt u. a. die Kontinuität des Verfassungsdenkens von der konstitutionellen Monarchie bis zum parlamentarischen System der BRD auf. Darüber hinaus sollte versucht werden: 1. die theoretischen und praktischen Unzulänglichkeiten des im deutschen Verfassungsdenken fast durchgängig nachweisbaren, wenn auch in seinen politischen Konsequenzen überwiegend abgelehnten, aus dem Volkssouveränitätsprinzip stufenweise deduzierten „reinen” Parlamentarismusmodells aufzuzeigen; 2. die Mäßigung und Modifizierung des reinen parlamentarischen Systems mittels tradierter, gewaltenteilender Verfassungskonstruktionen durch die gegenwärtig herrschende Lehre kritisch zu würdigen; 3.den Nachweis zu erbringen, daß weder die reine Parlamentarismustheorie noch ihre gewaltenbalancierenden Modifikationen fähig sind, eine den heutigen Erfordernissen entsprechend führungsmächtige, demokratisch legitimierte und öffentlich verantwortliche Regierungsgewalt im parlamentarischen System zu begründen. 4. Werden einige notwendige Bedingungen der politischen Handlungsfähigkeit und klaren Verantwortlichkeit der parlamentarischen Regierung zur Diskussion gestellt.

Einführung

I. II. III. Der reine Parlamentarismus Das gewaltenbalancierende parlamentarische System Führungsschwächen gewaltenteilender Regierungssysteme — Bedingungen für ein handlungsmächtiges parlamentarisches System Inhalt 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 1. 2. 3. 1. 2. 3. Das britische Modell des parlamentarischen Systems und der deutsche „Gattungsbegriff"

Die Ableitung aus dem Prinzip der Volkssouveränität — das Erbe der Französischen Revolution Suprematie des Parlaments — Subordination der parlamentarischen Regierung슈ݪ

Seit dem 27. April 1972 — dem Tag des abgeschlagenen Mißtrauensantrages der CDU/CSU-Opposition und zugleich dem Tag des Mehrheitsverlustes der SPD/FDP-Regierung im Bundestag — ist die politische Führungsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems der BRD ihrer zweiten großen Belastungsprobe ausgesetzt. Der Gleichstand im Bundestag war zwar nicht der Anlaß der vorliegenden Untersuchung über die verfassungsrechtliche und •politische Stellung der parlamentarischen Regierung im deutschen Verfassungsdenken seit Beginn dieses Jahrhunderts; die derzeitige Lage des parlamentarischen Systems des GG bietet jedoch den „besten" Anschauungsunterricht zu diesem Gegenstand. Denn die folgende kritische Darstellung der Parlamentarismustheorien im gegenwärtigen Verfassungsrechtsdenken versucht in ihrem Tenor nachzuweisen, daß die deutsche Verfassungstheorie fundamental unfähig ist, eine den modernen Bedingungen entsprechend führungsfähige, demokratisch legitimierte und klar verantwortliche Regierung im parlamentarischen System hervorzubringen.

In engem Zusammenhang mit dieser Kritik werden die verfassungsgeschichtlichen Gründe für das behauptete Unvermögen der deutschen (sowie der gesamten kontinental-europäischen) Verfassungstheorie herausgearbeitet: Vor allem die Ableitung der parlamentarischen Regierungsweise aus dem Revolutionsprinzip der Volkssouveränität hat die Regierung als leitendes Staatsorgan verkümmern lassen. Der Geburtsfehler des kontinentaleuropäischen Parlamentarismus ist seine ausschließliche Fixierung auf das Parlament, das Repräsentationsorgan des souveränen Volkes. Der „Wille des Volkes" ging in der französischen Revolution von 1789 und geht nach dem Lehrgrundsatz des deutschen Verfassungsrechts bis heute mit der Wahl auf die Volksvertretung über. Das Parlament wird damit zum höchsten demokratischen Verfassungsorgan erhoben und die parlamentarische Regierung zum bloßen Vollzugsausschuß der Parlamentsbeschlüsse degradiert. Dieses idealtypische, sogenannte „reine" Parlamentarismusmodell wird im ersten Abschnitt mit seinen verfassungsinstitutionellen Folgerungen kritisch gewürdigt: Dem Verfall der Regierungskompetenz entspricht der Verfall der Verantwortlichkeit für die politischen Entscheidungen. Die führungsschwachen parlamentarischen Regierungen in Frankreich von 1870 bis 1962 (dem Jahr der einschneidenden Verfassungsreform de Gaulles) und die ebenfalls führungsohnmächtigen, zerbrechlichen und häufig wechselnden parlamentarischen Regierungen der Weimarer Republik sind bekannte Beispiele für die grundsätzliche Subordination des Kabinetts in den herrschenden Parlamentarismustheorien. Das deutsche Verfassungsrechtsdenken der Nachkriegszeit zog seine Lehren aus dem Verfall der Regierung in der Weimarer Republik. Es entwickelte das sogenannte „gemäßigte" und „modifizierte" Modell parlamentarischer Regierungsweise, dem im wesentlichen das parlamentarische System des GG entspricht. In diesem Modell wird die parlamentarische Regierung gegenüber der Volksvertretung unabhängiger und stärker gemacht. Dazu werden die Grundsätze der Gewaltenteilung und des Gewaltengleichgewichts betont. Doch auch dieser Konstruktionsversuch des parlamentarischen Systems der BRD hat u. E. die Führungskompetenz der Regierung nicht politisch-inhaltlich verbessern können. Die Verfassungsinstitute des GG, die die Regierung gegenüber dem Parlament stabilisieren sollen, können eine Bundesregierung zwar auch ohne parlamentarische Mehrheit im Amt halten, sie können sie aber nicht politisch handlungsfähig machen. Das sogenannte modifizierte, gleich-gewichtige Parlamentarismusmodell herrscht heute im deutschen Verfassungsrechtsdenken vor.

Im zweiten Abschnitt der Arbeit werden seine Konstruktionsprinzipien kritisch durchleuchtet und auch anhand aktueller Mängel des GG seine Unzulänglichkeit herausgearbeitet, die politische Führungsfähigkeit und Verantwortungsklarheit im parlamentarischen System zu gewährleisten.

Schließlich wird in einem dritten Abschnitt versucht, einige der notwendigen Funktionsbedingungen parlamentarischer Regierungsweise aufzuzeigen, wobei nicht verheimlicht wird, daß der Verfasser sich am britischen Regierungssystem orientiert hat, dessen politi-sche Führungsfähigkeit und damit auch die Fähigkeit, Regierungskrisen schnell und demokratisch zu lösen, offenkundig ist.

Plädiert wird im wesentlichen für die Beseitigung des Monopols des Parlaments, das Volk zu repräsentieren, für die unmittelbare Führungslegitimierung einer parlamentarischen Regierung durch die Wählerschaft, die durch Einführung des relativen Mehrheitswahlrechts zu erreichen wäre, sowie für ein uneingeschränktes parlamentarisches Auflösungsrecht der Regierung. Als Kehrseite des Ausbaues der Führungskompetenz der Regierung würde das Prinzip der Verantwortungsklarheit der parlamentarischen Regierung für die Gesamtstaatspolitik gestärkt werden — es könnte keine Flucht mehr aus dieser Führungsverantwortung für die Mehrheitspartei geben. Aut der anderen Seite müßten Stellung und Rechte der parlamentarischen Opposition, des entscheidenden Gegenspielers der Regierung im parlamentarischen System, ebenfalls ausgebaut werden, damit eine kritische öiientlichkeit und die Rechenschaftspflicht der Regierung weiter verstärkt werden.

Die Untersuchung beschränkt sich auf den Bereich der verfassungsrechtlichen Literatur. Auf die politikwissenschaftliche Diskussion wird also nicht eingegangen. Einige wenige Verweise auf politikwissenschaftliche Literatur sollen die Position des Verfassers nur erläutern und stützen helfen.

I. Der reine Parlamentarismus

Das britische Modell des parlamentarischen Systems und der deutsche „Gattungsbegriff“

Das deutsche Verfassungsrechtsdenken lehnt ein allgemeinverbindliches Modell des parlamentarischen Regierungssystems grundsätzlich ab. In der sogenannten „herrschenden Lehre" des Verfassungsrechts werden vielmehr „verschiedene Erscheinungsformen" 1) und Typen (D . parlamentarischer Regierungsweise aufgefächert. Hierin liegt ein fundamentaler Unterschied zum Verständnis des parlamentarischen Regierungssystems in seinem angelsächsischen Mutterland. Dort setzte sich seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts Verfassungskonsensus darüber durch, daß die Hauptfunktionen des Kabinetts sind:

a. das Land verantwortlich zu regieren und b. die Parteimehrheit im Unterhaus (dem in der BRD der Bundestag entspricht) zusammenzuhalten und anzuführen

Beide Führungsaufgaben der Regierung scheinen der britischen Verfassungstheorie für das Funktionieren parlamentarischer Regierungsweise unteilbar. Den Abgeordneten der Mehrheitsfraktion kommt damit als eine wesentliche Funktion zu, durch ihre parlamentarische Gefolgschaft bei Abstimmungen über Gesetzesvorlagen und Anträgen der Regierung die Handlungsfähigkeit ihrer Parteiführer in der Regierung zu sichern. Das gilt vor allem gegenüber der parlamentarischen Minderheitsfraktion, „Her Majesty's most loyal Opposition“, die im Hinblick auf die nächste Parlamentswahl bemüht ist, die Regierungspolitik im Parlament und in der Öffentlichkeit permanent der Kritik zu unterziehen.

Dieses System wird durch das Zweiparteiensystem und das relative Mehrheitswahlrecht in Großbritannien entscheidend begünstigt, das in der Regel dazu führt, daß 1. eine Partei die Mehrheit und die andere Partei die Minderheit der Parlamentssitze besitzt, und daß 2. die siegreiche Parteiführung unmittelbar durch das Wählervotum zur Regierung und die geschlagene zur Opposition berufen werden. Verliert eine Regierung bei einer politisch bedeutsamen Frage ihre parlamentarische Mehrheit, ist sie führungsunfähig geworden und muß — nach'ungeschriebener britischer Verfassungskonvention — zurücktreten oder aber ihr Recht zur Auflösung des Unterhauses anwenden und Neuwahlen ausschreiben. Dann hat die Wählerschaft die alleinige Entscheidungskompetenz, entweder die bisherige Opposition oder erneut die alte Regierung ins Regierungsamt auf Zeit zu berufen. Die britischen Wähler üben über die Wahl von Abgeordneten hinaus also im Grunde ein Personalplebiszit für den Premierministerkandidaten und seine Ministermannschaft aus. Diese unmittelbare demokratische Berufung der parlamentarischen Regierung ist das Fundament ihrer umfassenden Führungskompetenz über den Beamtenapparat einerseits und über die Unterhausmehrheit andererseits.

Da es — wie schon ausgeführt — im britischen System in der Regel eine Einparteienregierung gibt, kann das Scheitern einer britischen Regierung folglich nicht im Zerfall von Regierungskoalitionen liegen, wie z. B. in der BRD 1966, als die CDU/CSU-FDP-Koalition zerbrach und Bundeskanzler Erhard nach einigem Zögern zurücktrat. Auch ein parlamentarisches Patt, wie es sich am 27. April 1972 im Bonner Bundestag ergab, wäre in Großbritannien äußerst unwahrscheinlich. Wenn es allerdings einmal einträte, könnte es durch die Auflösung des Unterhauses durch den amtierenden Premierminister rasch überwunden werden, da er — im Unterschied zum deutschen Bundeskanzler — nicht fürchten muß, daß sein prinzipiell uneingeschränktes Auflösungsrecht vom Parlament unterlaufen und die Wählerschaft somit ausgeschaltet werden könnte. Solange aber das Patt im Parlament andauert, ist nicht nur die Regierung, sondern die Führungsfähigkeit des politischen Systems insgesamt geschwächt.

Auch das britische System ist gegen Regierungskrisen nicht endgültig gefeit, es ist aber fähig, solche Krisen relativ schnell zu überwinden und wieder klare regierungsfähige Mehrheiten zustande zu bringen.

Die englischen Bezeichnungen verdeutlichen dieses britische Modell parlamentarischer Regierungsweise, das die Partei regierung und gerade nicht das Parlament — wie auf dem europäischen Kontinent vorherrschend — entschieden ins Zentrum des politischen Systems stellt. Der Ausdruck „Parliamentary Government" ist dementsprechend durchaus ungebräuchlich, vielmehr spricht man in auswechselbaren sinngleichen Wendungen von „Party Government", „Cabinet Government", „Responsible Government" und neuerdings auch vom „Primeminister Government", wenn das parlamentarische Regierungssystem gemeint ist.

Wenn dagegen in der deutschen Verfassungstheorie von „Parlamentarismus" oder „parlamentarischem Regierungssystem" oder auch einfach „parlamentarischer Demokratie" die Rede ist, wird damit kein spezifisches Regierungssystem bezeichnet, das sich an den klaren Funktionsbedingungen parlamentarischer Regierungsweise in England orientiert oder dem eine andere Vorstellung verbindlich zugrunde liegt.

In Deutschland stellt der Parlamentarismus-begriff einen ebenso vagen wie komplexen „Gattungsbegriff" dar. Als solcher umgreift er grundsätzlich die ganze Skala möglicher Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Parlament und Regierung, von der umfassenden und permanenten parlamentarischen Unterordnung der Regierung — so die französische Theorie des „Gouvernement parlementaire“ -bis zu einem ausgewogenen Gleichgewichtszustand zwischen Regierung und Parlament — so die vorherrschende Interpretation des Grundgesetzes im deutschen Verfassungsrecht

Die gewaltenbalancierende Parlamentarismus-version — auf die unten noch im einzelnen eingegangen wird — wird von der herrschenden Lehre im Verfassungsrecht vielfach aus verfassungspolitischen Gründen bevorzugt In ihr kann sich die parlamentarische Regierung aus der Subordination unter das Parlament befreien und an politischer Selbständigkeit gegenüber der Volksvertretung gewinnen. Dennoch ist selbst bei den Verfechtern des Gewaltengleichgewichts zwischen Parlament und Regierung im sogenannten „echten" parlamentarischen System die „reine" Parlamentarismustheorie als Modell-ansatz durchgängig nachweisbar, wenn auch dieses „reine Modell" nachträglich zumeist logisch gebrochen, moderiert und modifiziert wird. Im folgenden soll versucht werden, das sogenannte „reine Parlamentarismusmodell“ und die ihm zugrunde liegenden Prinzipien im einzelnen nachzuweisen und herauszuarbeiten. 2. Die Ableitung aus dem Prinzip der Volks-souveränität — das Erbe der Französischen Revolution Die Bezeichnungen für den Idealtyp des parlamentarischen Systems schwanken, in der Literatur finden sich synonym „reiner", „strenger", „unverfälschter", „extremer", „ursprünglicher" Parlamentarismus. Als verfassungshistorische Modelle des idealtypischen parlamentarischen Systems auf dem europäischen Kontinent gelten die französischen Revolutionsverfassungen sowie jene der III. und IV. Französischen Republik.

Anders als im monarchischen England stand in der Französischen Revolution an der Wiege des parlamentarischen Regierungssystems das Prinzip der Volkssouveränität Dieser „Geburtsfehler" wurde mit der Ausbreitung der Revolutionsprinzipien vom kontinentaleuropäischen Verfassungsdenken übernommen.

Das folgenschwere Ergebnis war, daß die Regierung zur Funktion des Parlaments wurde, das als unmittelbare Vertretungskörperschaft des souveränen Volkes die unumstrittene Herrschaft über alle Staatsorgane gewann. Somit konnte in der französischen Theorie des „Gouvernement parlementaire", oder noch treffender „Gouvernement de 1'Assemblee" der Ministerrat zu einem bloßen Vollzugsaus7

Die grundlegende Forderung der Revolution nach der souveränen Gewalt des Volkes wurde von der französischen Verfassungstheorie umgedeutet souveräne alsbald in die Gewalt der Volksvertretung, der „Assemblee Nationale". Rousseaus Postulat von der Selbstregierung des Volkes wurde durch die Fiktion der Willensidentität von Volksvertretung und Volk aufrechterhalten schuß der Nationalversammlung herabgedrückt werden

Eng orientiert an der französischen Parlamentarismustheorie leitet auch die deutsche Verfassungstheorie das reine parlamentarische System aus dem Volkssouveränitätsprinzip ab und setzt das Parlament zum allein legitimen Sachwalter des souveränen Volkes ein So behauptet z. B. Th. Maunz verfassungshistorisch unbegründet: „Volkssouveränität und parlamentarische Regierungsweise sind eng miteinander verbunden" und O. Koellreut-ter sieht in dem „Übergang der Ausübung der Staatsgewalt vom König auf das Parlament... die Verwirklichung des demokratischen Prinzips, der Volksherrschaft" Auch der sonst eher konservative E. Forsthoff, ein Schüler Carl Schmitts, beschwört bei einer kritischen Würdigung des parlamentarischen Regierungssystems in der BRD das Rousseau'sche Postulat der „Identität von Regierenden und Regierten" Also erscheint der reine Parlamentarismus geradezu als die zwingende Konsequenz des demokratischen Gedankens: „Das parlamentarische System wird ... gerechtfertigt durch die Behauptung, daß es die reinste Form der Verwirklichung des Gedankens der Demokratie, der Volksherrschaft im großräumigen Staat sei..." H. Nawiasky spricht plastisch von einer „dreistufigen Pyramide" der Willensübertragung: Das souveräne Volk stellt die Legitimationsbasis dar, es delegiert seine souveräne Macht an die Volksvertretung, die den Willen des Volkes „in verkleinertem Maßstabe darstellt"; die Volksvertretung wiederum bedient sich der Regierung als technische „Vollzieherin des Willens des Volkes, bzw.seiner Vertretung." Dieses Delegationsschema, das zur Suprematie des Parlaments führt, findet sich auch bei Th. Maunz: „Im Staatssystem mit Volkssouveränität und Parlamentarismus besitzt das Volk die Gewalt, das Parlament zu wählen. Das Parlament hat die Gewalt. . .den Regierungschef oder die ganze Regierung zu wählen ... Eine Tendenz zur Erlangung eines Übergewichts (der sogenannten Suprematie) des Parlaments über die Exekutive ist unverkennbar... Die Ent-scheidung über die Machtverteilung fällt daher im parlamentarischen System weithin zugunsten des Parlaments." 3. Suprematie des Parlaments — Subordination der parlamentarischen Regierung Als Kennzeichen des reinen, idealtypischen parlamentarischen Systems lassen sich in der deutschen Verfassungstheorie demgemäß 1. die Suprematie des Parlaments und 2. die prinzipielle und umfassende Subordination der Regierung unter das Parlament feststellen.

Durch die Wahlen demokratisch legitimiert, gilt das Parlament allein als Verkörperung des Volkswillens. Es soll nach der Theorie die entscheidende politische Führungsinstanz im parlamentarischen Regierungssystem sein Gegenüber dieser omnipotenten Volksvertretung kann die parlamentarische Regierung keine eigene demokratische Legitimation geltend machen Ihre Amtsautorität ist also nur sekundär, vom Parlament abgeleitet. Deshalb erscheint die Regierung im idealtypischen parlamentarischen System nur als ausführendes Organ der Beschlüsse der jeweiligen Parlamentsmehrheit ohne eigene politische Handlungspotenz Als „Vollzugsausschuß der jeweiligen Parlamentsmehrheit" ist sie in Bestand und Tätigkeit vom Parlament abhängig und seinem Willen prinzipiell und permanent „unterworfen" Positiv besteht die Funktion der Regierung dann nur noch darin, den Ver-waltungsapparat so zu leiten und zu überwachen, daß die Entscheidungen des Parlaments ungeschmälert und unverfälscht in die reinen Tat umgesetzt werden Im Parlamentarismus hat also die Regierung als Staatsleitungsorgan keine eigene Substanz, diese ist von der Volksvertretung aufgesogen. Alle politische Macht ist damit in einem Organ konzentriert Deshalb wird das reine parlamentarische System von seinen Kritikern auch als ein „Parlamentsabsolutismus" bezeichnet, da das Parlament die Regierung „vollkommen beherrscht und selbst keiner Kontrolle durch andere Staatsorgane unterliegt" 4. Das Parlament als repräsentatives und als plebiszitäres Verfassungorgan Wir haben oben das dreistufige System der Willensübertragung (souveränes Volk — Parlament — Regierung) im deutschen Verfassungsdenken nachgewiesen, durch welche 1. die Fiktion der Selbstregierung des Volkes im parlamentarischen System erhalten und 2. die prinzipielle politische Subalternität der Regierung begründet wird.

Soweit herrscht Einigkeit in der gegenwärtigen Theorie des reinen Parlamentarismus. In bezug auf das Verhältnis zwischen dem souveränen Volk und der Volksvertretung gibt es im deutschen Verfassungsdenken jedoch zwei Antworten auf die Frage, wie eng denn die Beziehungen zwischen dem Volk und seinem Sachwalter gestaltet sein sollten. a) Die plebiszitäre Parlamentarismustheorie Die plebiszitäre Schule in der deutschen Verfassungstheorie will gegenüber dem Anspruch der Selbstregierung des Volkes weniger Fiktion sein als die repräsentative Theorie, welche als „undemokratisch" abgelehnt wird

Dementsprechend versucht sie, dem souveränen Volkswillen konkret zum Durchbruch in der Bestimmung der Staatspolitik zu verhelfen Die Forderung nach tatsächlicher Volksregierung richtet sich 1. auf den Charakter der Parlamentswahlen. Diese sollen stärker „gesellschaftlich-plebiszitären Abstimmungscharakter" erhalten und zu konkreten Entscheidungen über politisch-programmatische Sachfragen und nicht „nur" zur Berufung bestimmter Personen führen: „Die Wahl politischer Führer wäre keine demokratische Sachentscheidung."

Die Hauptfunktion der Wahl wird es folglich, die vielfältig differenzierten, ja, konträren Willensbekundungen und Wünsche des Volkes im Parlament in verkleinertem Abbild zum Ausdruck zu bringen, damit der Wille des Volkes für die Politik bestimmend sei.

Unter diesem Anspruch erscheint dann die uneingeschränkte Verhältniswahl „gerechter“ und „demokratischer" als das relative Mehrheitswahlrecht 2. soll durch kontinuierliche Willensbildungsprozesse von unten nach oben sowie durch Rückkoppelungsprozesse, in denen die politischen Amtsträger die Zustimmung der Bevölkerung zu ihrem Tun zu überprüfen haben, sichergestellt werden, daß das Parlament und tie in ihrem Handeln ständig eng am Volkswillen orientiert bleiben und sich mit ihren Entscheidungen nicht verselbständigen können. In diesem Willensbildungsprozeß kommt den öffentlichen Meinungsmedien, Presse, Rundfunk, Fernsehen, eine bedeutende Vermittlerrolle zu

Als Ideal erscheint hier die Regierung des „Plebiscite de tous les jours" (sinngemäß: Der tagtäglich zu kontrollierenden Übereinstimmung zwischen dem Willen des Volkes und jenem der Regierung). Eine verfassungsinstitutionelle Konsequenz dafür wäre das von den Bürgern jederzeit aufkündbare, imperative Mandat für die Abgeordneten des Parlaments, um die politische Verselbständigung von Parlament und Regierung verhindern zu können

In der plebiszitären Parlamentarismustheorie ist also schon die Volksvertretung ihrer politischen Eigenständigkeit beraubt. Zwar bleibt sie der Regierung prinzipiell übergeordnet, doch ist das Parlament seinerseits imperativ an die Willensäußerungen des sich selbst regierenden Volkssouveräns gebunden. Es soll nur ein Medium im permanenten Willensbildungsprozeß von unten nach oben, nicht selbst politisch führend, sondern nur Vollzugsorgan des Volkswillens sein.

Kritik der Fiktion einer Selbstregierung des Volkes:

Der Verlust der Regierungsfunktion Die plebiszitäre Parlamentarismustheorie stellt den kontinuierlichen Willensbildungsprozeß von „unten nach oben" ins Zentrum ihres Demokratieverständnisses und fordert demgemäß die ständige Willensübereinstimmung zwischen den Regierenden und den Regierten. Sie übersieht damit grundlegend, daß der so-genannte „Volkswille" keineswegs eine reale Gegebenheit ist sondern daß in der Wirk-lichkeit eines freien Gemeinwesens eine Fülle divergierender, ja, entgegengesetzter Meinungen zu denselben Gegenständen und in derselben Zeit bestehen, die das ständige Integrationsbemühen der politischen Führungsgruppen, insbesondere in den Parteien erfordert.

Gerade insoweit, als sie möglichst breite Kreise der Bevölkerung auf ihre politischen Konzeptionen verpflichten können, erfüllen die politischen Parteien eine bedeutende Aufgabe für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Diese Zustimmung der Bürger ist in einem freien Gemeinwesen nicht gewaltsam zu erzwingen. Sie in wechselnden politischen Lagen immer neu zu vermitteln und freiwillig herzustellen, stellt die eigentliche Führungsleistung der politischen „opinion leaders" dar. Den „allgemeinen Willen“ a priori gibt es also in der politischen Realität nicht, die Forderung nach der Verbindlichkeit des „Plebiscite de tous les jours" für die Staatsführung ist damit irreal, ein Phantasiegespinst. Die angebliche „Einheit des Volkswillens“ hat nur Bestand entweder als beliebig interpretierbare Fiktion in den Köpfen derer, die ihre eigene Politik damit bemänteln wollen oder der „Wille des Volkes“ wird demonstriert durch bloße nachträgliche Akklamationen zu vorformulierten Entscheidungen. Die Vorformulierer, mit anderen Worten die geheimen „opinion leaders", ziehen es dabei allerdings vor, sich selber nur als „Vollzieher des Volkswillens" zu bezeichnen. Der politische Mani-_________ pulation werden damit Tür und Tor geöffnet. Eine bestimmte subjektive Vorstellung vom Gemeinwohl wird „im Namen des Volkes" absolut verbindlich gemacht und nötigenfalls gewaltsam aufrecht erhalten theoretisch gerechtfertigt durch den angeblichen „Willen des Volkes". Unter dem „Deckmantel" der Volks-regierung kann folglich die massivste und weitreichendste politische Macht ausgeübt werden, ohne daß die eigentlich Herrschenden (als angebliche „Vollzieher") dafür öffentlich verantwortlich gemacht werdep können.

Es mag absurd erscheinen, aber das Regime einer sogenannten „Volksdemokratie" verfügt aufgrund der Identitätsfiktion von Regierenden und Regierten in der Theorie über keine eigene politische Führungskompetenz, sondern gilt nur als Vollzieherin des souveränen Volkswillens. Wo aber nicht selbständig gehandelt, sondern streng genommen nur gehorcht wird, gibt es für die Regierung keine Verpflichtung zur öffentlichen Rechtfertigung mehr

So bleibt als Ergebnis festzustellen, daß das Moment des Regierens, der Staatsführung, in der plebiszitären Parlamentarismustheorie im Grunde überhaupt keinen Platz hat. Echte politische Führung muß demgegenüber u. E. ausgehen von der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Regierenden und Regierten. Dem Wesen der Regierung eines freiheitlichen Staates entspricht dann 1. eine ihr von den Bürgern periodisch durch Wahl zu übertragende und wieder zu nehmende selbständige politische Entscheidungskompetenz und als deren Kehrseite 2. das Prinzip öffentlicher Rechenschaftspflich-tigkeit für das Handeln der Regierung gegenüber dem demokratischen Auftraggeber, dem Volk

Diese beiden Prinzipien a) der Regierungskompetenz und b) der ihr korrespondierenden Verantwortlichkeit kennt die plebiszitäre Parlamentarismustheorie nicht. b) Die repräsentative Parlamentarismustheorie Auch diese Theorie leitet Aufgaben und Stellung von Parlament und Regierung aus der Volkssouveränitätsdoktrin in Form einer dreistufigen Pyramide ab. Sie fordert jedoch im Unterschied zur plebiszitären Theorie nicht die ständige Willensübereinstimmung zwischen Parlament und Volk. In seinem politischen Handeln ist das Parlament prinzipiell nicht mehr an die Wählermeinung gebunden, es gilt in der Theorie als betont unabhängige, „repräsentative" Körperschaft. Für die Volksvertreter wird demgemäß das ungebundene Mandat beansprucht

Im Wahlakt hat sich das Volk seiner Selbstregierungsrechte entäußert. Seine politische Herrschaftsgewalt ist damit substantiell auf die Volksvertretung übergegangen, Das Parlament wird also zum vorherrschenden Macht-Zentrum im parlamentarischen Regierungssystem, es soll alle wesentlichen Staatsführungsfunktionen unmittelbar und in eigener Verantwortung wahrnehmen Kritik der Parlamentsherrschatt Die repräsentative Parlamentarismustheorie hat die Vorstellung, daß eine 500köpfige Versammlung unabhängiger, gutwilliger, gemeinwohlverpflichteter, einsichtiger Volksvertreter in der Lage sei, staatsleitende Entscheidungen durch öffentliche Plenumsdiskussionen zu fällen.

Das Prinzip der öffentlichen Diskussion ist sicherlich für einen freien Staat von grundlegender Bedeutung, es ist aber kaum geeignet, Regierungsentscheidungen herbeizuführen. Die öffentliche Parlamentsdebatte hat ihre wesentlichen Aufgaben vielmehr darin.

1.der parlamentarischen Opposition die Möglichkeit zu geben, die Regierungspolitik vor aller Augen zu kritisieren, auf deren Unzulänglichkeiten hinzuweisen und eigene Gegenkonzepte zu entwickeln sowie 2.der Regierung die Möglichkeit zu geben, ihre Politik im Lande bekanntzumachen, zu begründen und gegen Angriffe der Opposition zu verteidigen.

Wenn das Parlament als öffentliches Forum der Nation diese Aufgaben erfüllt, leistet es viel für die Transparenz der Regierungstätigkeit. Von ihm zu verlangen, in öffentlicher Debatte ständig Entscheidungsprozesse selbst zu vollziehen, ist illusionär und sogar gefährlich. Illusionär ist sie schon deshalb, weil naturgemäß immer nur ein kleiner Kreis von Personen, nicht aber ein 500köpfiges Gremium regieren kann Die Vorbereitungen von setzen natürlich immer die Diskussion mit den potentiell Betroffenen voraus. Nur wird die Entscheidung selbst aus guten Gründen in der Vertraulichkeit kleiner Gremien, seien es parlamentarische und fraktionelle Ausschüsse oder das Kabinett, getroffen. Das gilt insbesondere für die Vorbereitung außenpolitischer Entscheidungen. Die Forderung nach öffentlicher Entscheidungsfindung kann insofern gefährliche Konsequenzen haben, weil 1. auf diese Weise integrierende Entscheidungen überhaupt unmöglich gemacht werden und weil 2. damit Maßstäbe zur Beurteilung parlamentarischer Tätigkeiten geschaffen werden, die zu einem Verdammungsurteil des Parlaments als Verfassungsinstitution führen müssen, da weder die „Öffentlichkeit des Raisonnements" noch die des Entscheidungsprozesses in der Plenumsarbeit Realitätsgehalt haben bzw. in der Verfassungsgeschichte jemals hatten.

Die Prinzipien der Diskussion und der Öffentlichkeit definierten in der Geschichte der Parlamente wohl kaum jemals ausschließlich das Selbstverständnis einer Volksvertretung.

Dennoch hat Carl Schmitt, einer der bekanntesten Verfassungsjuristen der Weimarer Republik und Gegner des repräsentativen Parlamentarismus, diese beiden Prinzipien willkürlich und vorsätzlich an den Reichstag der Weimarer Republik herangetragen, um seinen Verfall, — einerseits zu einer bloßen „Schwatzbude'', andererseits zu einem korrupten „Geheimzirkel" — feststellen und darüber hinaus die parlamentarische Regierungsweise schlechthin für historisch überholt ausgeben zu können Seine Verfassungslehre begünstigte damit den autoritären Führerstaat. Vielleicht hallt in der auch heute noch feststellbaren Parlamentsverdrossenheit etwas von diesem großangelegten systematischen Diffamierungsversuch des parlamentarischen Systems nach

Auch gegenüber der Forderung nach öffentlicher Verantwortlichkeit politischer Führung gegenüber der Gesamtbürgerschaft hält die repräsentative Parlamentarismustheorie nicht stand. Wie soll denn diese mehrhundertköpfige Versammlung von Abgeordneten praktisch zur Rechenschaft gezogen werden? Das wäre grundsätzlich nur für den einzelnen Abgeordneten in dem jeweiligen Wahlkreis durch die jeweilige Wahlkreisbürgerschaft möglich. (Nach dem gegenwärtigen personalisierten Verhältniswahlrecht der BRD werden aber nur die Hälfte aller Bundestagsabgeordneten im Wahlkreis direkt gewählt, die zweite Hälfte über die Landeslisten der Parteien nach deren Zweitstimmenquoten nachgeschoben.) Eine Rechenschaftspflicht der ganzen Versammlung bzw. ihrer Mehrheit gegenüber der Gesamtbürgerschaft, die über Amts-gewinnung bzw. -erhaltung oder Amtsverlust der führenden Mehrheit des Parlaments zu entscheiden hätte, läßt sich dagegen praktisch nicht realisieren.

Nun beinhaltet die repräsentative Parlamentarismustheorie nicht nur die Herrschaft des Parlaments. Sie verlangt auch, daß die Abgeordneten der Volksvertretung das differenzierte Willensspektrum des Volkes in verkleinertem Abbild widerspiegeln. Eine solche quasi „politische Landkarte" im Parlament wird am ehesten durch das Verhältniswahlrecht erzielt, das auch in der repräsentativen Parlamentarismustheorie durchgängig als die „konsequente Anwendung des demokratischen Gedankens" (Th. Maunz) erscheint Dem rela-tiven Mehrheitswahlrecht nach britischem Muster werden dagegen „aristokratische Züge" (Th. Maunz) und Ungerechtigkeiten unterstellt. In den demokratietheoretischen Voraussetzungen der Verhältniswahl liegt aber — wie oben dargelegt wurde — die Vorstellung, daß die Wähler die Abgeordneten ihrer Parteien daran messen können, wie weit sie ihren politischen Willen, bzw. ihre spezifischen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Interessen in die Beschlüsse des Parlaments einge-bracht haben.

Mit dem Hinweis auf das repräsentative Mandat ist dieses Drängen der Wählerschaft einer Partei auf spezifische Interessenvertretung wohl kaum wirksam abzuwehren, es sei denn, die Partei verzichtete auf diese Wähler. Das kann schwerlich von einer Partei verlangt werden. Die Folge ist vielmehr, daß die Ausbildung von Parteien, die jeweils nur ein relativ enges ökonomisches oder ideelles Bevölkerungsinteresse oder einen Berufsstand vertreten, sogenannte homogene „Interessenparteien", durch die Verhältniswahl tendenziell gefördert wird. Andererseits bedeutet das auch, daß die Entwicklung zur imperativen plebiszitären Aushöhlung des repräsentativen Parlamentarismus unter den Bedingungen des Verhältniswahlrechts ein ständiges drohendes Problem ist

Als Ergebnis bleibt also festzuhalten, daß der Repräsentationsgedanke die Rousseau’sche Theorie von der Identität von Regierenden und Regierten zwar zurückzudrängen versucht, daß sie aber letztlich nicht überwunden werden kann. Das macht das Festhalten am Verhältniswahlsystem deutlich. Auch die repräsentative Theorie des parlamentarischen Systems bleibt — wenn auch auf einer höheren Abtraktionsebene — von der Vorstellung des regierenden Volkswillens gefangen. im reinen parlamentarischen System

5. Die institutionelle Unterordnung der Regierung

Die aus dem Volkssouveränitätsprinzip abgeleitete reine Parlamentarismustheorie brachte die Regierung als Staatsorgan in die prinzipielle Abhängigkeit von der Volksvertretung, sie wurde zu einem politisch handlungsinkompetenten Vollzugsausschuß des Parlaments, In den folgenden Abschnitten sollen nun die verschiedenen verfassungsrechtlichen Beziehungen zwischen der Regierung und dem Parlament im einzelnen untersucht werden, wie sie sich als Konsequenz des reinen Parlamentarismusmodells ergeben. Es handelt sich dabei um folgende Verfassungseinrichtungen: Das parlamentarische Mißtrauensvotum, durch das die Regierung zum Rücktritt gezwungen werden kann; die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung und ihre Konsequenzen; das Recht zur Gesetzesinitiative durch das Parlament und die Regierung; das mögliche Recht der Regierung zur Auflösung des Parlaments und das Parlamentswahlrecht. a) Parlamentarisches Mißtrauensvotum und ministerielle Einzelverantwortlichkeit DieAbhängigkeit derRegierung vom Parlament findet ihren verfassungsinstitutionellen Niederschlag in dem Recht der Volksvertreter, die Regierung zu stürzen, wenn die Regierungspolitik nicht mehr von der Mehrheit der Abgeordneten unterstützt wird. Das parlamentarische Mißtrauensvotum wird deshalb als das „typische Instrument des parlamentarischen Systems" bezeichnet

Das parlamentarische Mißtrauensvotum gilt als streng durchgeführt, wenn 1. die Regierung sich dem Mißtrauensurteil des Parlaments nicht mit verfassungsrechtlichen Mitteln entziehen kann. Jederzeit sollen der Regierungschef und jeder einzelne Minister vom Parlament abgewählt werden können, wenn die Volksvertreter mit der Gesamt-politik oder der jeweiligen Ressortpolitik oder seiner Person nicht mehr einverstanden sindund das betreffende Regierungsmitglied den Wünschen der Abgeordneten nicht nachgibt.

Jeder einzelne Minister muß also bemüht sein, sich auf „seine" parlamentarische Mehrheit stützen zu können, das Kabinett oder der Regierungschef können ihm gegen das parlamentarische Mißfallen kaum wirksamen Schutz gewähren. Es liegt auf der Hand, daß sich unter diesen Bedingungen keine Solidarität im Kabinett, kein kollegialer, auf gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Hilfe basierender Führungsstil der Regierung entwickeln kann. Eine Verantwortung des Kabinetts als Ganzem hat angesichts der ministeriellen Einzelverantwortlichkeit keine Basis. Hinter diesem Prinzip der ministeriellen Einzelverantwortlichkeit steht die Vorstellung, daß die Minister nur die Delegierten ihrer Parlamentsfraktion im Kabinett seien

Konsequent angewendet wird das parlamentarische Mißtrauensvortum, wenn 2.der Mißtrauensantrag des Parlaments keinen verfassungsrechtlichen Einschränkungen unterliegt

Das bedeutet, a) daß die Mehrheit der Abgeordneten des Parlaments für die Entscheidung ausreicht, es also keiner z. B. 2/3 Mehrheit für das Mißtrauensvotum bedarf und b) daß nicht nur die ganze Regierungsmannschaft, sondern auch jeder einzelne Minister zum Rücktritt gezwungen werden kann und c) daß die Volksvertreter nicht von der Verfassung genötigt werden, mit der Abwahl von Regierungsmitgliedern zugleich auch die Nachfolger für diese Regierungsämter zu ernennen.

Dadurch wird deutlich, daß das sogenannte „konstruktive Mißtrauensvotum“ des Artikels 67 des GG eine erhebliche Einschränkung bzw. Modifizierung des parlamentarischen Systems ist Seine Beschränkung besteht in zweifacher Hinsicht: Einmal wird die Abwahl des bisherigen Regierungschefs mit der Wahl seines Nachfolgers zwingend gekoppelt, zum anderen ist das parlamentarische Mißtrauensvotum des Grundgesetzes auf den Regierungschef, den Bundeskanzler, beschränkt, die Minister sind dem Zugriff des Parlaments zumindest verfassungsrechtlich entzogen, einzelne Minister können also vom Bundestag nicht gestürzt werden Die Minister gründen ihre Berufung ins Amt vielmehr in erster Linie und verfassungsrechtlich ausschließlich auf das Vertrauen und den Vorschlag des Bundeskanzlers. Wenn allerdings dem Bundeskanzler das Mißtrauen von der gesetzlichen Mehrheit der Abgeordneten des Bundestages ausgesprochen wird, endet automatisch die Amtszeit aller seiner Minister und Parlamentarischer Staatssekretäre. Der neue Bundeskanzler hat dann bei der Berufung von Ministern laut Artikel 64, I GG verfassungsrechtlich freie Hand b) Entartungen des parlamentarischen Systems: Gesetzesinitiative und parlamentarisches Auflösungsrecht der Regierung

Eine eigenständige politische Handlungsweise kommt der Regierung in der reinen Parlamen-tarismustheorie nicht zu. Die politische Stärkung der Regierung unter den Bedingungen des modernen Sozial-und Verwaltungsstaates und ihre Dominanz bei der Einbringung von Gesetzentwürfen im Parlament erscheinen demgemäß als „Posten auf der Minusseite der demokratischen Bilanz" (E. Forsthoff), als autoritäre Züge im parlamentarischen Regierungssystem oder gar als die „völlige Umkehrung" seiner eigentlichen Prinzipien Die vorn geschilderte Machthäufung und politische Führungspotenz beim britischen Premierminister und seinem Kabinett, die in der Regel die unbestrittenen Führer der Unterhausmehrheit sind, kann die deutsche Parlamentarismus-theorie folglich nur als oligarchische Entartung des idealtypischen parlamentarischen Systems werten. Ein wichtiges Führungsmittel des britischen Premierministers ist sein Auflösungsrecht des Unterhauses, mit dem er unter Umständen widerspenstige Abgeordnete zu disziplinieren und die notwendige Parlamentsmehrheit zusammenzuhalten vermag. Ein solches parlamentarisches Auflösungsrecht der Regierung gerät der deutschen Parlamentarismustheorie gar nicht in den Blick. Die Möglichkeit der Regierung, das Parlament zu lenken und gegebenenfalls die Wählerentscheidung über die Regierung herbeizuführen, der wohl sauberste demokratische Ausweg aus einer parlamentarischen Pattsituation, muß der reinen Parlamentarismustheorie geradezu total systemwidrig erscheinen c)

Verhältniswahl und Subordination der Regierung

Im reinen parlamentarischen System erhebt das Parlament für sich den Anspruch, das souveräne Volk ausschließlich zu repräsentieren Dieser Anspruch wird gestützt durch das Verhältniswahlrecht, hinter dem die Vorstellung von der Selbstregierung des Volkes steht und das nur auf die Projizierung der Interessen- und Willensvielfalt des Volkes in die Volksvertretung zielt Die Verhältnis-wähl bestellt also prinzipiell allein die Abgeordneten des Parlaments. Sie beruft keine Regierung ins Amt, die Frage der Regierungsbildung wird den Parlamentsabgeordneten und -fraktionen zur eigenen, freien Entscheidung überlassen. Regierungskoalitionen sind eine Frage des politisch-personellen Aushandelns Das hat zur Folge, daß die parlamentarische Regierung 1. keine eigene unmittelbare demokratische Legitimation durch Volkswahl geltend machen kann und demgemäß nicht den Rang eines Repräsentationsorganes des Volkes besitzt. Damit kann sie 2. auch keinen eigenständigen politischen Führungsauftrag im Regierungssystem für sich beanspruchen.

Zusammenfassend muß also festgestellt werden, daß die Unterordnung der parlamentarischen Regierung unter den Willen des ausschließlich demokratisch gewählten Parlaments und also unter den Bedingungen des Verhältniswahlrechts als einer verfassungsinstitutionellen Konsequenz der reinen Parlamentarismustheorie in der Tat ein zwingendes Demokratiegebot ist. 6. Der Verfall der Regierung unter der Weimarer Reichsverfassung als Konsequenz der deutschen Parlamentarismustheorie Die Folgerungen der reinen Parlamentarismus-theorie erfüllten sich in der Weimarer Verfassungspraxis Das Verhältniswahlrecht begünstigte die Parteienvielfalt im Reichstag der Weimarer Republik. Dadurch wurde einmal die Bildung tragfähiger Regierungsmehrheiten im Parlament erheblich erschwert. Darüber hinaus blieben die Koalitionsregierungen permanent führungsschwach und wechselten häu-fig In den nur 14 Jahren seiner Existenz von 1919 bis 1933 hat das parlamentarische System von Weimar 20 Regierungen und 14 Reichskanzler mit einer durchschnittlichen Amtsdauer von nur 8 Monaten verbraucht. Die Ausbildung einer kollektiven Verantwortlichkeit des Kabinetts hätte die Minister gegen die parlamentarischen Gruppeninteressen abschirmen und dem Kabinett einen größeren politischen Handlungsspielraum geben können. Diese Kabinettssolidarität, die eine wesentliche Voraussetzung für die Führungskraft einer parlamentarischen Regierung ist, wurde aber durch Artikel 54 der Reichsverfassung verhindert So konnten die Fraktionen, die die labilen Regierungskoalitionen trugen, mißtrauisch darüber wachen, daß „ihre" Minister permanent an die programmatischen Richtlinien und politischen Entschließungen ihrer Parteien gebunden blieben.

„Das lähmt und hemmt sie in ihrer Amtsführung und kann sie fast zu einem imperativ gebundenen Mandataren ihrer Fraktion machen ..."

Erhellend für die Übernahme der reinen Parlamentarismustheorie in der Weimarer Reichsverfassung war auch die parlamentarische Praxis, daß nicht die führenden Politiker ihrer Fraktionen in die Regierung eintraten, sondern nur Politiker zweiten Ranges in die Koalitionsregierungen entsandt wurden. Auf diese Weise wurde die Subordination der Regierung unter die Parlamentsfraktionen betont und die politische Autoritätslosigkeit des Kabinetts auch personell gewährleistet, eine Praxis, die der britischen parlamentarischen Regierungsweise geradezu entgegengesetzt ist. 7. Schlußfolgerung: Der Verlust des politischen Verantwortlichkeitsprinzips In dem parlamentarischen System von Weimar wurde die Regierungspolitik also praktisch in den Fraktionsführungen entschieden. Vor der Öffentlichkeit hatte sie jedoch die parlamentarische Regierung selber zu begründen und zu verteidigen, ohne daß sie darüber entscheidungskompetent war und ohne daß sie folglich eigene politische Verantwortung dafür trug Die eigentlich Regierenden und damit Verantwortlichen aber blieben in der Anonymität parlamentarischer Institutionen.

So bleibt also festzuhalten, daß die deutsche Parlamentarismustheorie die Problematik und die Bedeutung politischer Verantwortlichkeit im Regierungssystem verschüttet hat. Das Prinzip der Verantwortlichkeit in der Politik, das „Responsible Government" des britischen Verfassungsdenkens, ging dem deutschen Verfassungsdenken dadurch verloren, daß es offenbar unfähig war und ist, die theoretische Konzeption für eine führungskompetente parlamentarische Regierung zu entwickeln, die einerseits echte politische Verantwortung tra gen und andererseits von der Gesamtbürgerschaft politisch zur Verantwortung gezogen werden kann.

II. Das gewaltenbalancierende parlamentarische System

Die Theorie des gewaltenteilenden Parlamentarismus versucht, den verfassungsinstitutionellen und -politischen Konsequenzen des soeben kritisch herausgearbeiteten reinen parlamentarischen Systems zu entgehen 1). Sie tritt vornehmlich aus verfassungspolitischen Gründen vor allem für eine Stärkung und eine größere institutionelle Selbständigkeit der Regierung gegenüber der Volksvertretung im parlamentarischen Regierungssystem ein 2).

Der gewaltenbalancierende Parlamentarismus gilt heute als die sogenannte „herrschende Lehre" im deutschen Verfassungsrecht. Dennoch ist diese Theorie des Gleichgewichts zwischen Regierung und Parlament immer nur eine nachträgliche Modifikation oder noch genauer gesagt: eine nachträgliche Korrektur des reinen Parlamentarismus mit seiner absoluten Parlamentssuprematie und seiner Regierungssubordination. Diese Behauptung bestätigt sich bereits, wenn man die Grundgesetzkommentare zu den Artikeln des GG anschaut, die der Bundesregierung eine größere verfassungsrechtliche Selbständigkeit gegenüber dem Bundestag verschaffen sollen 3). Dort wird unter anderem von „Mäßigungen", „Beschränkungen", von „Drosselung" und „Modifikation" und schließlich von „Verbesserungen“ des parlamentarischen Regierungssystems durch diese Verfassungsbestimmungen gesprochen 4). 1. Die Aufpfropfung des Gewaltenteilungsprinzips auf die reine Parlamentarismustheorie a) Der veriassungsgeschichtliche Ort der Gewaltenteilung Die Theorie vom gewaltenbalancierenden parlamentarischen System verfolgt zwei Ziele: will sie die Parlamentsherrsch Dort wird unter anderem von „Mäßigungen", „Beschränkungen", von „Drosselung" und „Modifikation" und schließlich von „Verbesserungen“ des parlamentarischen Regierungssystems durch diese Verfassungsbestimmungen gesprochen 1. Die Aufpfropfung des Gewaltenteilungsprinzips auf die reine Parlamentarismustheorie a) Der veriassungsgeschichtliche Ort der Gewaltenteilung Die Theorie vom gewaltenbalancierenden parlamentarischen System verfolgt zwei Ziele: 1. will sie die Parlamentsherrschaft und die absolute Dominanz der Volksvertretung gegenüber der parlamentarischen Regierung einschränken und 2. will sie die, „Selbständigkeit der Regierung als das politisch leitende Exekutivorgan sicherstellen"

Zu diesem Zweck lag der Rückgriff auf den verfassungsgeschichtlich noch recht lebendigen Verfassungsgrundsatz der Gewaltenteilung nahe. Dieser Grundsatz hat sich im Laufe vor allem der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Schritt für Schritt gegen den fürstlichen Absolutismus, die souveräne Herrschaftsgewalt des Landesherrn, in Kontinentaleuropa und in Deutschland durchgesetzt. Mit der Forderung nach Gewaltenteilung, Bürgerrechten und einer zwischen Volk und Monarch möglichst vereinbarten, geschriebenen Verfassung ging es vor allem darum, die geschichtlich vorgegebene monarchische Herrschaftsgewalt einzuschränken und Gegengewichte zu ihr zu schaffen.

Die Lehre von der Gewaltenteilung spaltet demgemäß die bislang in der Person des Monarchen vereinigte oberste Staatsgewalt in drei voneinander unabhängige „Gewalten" bzw. Staatsorgane auf, die jeweils zugleich bestimmte Staatsfunktionen wahrnehmen. Unterschieden werden also: 1. Die gesetzgebende Gewalt einschließlich der wichtigen Steuer-und Haushaltsbewilligungsrechte. Diese Funktionen werden in erster Linie dem von den Bürgern gewählten Parlament zugewiesen, wobei je nach Verfassungslage mehr-oder minderstarke Mitsprachekompetenzen des Monarchen bestehen. 2. Die extensiv zu interpretierende vollziehende des militärischen (einschl. Oberbefehls sowie der auswärtigen Gewalt), die uneingeschränkt im Besitze des Monarchen bleiben. 3. Die richterliche Gewalt, die von weisungsunabhängigen Richtern wahrgenommen wird, um in Streitfällen Recht sprechen zu können. Diese Lehre von der Dreiteilung der Staats-funktionen und Staatsorgane ist zeitgebunden. Sie ist eine politische Zwecklehre und spiegelt den erzielten Verfassungskompromiß zwischen Monarchie und Bürgertum im liberalistisch-konstitutionellen Staat des fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts wider Ausgehend vom monarchischen Absolutismus ihrer Zeit konnte das politisch höchstens erreichbare Ziel der Gewaltenteilungstheorie nur sein, dem Bürgertum einen ihre Freiheit und ihr Eigentum sichernden Anteil an der Staatsgewalt neben dem Monarchen und seinem adeligen Beamten-und Offizierskorps zu verschaffen.

Deshalb übertrug man der Volksvertretung die Funktionen, allgemein verbindliche Gesetze zu beraten und zu beschließen und die Staatsfinanzen zu bewilligen, die ja Freiheitsbeschränkungen und Zahlungspflichten für die Bürger bedeuteten, und band die monarchische Regierung an diese Gesetze Mit der politisch mächtigen Realität der nicht durch Wahl legitimierten monarchischen Exekutive, deren Kompetenzen sehr weit gefaßt waren und die im übrigen eine vom Parlament und Volk streng unabhängige Existenz führte und führen konnte, fand sich die Theorie der Gewaltenteilung von vornherein ab. Die Forderung nach der demokratischen Legitimation der Regierung — entweder unmittelbar durch Volkswahl oder abgeleitet von der Volksvertretung — bleibt folglich in der liberalen Theorie der Gewaltenteilung unberücksichtigt

Die b) Verselbständigung der parlamentarischen Regierung Die gewaltenteilende Parlamentarismustheorie löst das Gewaltenteilungsschema des monar-chischen Konstitutionalismus aus seinem verfassungsgeschichtlichen Hintergrund heraus.

Sie überträgt das verselbständigte Prinzip der Unabhängigkeit zwischen Parlament und Regierung auf das reine parlamentarische System und spielt es gegen den dort herrschenden „Parlamentsabsolutismus" aus Das Gewaltenteilungsprinzip, auf das die gewalten-balancierende Theorie zurückgreift, verdrängt das parlamentarische System jedoch nicht vollständig. Sein Dreiteilungsschema wird dem reinen Parlamentarismusmodell quasi nur nachträglich aufgepfropft, um zu dem verfassungspolitisch erwünschten Effekt zu führen Dadurch kann die parlamentarische Regierung aus ihrer strengen Unterordnung unter die Volksvertretung heraus und institutionell „gleichrangig" und relativ unabhängig neben das Parlament treten 2. Das Gewaltengleichgewicht zwischen Regierung und Parlament a) Konkurrenz und wechselseitige Machtkontrolle: Mißtrauensvotum und Auflösungsrecht Die gewaltenbalancierende Theorie des parlamentarischen Systems bemüht sich, die verfassungsrechtliche Selbständigkeit der Regierung gegenüber dem Parlament zu stärken. Damit gibt sie das Prinzip der politischen Homogenität zwischen der Volksvertretung und der parlamentarischen Regierung auf, das im reinen Parlamentarismus durch die unbedingte Unterordnung der Regierung unter den Willen des Parlaments garantiert wird Dagegen fordert sie, Regierung und Parlament als zwei prinzipiell gleichberechtigte und von einander unabhängige Machtträger in der Verfassung zu institutionalisieren

Dahinter steht eine Konkurrenzkonzeption, welche einerseits ein fruchtbares dualistisches Spannungsverhältnis zwischen beiden Staats-organen und andererseits ihre ständige wechselseitige Machtkontrolle bewirken will So-mit kann dann die parlamentarische Regierungsweise gar zu einem „typischen Fall von Gewaltenhemmung" in der Verfassungstheorie uminterpretiert werden

Die Gewaltenbalance realisiert sich verfassungsrechtlich vor allem in der Einschränkung des parlamentarischen Mißtrauensvotums (etwa in der Art des Artikel 67 GG) und in der Gewährung eines parlamentarischen Auflösungsrechtes an die Regierung. Auf diese Weise will die Theorie die verfassungsrechtliche und darüber hinaus die politische „Waffengleichheit" zwischen dem Parlament und der Regierung gewährleisten. „Parlamentsauflösung und Mißtrauensvotum gehören zusammen wie Kolben und Zylinder einer Maschine. Ihre potentielle Wechselseitigkeit läßt die Räder der Parlamentsmaschinerie kreisen" b) Der dualistische Ansatz bei der Interpretation des GG: Regierung ohne konstante parlamentarische Mehrheit — kein Oppositionsbegriff

Als die beiden großen Kontrahenten im Regierungssystem werden also die parlamentarische Regierung auf der einen und das Parlament als Ganzes auf der anderen Seite angesehen. Zwischen der parlamentarischen Regierung und dem Parlament bzw.seiner Mehrheitsfraktion(en) muß nach der gewaltenbalancierenden Parlamentarismustheorie folglich kein ausgeprägter, dauerhafter Zusammenhalt mehr bestehen.

Eine Einsicht dafür, daß eine parlamentarische Regierung sich auf eine konstante Mehrheit im Parlament stützen muß, um überhaupt führungsfähig sein zu können, sucht man in dieser Theorie vergeblich. Das Parlament wird grundsätzlich nur als eine eigenständige politische Handlungseinheit begriffen. Deshalb fehlt der gewaltenbalancierenden Parlamentarismustheorie nicht nur das Verständnis für die Notwendigkeit einer beständigen Regierungsmehrheit (die Parlamentsmehrheit und Kabinett umfaßt), sondern auch ein Verständnis für die spezifischen Funktionen der Opposition, der parlamentarischen Minderheit, im Regierungssystem.

Der dualistische — das Gewaltenteilungsprinzip betonende — Ansatz kommt bei der Interpretation jener GG-Artikel zum Tragen, die das Verhältnis zwischen Bundesregierung und Bundestag bestimmen. Es geht hierbei vor allem um 1) die Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundestag (Artikel 63 GG); 2) das „konstruktive Mißtrauensvotum", mit dem der Bundestag die Regierung auswech-sein kann (Artikel 67 GG); 3) das Recht des Bundeskanzlers, die Vertrauensfrage zu stellen, dessen Ablehnung von der Mehrheit der Abgeordneten ihm das Recht gibt, dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages vorzuschlagen, ohne daß der Bundeskanzler sicher sein kann, daß tatsächlich aufgelöst wird (Artikel 68 GG).

In einer Reihe von GG-Kommentaren kommt demgemäß der Wahl des Bundeskanzlers durch die gesetzliche Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auch keine strukturelle Bedeutung für ein dauerhaftes und enges Vertrauensverhältnis von Parlamentsmehrheit und Regierung zu. Nur im Augenblick seiner Wahl bedarf der Regierungschef noch des Vertrauens und der aktiven Unterstützung der Mehrheitsfraktion(en). Nach der Inthronisierung des Bundeskanzlers reduziert sich die parlamentarische Abhängigkeit der Regierung unter den Bedingungen des Artikels 67 GG praktisch auf ein Minimum die Mitglieder der Bundesregierung und die Mitglieder der Mehrheitsfraktion(en) im Bundestag derselben Partei bzw.denselben Parteien angehören und nach bundesdeutscher Verfassungspraxis grundsätzlich der Parteivorsitzende der siegreichen Partei bzw.des größeren Koalitionspartners von seinen Koalitionsfraktionen zum Bundeskanzler gewählt wird, bleibt weitgehend unberücksichtigt .

Eine konstante parlamentarische Regierungsgefolgschaft erscheint im parlamentarischen System des GG demzufolge für die Regierungsführung prinzipiell entbehrlich Eine Bundesregierung mit wechselnden parlamentarischen Mehrheiten, die sich z. B. für einen Gesetzentwurf auf eine Gelegenheitsmehrheit, für einen anderen auf eine andere stützen und sich für die Ratifizierung eines völkerrechtlichen Vertrages wiederum eine Zufallsmehrheit zusammensuchen muß, da sie selbst über keine zuverlässige Mehrheit im Bundestag verfügt, widerspricht dem Systemverständnis der gewaltenbalancierenden Parlamentarismustheorie also nicht.

Eine Minderheitsregierung im parlamentarischen System des GG wird aufgrund dieser Theorie schließlich nicht nur als ein verfassungsmäßiger Behelf, als eine Übergangsregelung in einer parlamentarischen Führungskrise (z. B. durch das Zerbrechen einer Regierungskoalition wie 1966 unter Bundeskanzler Erhard), sondern als eine auch verfassungspoli-tisch mögliche Dauererscheinung dargestellt Dagegen entspricht das sogenannte „konstruktive Mißtrauensvotum" (Artikel 67 GG), das den parlamentarischen Einfluß auf die Bundesregierung in doppelter Weise reduziert, der Forderung der gewaltenbalancierenden Parlamentarismustheorie nach institutioneller Eigenständigkeit der Regierung. Seine angeblich verfassungsstabilisierende Wirkung wird dementsprechend in den Kommentaren zum Bonner Grundgesetz auch überwiegend positiv hervorgehoben c) Verfassungstechnizismus und Gewaltenverschränkungen („checks and balances“) im Grundgesetz Die Anwendung des Gewaltenteilungsschemas könnte dahin tendieren, Parlament und Regierung streng unverbunden gegeneinander zu stellen. Dieser Gefahr möchte die gewaltenbalancierende Parlamentarismustheorie durch verschiedene Gewaltenverschränkungen entgehen.

Deshalb plädiert sie über die Grundinstitute des dualistischen parlamentarischen Systems (parlamentarisches Mißtrauensvotum und Auflösungsrecht der Regierung) hinaus für ein komplexes System gegenseitiger Einwirkungsbefugnisse zwischen Parlament und Regierung. Dadurch sollen einmal das notwendige Zusammenwirken beider Staatsorgane verfassungsrechtlich gewährleistet, zugleich aber auch ihre wechselseitigen Kontrollmöglichkeiten verbessert werden „Die Träger dieser Staatsor-gane sollen sich gegenseitig kontrollieren, mäßigen, helfen.“

Der sogenannte gewaltenbalancierende Grundsatz der „checks and balances" schlägt sich im wesentlichen in folgenden Artikeln des Grundgesetzes nieder: Art. 59 (Völkerrechtliche Verträge); Art. 63 (Kanzlerwahl); Art. 67 (Parlamentarisches Mißtrauensvotum); Art. 68 (Vertrauensfrage und Bundestagsauflösung); Art. 76 (Einbringung von Gesetzesvorlagen); Art. 80 (Rechtsverordnungen); Art. 81 (Gesetzgebungsnotstand); Art. 110 (Haushaltsverabschiedung durch Bundestag und Bundesrat); Art. 111 (Ausgaben vor Verabschiedung des Etats); Art. 112 (Haushaltsüberschreitungen); Art. 113 (Zustimmung der Bundesregierung zu Gesetzen mit Ausgabenerhöhungen).

Das Verfassungsideal der gewaltenbalancierenden Theorie des parlamentarischen Systems basiert auf dem technizistischen Optimismus ihrer Wortführer, die glauben, daß klug konstruierte Verfassungsvorschriften die Arbeitsfähigkeit des Regierungssystems schon gewährleisten und die Parteienbasis für das parlamentarische System vernachlässigt werden könne.

Deutlich wird das, wenn etwa K. Löwenstein in der Art eines „Verfassungsingenieurs" die konkurrierenden Kräfte beschreibt, welche „die Räder der Parlamentsmaschinerie kreisen" lassen sollen wenn R. Redslob Parlament und Regierung mit zwei „Rennern" vergleicht, die „in gleicher Linie, Stirn an Stirn im Zaum gehalten werden" oder wenn Th. Maunz das vollkommene „kunstvolle Ausgewogensein" beider Gewalten zum Ziel der Verfassungskonstruktion erklärt d) Gewaltengleichgewicht durch Verhältniswahl und Mehrparteienparlament Es verdient ins Gedächtnis zurückgerufen zu werden, daß der heute herrschenden Lehre im Verfassungsrecht die repräsentative Parlamen-tarismustheorie zugrundeliegt, hinter der im Kern die Vorstellung von der Selbstregierung des Volkes nach wie vor besteht Schon deshalb erscheint das Verhältniswahlrecht als ein Gebot der Demokratie. Verhältniswahlsysteme begünstigen die Ausbildung von interessenhomogenen Kleinparteien und damit die Vielfalt von Fraktionen im Parlament. Das so entstehende Mehrparteienparlament (der Begriff wird hier zwecks Unterscheidung vom Zweiparteienparlament gebraucht) gewinnt nun in der Theorie des ge-waltenbalacierenden parlamentarischen Systems noch eine ganz besondere Bedeutung: Es wird zu einem wesentlichen Element im System der „checks and balances", des kunstvollen Gewaltengleichheitsgewichts zwischen dem Parlament als Ganzem und der parlamentarischen Regierung als Widerpart. Vom Mehrparteienparlament erhofft sich die Theorie einen doppelten Effekt:

Auf der einen Seite soll es der Regierung einen größeren politischen Handlungsspielraum gegenüber den Parlamentsfraktionen verschaffen; sie soll die taktische Möglichkeit erhalten, die rivalisierenden Fraktionen gegeneinander auszuspielen, um ihre Pläne leichter durchsetzen zu können.

Auf der anderen Seite soll das Mehrparteienparlament gleichzeitig verhindern, daß der Regierungschef möglicherweise als Führer der Mehrheitspartei im Parlament einen dominierenden Einfluß auf die Parlamentsentscheidungen gewinnen könnte Diese Führungspotenz des Regierungschefs ergibt sich in der Regel in einem Zweiparteiensystem bzw. Zweiparteienparlament. Die Parlamentswahl schließt hier im Grunde die direkte Berufung eines Regierungschefs ein, nämlich des Führers der einen siegreichen Partei. Auf das vorne skizzierte britische parlamentarische System, dem diese Regierungsdominanz vollauf gemäß ist, sei hier noch einmal verwiesen.

Der deutschen Theorie des gewaltenbalancierenden Systems erscheint die Dominanz der parlamentarischen Regierung in einem Zweiparteiensystem ebenso wie die Vorherrschaft des Parlaments also als ein Verstoß wider den Sinn des sogenannten „echten Parlamentarismus"

Die parlamentarische Situation von 1957 bis 1961 — nachdem Adenauer 1957 den bis heute größten Wahlerfolg bei Bundestagswahlen erzielt hatte, und die CDU/CSU trotz Verhältniswahl die absolute Mehrheit der Abgeordnetensitze im Bundestag besaß — muß der Theorie demnach als eine ausgesprochene Systemwidrigkeit gelten. Was die gewaltenbalancierende Theorie prinzipiell zu vermeiden trachtet, trat ein: eine Partei gewann die absolute Mehrheit — allerdings gab es noch drei weitere Parteien im Bundestag: SPD, FDP und DP — und der Bundeskanzler wird praktisch durch ein Personalplebiszit der Bevölkerung gewählt, was seine Stellung gegenüber seiner Partei, seiner Bundestagsfraktion und den übrigen Regierungsmitgliedern noch verstärkte. e) Ergebnis: Keine Führungslegitimation iür die Regierung und die Gefahr des Immobilismus

Die eingehende Untersuchung der gewalten-balancierenden Theorie des parlamentarischen Systems und ihrer verfassungsinstitutionellen Konsequenzen führt uns also zu dem folgenden Ergebnis: Auch diese Theorie hat die parlamentarische Regierung als gesamtstaatsleitendes Verfassungsorgan nicht in den Vordergrund gerückt. Durch die Aufpfropfung der überkommenen Gewaltenteilungskonstruktion auf das idealtypische „reine" Parlamentarismusmodell stellt sie nur die verfassungsrechtliche Gleichrangigkeit und weitgehende Unabhängigkeit der Regierung gegenüber dem Gesamtparlament her.

Auf diese Weise gewinnt die Regierung aber erstens keine eigene demokratische Führungslegitimation im politischen System; diese bleibt dem Parlament vorbehalten.

Zweitens wird dadurch ihre von der Theorie wiederholt betonte Eigenständigkeit und Handlungsfähigkeit höchstens formal, aber nicht inhaltlich verbessert. Das notwendige Zusammenspiel von Parlament und Regierung vor allem für die ständige Gesetzgebungstätigkeit und die alljährliche Haushaltsfeststellung in Form eines Gesetzes kann nicht durch kunstvolle „checks and balances“ sichergestellt werden.

Diese Versuche sind zu mechanistisch gedacht, um in der lebendigen politischen Auseinandersetzung praktikabel zu sein. Sie können deshalb keine Garantie gegen die Möglichkeit des politischen Immobilismus zwischen Parlament und Regierung sein.

Gerade die prinzipiell dualistische Konstruktion von Parlament und Regierung schließt den „Stellungskrieg" (G. Dahm) zwischen beiden Staatsorganen und ein politisches Patt, wie es am 27. April 1972 im modifizierten parlamentarischen System der BRD entstand, nicht aus. 3. Legitimationskritik am dualistischen parlamentarischen System a) Die obrigkeitliche Abschirmung der Regierung vom Parlament In der Konstruktion der gewaltenbalancierenden Theorie fällt auf, daß die Regierung gleichrangig und weitgehend unabhängig neben das Parlament gestellt wird, ohne daß die geforderte selbständige Handlungsfähigkeit als „politisch leitendes Exekutivorgan" (Th. Maunz) eine eigene demokratische Legitimation aufweist. Diese bleibt vielmehr wie im reinen Parlamentarismus auf das Parlament beschränkt. Der Schluß liegt nahe, daß es der dualistischen Parlamentarismustheorie um die demokratische Legitimierung der Regierungsgewalt auch im Grunde gar nicht geht.

Vor allem scheint es manchen, der Tradition der konstitutionellen Monarchie verbundenen Verfassern darauf anzukommen, die Exekutive gegen jegliche parteipolitischen Einflüsse abzuschirmen.

Die Regierung soll demzufolge nicht nur „Parteiregierung" sein, sondern Treuhänder der Gesamtinteressen und also „auch in gewisser Weise über den Parteien stehen" Dieser Vorstellung entspricht auch die Forderung nach der Unvereinbarkeit von Ministeramt und Parlamentsmitgliedschaft merkwürdigerweise „gerade im parlamentarischen Regierungssystem" sowie der Ruf nach dem parteilosen, aus der Ministerialbürokratie hervorgegangenen Fachminister Das Mißtrauen gegen den modernen pluralistischen Parteien-staat und die Klage über die angebliche, den Staat zerstörende „Herrschaft der Verbände'spiegelt eine vordemokratische und obrigkeitliche Staatsauffassung, die auf der strengen Trennung von staatlicher Hoheit und liberaler Gesellschaft beruht In dieser Staatsauffassung erhob die monarchische Exekutive mit Erfolg den Anspruch, das Gesamtstaatsinteresse zu wahren und damit praktisch auch zu bestimmen.

So konnte sie als Hüterin des „Gemeinwohls'gegenüber den vielen speziellen und „egoistischen" sozialen, wirtschaftlichen und Parteiinteressen auftreten, die in der Volksvertretung repräsentiert waren. Vor dem Hintergrund solcher Vorstellungen gewinnt die Forderung nach möglichst strenger Gewaltenteilung einen geradezu „staatserhaltenden und disziplinierenden" Wert Sie soll das politische Einflußstreben kanalisieren und darüber hinaus das Exekutiverfordernis eines nicht politisierten, „geschlossenen, seiner staatsbezogenen Sachaufgabe verpflichteten Beamtentums" unbeschadet sichern b) Schlußfolgerungen: Die mäßigende Kraft der Gewaltenteilung als eigentliche Legitimalionsbasis vor Demokratie und Effizienz Die gewaltenbalancierende Parlamentarismus-theorie will die Exekutive zwar unabhängig und gleichstark neben das Parlament stellen, sie will aber keineswegs eine wirklich umfassende Machtkonzentration in der Regierung schaffen. E. Fraenkels bekannte These, die Bonner Parlamentarismustheorie sei schizophren, sie sehne sich heimlich nach einer starken Regierung und bekenne sich öffentlich zur „Herrschaft eines allmächtigen Parlaments" geht offensichtlich in zweifacher Hinsicht fehl: Die Untersuchung hat gezeigt, daß die herrschende Theorie erstens unverhüllt gegen die Parlamentsherrschaft polemisiert und zweitens keineswegs verhehlt, daß sie die tunktionale Selbständigkeit der Regierung gegenüber dem Parlament herstellen will.

Die gewaltenbalancierende Parlamentarismus-theorie meint es ernster mit dem Prinzip der Gewaltenteilung als ihre Kritiker im allgemeinen wahr haben wollen.

Sie ist sicher konservativ, ihre Begriffe entstammen weitgehend noch dem vordemokratischen Verfassungsdenken, sie ist aber nicht „schizophren", wie Ernst Fraenkels behauptet. Die altliberale Vorstellung von der macht-mäßigenden und somit freiheitssichernden Kraft der Gewaltenteilung dominiert nach wie vor im deutschen Verfassungsdenken Das prinzipielle Mißtrauen gegen die Staatsgewalt hat die Monarchie überdauert. Demzufolge ist es das erklärte Ziel der herrschenden Parlamentarismustheorie, die „Machtergreifung" jedweder Instanz durch den verfassungsinstitutionellen Einbau ausgleichender Gegenkräfte zu verhindern Auf diese Weise glaubt sie den höchst möglichen Freiheitsspielraum für den Bürger erhalten zu können

Treffend für diesen Verfassungstechnizismus erscheint uns die Kritik Otto Küsters: „Jene Ungeschorenheit hat nicht das eigentliche große Freiheitspathos; sie hat etwas Schlaues, bürgerlich — bourgeoises, sie gleicht ... ein wenig der Sicherheit tapferen Schneiderleins, das Riesen brachte." gegeneinander

In einem kritischen Resümee lassen sich also vier Grundzüge der gewaltenbalancierenden Parlamentarismustheorie feststellen: Der altliberale Glauben, politische Freiheit durch rechtsstaatliche Gewaltenteilung sichern zu können, ist ein gefährlicher Verfassungsformalismus . Er geht an der Problematik der Freiheitssicherung im modernen Industriestaat vorbei

2) Die Verfassungstheorie richtet ihr Augenmerk vornehmlich auf die Beschränkungen und Hemmungen der Staatsmacht, nicht aber auf seine notwendige politische Handlungsfähigkeit. Dieser gewaltenhemmende Ansatz gehört also in den vordemokratischen . monarchischen Konstitutionalismus. 3) Schließlich versucht die Theorie, die Regierung dem allein demokratisch legitimierten Parlament nur mit den Mitteln des Verfassungsrechts gleichzustellen und sie zudem von ihr abzuschirmen. Diese Tendenz ist obrigkeitsstaatlich. 4) Mit der Forderung nach Trennung und Gleichgewicht der Gewalten will die Parlamentarismustheorie letztlich jede Machtkonzentration verhindern, auch wenn diese auf einem unmittelbar demokratischen, umfassenden Führungsauftrag für die Regierung nach britischem Vorbild beruhen sollte.

Das bedeutet, daß die gewaltenbalancierende Parlamentarismustheorie schließlich weder dem Grundprinzip der demokratischen Legitimation politischer Macht — durch die Abschirmung der Exekutive einerseits, durch Beschränkung der Parlamentskompetenzen andererseits — noch dem Gebot einer politisch führungseffizienten Regierung im modernen Staat gerecht wird. Beide Forderungen werden überlagert durch den überzeitlichen Eigenwert, den das Gewaltenteilungsprinzip gewinnt. Dieses stellt also am Ende die eigentliche Legitimationsbasis der gleichgewichtigen Theorie des parlamentarischen Systems dar.

III. Führungsschwächen gewaltenteilender Regierungssyteme — Bedingungen für ein handlungsmächtiges parlamentarisches System

1. Zur Notwendigkeit einer führungsfähigen Regierung im modernen Staat Die Forderung nach Parlamentarisierung der monarchischen Reichsregierung (bis 1918 galten der Kaiser und die Landesfürsten über den Bundesrat als Inhaber der Exekutivgewalt im Deutschen Reich) wurde schon 1909 von dem großen Verfassungsjuristen Georg Jellinek erhoben . Im Frühjahr 1918 wurde sie von führenden Vertretern der Staatswissenschaften in Deutschland erneuert : die Regierung sollte vom Vertrauen der Reichstagsmehrheit abhängig gemacht werden. Die Minister sollten tunlichst zugleich Parlamentsmitglieder sein und politischen Einfluß in ihren Fraktionen haben. Auf diese Weise sollten die „unnötigen Reibungen und Hemmungen zwischen Regierung und Parlament", vor allem aber die gegen das Regierungshandeln gerichtete „negative Politik" (M. Weber) des Parlaments abgebaut werden. Vielmehr käme es darauf an, „feste organische Verbindungen" zwischen beiden Staatsorganen zu schaffen, die politisch am wirksamsten durch die Zugehörigkeit der Regierungsmitglieder zu den Führungskreisen der im Reichstag vertretenen Parteien zu erreichen wären. Das erklärte Ziel dieser Verbindung war schließlich die Stärkung der Regierungsgewalt dadurch, daß das Kabinett die Führungsautorität im Parlament besaß.

Dieses fundamentale Funktionserfordernis parlamentarischer Regierungsweise ist bis heute von der Verfassungstheorie weitgehend unerfüllt geblieben. Sowohl die aus dem Volkssouveränitätsprinzip stufenweise abgeleitete „reine", als auch die gewaltenbalancierende „modifizierte" Parlamentarismustheorie, sind aus ihren Ansätzen nicht in der Lage, eine wirkliche Führungskompetenz der Regierung im parlamentarischen System zu begründen. Wirkliche Führungskompetenz kann eine parlamentarische Regierung nur dann haben, wenn sie verfassungsinstitutionell und -politisch fähig ist, ihre Parlamentsmehrheit im Griff zu behalten. Der „reine" Parlamentarismus verhindert die Ausbildung einer derartigen Regierungsgewalt a priori konsequent; in ihm liegt alle Gewalt in der Volksvertretung. Die gewaltenbalancierende Lehre vom parlamentarischen System versucht zwar, die Regierung aus ihrer prinzipiellen Subordination zu lösen und ihr zu verfassungsrechtlicher Gleichrangigkeit zu verhelfen, aber auch damit kann sie keine wirkliche Führungskompetenz der parlamentarischen Regierung begründen. Diese ist auch von der Theorie gar nicht beabsichtigt.

Gegen diese Ansichten ist in jüngerer Zeit die Notwendigkeit einer handlungsmächtigen, auch im Parlament starken Regierung im Verfassungsdenken wieder stärker betont worden „Der demokratische Staat hat, zumal in der heutigen bedrohten Lage, eine starke und energische Regierungsgewalt nötig. Ihr steht in ihm die wachsame Kontrolle und die Mitwirkung der Volksvertretung zur Seite." Im Zusammenhang damit wird die dualistische Konstruktion des gewaltenbalancierenden Parlamentarismus einer grundsätzlichen Kritik unterzogen. Repräsentativ für diese jüngere Richtung im Verfassungsdenken mag die Feststellung Ernst Friesenhahns, eines ehemaligen Richters am Bundesverfassungsgericht, stehen, die parlamentarische Regierungsweise könne „weder nach dem Grundsatz der strengen Gewaltenteilung noch auch nur unter dem Aspekt einer Balance" verstanden und bestimmt werden a) Die positive Sicherung bürgerlicher Freiheit im Wirtschafts-und Sozialstaat Die geschilderten Versuche der deutschen Verfassungstheorie, durch tradierte, formale Gewaltenteilungskonstruktionen die freie Sphäre der Bürger garantieren zu wollen und sie ge-gen den Staat abzuschirmen, haben etwas Irreales und Illusionäres. Irreal sind sie, weil sie mit dem zeitbedingten Gewaltenteilungsschema des konstitutionellen Systems im fundamental demokratischen Staat — in dem alle staatliche Gewaltausübung sich prinzipiell auf eine demokratische Legitimation zurückführen lassen muß — weiterarbeiten.

Gefährlich illusionär sind sie überdies, weil sie glauben, daß Freiheit und Eigentum der Bürger weiterhin durch die Abschirmung der Gesellschaft gegen staatliche Eingriffe und eine möglichst schwach zu haltende Staatsgewalt am besten zu sichern wären

So hat die sich rückwärts orientierende Verfassungstheorie die moderne Staatsentwicklung in einem doppelten Sinne verschlafen. Vor allein aber verkennt sie grundlegend, daß die Sicherung politischer Freiheit im modernen Industriestaat eine Gestaltungsaulgabe ersten Ranges für die Regierung geworden ist. In dem Maße, in dem die sozialen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten der Menschen wachsen, muß der moderne Staat soziale Sicherheiten für die Bürger zu schaffen bemüht sein. Die neueren Bezeichnungen des „Wirtschafts-und Sozialstaats" und des „Wohlfahrtsstaates" weisen auf diese immensen Aufgaben des Industriestaates hin, der sich in dieser Aktivität (z. B. zur Erhaltung und Regulierung des Wirtschaftspotentials und der Arbeitskraft, zum Ausbau von Alters-, Invaliden-und Krankenvorsorge, zur Schaffung von Bildungs-und Ausbildungschancen, für Raum-ordnung und Umweltschutz im weitesten Sinne) vom liberalen Staat des 19. Jahrhunderts tiefgreifend unterscheidet.

Die Mäßigung der Regierungsgewalt durch Gewaltenteilungskonstruktionen kann dem-nach keine freiheitssichernde Forderung mehr sein. Diese Einsicht ist auch im Verfassungsrecht neuerdings gewachsen Als Ausgangspunkt der neueren verfassungstheoretischen Überlegungen stellt sich also heute die positive, vorausschauende Gestaltungsaufgabe der Regierung. Die Forderung nach der umfassenden politischen Handlungs-d. h. Staatsleitungsfähigkeit der parlamentarischen Regierung erscheint folglich geradezu als ein Gebot freiheitlicher, sozial gerechter Ordnung. Diese Forderung ist mithin die realistische Folgerung aus den Wertgrundsätzen des politischen Systems des Grundgesetzes.

b) Politische Führung und Gesetzgebung Die Gesetzgebung ist heute zu einem erstrangigen Mittel zur Gestaltung und Steuerung des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens geworden. Der moderne Staat führt durch „legislative Maßnahmen“ Als ein Paradebeispiel moderner Gesetzgebung dieser Art mag das alljährliche Haushaltsgesetz gelten, mit dem der Staatshaushaltsplan vom Parlament verabschiedet werden muß.

Der Staatshaushaltsplan ist praktisch das in Zahlen, in Einnahmen-und Ausgabensummen geronnene politische Programm der Regierung, denn fast alle wichtigen Vorhaben sind mit bedeutenden Ausgaben verbunden. Der Bundeshaushaltsplan wird demgemäß auch von der Bundesregierung jedes Jahr erarbeitet, zumeist nach mühevollem Tauziehen zwischen den Finanzwünschen der verschiedenen Ressorts und dem Finanzminister vom Bundeskabinett verabschiedet und dann dem Bundestag zur eingehenden Beratung und Verabschiedung in Form des Haushaltsgesetzes vorgelegt

Damit wird deutlich, daß die Bundesregierung von vornherein auf die Zustimmung der parlamentarischen Mehrheit zu ihrem Programm notwendig angewiesen ist. Ein vom Bundestag abgelehnter Haushalt bedeutet für die Regierung, daß sie nur noch (gemäß Art. 111 GG) die laufenden Verwaltungsausgaben und Finanzverpflichtungen aufgrund bestehender Gesetze bestreiten darf, aber keine neuen Maßnahmen ergreifen kann, die Geld kosten. Somit ist sie praktisch gescheitert. Ein Kabinett, das wirklich politisch führen und gestalten will, muß also in der Lage sein, „mit Hilfe der Verwaltung und ihrer Mehrheit im Parlament ein Gesetzgebungsprogramm durchzubringen" sich in der BRD die Gesetzesinitiative mehr und mehr in die Bundesregierung verlagert hat (rund 90 % aller Gesetzesvorlagen entstehen in den Ministerien und in der Regel alle bedeutenden), so entspricht das nur der Forderung nach verantwortlicher Gesamtstaatsführung durch die Regierung im parlamentarischen System. Auch wenn die jüngere Richtung im Verfassungsrecht ein enges und dauerhaftes Zusammenwirken von Regierung und Parlamentsmehrheit, praktisch deren strukturelle „politische Aktionseinheit" (H. Ehmke) fordert, so ist das nur eine Konsequenz aus der Notwendigkeit umfassender Staatsleitung. c)

Das Amt der parlamentarischen Opposition In dem Maße, in dem die Regierung und ihre parlamentarische Mehrheit funktionsgemäß zusammenrücken, bildet sich die neue Frontstellung im parlamentarischen System aus.

Der Regierungsmehrheit aus Kabinett und Mehrheitsfraktion(en) tritt die Opposition gegenüber. Die politische Front verläuft also quer durch das Parlament selber. Das Parlament als Ganzes wird praktisch eine historische Reminiszenz, wenngleich das deutsche Verlassungsrecht überwiegend und auch die Konzeption des Grundgesetzes selber an der Vorstellung lesthalten, daß Bundestag und Bundesregierung zwei voneinander getrennt handelnde politische Einheiten seien (vgl. vorn II, 2 b).

Unter den neuen Bedingungen ist es aber folgerichtig, wenn die traditionellen Kontrollinstrumente des Gesamtparlaments über die Regierung — wie z. B. Kleine und Große Anfragen an die Regierung, Fragestunden, Mißtrauens-und Mißbilligungsanträge, Einsetzung von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen — heute nur noch von der Opposition als Waffen gegen die Regierung angewendet werden. Diese Konsequenz wird in der jüngeren Parlamentarismustheorie auch zunehmend anerkannt

Allerdings kennen das deutsche Verfassungsdenken und auch das Grundgesetz spezifische parlamentarische Rechte der Opposition bislang nicht. Vom Verfassungsrecht sollte deshalb gefordert werden, die Opposition stärker als bisher in das parlamentarische System zu institutionalisieren, damit sie ihre spezifischen Funktionen als erste öffentliche Kritikerin und personelle Alternative der Regierung wirksamer wahrnehmen kann. Dazu gehört die bessere finanzielle und protokollarische Amtsausstattung des Oppositionsführers (der schließlich der „Regierungschef von morgen" ist) ebenso wie Verfahrensregelungen im Par-* lamentsrecht, die das Gegeneinander von Regierung und Opposition im Parlament klarer herausheben

Andererseits kann und darf die Regierung durch die parlamentarische Opposition in ihrer Entscheidungsfreiheit grundsätzlich nicht beschränkt werden. Die überkommene Bezeichnung „parlamentarische Kontrolle" auf die Tätigkeit der Opposition anzuwenden, ist deshalb irreführend. Kritische Öffentlichkeit im Regierungssystem zu erzeugen und die Regierung zu zwingen, ihr Handeln öffentlich einsehbar zu machen und zu rechtfertigen, ist keine Kontrolle im herkömmlichen Sinne, da kein Recht und keine Möglichkeit zur Korrektur der Regierungspolitik gegeben ist.

In unserem politischen System kann nur kontrollieren, wer die Mehrheit hat.

Die angemessenere Bezeichnung für die parlamentarische Tätigkeit der Opposition scheint u. E.deshalb Kritik-oder Öffentlich-keitsfunktion zu sein. d) Die Staatsleitungskompetenz der Regierung ist in gewaltenteilenden Systemen nicht gewährleistet

Hinsichtlich der Regierung muß es nunmehr das Ziel der Verfassungstheorie sein, die Füh-rungskompetenz der Regierung gegenüber dem Parlament sicherzustellen. Sie muß in der Lage sein, sich auf eine disziplinierte Pariamentsmehrheit dauerhaft stützen zu können. Denn nur so lange eine Regierung ihrer parlamentarischen Gefolgschaft sicher sein kann, kann das parlamentarische Regierungssystem seine besonderen machtkonzentrierenden Vorzüge entfalten In dem Moment, in dem der Regierungschef keinen wesentlichen Einfluß auf den parlamentarischen Gesetzgebungsund Geldbewilligungsapparat mehr hat, ist seine Führungskompetenz im Regierungssystem von Grund auf in Frage gestellt.

Mit Recht stellt deshalb E. Fraenkel, ein intimer Kenner des amerikanischen Regierungssystems, fest, daß der mächtigere Regierungschef nicht in Washington, sondern in London sitzt

Das amerikanische Regierungssystem baut auf der strikt durchgeführten Gewaltenteilung zwischen dem Präsidenten und dem Kongreß auf, und der amerikanische Kongreß als Ganzes ist im Unterschied zum britischen Unterhaus keine Fiktion Auch das gewaltenbalancierende parlamentarische System beruht auf einem prinzipiellen, wenn auch gemäßigten Dualismus zwischen Parlament und Regierung.

Der kritische Punkt der Führungsschwäche, des politischen Immobilismus gewallenteilender bzw. -balancierender Regierungssysteme liegt also genau darin, daß die Regierung keine wirksamen Mittel hat, ihr Gesetzgebungsund Finanzprogramm im Parlament durchzusetzen.

Die entscheidende Voraussetzung für die so-eben definierte Führungsautorität der Regierung über das Parlament ist allerdings, daß die Regierung noch vor dem Parlament unmittelbar demokratisch legitimiert wird. Sie muß sich auf ein direktes Wählervotum stützen können.

Diese Aufgabe kann das bestehende personalisierte Verhältniswahlrecht grundsätzlich nicht leisten, da die Verhältniswahl die parlamentarische Regierung nicht erreicht, sondern seine Bildung allein in die Entscheidung der Parlamentsfraktionen stellt, wenn keine Partei die absolute Stimmenmehrheit im Parlament gewinnt. e) Zur Kritik veriassungsjuristischer Sicherungen parlamentarischer Regierungsweise (Art. 67, 68, 81 GG) — Das Wahlrecht als Schlüssel Einer parlamentarischen Regierung, die ihre positive Mehrheit im Parlament verloren hat, ist die Basis ihrer politischen Handlungsfähigkeit entzogen. Sie wird quasi in einen luft-leeren Raum versetzt, in dem sie zu weitgehender politischer Unwirksamkeit verurteilt ist Zwar ist es möglich, mittels verfassungsjuristischer Konstruktionen die Regierung auch gegen ein widerstrebendes Parlament im Amt zu halten, sie gelangt dann jedoch politisch über den Status einer blutarmen, „rein geschäftsführenden Regierung ohne politische'Existenzgrundlage" nicht*hinaus Sie kann also nurmehr die Verwaltung leiten, aber keine politischen Konzepte? mehr realisieren.

Die vielgepriesenen regierungsstabilisierenden Institute des Grundgesetzes insbesondere der Art. 67 und der Art. 68 GG, sind demzufolge in ihrem politischen Effekt sehr fragwürdig. Der Art. 67 GG fordert das Intrigen-spiel hinter dem Rücken einer noch amtierenden Bundesregierung geradezu heraus. Da der alte Bundeskanzler nur gestürzt werden kann, wenn zugleich ein neuer gewählt wird, muß der neue Kanzlerkandidat ja bereits vor der Aussprache des Mißtrauens im Bundestag insgeheim gekürt worden sein und zwar zwangs-läufig unter Mithilfe von ehemaligen Mitgliedern der alten Regierungsmehrheit. Vor allem aber wird durch den Art. 67 GG möglicherweise fortdauernd eine Regierung im Amt gehalten, die ihre parlamentarische Mehrheit zwar verloren hat, aber nicht bereit ist, die verfassungsmäßigen Konsequenzen zu ziehen, nämlich entweder die Vertrauensfrage im Parlament und den Auflösungsantrag beim Bundespräsidenten nach Art. 68 GG zu stellen oder zurückzutreten. Somit wird eine Regierung in der Agonie verfassungsrechtlich stabilisiert, die politisch nicht mehr leben kann, aber noch nicht sterben will Die stabilisierende Wirkung des Art. 67 GG ist also nur formaler Art. Tatsächlich besteht eine politische Führungskrise, es herrscht praktisch ein „Regierungsnotstand" (O. Koellreutter).

Der Art. 68 GG gewährt allein dem Bundeskanzler die Möglichkeit, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen ausschreiben zu lassen, wenn zuvor sein Antrag, der Bundestag möge ihm sein Vertrauen aussprechen — also praktisch die Überprüfung seiner parlamentarischen Gefolgschaft — keine absolute Mehrheit im Parlament erbringt. Nachdem der Auflösungsantrag des Bundeskanzlers beim Bundespräsidenten gestellt ist, kann der Bundespräsident den Bundestag binnen Tagen auflösen, wenn der Bundestag nicht zuvor mit absoluter Mehrheit einen neuen Bundeskanzler wählt.

Der Sinn des Art. 68 ist also ebenso wie der des Art. 67, den Bundestag zur Mehrheitsbildung zu zwingen entweder 1) durch Zustimmung zur Vertrauensfrage oder 2) durch die Wahl eines neuen Bundeskanzlers oder 3) durch Neuwahlen.

Die Anwendung des Art. 68 GG setzt allerdings die Entscheidung des Bundeskanzlers voraus; dieser muß 1) den Mut haben, die Vertrauensfrage zu stellen und 2) den Mut haben, den Auflösungsantrag zwecks Neuwahlen zu stellen.

Wenn dem Bundeskanzler seine parlamentarische Mehrheit schwindet und er zugleich — wie Willy Brandt seit dem 27. April 1972 — fürchten muß, daß bei der Anwendung des Art. 68 GG eine neue Mehrheit unter einem Bundeskanzler Barzel sich bilden könnte und er diese verhindern will, dann wird er den Art. 68 GG nicht anwenden. Damit entfallen also die Möglichkeiten, entweder durch Neuwahlen oder durch die Bildung einer anderen Parlamentsmehrheit den Weg für eine stabile Regierung frei zu machen.

Auch der Art. 81 GG weist keinen Ausweg aus diesem Dilemma. Er erlaubt einer Minderheitsregierung nach Ablehnung der Vertrauensfrage und bei anschließender Nichtauflösung des Bundestages 6 Monate lang Gesetzentwürfe der Bundesregierung nur vom Bundesrat verabschieden zu lassen, wenn im Bundestag dafür keine Mehrheit vorhanden ist. Abgesehen davon, daß im Bundesrat — wie zur Zeit — die Opposition die Mehrheit haben kann, bringt die sechsmonatige Verlängerung der Krise kaum Vorteile. Im Gegenteil, vielleicht verschärft der Art. 81 die Regierungskrise sogar, indem die Verbitterung wächst und die politischen Fronten weiter verhärtet werden 21).

Politische Stabilität und Funktionsfähigkeit einer parlamentarischen Regierung sind also nur durch verfassungsjuristische Regelungen nicht zu erzielen Parlamentarische Regie-rungsweise beruht vielmehr grundlegend auf der Fähigkeit einer Regierung, sich ihre parlamentarische Mehrheit zu erhalten. Daher müssen die Verfassungsinstitute des konstruktiven Mißtrauensvotums und der Minderheitsregierung das Wesen des parlamentarischen Systems verfehlen

Dagegen wäre erstens ein uneingeschränktes, eindeutiges Auflösungsrecht für die Regierung systemkonform, wenn sie ihre Gefolgschaft verloren hat. Bereits die Existenz dieser Waffe in der Hand des Regierungschefs könnte eine schwindende Mehrheit disziplinieren, im übrigen würde die Auflösung zu Neuwahlen führen, durch die eine neue stabile Regierungsmehrheit möglich werden kann.

Verhältniswahlen vermögen allerdings die notwendige Mehrheitsbildung grundsätzlich nicht zu erzielen. DieVoraussetzung dafür, daß die Regierung ihren Führungsauftrag durch Parlamentsauflösung an die demokratische Wählerschaft zurückgeben kann, ist daher ein Wahlrecht, durch das der Regierungschef zuvor — zusammen mit seiner Parteimehrheit — unmittelbar zur Regierung berufen worden ist.

In der Frage des Wahlrechtes liegt schließlich der Schlüssel zu einem handlungsmächtigen parlamentarischen Regierungssystem

Das Grundgesetz hat dagegen zu verfassungsjuristischen Mitteln gegriffen, um ein angeblich „verbessertes" parlamentarisches System (so Dr. Lehr, der erste Bundesinnenminister, im Parlamentarischen Rat) zu konstituieren. Der Grund dafür liegt wohl vornehmlich darin, daß die Verfassungsväter — die überwiegend Juristen waren — zumeist mehr oder weniger stillschweigend vom „reinen" Parlamentarismusmodell ausgegangen sind. Sie hatten zudem den Verfall der parlamentarischen Regierung in der Weimarer Republik alle selbst miterlebt. Aus dieser Sicht mußten sie bemüht sein, die parlamentarische Regierung gegen die desintegrierenden Wirkungen der Verhältniswahl (dessen Einrichtung sich bereits im Parlamentarischen Rat abzeichnete) und das zu erwartende Vielparteienparlament abzuschirmen. Aus der Perspektive der Verfassungsväter bestand die Wahl folglich nur zwischen einem reinen parlamentarischen System, in dem die Regierung den herrschenden Parlamentsfraktionen schutzlos ausgeliefert wäre oder einem eingeschränkten, gewalten-balancierenden System, in dem Parlament und Regierung relativ unabhängig voneinander existieren konnten — allerdings um den Preis wirklicher Führungsfähigkeit. Die dritte Möglichkeit, ein streng gewaltenteilendes Präsidialsystem nach amerikanischem Vorbild zu schaffen, wurde vom Parlamentarischen Rat abgelehnt.

Das Ergebnis unserer Analyse ist also, daß die Versuche des Grundgesetzes, die Regierungsfähigkeit im parlamentarischen System mit verfassungsjuristischen Mitteln zu lösen, alles in allem untauglich sind.

In diesem Versuch äußert sich schließlich in aller Deutlichkeit das ganze Dilemma eines verfehlten Parlamentarismusansatzes, der das idealtypische parlamentarische Regierungssystem stufenweise — über die Volksvertretung — aus dem Volkssouveränitätsprinzip ableitet. 2. Das demokratische Prinzip politischer Verantwortungsklarheit a) Parlamentarische Verantwortlichkeit im Verfassungsdenken Der für das politische Leben eines freiheitlichen Staates fundamentale Zusammenhang zwischen öffentlichem Handeln und verantwortlichem Einstehen dafür verbietet es von vornherein, ein politisches System primär unter plebiszitären Willensbildungsprozessen begreifen zu können, wie die plebiszitär-demokratische Schule meint.

Einmal kann die angebliche Selbstregierung des Volkes — wie wir vorn gesehen haben — nur eine Fiktion sein, da es den Volkswillen in der Realität nicht gibt. Darüber hinaus verhindert die plebiszitäre Parlamentarismustheorie die politische Rechenschaftspflicht der tatsächlich Herrschenden a priori, da diese in der Theorie angeblich nur den „Willen des Volkes" vollziehen. Demokratische Verantwortlichkeit beruht auf einer direkten Beziehung zwischen den berufenen (gewählten) Entscheidungsträgern und der auftragggebenden (wählenden) Gesamtbürgerschaft Dieses politische Prinzip ist auch in der repräsentativen und gewaltenbalancierenden Parlamentarismustheorie weithin unausgebildet geblieben. Soweit von politischer Verantwortung in der deutschen Parlamentarismustheorie überhaupt die Rede ist, erstreckt sie sich durchweg nur auf die Pflichten der Regierung gegenüber der Volksvertretung Immer geht es nur um die sogenannte parlamentarische Verantwortlichkeit, nach der die Regierung im parlamentarischen System dem Parlament für ihre Politik rechenschaftspflichtig ist, von dessen Vertrauen sie mehr oder weniger abhängig sein soll

Von der politischen Verantwortung der Regierung gegenüber der Gesamtbürgerschait weiß dagegen die deutsche Parlamentarismus-theorie kaum etwas.

Das liegt auch in der Logik der aus der Volks-souveränität stufenweise abgeleiteten Theorie: Auf Grund der Projizierung des Volkswillens in das Parlament fiel die Verantwortung der Regierung gegenüber dem Volk von vornherein aus der verfassungstheoretischen Betrachtung heraus. b) Keine Verantwortlichkeit durch Klarheit des Funktionenbaus Die herrschende Verfassungstheorie rückt die drei klassischen Staatsfunktionen (Legislative, Exekutive, Judikative) und die Kompetenzen dieser drei „Gewalten" in den Vordergrund und sie verwendet viel Mühe darauf, Parlament und Regierung einander zuzuordnen und sie gegeneinander abzugrenzen. Als einer der ersten deutschen Nachkriegskritiker des überkommenen Gewaltenteilungsschemas hebt Otto Küster das Prinzip der Verantwortungsklarheit im demokratischen Staat hervor

Aber er glaubt Verantwortungsklarheit bereits dann verwirklicht, wenn „Klarheit des Funktionenbaus und des Funktionenspiels 1'im parlamentarischen System besteht Die Reichweiten und Grenzen der Kompetenzen von Parlament und Regierung und die wechselseitigen Einwirkungsmöglichkeiten zwischen beiden Organen sollen also klargelegt werden.

Ähnlich fordert auch Konrad Hesse, Verantwortungsklarheit dadurch zu schaffen, daß die Aufgliederungen und Zuordnungen der Funktionen von Parlament und Regierung „einsehbar und durchsichtig" gemacht werden

Durch diese Forderungen kann aber u. E. keine demokratische Verantwortungsklarheit geschaffen werden, weil die notwendige Voraussetzung dafür, eine selbständige, eindeutig zugewiesene Entscheidungskompetenz nicht konstituiert wird.

Soweit nämlich die jüngere Verfassungstheorie den „Bereich der Regierung", die Gesamtstaatsführung, dem Parlament, seinen Ausschüssen und dem Kabinett zur gemeinsamen, zusammenwirkenden Handhabungen anvertrauen können sie der Forderung nach „responsible government", nach der öffentlichen Verantwortlichkeit der politischen Entscheidungsträger also, nicht gerecht werden. Die heute schon zum Teil praktizierte materielle Mitregierung von Bundestagsausschüssen, insbesondere des Haushaltsausschusses und des Verteidigungsausschusses, die nach Ansicht mancher Verfassungsjuristen dem parlamentarischen System des GG vollauf entspricht schwächt nicht nur die Entscheidungskraft der Regierung, sie ist auch gemessen an dem Anspruch öffentlicher Verantwortlichkeit sehr bedenklich.

Denn gerade durch den Ausbau verschiedener parlamentarischer Mitregierungsinstanzen wird die Lokalisierung der eigentlich Entscheidenden eher erschwert als erleichtert

Die Folge ist, daß unter vielfältigen Mitwirkungsbedingungen niemand mehr konkret für eine Regierungsentscheidung öffentlich zur Rechenschaft gezogen werden kann, die Verantwortungsklarheit also verwischt und die politische Macht damit noch anonymer wird. c) Handlungskompetenz und Rechenschaftspflicht. Im politischen Bewußtsein der Bürger gelten die modernen Regierungen auch entgegen ihrer verfassungsmäßigen Standortbestimmung als die verantwortlichen Staatsleitungsgremien. Dieser Rolle können sie sich in der Öffentlichkeit nicht entziehen; dieser Rolle können unter den heutigen Anforderungen auch nur sie überhaupt gerecht werden (vgl. III, 1). Große Repräsentativversammlungen können naturgemäß nicht regieren, sie sind auch praktisch nicht von der Gesamtbürgerschaft zur Verantwortung zu ziehen (vgl. vorn I, 3 d). Sowohl im umfassenden Sinn regierungsfähig als auch klar rechenschaftspflichtig kann nur ein kleines Gremium, ein Kabinett und ein Regierungschef sein. Diese Einsicht sucht man im deutschen Verfassungsdenken weithin vergeblich.

Unsere Untersuchung hat ergeben, daß die deutsche Parlamentarismustheorie eine Diskrepanz zwischen den führungspolitischen An-forderungen an eine moderne Regierung einerseits und ihren verfassungsrechtlichen Kompetenzabgrenzungen andererseits geschaffen hat. Sie hinkt damit hinter der politischen Entwicklung her. Dieser Vorwurf gilt sowohl in bezug auf die Führungseffizienz wie auch die demokratische Verantwortlichkeit der Regierung im parlamentarischen System.

Beiden Forderungen vermag eine parlamentarische Regierung erst dann besser gerecht zu werden, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind:

1) das Parlament darf im parlamentarischen System nicht mehr den Anspruch monopolisieren, daß souveräne Volk zu repräsentieren.

2) Die Regierung braucht einen unmittelbaren und umfassenden Führungsauftrag der Gesamtbürgerschaft, damit sie voll verantwortlich für die Staatsleitung gemacht werden kann 3. Schlußfolgerung: Verantwortlichkeit und „Gewaltenteilung in der Zeit"

Ohne die Erblast der überkommenen Theorie stellt sich die Forderung nach der notwendigen Begrenzung politischer Macht in einem freiheitlichen Staat erneut, aber nun konkreter. Die von uns als ebenso notwendig erachtete Führungskompetenz und Handlungsverantwortlichkeit der Regierung muß auch tatsächlich von der Gesamtbürgerschaft kontrollierbar, d. h. einforderbar sein. Die Bürger müssen das Regierungsmandat selber direkt erteilen und sie müssen ihren Auftrag in angemessener Frist unmittelbar zurückziehen oder neu erteilen können.

Das geschieht durch die zeitliche Begrenzung der politischen Herrschaftsämter, deren Aberkennung bzw. erneute Übertragung auf Zeit Aufgabe der politischen Wahlen ist Diesem demokratischen Prinzip wird im parlamentarischen System das relative Mehrheitswahlrecht am ehesten gerecht.

So mag man also den materiell-politischen Gehalt des Gewaltenbeschränkungsgedankens im demokratischen Staat geradezu in der Periodizität des Regierungsmandates sehen^ Die spezifische Funktion der relativen Mehrheitswahl scheint demnach u. E. gar nicht mehr zu sein, nur eine klare Einparteimehrheit zu erbringen. Auf diesen — sicherlich erheblichen — Vorzug beschränken sich allerdings zumeist die Ausführungen in der verfassungsrechtlichen Literatur Unsere Überlegungen haben dagegen ergeben, daß im Vordergrund ihrer Effekte schließlich der unmittelbare verantwortliche Regierungsauftrag für einen Parteiführer stehen muß Somit kann das Regierungsverständnis in Deutschland endlich an die Funktionsbedingungen des britischen parlamentarischen Systems anknüpfen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Th. Maunz-G. Dürig, Grundgesetz-Kommentar, München 1969, Erläuterung zu Art. 62 GG, Randnummer 8; stellvertretend für fast das ge-

  2. Vgl. im Sinne des „Cabinet-Government" und der Kabinettssolidarität aIs Führungsbedingung: W. Bagehot, The English Constitution (1867) ed. R H. S. Crossman, London 19665, I. Jennings, Cabi-net Government, Cambridge 19613, insbes. Seite 173 bis 289; H. Morrison, Government and Parliament, London 19622. Seit dem Ersten Weltkrieg scheint die politische Führungspotenz im britischen Regierungssystem immer stärker dem Prime Minister und seinem Amt zuzuwachsen, während das Kabinett zurücktritt. Diese Entwicklung weist nach:

  3. Vgl. statt vieler B. Crick, The Reform of Parliament, London 19692, insbes. S. 1— 43.

  4. Entscheidend ist hier der Art. 68 (Vertrauensvotum) GG: „(1) Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen 21 Tagen den Bundestag auflösen. Das Recht zur Auflösung erlischt, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt. (2) Zwischen dem Anträge und der Abstimmung müssen 48 Stunden liegen.“

  5. So K. Löwenstein, Verfassungslehre, Tübingen 1959, S. 82.

  6. Vgl. statt vieler Th. Maunz-G. Dürig, a. a. O.; K. Löwenstein, a. a. O., S. 69 ff., der die Skala noch bis zur britischen Kabinettsherrschaft über das Parlament erweitert.

  7. Grundlegend beeinflußt wurde sie durch R. Redslobs Theorie vom „echten Parlamentarismus", vgl.derselbe, Die parlamentarische Regierung in ihrer wahren und in ihrer unechten Form, Tübingen 1918,

  8. So z. B. F. Kafka, Stichwort: „Parlament", in: Staatslexikon, herausgegeben von der Görres-Ge-Seilschaft, Freiburg 1961«, Bd. 6, S. 174.

  9. Statt vieler vgl. G. Jellinek, Ausgewählte Schriften und Reden, Bd. 2, Berlin 1911, S. 287; E. Fraenkel, Historische Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus, in: ders , Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964, S. 20; K. v. Beyme, Repräsentatives und parlamentarisches Regierungssystem, in: PVS 6 (1965), S. 151.

  10. Vgl. F. Fleiner, Die Staatsauffassung der Franzosen, in: ders., Ausgewählte Schriften und Reden, Zürich 1941, S. 130: „Mag man auch in der Volksvertretung juristisch ein von den Wählern unabhängiges Staatsorgan erblicken, politisch hat sich in Frankreich die Vorstellung nie ausrotten lassen, daß das Volk in den von seinen Vertretern beschlossenen Gesetzen und in der von der Volksvertretung abhängigen Regierung schließlich nur seinem eigenen Willen gehorcht"; auch G. Dahm, Deutsches Recht, Stuttgart u. Köln 1951, S. 220, stellt fest: „Der Parlamentswille gilt als Wille des Volkes." Vgl. ferner K. Rieker, Die rechtliche Natur der Volksvertretung, Leipzig 1883, S. 53 f.; G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Darmstadt 19603, S. 617; Fr. A. v. d. Heydte, a. a. O., S. 326; K. Löwenstein, a. a. O., S. 77.

  11. Zu den Begriffsnachweisen in der französischen Theorie siehe K. v. Beyme, a. a. O., S. 152 ff.; vgl. im übrigen Fr. A. v. d. Heydte, Parlamentarismus in Deutschland und in Frankreich, in: Festschrift für H. Nawiasky, hrsg. v. Th. Maunz, München 1956, S. 325 f.; K. Löwenstein, Verfassungslehre, a. a. O., S. 77 f.; F. Goguel, Geschichte und Gegenwartsproblematik des französischen Parlamentarismus, in: K. Kluxen (Hrsg.), Parlamentarismus, Köln, Berlin 1967, S. 163 ff.

  12. Das beklagt schon R. Redslob, a. a. O., S. 118 u. 178 f.

  13. Th. Maunz-G. Dürig, Grundgesetz-Kommentar, a. a. O., Erl. zu Art. 62, Rd. Nr. 5.

  14. O. Koellreutter, a. a. O., S. 2.

  15. Vgl. E. Forsthoff, Strukturwandlungen der modernen Demokratie, Berlin 1964, S. 15, im Zusammenhang mit S. 20 u. 22 (I), wo er die Stärkung der Regierung im modernen Verwaltungsstaat als „Minusposten der demokratischen Bilanz" bezeichnet.

  16. Fr. Glum, Das parlamentarische Regierungssystem in Deutschland, Großbritannien und Frank

  17. H. Nawiasky, Die Stellung der Regierung i® modernen Staat, Tübingen 1925, S. 7 f. und derselbe, Die Grundgedanken des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart und Köln 1950, S. 78. Der mediatisierte Identitätsgedanke äußert sich auch bei Ekkehart Stein, wenn er schreibt, die Regierung habe als „Exekutivausschuß" der Volksvertretung die „Volksherrschaft stellvertretend für das selbst nicht handlungsfähige Volk" zu verwirklichen. (E. Stein, Lehrbuch des Staatsrechts, Tübingen 1968, S. 76 t).

  18. Th. Maunz, in: Th. Maunz-G. Dürig, a. a. O., Erl. zu Art. 62, Rd. Nr. 5; ebenso E. u. G. Küchen-hoff, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 19645, S. 129 f. und F. Münch, Die Bundesregierung, Frankfurt a. M. 1954, S. 172.

  19. Vgl. H. Nawiasky, Die Grundgedanken der Reichsverfassung, München und Leipzig 1920, S. 67; Fr. Giese, Grundriß des neuen Reichsstaatsrechts, Bonn 1921, S. 18 und ders., Staatsrecht, Wiesbaden 1956, S. 24; ferner O. Koellreutter, Das parlamentarische System .... a. a. O., S. 2 f.; E. Schunck-H.de Clerck, Allgemeines Staatsrecht und Staats-recht des Bundes und der Länder, Siegburg 1964, S. 47: „Oberstes und wichtigstes Staatsorgan ist die Volksvertretung". Ferner: R. Herzog, Stichwort: „Parlamentarisches System", in: Evangelisches Staatslexikon, hrsg. v. H. Kunst, P. Grund-mann, Stuttgart-Berlin 1966, S. 1481: Dort heißt es, das Parlament solle das vorherrschende Machtzentrum des parlamentarischen Systems sein; ebenso G. Dahm, Deutsches Recht, Stuttgart und Köln 1951, S. 219 f.; auch H. Ridder, Rezension zu 0. Bachof, Wehrpflichtgesetz und Rechtsschutz, in: DOV 1957, S. 511, tritt für das demokratische . Heranwachsen des Parlaments zum Führungsor-gan" ein; ebenso W. Abendroth, Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in: Festschrift für L. Bergstraesser, Bonn 1954, S. 282.

  20. So postuliert z. B. Fr. Glum, Die staatsrechtliche Struktur der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1965, S. 142: „... alle Gewalt soll in der Volksvertretung ruhen und die Regierung nur von dieser abhängig sein ...".

  21. Vgl. O. Koellreutter, a. a. O., S. 3; F. Münch, a. a. O., S. 97 f.; u.ders., Stichwort: „Regierung", in: Fischer-Lexikon, Staat und Politik, hrsg. v. K. D. Bracher u. E. Fraenkel, Frankfurt a. M. 1957, S. 292, für den „strengen Parlamentarismus"! E. Forsthoff, a. a. O., (Anmerkung 15); R. Herzog, a. a. O., S. 1480, wo es heißt, die Regierung solle nach dem „streng genommenen" parlamentanschen Prinzip in „Bestand und Tätigkeit" vom Parlamentswillen abhängen. Genauso Th. Maunz-G. Dürig, a. a. O., Erl. zu Art. 62, Rd. Nr. 5; ferner: A. Hamann, Das Grundgesetz, Neuwied u. Berlin 19612, S. 319. Dort wird festgestellt, daß im „rein parlamentarischen Regierungssystem" der „Grundsatz der absoluten Abhängigkeit der Regierung von der Volksvertretung" gelte.

  22. Bis heute gültig G. Anschütz, a. a. O., S. 22; ebenso E. Kaufmann, Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung (1917), in: ders., Autorität und Freiheit, Göttingen 1960, S. 196: Die parlamentarische Regierung erscheint als „nichts als ein Ausschuß der gesetzgebenden Körperschaft“. Vgl. auch Fr. Glum, a. a. O., S. 151: „Parlamentarisches Regierungssystem bedeutet bekanntlich, daß die Regierung gewissermaßen ein Ausschuß des Parlaments . . . bei ihrem Entstehen und in ihrem weiteren Wirken von seiner Mehrheit abhängig . . .sein soll.

  23. So W. Abendroth, a. a. O., S. 299. Das sagt negativ auch A. Schüle, Oberbefehl, Personalausschuß, Staatsnotstand, in: JZ (1955), wenn er die rel. Unabhängigkeit der Reg. vom Parlament durch das konstruktive Mißtrauensvotum als „Denaturierung" des parlamentarischen Systems bezeichnet. Ebenso H. Peters, Gewaltenteilung in moderner Sicht, Köln und Opladen 1954, S. 11 L: Im „konsequent" parlamentarischen System habe die Regierung, als „ständig abhängiger Exekutivausschuß" der Volksvertretung, dem „Willen des Parlaments" zu folgen.

  24. Das betont E. Stein, Lehrbuch des Staatsrechts, a. a. O., S. 27 u. 76— 80: Die Regierung habe als „Exponent des Parlaments" ihre „zentrale Aufgabe" darin zu sehen, die Verwaltung zu führen, sie dürfe sich nicht als „Exponent der Verwaltung“ gegenüber dem Parlament verstehen.

  25. W. Weber, Stichwort: „Gewaltenteilung", in:

  26. Fr. Giese, Deutsches Staatsrecht, Berlin-Wien 1930, S. 23; ebenso ders., Parlament und Regierung, in: DOV 1957, S. 638; und ders., Staatsrecht, a. a. O., S. 241, in völliger Verkennung der Funktionsweise des britischen Systems, die durch den spezifisch kontinentaleuropäischen Denkansatz bedingt ist.

  27. So ausdrücklich H. Ridder, Rezension zu E. Fraenkel, Die repräsentative und plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, in: NJW, Heft 5 (1959), S. 186.

  28. So interpretiert H. Ridder (a. a. O.) das Prinzip der Volkssouveränität in Art. 20 GG als ein „zwingendes Rechtsgebot".

  29. H. Ridder, Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften im Sozialstaat nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1960, S. 21; i. d. S. auch G. Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, Karlsruhe 1958, S. 59.

  30. W. Abendroth, Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie in der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 1965, S. 73 ff.

  31. E. u. G. Küchenhoff, a. a. O., S. 122. 1 d

  32. So G. Leibholz, a. a. O., S. 55 ff.; E. u. G. Küchenhoff, a. a. O„ S. 115 ff.; W. Abendroth, Das Grundgesetz, Pfullingen 1966, S. 82 ff.; ferner: R Laun, Mehrheitsprinzip, Fraktionszwang und Zwei-

  33. Vgl. W. Abendroth, a. a. O., S. 77 ff.; H. Ridder, Stichwort: „Staat", in: Staatslexikon, Bd. 7, a. a. O., S. 546 ff., ferner: E. Stein (ein Schüler Ridders) aa 0; insbes. S. 71 ff.: „Die Rückkopplungsfunktion*; E. u. G. Küchenhoff, a. a. O., S. 129 f.

  34. So fordert es G. Leibholz u. a. in: Verfassungs-recht und politische Wirklichkeit, in: K. Kluxen (Hrsg.), Parlamentarismus, a. a. O., S. 352.

  35. Vgl. U. Scheuner, Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, in: Festschrift für G. Müller, hrsg. von Th. Ritterspach und W. Geiger, Tübingen 1970, S. 380.

  36. Erhellend für die tendenziell tyrannischen Konsequenzen scheinen folgende Ausführungen W. Abendroths, Die Funktion der Gewerkschaften in der westdeutschen Demokratie, in: H. Sultan, W. Abendroth, Bürokratischer Verwaltungsstaat und Soziale Demokratie, Hannover und Frankfurt a. M. 1955, S. 59: „Das demokratische Prinzip muß . . . dahin drängen, die volonte generale, das Gesamtinteresse der Allgemeinheit zu finden und gegen widerstrebende Teilinteressen zu verwirklichen."

  37. Ebenso U. Scheuner, a. a. O., insbes. S. 391.

  38. Vgl. U. Scheuner, Verantwortung und Kontrolle .... a. a. O., S. 384 f.: Dort werden die zwei notwendigen Voraussetzungen herausgestellt, unter denen echte Verantwortlichkeit allein bestehen kann: Einerseits eine „selbständige Handlungsbefugnis", andererseits der „Gegenüber', der Rechenschaft einfordern kann. Grundlegend für ein angemessenes Regierungsverständnis ist der Aufsatz von W. Hennis, Amtsgedanke und Demo kratiebegriff, in: ders., Politik als praktische Wissenschaft, München 1968.

  39. Vgl. stellvertretend für die herrschende Lehre Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht, München und Berlin 196615, S. 304 u. 322 f.; H. Nawiasky, Die Grundgedanken des GG .... a. a. O„ S. 80.

  40. So schon M. v. Seydel, Staatsrechtliche und poü tische Abhandlungen, Bd. 1, Freiburg u. Leipzig 1893, S. 123 ff., wo es heißt, die souveräne Herr-

  41. Das betonen auch E. Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 16 (1958), S. 34 u. H. Krüger, Stichwort: „ParlamenRegierungsentscheidungen

  42. Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, a. a. O., insbesondere S. 315— 319 sowie ders., Die geistes-geschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, München 1926’.

  43. Ein Beispiel für die Rezeption der Schmittschen Parlamentarismusideologie scheint R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, München 1969, zu sein. S. 147 stellt er fest, daß ein „wesentliches Moment" des „klassischen Parlamentarismus" in der Verfassungspraxis leider „verkümmert“, da die „Öffentlichkeit des Raisonnements" entfallen sei.

  44. Vgl. statt vieler Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht, a. a. O., S. 318 u. E. Schunck-H.de Clerck, Allgemeines Staatsrecht und Staatsrecht des Bundes und der Länder, Siegburg 1964, S. 69.

  45. Die prinzipielle Unvereinbarkeit der Prinzipisn der Volkssouveränität und der politischen Reprä sentation stellt dar, S. Landshut, Der politische Be griff der Repräsentation, in: ders., Kritik der So ziologie und andere Schriften zur Politik, Neuwied Berlin 1969; ebenso N. Gehrig, Parlament Regie rung—Opposition, München 1969, S. 85 ff.

  46. H. Nawiasky, Die Grundgedanken des GG ..., ä a-O., S. 99.

  47. So G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, a. a. O., S. 113 ff.; H. Preuss, Staat, Recht und Freiheit, Tübingen 1926, S. 388, 418; W. Abendroth, a. a. O., S. 94. Kritisch bestätigten das H. Nawiasky, a. a. O., S. 11; u. Fr. Giese, Staatsrecht, Wiesbaden 1956, S. 24 f.

  48. Vgl. Th. Maunz-G. Dürig, a. a. O., Erl. zu Art. 62, Rd. Nr. 9; ebenso F. Münch, a. a. O., S. 172: „Folgerecht wäre es, jede Mißtrauenskundgebung, ja, jeden Mangel an Mitarbeit im Parlament zum Anlaß des Rücktritts zu nehmen." Ferner: R. Herzog, a. a. O., S. 1480; W. Meder, in: Bonner Kommentar, Erl. zu Art. 67, Abschnitt II; E. u. G. Küchenhoff, a. a. O., S. 158 u. 186.

  49. Art. 67 GG (Mißtrauensvotum) lautet: „(1) Der Bundestag kann dem Bundeskanzler das Mißtrauen nur dadurch aussprechen, daß er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt und den Bundespräsidenten ersucht, den Bundeskanzler zu entlassen. Der Bundespräsident muß dem Ersuchen entsprechen und den Gewählten ernennen. (2) Zwischen dem Antrag und der Wahl müssen achtundvierzig Stunden liegen."

  50. Vgl. H. v. Mangoldt, Das Verhältnis von Parlament und Regierung, in: E. Wolff (Hrsg.), Beiträge zum öffentlichen Recht, Berlin und Tübingen 1950, S. 49— 54; A. Hamann, a. a. O., S. 313; H. Peters, Die Verfassungslage seit 1945, in: Recht— Staat—Wirtschaft, Bd. II, hrsg. v. H. Wandersieb, Stuttgart u. Köln 1950, S. 110; H. Nawiasky, Die Grundgedanken des GG ..., a. a. O., S. 102; Th. Maunz-G. Dürig, a. a. O., Erl. zu Art. 62, Rd. Nr. 10 und 16; H. v. Rosen-v. Hoewel, a. a. O., S. 22.

  51. A. Schüle, a. a. O., S. 466, kritisiert: „Das parlamentarische System ist bei uns durch das sog. konstruktive Mißtrauensvotum derart denaturiert, daß die Bundesregierung beinahe als auf die Legislaturperiode ... fest berufen angesehen werden muß". O. Koellreutter, Deutsches Staatsrecht, a. a. O., S. 168, hält es für „fraglich", ob angesichts dieser und anderer Einschränkungen überhaupt noch von einem parlamentarischen System gesprochen werden darf. Noch schärfer polemisiert W. Abendroth, Das Grundgesetz, a. a. O., S. 96 f., gegen die „quasi-diktatorische" Entartung des parlamentarischen Systems in der BRD durch die oligarchische Verselbständigung des Bundeskanzlers.

  52. Art. 64 (Ernennung der Bundesminister) bestimmt: „(1) Die Bundesminister werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen. (2) Der Bundeskanzler und die Bundesminister leisten bei der Amtsübernahme vor dem Bundestage den in Art. 56 vorgesehenen Eid."

  53. Vgl. E. Forsthoff, Strukturwandlungen der modernen Demokratie, Berlin 1964, S. 22; K. Klein-rahm, Gesetzgebungshilfsdienst für deutsche Par. lamente? in: AÖR 79 (1953/54), S. 139 ff. Audi K. Löwenstein, Verfassungslehre, a. a. O., S. 93, bezeichnet das parlamentarische System der BRD als „demo-autoritär", da es die Regierung verfassungsinstitutionell verselbständige.

  54. H. Ridder, Rezension zu O. Bachof, a. a 0: S. 511; und ders., Die veruntreute Freiheit, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (1960), S. 225.

  55. So lehnt z. B. N. Gehrig, Parlament—Regierung—Opposition, a. a. O., S. 92, ein Auflösungsrecht der Regierung ab, da so das parlamentarische System seine „spezifische Bedeutung" verliere. 0. Koellreutter, Das parlamentarische System in den deutschen Landesverfassungen, a. a. O., S. 8, betont: „Das Geschöpf", die Regierung, habe im reinen parlamentarischen System keine Möglichkeit, gegen seinen „Schöpfer", das Parlament, zu rebellieren.

  56. Vgl. statt vieler Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht, a. a. O„ S. 304; u. W. Abendroth, Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechts-staats im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, a. a. O., S. 282.

  57. Schon G. Jellinek, Ausgewählte Schriften und Reden, a. a. O., S. 222 ff., weist auf die fragwürdige „rationale" Ableitung des Proportionalwahlrechts aus der Volkssouveränitätsdoktrin hin, das zur politischen Atomisierung statt zur Willensvereinheitlichung führe. Vgl. auch grundlegend F. A. Hermens, Demokratie oder Anarchie, Frankfurt a. M. 1951.

  58. Vgl. statt vieler den Bericht des vom Bundesminister des Innern eihgesetzten Beirats für Fragen der Wahlrechtsreform: Zur Neugestaltung des Bundestagswahlrechts, Bonn 1968, insbes. S. 15 ff.

  59. Die präsidentiellen Elemente der WRV können in diesem Zusammenhang unberücksichtig bleiben.

  60. Ebenso R. Thoma, Rezension zu W. Hasbach, Die parlamentarische Kabinettsregierung, Stuttgart und Berlin 1919, in: AÖR (NF) 1 (1921), S. 236; U. Scheuner, über die verschiedenen Gestaltungen des parlamentarischen Regierungssystems, a. a. O., S. 366 und 373; H. Peters, Die Verfassungslage seit 1945, a. a. O., S. 110; O. Koellreutter, Deutsches Staatsrecht, a. a. O., S. 164 und 173 f. Auch der Vater der Weimarer Verfassung, Hugo Preuss, a. a. O., beklagte die Parteienzersplitterung in Deutschland: „Daher ist denn auch nach jeder Neuwahl die Bildung einer tragfähigen Regierungsmehrheit schwieriger als vorher" (S. 444). Zugleich tritt er für das demokratisch „gerechtere" Verhältniswahlrecht ein (vgl. S. 391). Der prinzipielle Widerspruch zwischen stabilen Regierungsmehrheiten und den desintegrierenden Wirkungen der Verhältniswahl wird ihm an keiner Stelle bewußt.

  61. Art. 54 WRV lautet: „Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung das Vertrauen des Reichstages. Jeder von ihnen muß zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht."

  62. E. Kaufmann, Die Regierungsbildung in Preußen und im Reich und die Rolle der Parteien (1921), in: ders., Autorität und Freiheit, Göttingen 1960, S. 378.

  63. Das beklagt auch E. Kaufmann, a. a. O., S. 378

  64. Die Bemühungen der Lehre vom gewaltenbalancierenden parlamentarischen System um eine eigene theoretische Grundlegung äußern sich u. a. in der Erweiterung des Parlamentarismusbegriffs zu einem formalen „Gattungsbegriff“ (K. Löwen-stein), unter dem verschiedene theoretisch gleichrangige Versionen des parlamentarischen Systems Platz finden sollten.

  65. Es handelt sich dabei vor allem um die Art. 67, 68, 81, 111, 113 des GG.

  66. H. v. Mangoldt-F. Klein, Das Bonner Grundgesetz, Berlin u. Frankfurt a. M. 19642, S. 1194, sprechen von einem „neuartig beschränkten parlamentarischen Regierungssystem“; ebenso G. Dahm, a. a. O., S. 347 f.; H. Peters, Die Verfassungslage seit 1945, a. a. O., S. 110; Fr. K. Fromme, a. a. O., S. 89: Das GG versuchte „Einschränkungen des parlamentarischen Prinzips". W. Meder, in: Bonner Kommentar, a. a. O., Erl. zu Art. 67, Abschnitt II, nennt das GG-System ein „gedrosseltes parlamentarisches Regierungssystem"; Th. Maunz-G. Dürig, a. a. O., Erl. zu Art. 62, Rd. Nr. 14 sprechen von einer „abgeschwächten Form des parlamentarischen Regierungssystems". Ebenso F. Münch, a. a. O., S. 93: Das GG-System sei eine „Abschwächung des Parlamentarismus". A. Hamann, Das Grundgesetz, a. a. O., S. 313, nennt das Bonner System ein „modifiziertes parlamentarisches System". Bei K. Löwenstein, Verfassungslehre, a. a. O., S. 92, ist von einem „kontrollierten Parlamentarismus“ die Rede. E. u. G. Küchenhoff, a. a. O., S. 158, sprechen von einem „positiven" parlamentarischen System im GG.

  67. Th. Maunz-G. Dürig, a. a. O., Erl. zu Art. 62, RdNr. 6, stellvertretend für die herrschende Leine.

  68. Zum bürgerlichen Liberalismus und der ihm zugrunde liegenden Unterscheidung von monarchischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft vgl. E. W. Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 49/71 (4. Dezember 1971), insbes. S. 4— 12 und Chr. Graf von Krockow, Staat, Ge

  69. Hierzu gehört auch die Lehre vom formellen und materiellen Gesetzesbegriff (P. Laband, R. Gneist), dessen zeitgebundene konstitutionelle Kategorien heute noch im Verfassungsrecht Bestand haben. Vgl. die Kritik bei U. Scheuner, Der Bereich der Regierung, in: Festschrift für Rudolf Smend, Göttingen 1952 u. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Karlsruhe 19682, S. 187 ff. Zu dem machtpolitischen Hintergrund dieser Unterscheidung, die auf den preußischen Budgetkonflikt zurückgeht, vgl. H Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, Karlsruhe 1961, S. 61 ff: „Gesetzesbegriff".

  70. Das eigentliche Ziel der Gewaltenteilungslehre war auch von vornherein nur der liberale Rechtsstaat mit seinem Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes. Das bestätigt W. Weber, Stichwort: »Gewaltenteilung", in: HDWS, Bd. 4, a. a. O., S. 498t

  71. Vgl. Fr. A. v. d. Heydte, Fiktion und Wirklichkeit in der westdeutschen Demokratie, in: Politische Studien (1954), S. 20 ff. Ebenso betont G. Dahm, a. a. O., S. 347, das GG habe die Errichtung einer „absoluten Parlamentsherrschaft" durch den Grundsatz der Gewaltenteilung in Art. 20 GG verhindert. So auch schon Dr. Lehr, a. a. O., S. 17 f. Kritisch gegen die Dogmatisierung u. a. K. Hesse, a. a. O, S. 178 ff.

  72. Charakteristisch für das nachträgliche Modifikationsbemühen scheint die Forderung von Th. Maunz, in: Th. Maunz-G. Dürig, a. a. O., Erl. zu Art. 62, RdNr. 6: „Der Grundsatz der Gewaltenteilung hat auch im parlamentarischen System Gewicht“. Vgl. auch K. Löwenstein, a. a. O., S. 84.

  73. Vgl. H. v. Mangoldt, Das Verhältnis von Regierung und Parlament, a. a. O., S. 5 ff.: Durch die Gewaltenteilung sei ein „Parlamentsabsolutismus“ im GG verhindert worden und die Regierung als „selbständiges Organ neben“ das Parlament gestellt worden. Ebenso F. Münch, in: VVDStRL 16, Aussprache zum Thema: Parlament und Regierung im modernen Staat, S. 135: Die Regierung trete im GG dem Parlament „mit eigenen Rechten entgegen"; H. J. Schlochauer, öffentliches Recht, Karlsruhe 1957, S. 13 ff.; W. Merk, Kann der Bundestag der Bundesregierung Weisungen erteilen? in: ZgesStW, Bd. 114 (1958), S. 707 f.; H, Peters, Gewaltenteilung in moderner Sicht, a. a. O., S. 12; H. J. Hahn, Uber die Gewaltenteilung in der Wertwelt des Grundgesetzes, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, NF 14 (1965), S. 24.

  74. Vgl. BVerfGE 10 (1960), S. 4 insbesondere S. 16 ff. (Redezeiturteil). Dort wird u. a. festgestellt: „Die Regierung ist mehr als ein Exponent der Parlamentsmehrheit ... Sie steht als Spitze der Exekutive zugleich dem Parlament, also der Opposition und der Mehrheit, gegenüber" (S. 19).

  75. K. Löwenstein, a. a. O., S. 69; ebenso wünschen Th. Maunz-G. Dürig, a. a. O., Erl. zu Art. 62, RdNr. 8, die „vollkommene Gleichgewichtslage" zwischen Regierung und Parlament; W. Meder, in: Bonner Kommentar, a. a. O., Erl. zu Art. 67, Abschnitt I, fordert für das „echte" parlamentarische System die „Balance zwischen Parlament und Regierung". H. J. Schlochauer, a. a. O., S. 13, spricht vom „Ausgewogensein“ der Gewalten. So auch H. Frost, Rechtsgestalt und Funktionen der Parlamentsausschüsse, in: AÖR 1 (1970), S. 59. Sie alle erweisen sich als Schüler von R. Redslob, a. a. O., S. 1, der schon das parlamentarische System in seiner „wahren Form“ in einem „System des Gleichgewichts ... zwischen der exekutiven und der legislativen Gewalt“ sah.

  76. K. Löwenstein, a. a. O., S. 77, 83, betont die „dualistische Struktur“ zwischen zwei „unabhängigen Machtträgern". Ebenso Th. Maunz-G. Dürig, a. a. O., Erl. zu Art. 62, RdNr. 6: „Das parlamentarische System beruht auf einem funktionellen Dualismus von Regierung und Parlament". Fr. Giese,

  77. H. v. Mangoldt-F. Klein, a. a. O., S. 599; ebenso Th. Maunz-G. Dürig, a. a. O., Erl. zu Art. 20, RdNr. 78; u E. u. G. Küchenhoff, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1967*, S. 155.

  78. K. » Löwenstein, a. a. O., S. 85; im Sinne der „Waffengleichheit" fordert das auch Th. Maunz, in: Th. Maunz-G. Dürig, a. a. O., Erl. zu Art. 62, dNr. 8; so auch schon R. Redslob, a. a. O., S. 4.

  79. So die Kommentierung der einschlägigen GG-Artikel, vgl. H. v. Mangolds, a. a. O., S. 53 f.; H. v. Mangoldt-F. Klein, Das Bonner Grundgesetz, a. a O., S. 1226; B. Schmidt-Bleibtreu, F. Klein, Kommentar zum Grundgesetz, Neuwied u. Berlin 19672, S. 326; H J. Schlochauer, a. a. O., S. 58, 64 f.; kritisch ebenso H. Ridder, W. Abendroth, A. Schüle, K. Löwenstein.

  80. B. Schmidt-Bleibtreu, F. Klein, a. a. O., S. 326, betonen, daß die regierungstragende parlamen-tarische Mehrheit „keineswegs konstant" zu sein brauche.

  81. Vgl. Th. Maunz-G. Dürig, a. a. O., Erl. zu Art. 68, RdNr. 8; W. Meder, a. a. O., Erl. zu Art. 67, Abschnitt II; A. Hamann, a. a. O., S. 269; H. v. Mangoldt, a. a. O., S. 54; B. Schmidt-Bleibtreu, F. Klein, a. a. O., S. 326.

  82. Vgl. H. v. Mangoldt, Das Verhältnis von Parlament und Regierung, a. a. O., S. 49 u. 54; Th. Maunz-G. Dürig, a. a. O., Erl. zu Art. 62. RdNr. 15; W. Meder, in: Bonner Kommentar, a. a. O., Erl. zu Art. 67, Abschnitt II; Fr. Giese, Staatsrecht, a. a. O., S. 187 f.; H. J. Schlochauer, a. a. O., S. 64 f. A. Hamann, a. a. O., S. 317 ff.

  83. Vgl. K. Löwenstein, a. a. O., S. 85: „Es liegt nur dann ein echter Parlamentarismus vor, wenn den beiden Machtträgern Regierung und Parlament wechselseitige Kontrollbefugnisse und Kontroll-Daß

  84. E. u. G. Küchenhoff, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1967«, S. 155; ähnlich BVerfGE 9 (1959), S. 269, insbes. S. 279: Der Sinn der Gewaltenteilung bestehe nicht in einer scharfen Trennung der Staatsorgane, sie sollten sich vielmehr „gegenseitig kontrollieren und begrenzen".

  85. K. Löwenstein, a. a. O., S. 85.

  86. R. Redslob, a. a. O., S. 14.

  87. Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht, a. a. O., S. 68 f. Die Bereitschaft, „Gewaltenvermengungen", d. h. zwischen Parlament und Regierung gegenseitige Einwirkungsmöglichkeiten zuzulassen, ist in der Theorie verschieden ausgeprägt. Um das Prinzip des Gewaltengleichgewichts nicht preiszugeben, ist die Theorie letztlich aber immer gezwungen, auf die sogenannten unantastbaren „Kernbereiche'der Zuständigkeiten der einzelnen Gewalten zurüdezugreifen, die keinesfalls von der jeweils anderen Gewalt berührt werden dürfen.

  88. Vgl. vorn I, 2 c/d: Kritik der Parlamentsher schäft.

  89. Diesen Aspekt betonen H. v. Mangoldt-F. Klein, a. a. O., S. 1205 f., wo die vom GG „ungewollte Machthäufung“ beim Bundeskanzler auf das unerwünschte parlamentarische Übergewicht einer Partei und die Parteiführerschaft des Regierungschefs zurückgeführt Wird.

  90. Vgl. R. Herzog, Parlamentarisches System, aa 0., S. 1482: „Im Zweiparteiensystem kann das Parlamentarische System fast mit begrifflicher Not-

  91. O. Koellreutter, Deutsches Staatsrecht, a. a. O., S. 168— 203, warnt ausdrücklich vor der „Erstarrung" des Verhältnisses zwischen Parlament und Regierung durch die unabhängige Stabilisierung der Regierung in seiner Kritik der Art. 67, 68 und 81 GG. Ebenso weist G. Dahm, a. a. O., S. 348, selbstkritisch auf diesen „kritischen Punkt der gewaltenteilenden Demokratie" hin, für die er eintritt.

  92. W. Merk, Neue Sitzordnung der Bundesregierung im Bundestag? in: DVB 1 (1958), S. 603. In diesem Sinne besteht Merk auch auf der konstitutionell überlieferten Sitzordnung im Bundestag.

  93. W. Weber, Parlamentarische Unvereinbarkeiten, in: AOR 58 (1930), S. 184 f.

  94. Hinter den Überlegungen der Verfasser des Ersten Berichts zur „Reform der Struktur von Bundesregierung .. a. a. O., S. 165 u. 170 ff., nicht ausschließlich Abg. zu Pari. Staatssekretären bzW Staatsministern zu ernennen, sowie die beamt Staatssekretäre uneingeschränkt als Verwaltungsspitze der Ressorts zu erhalten, ist die Abschir mungstendenz der Ministerialbürokratie wohl ebenfalls noch erkennbar.

  95. Vgl. Chr. v. Krockow, Staatsideologie oder demokratisches Bewußtsein?, in: PVS 2 (1965).

  96. W. Weber, Die Teilung der Gewalten als Gegenwartsproblem, in: Festschrift für C. Schmitt, Berlin 1959, S. 263.

  97. Ders., Stichwort: „Gewaltenteilung", in: HDSW, a-a O., S. 501; ähnlich auch R. Zippelius, a. a. O., S. 133.

  98. E. Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 19642, S. 55.

  99. „Klassisch" dazu folgendes Zitat aus den BVerfGE 9 (1959), S. 268, insbes. S. 279 f., wo der Sinn der Gewaltenteilung umschrieben wird. Er läge darin, „daß die Organe der Legislative, Exekutive und Justiz sich gegenseitig ... begrenzen, damit die Staatsmacht gemäßigt und die Freiheit des einzelnen geschützt wird. Die ... Verteilung der Gewichte zwischen den drei Gewalten muß aufrechterhalten bleiben, keine Gewalt darf ein . .. Übergewicht über die andere Gewalt erhalten vgl. i. d. S. Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht, a. a. O., S. 63; G. F. Kafka, Stichwort: „Parlament", a. a. O., S. 174; Fr. Giese-E. Schunck, Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1965’, S. 65; K. Kleinrahm, Gesetzgebungshilfsdienst für deutsche Parlamente?, in: AOR 79 (1953/54), S. 140; W. Weber, Stichwort: „Gewaltenteilung", a. a. O., S. 497; G. Sturm, a. a. O., S. 27— 30; P. Schneider, a. a. O., S. 27.

  100. So Fr. A. v. d. Heydte, a. a. O., S. 22; O. Bachof, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Verfahrens-recht, Tübingen 1964®, S. 108. Ebenso Th. Maunz-G. Dürig, a. a. O., Erl. zu Art. 20, RdNr. 78.

  101. H. J. Hahn, a. a. O., S. 21 u. 24, spricht anschaulich vom freien Bürger als dem „lachenden Dritten" der Gewaltenteilung. E. u. G. Küchenhoff, a. a. O., S. 152, plädieren für die „staatsfreie Sphäre" durch Gewaltentrennung.

  102. O. Küster, Das Gewaltenproblem im modernen Staat, in: AOR 75 (1949), S. 404.

  103. Ebenso H. Peters, Gewaltenteilung in moderner Sicht, Köln u. Opladen 1954, S. 7 ff.

  104. Hierauf wird weiter unten noch eingegangen.

  105. Um einem großen Mißverständnis vorzubeugen: Das Wahlrecht, das sicherlich fundamentales, poli-tisch weitreichendstes Verfassungsrecht ist, bleibt in diesem Zusammenhang ausdrücklich ausgeschlossen. Nur die formal gewaltenteilenden Verfassungs-elemente, wie sie die h. L. beibringt, sind hier angesprochen.

  106. Dafür wäre ein entsprechendes Parteien-und Wahlsystem eine wichtige Voraussetzung.

  107. G. Jellinek, Ein Gesetzentwurf betreffend die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers und seiner Stellvertreter, Heidelberg 1909. Sein Vorschlag sah eine beschränkte parlamentarische Verantwort-lichkeit der Regierung vor. Das Mißtrauensvotum des Parlaments sollte einer 2/3-Mehrheit aller gesetz-lichen Abgeordneten bedürfen (vgl. S. 3 f.).

  108. So z. B.: G. Anschütz, Parlament und Regierung im Deutschen Reich, Berlin 1918, S. 25 u. 31 f.

  109. Vgl. H. Nawiasky, Die Grundgedanken des GG a a. O., S. 11 ff.; O. Koellreutter, Deutsches Staatsrecht, a. a. O., S. 177 ff.; F. Münch, a. a. O., S. 101 ff.; u. Scheuner, Das parlamentarische Regierungssystem in der Bundesrepublik Deutschland,

  110. U. Scheuner, Grundfragen des modernen Staates, in: Recht-Staat-Wirtschaft, Bd. III, hrsg. v. H. Wandersieb, Düsseldorf 1951, S. 147.

  111. E. Friesenhahn, a. a. O., S. 37; vgl. auch F. Münch, a. a. O., S. 56: „Tatsächlich entspricht die Einrichtung des Staates nicht der gedanklichen Teilung der Gewalten", ihre Scheidung sei „eigentlich nur sekundär" gegenüber der politischen Führungsaufgabe der Staatsregierung (vgl. S. 93 und 101 ff.). M. Drath, Die Gewaltenteilung im heutigen deutschen Staatsrecht, in: Faktoren der Machtbildung, hrsg. von A. R. L. Gurland, Berlin 1952, ins-bes. S. 128 ff., betont, daß im parlamentarischen Regierungssystem „grundsätzlich keine Gewaltenteilung" zwischen Parlamentsmehrheit und Regierung bestünde. Vgl. ähnlich U. Scheuner, Das parlamentarische Regierungsystem ..., a. a. O., S. 634 ff.; Fr. Glum, Das parlamentarische Regierungssystem ..., a. a. O., S. 340; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Karlsruhe 1968*, S. 178 ff., 198.

  112. In d. S. auch die Kritik U. Scheuners, Das Grundgesetz in der Entwicklung zweier Jahrzehnte, in: AOR 95 (Sept. 1970), S. 359: „Es gehört ... zu den Gegebenheiten dieser Tradition, daß der Rechtsstaatsbegriff in erster Linie in der Richtung auf die Ausprägung individuellen Freiheitsschutzes entfaltet wird und sein notwendiger Zusammenhang mit den Grundlagen politischer Freiheit zuweilen nur verkürzt in das Blickfeld tritt." Vgl. insbes. zum liberalen Gesetzesbegriff H. Ehmke, in: Ders., Wirtschaft und Verfassung, a. a. O.

  113. Sie hat im Verfassungsrecht neuerdings in der Ausbildung eines dem Sozialstaat adäquaten, politisch-instrumentalen Gesetzesbegriff und in der Lehre der von der Drittwirkung der Grundrechte gegen soziale Macht ihren Niederschlag gefunden. Vgl. E. W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, Berlin 1958, S. 339 ff., wo er die Lösung des Gesetzesbegriffs im Sozialstaat aus seiner formalen Allgemeinheit fordert.

  114. Vgl. E. Friesenhahn, a. a. O., S. 34: „Die Politik wird heute maßgebend durch Gesetze be stimmt ..."; ebenso U. Scheuner, a. a. O., S. 278; G Kassimatis, a. a. O., S. 60; K. Hesse, Grundzüge ..., a. a. O„ S. 189; K. Lohmann, Der deutsche Bundestag, Frankfurt a. M. u. Bonn 1967, S. 26.

  115. Der Art. 110 GG (Haushaltsplan des Bundes) sagt dazu: „(1) Alle Einnahmen und Ausgaben des Bundes sind in den Haushaltsplan einzustellen; bei Bundesbetrieben und bei Sondervermögen brauchen nur die Zuführungen oder die Ablieferungen eingestellt zu werden. Der Haushaltsplan ist in Einnahme und Ausgabe auszugleichen. (2) Der Haushaltsplan wird für ein oder mehrere Rechnungsjahre, nach Jahren getrennt, vor Beginn des ersten Rechnungsjahres durch das Haushaltsgesetz festgestellt. Für Teile des Haushaltsplanes kann vorgesehen werden, daß sie für unterschiedliche Zeiträume, nach Rechnungsjahren getrennt, Selten ..

  116. H. Ehmke, in: Verhandlungen des 45. Deutschen Juristentages, Sitzungsberichte Teil E, Mün-Wenn

  117. Das Kontrollinstrumentarium des Bundestages findet sich 1. im GG selber, dort vor allem in den Atrikeln 43 (Verlangen nach Anwesenheit der Bundesregierung im Bundestag), 44 (Untersuchungsausschüsse auf Antrag eines Viertels der Bundestagsmitglieder), 67 (Konstruktives Mißtrauensvotum)! 2. in der Geschäftsordnung des Bundestages, dort im wesentlichen In den §§ 46 (Erläuterungen des Art. 43 GG), 63 (Erläuterung des Art. 44 GG), 75, 76, 105, 106, 108, 111, 116 (Einbringung und Behandlung von Großen, Kleinen und mündlichen Anfragen, Erzwingen von Beratungen), 98 (Erläuterung zu Art. 67 GG), 97 und 100 (Anträge und Gesetzesentwürfe „aus der Mitte des Bundesta-

  118. K. J. Partsch stellt in seinem Gutachten für den 45. Deutschen Juristentag, Bd. 1 der Verhandlungen, a. a. O., S. 197— 199, fest, daß die Funktion der Regierungskontrolle „nicht mehr dem Parlament als Ganzem“ obliege, sondern der parlamentarischen Opposition zugefallen sei. Insbesondere hätten parlamentarische Untersuchungsausschüsse demzufolge vor allem eine „mittelbare Funktion“. Sie seien ein spezifisches Instrument der oppositionellen Minderheit, das Licht der Öffentlichkeit in die Tätigkeiten der Regierung zu bringen.

  119. Konkrete Vorschläge zu einer Parlamentsreform unterbreitet M. Hereth in seinem Buch: Die Parlamentarische Opposition in der Bundesrepublik Deutschland, München-Wien 1969, Insbes. S. 138 bis 151.

  120. Vgl. F. Münch, a. a. O„ S. 103, E. Friesenhahn, a. a. O., S. 33— 36, Fr. Glum, Kritische Bemerkungen zu Art. 63, 67, 68, 81 des Bonner Grundgesetzes, in: Festgabe für E. Kaufmann, Stuttgart u. Köln 1950; U. Scheuner, Entwicklungslinien des parla"

  121. E. Fraenkel, a. a. O., S. 85 f.; ähnlich auch M. Draht, a. a. O., S. 130 ff.; sowie W. Hennis, Große Koalition ohne Ende?, München 1968, S. 15.

  122. Der am. Präsident wird direkt (unabhängig vom Kongreß) vom Volke auf 5 Jahre gewählt, er hat grundsätzlich keine Mehrheit im Kongreß, er kann auch von ihm nicht aus dem Amt entfernt werden; umgekehrt kann der Präsident den am. Kongreß nicht auflösen, er hat auch kein Recht, Gesetzesentwürfe einzubringen. Exekutive und Legislative sind also unabhängig voneinander konstruiert und verfügen jeweils über eine eigene unmittelbar demokratische Legitimation. Vgl. E. Fraenkel, Die repräsentative und plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, in: Deutschland und die westlichen Demokratien, Stutt9art, Berlin, Köln, Mainz 1964*, insbes. S. 80— 86 und ders., Das amerikanische Regierungssystem, Köln und Opladen 1960.

  123. Ebenso M. Drath, a. a. O., S. 129; und G. Sturm, a. a. O„ S. 94.

  124. O. Koellreutter, Deutsches Statsrecht, Stuttgart und Köln 1953, S. 203; ebenso E. Friesenhahn, a. a. O., S. 61 f.

  125. Vgl. statt vieler Th. Maunz-G. Dürig, a. a. O., Erl. zu Art. 62, RdNr. 15.

  126. In dem dargestellten Sinne kritisiert die neuere Richtung den Art. 67 durchweg. Vgl. nur U. Scheuner, Das parlamentarische Regierungssystem ..., a. a. O., S. 633; Fr. Glum, a. a. O., S. 55; H. Ehmke, Grundgesetz und politisches Handeln, in: ders., Politik der praktischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1969, S. 148; K. Hesse, a. a. O., S. 232.

  127. In d. S. vgl. H. Schneider, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, in: VVDStRL 8 (1950), S. 35; U. Scheuner, a. a. O., S. 634; M. Drath, a. a. O., S. 129.

  128. So wendet sich schon G. Anschütz, Parlament und Regierung im Deutschen Reich, a. a. O., S. 37 f., gegen die „formalrechtliche" Verankerung der parlamentarischen Regierungsweise. E. Kaufmann, Die Regierungsbildung in Preußen und im Reich

  129. So ausdrücklich E. Friesenhahn, a. a. O., S. 45; ähnlich U. Scheuner, a. a. O., S. 372: „Die Möglichkeiten einer Minderheitsregierung sind heute, Wo eine Regierung auf eine stete Kette gesetzlicher Maßnahmen angewiesen ist, sehr begrenzt".

  130. Vgl. K. Hesse, a. a. O., S. 232: „Stabile Regie-rungen sind in der parlamentarischen Demokratie eine Folge eindeutiger und sicherer Parlaments-mehrheiten, auf die alles ankommt, und soweit es hierfür überhaupt verfassungsrechtliche Hilfen gibt, liegen diese in der Gestaltung des Wahlrechts , In diesem Sinne sprechen sich auch für das -weiparteiensystem auf der Grundlage des relativen Mehrheitswahlrechts aus: Fr. Glum, a. a. O.,

  131. Vgl. W. Hennis, Meinungsforschung und repräsentative Demokratie, in: ders., Politik ..., a. a. O., S. 140 ff.

  132. Vgl. i. d. S. U. Scheuner, Verantwortung und Kontrolle, a. a. O., S. 379 f. und die Ausführungen vorn I, 3b: Kritik der Fiktion der Selbstregierung des Volkes.

  133. Daneben existiert noch der juristische Verantwortungsbegriff, der die Amtspflichtverletzungen der Minister verfassungsgerichtlich einklagbar macht. Diese rein rechtliche Verantwortung betont z. B. die preußische Verfassungsurkunde von 1850 in Art. 61; Die Präsidentenanklage kennt das Bonner Grundgesetz in Art. 61.

  134. So charakterisiert G. Anschütz, Parlament und Regierung ..., a. a. O., S. 32 ff. das parlamentarische System durch die Verantwortlichkeit der Minister gegenüber dem Parlament mit der Folge des Rücktritts bei Vertrauensverlust. Ebenso z. B. H. v. Mangoldt-F. Klein, a. a. O., S. 1194; Th. Maunz-G. Dürig, a. a. O., Erl. zu Art. 62, RdNr. 15; BVerfGE 9 (1959), S. 268, insbes. S. 281; u. K. Löwenstein, Verfassungsrecht und Verfassungsrealität, in: ders., Beiträge zur Staatssoziologie, Tübingen 1961, S. 451. Er beklagt die starke Regierung nach dem GG „auf Kosten“ ihrer parlamentarischen Verantwortung.

  135. Otto Küster, Das Gewaltenproblem im modernen Staat, in: AÖR 75 (1949), S. 402 ff.

  136. Ebenda, S. 402

  137. Vgl. K. Hesse, Grundzüge ..., a. a. O., S. 186

  138. S. U. Scheuner noch 1952: Der Bereich der Regierung, a. a. O„ S. 268 ff.; E. Friesenhahns Formulierung, a. a. O., S. 38, die Staatsführung stehe für Parlament und Regierung „zur gesamten Hand", schränkt seine eigenen Ausführung nachträglich ein. Vgl. ähnlich K. Hesse, Grundzüge ..., a. a. O., 8. 189; und W. -D. Hauenschild, Wesen und Rechts-natur der parlamentarischen Fraktionen, Berlin 1968, S. 101.

  139. Diese Auffassung findet sich bei W. Kewenig, Staatsrechtliche Probleme parlamentarischer Mit-regierung

  140. Der Verweis auf das am. Regierungssystem mag hier genügen. Die tiefgreifende Mitregierung der Ausschüsse des Kongresses bleibt erstens weitgehend anonym und unverantwortlich und erschwert zweitens den politischen Entscheidungsprozeß erheblich. Diese Vorwürfe richten sich auch gegen entsprechende Tendenzen der gewalten-balancierenden Parlamentarismustheorie, welche die parlamentarische Mitregierung von Bundestagsausschüssen oder auch die „Regierung zur gesamten Hand" propagieren.

  141. Vgl. i. d. S. U. Scheuner, Verantwortung und Kontrolle ..., a. a. O., S. 384 f. u. 392 ff.

  142. Vgl. i. d. S. U. Scheuner, a. a. O., S. 384 f.

  143. Dazu kommt die Unabhängigkeit richterlicher Entscheidung. Vgl. W. Kägi, Von der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung, in: Festschrift für H. Huber, Bern 1961, S. 167.

  144. Vgl. z. B. O. Koellreutter, Deutsches Staatsrecht, a. a. O., S. 165 ff.; u. K. Hesse, a. a. O., S. 232.

  145. Das betonen M. Drath, a. a. O., S. 135; und U. Scheuner, Entwicklungslinien des parlamentarischen Regierungssystems ..., a. a. O., S. 394 f.

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Hans-Joachim Veen, M. A., geb. 1944, Studium der Politischen Wissenschaft, des öffentlichen Rechts und der Neueren Geschichte an den Universitäten Hamburg und Freiburg; seit 1971 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung in Alfter bei Bonn.