Die Deutschland-und Ostpolitik der Kleinen Koalition — Anpassung an die Entspannungspolitik des Westens
Ist die Deutschland-und Ostpolitik der Kleinen Koalition eine grundsätzlich neue Politik — was ihre Gegner der Bundesregierung vorwerfen — oder nur die logische Konsequenz der Außenpolitik Adenauers, wie Vertreter der Regierungsparteien zur Verteidigung und Rechtfertigung dieser Politik erklären?
Auf diese Frage ist nur eine differenzierende Antwort zu geben: Die Politik der Kleinen Koalition ist einerseits tatsächlich nur die logische Konsequenz und die notwendige Ergänzung der Außenpolitik Adenauers, aber sie ist gleichzeitig auch eine Absage an die im Zusammenhang mit dieser Politik propagierten Doktrinen und Hoffnungen. Die von der CDU/CSU geführten Regierungen bezeichneten die politischen Entscheidungen, die in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre zur Integration der Bundesrepublik in den westlichen Block führten, als Politik für die Wiederherstellung eines einheitlichen deutschen Staates in den Grenzen von 1937. Der zentrale Gedanke dieser Wiedervereinigungspolitik war der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik, der schon in der Präambel des Grundgesetzes angedeutet ist und durch eine Erklärung von Bundeskanzler Adenauer vor dem Bundestag am 21. Oktober 1949 Bestandteil der Regierungspolitik wurde Die-ser Alleinvertretungsanspruch ergab sich aus der in der Bundesrepublik vorherrschenden Meinung, daß die deutsche Teilung allein die Folge der sowjetischen Politik sei, die einem Teil des deutschen Volkes das Selbstbestimmungsrecht vorenthalte und ihm nicht gestatte, gemeinsam mit dem im Westen lebenden Teil des deutschen Volkes am Aufbau einer einheitlichen und demokratischen staatlichen Organisation mitzuwirken. Wiedervereinigung bedeutete unter diesem Gesichtspunkt für die Bundesregierung, im Bündnis mit den Westmächten die Sowjetunion zu zwingen, die „SBZ" freizugeben und folgenden Vorschlag für die Wiederherstellung der deutschen Einheit anzunehmen: Durchführung freier Wahlen in ganz Deutschland, um das von der Sowjetunion gegen den Willen der Bevölkerung eingesetzte kommunistiche Regime in der „SBZ" zu beseitigen und eine gesamtdeutsche Regierung zu bilden, die vollständige innen-und außenpolitische Handlungsfreiheit besitzt
Neben der Wiederbewaffnung und der Integration der Bundesrepublik in die westliche Allianz bezeichnete die Bundesregierung in ihren öffentlichen Erklärungen die Nichtanerkennung der DDR und der Oder-Neiße-Grenze sowie die Ablehnung von Kontakten mit Vertretern der DDR als wirksame politische Mittel für die baldige Wiedervereinigung. Diese Deutschland-und Ostpolitik, später ergänzt durch die Hallsteindoktrin, sollte die innere Konsolidierung und die internationale Anerkennung der DDR verhindern und damit eine wichtige politische und völkerrechtliche Voraussetzung für die Wiedervereinigung nach den Vorstellungen der Bundesregierung erhalten, nämlich für die Wiedervereinigung durch Beseitigung des innenpolitisch nicht konsolidierten und international nicht anerkannten zweiten deutschen Staates
Es gab und es gibt zahlreiche Argumente für die Integration der Bundesrepublik in die westliche Allianz, aber es gab kaum wirklich rationale Argumente dafür, daß diese Politik zur Wiedervereinigung und zur Integration ganz Deutschlands in den westlichen Block führen könne. Wenn nach der Gründung der Bundesrepublik und der DDR die Wiedervereinigung überhaupt je möglich war, dann nur durch einen Kompromiß zwischen Ost und West, der einem wiedervereinigten und militärisch neutralisierten Deutschland eine Brük-kenfunktion zwischen Ost und West zugewiesen hätte Da nie in Verhandlungen geprüft wurde, ob entsprechende Angebote der Sowjetunion ernst gemeint waren, ist es nicht gewiß, daß auf diesem Wege die Wiedervereinigung tatsächlich möglich war. Dagegen war es aber von Anfang an gewiß, daß die Integration der Bundesrepublik in den Westen und die Forderung, auch das wiedervereinigte Deutschland müsse das Recht haben, der westlichen Allianz beizutreten, die Wiedervereinigung unmöglich machten. Denn eine Wiedervereinigung unter diesen Bedingungen wäre nur möglich gewesen nach einem ent-scheidenden. machtpolitischen Sieg des Westens über den Osten. Einen solchen Sieg konnte man zwar wünschen, aber eine Analyse aller relevanten politischen, ökonomischen und militärischen Faktoren erlaubte zu keinem Zeitpunkt die Schlußfolgerung, daß der Westen ein ausreichendes machtpolitisches und militärisches Übergewicht erlangen könne, um der Sowjetunion seinen Willen aufzuzwingen.
Nicht nur Gegner der Außenpolitik Adenauers, wie z. B. Paul Sethe, Peter Bender, Graf von Krockow, Georg-Wilhelm Zicken-heimer waren und sind der Auffassung, daß die Westintegration die Sowjetunion nicht veranlassen konnte, die DDR aufzugeben. Auch Jürgen Weber, der eine Wiedervereinigung auf der Grundlage der militärischen Neutralisierung weder für möglich noch für wünschenswert hielt, gelangte zu der Schlußfolgerung:
„Zwar hatte die damals von der Bundesregierung und den Westmächten gepflegte Attraktionstheorie, wonach ein starker Westen und eine wirtschaftlich gesunde Bundesrepublik die Sowjetunion dazu veranlassen könnte, die DDR fallenzulassen und nach einem für Deutschland günstigen Ausgleich zu suchen, etwas Verführerisches, weil sie die Forderung nach Wiedervereinigung mit der Politik der Westintegration verband. Doch sie war irreal und entsprach einem gefährlichen Wunschdenken."
Als sich die Bundesregierung für die Integration in den Westen entschied, entschied sie sich damit auch für die Fortdauer der deutschen Teilung und für die Existenz von zwei deutschen Staaten. Spätestens 1955, nach Vollzug dieser Integration, wäre es daher die Pflicht des Bundeskanzlers gewesen, dem deutschen Volk in Ost und West unmißverständlich zu erklären: „Wir müssen jedenfalls zur Kenntnis nehmen, daß eine Wiedervereinigung im ursprünglichen Sinne nicht mehr möglich ist Und der Bundeskanzler hat die Pflicht, seinem Volk die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie bitter ist.“ Aber es war nicht Adenauer, der 1955 diese bittere Wahrheit sagte, sondern Willy Brandt, der fünfzehn Jahre später dem deutschen Volk diese Konsequenz der bisher-B gen „Wiedervereinigungspolitik" mitteilte Indem die Regierung Brandt/Scheel aus der Westintegration die logische Konsequenz gezogen hat, gefährdet sie keineswegs das Bündnis mit den Westmächten, sondern sie hat im Gegenteil die deutsche Politik der seit Mitte der fünfziger Jahre beginnenden Koexistenz-politik unserer westlichen Verbündeten angepaßt und einer zunehmenden Isolierung der Bundesrepublik innerhalb der westlichen Allianz entgegengewirkt.
Die traditionelle Wiedervereinigungskonzeption, die während des Kalten Krieges verfaßt wurde, war ein Bestandteil der amerikanischen Ostpolitik des „roll back", mit der John Foster Dulles die unterdrückten Völker vom Kommunismus befreien und den Ost-West-Konflikt durch den Sieg des Westens über den Osten entscheiden wollte. Als jedoch in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre die Politik der Stärke und der Befreiung faktisch aufgegeben und Anfang der sechziger Jahre unter Kennedy ausdrücklich durch die Friedensstrategie ersetzt wurde, geriet die deutsche Wiedervereinigungsund Ostpolitik in einen jede eigene Aktivität lähmenden Gegensatz zur Koexistenzpolitik unserer westlichen Verbündeten und wurde somit zu einem Anachronismus. Rüdiger Altmann, gewiß kein linksradikaler Kritiker der Deutschland-und Ostpolitik Adenauers, sprach 1962 von einem Niedergang der deutschen Außenpolitik, weil die Bundesregierung auf eigene Initiativen verzichte und sich von der Maxime leiten lasse: weder handeln noch verhandeln Für den Fall, daß sich die vorherrschende Tendenz der Außenpolitik weiter verstärke, drohe »eine schwerwiegende, fast irreversible politische Niederlage der Bundesrepublik"
Solange die Bundesregierung an einer deutschland-und ostpolitischen Konzeption festhielt, die nicht nur wegen des atomaren Gleichgewichts zwischen Ost und West irreal, sondern auch mit der Entspannungspolitik unserer westlichen Verbündeten unvereinbar war, verurteilte sie sich selbst zur Inaktivität. Denn um auch weiterhin die anspruchsvollen, aber unerreichbaren Ziele der Wiedervereinigungskonzeption — für deren Verwirk-lichung sie nichts tun konnte — propagieren zu können, verzichtete sie darüber hinaus, etwas für bescheidenere, dafür aber erreichbare Ziele zu tun; für Ziele, die im Interesse der Entspannung und auch im Interesse der Bevölkerung beider deutscher Staaten lagen.
Indem die Regierung Brandt/Scheel die Deutschland-und Ostpolitik der westlichen Koexistenzpolitik angepaßt und auf unerreichbare und illusionäre Ziele und Forderungen verzichtet hat, hat sie für die Bundesregierung erst wieder die Möglichkeit geschaffen, aktiv an der Ostpolitik mitzuwirken und etwas für erreichbare Ziele zu tun. Wie Meinungsumfragen gezeigt haben, billigt auch die Mehrheit der Bevölkerung in der Bundesrepublik die neue Deutschland-und Ostpolitik und teilt offensichtlich nicht den Vorwurf, die Bundesregierung habe auf erreichbare Ziele deutscher Politik verzichtet.
Eine Kritik an der neuen Politik kann nicht von dem Argument ausgehen, daß die alte Politik besser war, sondern nur von den Unzulänglichkeiten, die in der neuen Politik selbst zu finden sind. Eine dieser Unzulänglichkeiten ist darin zu sehen, daß es der Bundesregierung noch nicht gelungen ist, mit derselben Eindeutigkeit und Klarheit, mit der sie die illusionäre Perspektive der alten Wiedervereinigungskonzeption aufgegeben hat, eine neue, realistische und langfristige Perspektive ihrer neuen Politik zu entwickeln. So kann der Eindrude entstehen, es handle sich bei der neuen Politik nur um eine rein aktuell-pragmatische Entspannungspolitik. Trotz dieser Unzulänglichkeit ist jedoch die neue Politik nicht nur unter außenpolitischen, sondern vor allem unter innenpolitischen Gesichtspunkten als großer Fortschritt und als ein Erfolg progressiver innenpolitischer Tendenzen anzusehen. Um diese positive Beurteilung der neuen Politik unter innenpolitischen Gesichtspunkten zu begründen, ist zunächst kurz zu untersuchen, warum frühere Regierungen solange an einer Wiedervereinigungskonzeption festgehalten haben, deren illusionärer Charakter zu erkennen war. Der Schlüssel zur Antwort auf diese Frage liegt in der These, daß die Illusionen der alten Politik besonders deshalb solange lebensfähig waren, weil sie gleichzeitig realen Interessen bestimmter sozialer und politischer Gruppen dienten.
Die Grundlage der traditionellen Wiedervereinigungskonzeption
Die Frage, welche Ziele und Interessen die Anhänger der traditionellen Wiedervereinigungs- und Ostpolitik verfolgten und welche innenpolitische Funktion diese Politik hatte, untersuchte Christian Graf von Krockow in seinem Beitrag zu dem 1969 von Heinrich Albertz und Dietrich Goldschmidt herausgegebenen Taschenbuch zur Deutschlandpolitik Dabei ging er von der Beobachtung aus, daß von den innenpolitischen Implikationen der bisherigen und einer eventuellen neuen Deutschland-und Ostpolitik in der Bundesrepublik wenig gesprochen werde, „fast so, als seien solche Zusammenhänge gar nicht vorhanden" und als würden Entscheidungen auf diesem Gebiet „gewissermaßen aus dem gesellschaftspolitischen Nichts geboren" Diesem Eindruck stellte er die Auffassung entgegen, daß es für das Festhalten an der irrealen Wiedervereinigungskonzeption Gründe gegeben haben müsse: „Denn auch Politiker und Parteien handeln ja nicht aus pervertiertem Spaß unwahrhaftig und irreal." Aus einer Analyse mehrerer innenpolitischer Faktoren zieht von Krockow die Schlußfolgerung: „Für die Bundesrepublik in ihrem Verhältnis zur DDR scheint es deshalb evident zu sein, daß die Politik der Verketzerung, welche in Alleinvertretungsanpruch, Hallsteindoktrin und Nichtanerkennung ihren formellen Ausdruck fand, in sozio-ökonomischen und machtpolitischen Strukturen innerhalb der Bundesrepublik begründet oder mindestens mitbegründet liegt. Es ging und geht darum, diese Strukturen gegen Kritik, gegen ihre mögliche Transformation, gegen alle Reform-bestrebungen im Sinne progressiver Fundamentaldemokratisierung abzusichern. Die Projektion der inneren Spannungen nach außen bei ihrer gleichzeitigen Aufgipfelung zu einem radikalen Freund-Feind-Verhältnis ist so gesehen auf ihre Weise durchaus realistisch: Sie dient realen Interessen als wesentliches Mittel ihrer Durchsetzung und Durchhaltung."
Die These, daß die Wiedervereinigungspolitik gar keine „außenpolitische Konzeption für die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands (war), sondern ein innenpolitisches Propagandainstrument gegen progressive und sozialistische Tendenzen und für die endgültige Wiederherstellung und Stabilisierung der konservativen und kapitalistischen Gesellschaftsordnung in der Bundesrepublik"
ist besser zu verstehen, wenn wir sie einordnen in den Zusammenhang einer Analyse der innenpolitischen Voraussetzungen und Konsequenzen des Ost-West-Konfliktes und des Kalten Krieges in den anderen Ländern des Ostens und des Westens. Denn wenn auch die Wiedervereinigung für fast alle Deutschen grundsätzlich ein erstrebenswertes Ziel war, so bedeutete doch die spezifische Wiedervereinigungskonzeption primär eine Anwendung der westlichen Strategie des Kalten Krieges und des Antikommunismus auf Deutschland.
Der Kalte Krieg hat nicht nur die internationale Entwicklung in eine weniger konstruktive und friedliche Richtung gelenkt, als viele in den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges erwartet hatten, er hat auch begründete Hoffnungen auf innenpolitische Erneuerungen in Ost und West weitgehend zunichte gemacht.
Während in der Sowjetunion undogmatische Kommunisten mit einer innenpolitischen Auflockerung, Demokratisierung und Liberalisierung rechneten waren in Westeuropa die linken und sozialistischen Kräfte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges so stark geworden, daß der Aufbau einer neuen Gesell-
schafts-und Wirtschaftsordnung des demokratischen Sozialismus, eines Dritten Weges zwischen amerikanischem Kapitalismus und sowjetischem Stalinismus, eine reale Chance zu haben schien Der Kalte Krieg jedoch, die außenpolitische Bedrohung, stärkte in den innenpolitischen Auseinandersetzungen im Westen die konservativen und prokapitalistischen Kräfte und im Osten die dogmatisch-stalinistischen Tendenzen. Das abstoßende Bild des Stalinismus trug wesentlich dazu bei, daß sich im Bewußtsein breiter Bevölkerungsschichten die Idee des Sozialismus von einer Hoffnung in ein Schreckgespenst verwandelte. Sowohl im Westen als auch im Osten war der Kalte Krieg ein psychologisch wirksames Mittel, um das kritische Bewußtsein der Bevölkerung auf einen äußeren Konflikt zu fixieren und von inneren Konflikten und Schwierigkeiten abzulenken, sowie innenpolitische Kritiker als Agenten oder „nützliche Idioten" des außenpolitischen Feindes zu diffamieren Das Festhalten an der irrealen Wiederver-
einigungskonzeption auch nach vollzogener Integration in den Westen hatte, wenn auch nicht für alle den bewußten Zweck, so doch die Konsequenz, den psychologisch wirksamen Mechanismus des Kalten Krieges für innenpolitische Zwecke auch in der Phase der relativen Entspannung zwischen Ost und West funktionsfähig zu erhalten. Die Folge davon war nicht nur ein außenpolitischer, sondern auch ein innenpolitischer Immobilismus der Bundesrepublik. Da die früheren Bundesregierungen das politische Interesse auf unerreichbare außenpolitische Ziele fixierten und damit von den notwendigen inneren Reformen ablenkten oder diese relativierten, grüßten diejenigen, die innere Reformen verwirklichen wollten, gleichzeitig für eine neue Deutschland-und Ostpolitik eintreten. In einer „Denkschrift für eine realistische Deutschlandpolitik" wollten die Unterzeichner (u. a. Heinrich Albertz, William Borm, Ossip K. Flechtheim, Ludwig von Friedeburg, Helmut Gollwitzer, Hartmut von Hentig, Christian Graf von Krockow, Kurt Leopold, Erich Müller-Gangloff, Harry Pross, Hansjakob Stehle) der neuen Regierung, die nach den Wahlen vom 28. September 1969 gebildet werden würde, Anregungen für ein neues politisches Konzept geben. Sie schrieben: „Die Sicherheitspolitik, der wirtschaftliche Wiederaufbau und die Wiedervereinigung haben bisher die ersten Plätze in der politischen Wertskala der bundesdeutschen Politik eingenommen. Dadurch wurde von drängenden innenpolitischen Problemen abgelenkt und ihre Lösung versäumt. Erst eine Befreiung aus selbst geschaffenen Zwängen der Außen-und Innenpolitik läßt die nötigen Energien für die überfällige Reform der gesellschaftlichen Strukturen frei werden."
Indem die Regierung Brandt/Scheel durch die neue Deutschland-und Ostpolitik die Politik der Bundesrepublik von diesen Zwängen befreite, hat sie nicht nur für die Außenpolitik, sondern auch für eine Politik der inneren Reformen „den Weg nach vorn“ zu öffnen versucht und notwendige Energien für erreichbare Ziele freigesetzt.
Wiedervereinigungskonzeption und politischer Irrationalismus
Die These, daß die traditionelle Wiedervereinigungspolitik in den innenpolitischen Auseinandersetzungen den konservativ-prokapitalistischen Kräften diente, darf nicht im Sinne einer „Verschwörertheorie" mißverstanden werden, nach der „die Kapitalisten" oder „das Kapital" sich bewußt diese Konzeption für diesen Zweck ausgedacht haben. Wenn auch nicht wenige Vertreter der wirtschaftlichen und politischen Führungsgruppen die Vorteile der antikommunistischen Ideologie erkannt und bewußt für ihre Interessen eingesetzt haben, ohne selbst daran zu glauben, so erklärt das noch nicht, warum die Wiedervereinigungsideologie auch das politische Denken und Verhalten der großen Mehrheit jener Bevölkerungskreise weitgehend bestimmte, die kein persönliches Interesse an der Restauration und Stabilisierung des Kapitalismus haben konnten. Darüber hinaus ist auch nicht zu leugnen, daß zahlreiche Politiker und Journalisten, die die Wiedervereinigungskonzeption ausarbeiteten, begründeten und propagierten, ehrlich daran glaubten und sie nicht als innenpolitisches Manipulationsinstrument mißbrauchen wollten. Es muß also neben den ökonomischen Interessen noch andere Faktoren gegeben haben, die erklären, warum zahlreiche Deutsche die frühere Deutschland-und Ostpolitik so lange für eine Politik hielten, die tatsächlich zur Wiederherstellung der deutschen Einheit führen würde.
Ein entscheidender Faktor ist im irrational-emotionalen politischen Denken zu sehen, das im Gegensatz steht zum kritisch-rationalen Denken.
Um die Merkmale und Folgen des politischen Irrationalismus darzustellen und die Bedingungen rationalen politischen Denkens und Handelns herauszuarbeiten, ist von der Tatsache auszugehen, daß sich menschliches Erkennen und Denken in zwei Dimensionen vollziehen und zwei Funktionen erfüllen, die sowohl voneinander zu unterscheiden sind als auch gleichzeitig eine dialektische Einheit bilden: Die erste Dimension und Funktion ist das empirische Erkennen der äußeren, objektiven Wirklichkeit, das Erkennen von Tatsachen, sachlichen Zusammenhängen, Strukturen und Gesetzmäßigkeiten, die unabhängig sind von den subjektiven Meinungen, moralischen Urteilen und Bedürfnissen der erkennenden Menschen. In der zweiten Dimension des Denkens geht es nicht um die Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit, sondern um Einsichten in Wert-und Sinnzusammenhänge, um die Beurteilung und Bewertung der Wirklichkeit im Zusammenhang mit subjektiven Meinungen, Gefühlen und Bedürfnissen. Entsprechend diesen beiden Dimensionen des Denkens können nach Ernst Topitsch auch zwei verschiedene Funktionen der Sprache unterschieden werden und zwar eine informativ-darstellende und eine normativ-emotionale Funktion. Während informativ-darstellende Aussagen anhand der Wirklichkeit zu verifizieren oder falsifizieren sind, können normativ-emotionale Aussagen nicht im gleichen Maße auf einen objektiven Wahrheitsgehalt hin überprüft werden, weil sie subjektive Wertungen, Empfindungen, Spekulationen usw. enthalten, die weder als wahr noch als falsch zu bezeichnen sind. Die Vertreter einer positivistischen Wissenschaftskonzeption schließen daraus, daß die Wissen-21 schäft, die nach objektiven Erkenntnissen strebt, sich auf die erste Dimension des Denkens und Erkennens beschränken muß.
Für das praktische Leben der Menschen sind dagegen beide Dimensionen und Funktionen des Denkens unentbehrlich. Das normativ-emotionale Denken, das vor allem mit den in den Geisteswissenschaften entwickelten Methoden der intuitiven, spekulativen oder hermeneutischen Reflexion arbeitet, vermittelt dem Menschen handlungsmotivierende Einsichten. Indem es nach dem Sinn und Zweck der menschlichen Existenz fragt und die faktisch vorgefundene Welt beurteilt und bewertet, begründet es philosophische, religiöse, sittliche und weltanschauliche Überzeugungen und Haltungen, die dem Menschen sagen, warum und für welche Ziele er leben und handeln soll. Diese zweite Dimension des Denkens vermittelt ihm aber kein handlungsorientierendes Wissen, das ihm zu sagen vermag, wie und mit welchen Mitteln er die durch normativ-emotionales Denken ermittelten Ziele und Zwecke praktisch verwirklichen kann.
Dieses für vernünftiges Handeln unentbehrliche handlungsorientierende Wissen ist nur in der ersten Dimension des empirischen Erkennens der Wirklichkeit zu erwerben. Obwohl es im Bereich der sozialen Wirklichkeit infolge der subjektiven menschlichen Faktoren keine lückenlose Kausalität gibt, die so exakte Prognosen ermöglicht wie im Bereich der Natur, gibt es dennoch auch dort erkennbare Gesetzmäßigkeiten und Strukturen menschlichen Denkens und Verhaltens, deren Kenntnis die Menschen befähigt, zweckrational zu handeln, das heißt, wenigstens annähernd vorauszusehen, zu welchen Ergebnissen bestimmte Entscheidungen und Handlungen führen, bzw. zu erkennen, mit welchen Mitteln welche Ergebnisse zu erzielen sind. Wer dagegen nicht in der Lage ist, diese Gesetzmäßigkeiten der sozialen Wirklichkeit empirisch zu erkennen, kann nicht zweckrational, sondern muß irrational handeln. Er kann seine praktischen Entscheidungen, die Wahl bestimmter Mittel und Methoden, nur normativ-emotional begründen, indem er beteuert, daß sie aus einer guten sittlichen Haltung und in Übereinstimmung mit anerkannten Normen und Prinzipien gefällt wurden. Aber er kann sie nicht rational begründen, indem er mit Hilfe einer Zweck-Mittel-Analyse zu zeigen versucht, daß bestimmte Mittel und Methoden mit großer Wahrscheinlichkeit zu den gewünschten Ergebnissen führen. Irrationales Denken und Verhalten bedeutet in diesem Sinne, unfähig zu sein, zu erkennen, mit welchen Mitteln bestimmte Ziele zu verwirklichen sind und unfähig zu sein, wenigstens annähernd vorauszusehen, welche Konsequenzen bestimmte Entscheidungen haben, so daß die Ergebnisse nicht mit den angestrebten Zielen übereinstimmen und oft Konsequenzen eintreten, die man nicht wünschte, sondern gerade hatte vermeiden wollen. Zweckrationales Denken und Handeln, das die Konsequenzen von Entscheidungen zu kalkulieren vermag, setzt keineswegs den Verzicht auf normativ-emotionales Denken voraus. Denn es ist nicht irrational, sondern es gehört zum Wesen des Menschen, wenn er durch normativ-emotionales Denken die Grenzen des empirischen Denkens und der reinen Vernunft überschreitet, wenn er die Welt nicht nur empirisch erkennen, sondern auch bewerten will, wenn er Ideen und Zielvorstellungen entwickelt, die die Erfahrung und die Logik weder als „falsch" widerlegen noch als „wahr" beweisen können. Der Irrationalismus entsteht erst, wenn das Denken eindimensional wird, wenn das normativ-emotionale das empirisch-analytische Denken so weitgehend „überwuchert" und verdrängt hat, daß Werturteile und Zielvorstellungen zu falschen Aussagen über die Wirklichkeit führen, die sehr wohl — im Gegensatz zu normativ-emotionalen Aussagen — durch die Erfahrung und die Vernunft widerlegt werden können. Denn es sind nicht Werturteile, Ideen, Zielvorstellungen, die vernünftiges Handeln verhindern, sondern es sind unzureichende oder falsche Aussagen über die soziale Wirklichkeit, die es unmöglich machen, die Konsequenzen bestimmter Entscheidungen zu kalkulieren und die soziale Entwicklung bewußt zu beeinflussen.
Die Vorherrschaft eindimensional normativ-emotionalen und spekulativen Denkens hängt eng zusammen mit bestimmten Entwicklungsstufen der Gesellschaft und des Bewußtseins, auf denen es fast unumgänglich ist, den Mangel an positivem und empirischem Wissen über die Wirklichkeit durch spekulative Interpretationen auszugleichen. Auf diesen niedrigen Entwicklungsstufen, die zumeist gekennzeichnet sind durch hierarchische Strukturen der Gesellschaft und des Bewußtseins, werden nicht nur normativ-emotionale Aussagen, sondern auch Aussagen über die tatsächliche Beschaffenheit von Natur und Gesellschaft nicht empirisch und logisch begründet, sondern normativ-autoritär, nämlich unter Berufung auf Autoritäten, auf ewige Werte oder eine göttliche Offenbarung. Auf diese Weise werden die bestehenden Verhältnisse, die vorherrschenden Ideen und Normen wie auch die Interpretationen der Wirklichkeit der rationalen Kritik und bewußter Korrektur und Weiterentwicklung entzogen.
Aufklärung und Rationalismus, die es in Ansätzen in allen historischen Phasen gibt, erkennen diese autoritäre und rein normative Rechtfertigung nicht mehr an; sie setzen alle Verhältnisse und Ideen der Kritik durch die Erfahrung und die Vernunft aus. Auf diese Weise sind sie der geistige Ausdruck von sozialen und politischen Bewegungen, die autoritäre Strukturen der Gesellschaft und des Bewußtseins sowie den damit zusammenhängenden politischen Irrationalismus ständig in Frage stellen. Die geistige Auseinandersetzung zwischen politischem Irrationalismus und kritisch-rationalem Denken ist daher letztlich Ausdruck einer politischen Auseinandersetzung zwischen antidemokratisch-autoritären und demokratisch-emanzipatorischen Tendenzen.
Um die geistigen Grundlagen für demokratisches und rationales Verhalten zu stärken, ist es daher erforderlich, den politischen Irrationalismus einzudämmen und die Faktoren zu erkennen, die ihn begünstigen. Die Teilung Deutschlands, die Atmosphäre des Kalten Krieges und die traditionelle Wiedervereinigungskonzeption waren solche Faktoren, die kritisch-rationales Denken hemmten und die Wiederbelebung des deutschen Irrationalismus förderten. Denn als gefährlich empfundene Situationen, in denen eigentlich ein besonders vernünftiges und rational kalkulierendes Verhalten angemessen ist, verstärken gerade die Neigung vieler Menschen, sich in tröstliche Illusionen zu flüchten, Emotionen an die Stelle nüchternen Denkens zu setzen und alle Schwierigkeiten mit Hilfe eines undifferenzierten Freund-Feind-Schemas zu erklären.
Während nach dem Ersten Weltkrieg das Erlebnis der militärischen Niederlage in breiten Kreisen der deutschen Bevölkerung das emotionale Freund-Feind-Denken verstärkte, das zu einer wichtigen psychologischen Grundlage für die Erfolge der Nationalsozialisten wurde, entwickelte sich das politische Denken nach dem Zweiten Weltkrieg in einer inkonsequenten Doppelgleisigkeit: Gegenüber den westlichen Nachbarn wurde durch sachliche Informationen und Abbau des Freund-Feind-Denkens die psychologische Grundlage für einen Neuanfang, für Versöhnung und Zusammenarbeit geschaffen. Dagegen wurde gegenüber dem Osten das emotionale Freund-Feind-Denken mit Hilfe der traditionellen Wiedervereinigungskonzeption am Leben erhalten. Die Wiedervereinigungspropaganda enthielt kaum sachliche Informationen über die Ursachen und die politischen Zusammenhänge der deutschen Teilung, sondern man bediente sich mehr der wahltaktisch wirksameren Methode, den bolschewistischen Todfeind als Schuldigen an der Spaltung moralisch zu verdammen und die innenpolitischen Gegner und Kritiker der offiziellen Wiedervereinigungskonzeption zu Verbündeten und Agenten dieses Feindes zu stempeln.
Im Klima des Kalten Krieges propagierte und verteidigte die Bundesregierung ihre Politik nicht mit rationalen Argumenten, um zu zeigen, daß ihre politischen Entscheidungen und Forderungen die erstrebte Wiedervereinigung tatsächlich herbeiführen könnten, sondern sie begnügte sich vielmehr mit der permanenten Wiederholung von moralisierenden und emotionalen Schlagworten, die beweisen sollten, daß diese Politik mit den von allen anerkannten Prinzipien und Glaubensbekenntnissen übereinstimmte. Die deutsche Wiedervereinigung war also nicht eine Aufgabe für „richtiges" politisches Denken, sondern eine Sache des „rechten" Glaubens. Weil rationales Denken nachzuweisen vermochte, daß die Westintegration der Bundesrepublik die Wiedervereinigung unmöglich machte, wurde die Wiedervereinigungspolitik der rationalen Diskussion und Kritik entzogen, indem sie zu einem für alle guten Deutschen verbindlichen Glaubensartikel überhöht wurde. Während Glaube im religiösen Denken aber nur bedeutet, etwas für wahr zu halten, was die Vernunft und die Erfahrung weder beweisen noch widerlegen können, verlangte der Glaube an die Wiedervereinigung, etwas für wahr zu halten, was die Vernunft und die Erfahrung sehr wohl als falsch widerlegen konnten.
Der Irrationalismus der Wiedervereinigungskonzeption enthielt eine latente Gefahr, die noch weit größer war als der innen-und außenpolitische Immobilismus des deutschen Politik, der in den sechziger Jahren offen sichtbar wurde. Rüdiger Altman schrieb 1962 in seiner Analyse der außenpolitischen Perspektiven der Bundesrepublik, daß zwar kein deutscher Politiker den Krieg wünsche, aber die letzte innere Konsequenz dieser Politik wie 1914 nur der Krieg sein könne War es nicht in der Tat ein gefährliches Spiel mit dem Feuer, sich einerseits durch die Westintegra22) tion für die Existenz von zwei deutschen Staaten zu entscheiden, andererseits aber die nationalen Emotionen und das politische Wollen des deutschen Volkes auf die nationalstaatliche Wiedervereinigung zu fixieren und sie zu Bedingungen zu fordern, die nur nach einem militärischen Sieg des Westens über den Osten durchzusetzen waren? Oder glaubten die Befürworter der traditionellen Politik tatsächlich, daß die Sowjetunion ohne einen siegreichen Krieg des Westens zur Kapitulation zu zwingen wäre? Von den Illusionen dieser Art, die von Vertretern aller Parteien im Volk verbreitet wurden, sei hier nur folgendes Beispiel angeführt-Erich Mende erklärte noch im Dezember 1964 auf der Jahrestagung des Kuratoriums Unteilbares Deutschland: „Der Wille zur Wiedervereinigung wächst und wird, wenn er nicht gesteuert wird, mit der Gewalt eines Naturereignisses hereinbrechen." Ein solches „Naturereignis" prophezeite schon William S. Schlamm 1958 in seinen „Grenzen des Wunders": „Wenn der deutsche Prosperitätsrausch eines Tages endet, — und eines Tages muß er es, — wird es einen furchtbaren Katzenjammer geben. Dann wird keine andere nationale Trunkenheit möglich sein als die Wiedervereinigung. Das ist ohne Frage Deutschlands nächstes Rendezvous mit dem Schicksal."
Wenn es in den sechziger Jahren, als „der deutsche Prosperitätsrausch" endete, nicht gelungen wäre, die gefährlichen gesamtdeutschen Emotionen und Illusionen abzubauen, dann hätte die Bundesrepublik leicht „mit der Gewalt eines Naturereignisses" in eine abenteuerliche Politik „hineinschlittern" können, so daß das von Schlamm prophezeite „nächste Rendezvous mit dem Schicksal" vielleicht Deutschlands letztes Rendezvous mit dem Schicksal geworden wäre. Der Abbau dieser Emotionen und Illusionen, der die realistische Deutschland-und Ostpolitik der sozialliberalen Koalition erst möglich machte, ist vor allem der publizistischen und der innerparteilichen Opposition in der SPD und in der FDP zu verdanken, die seit Mitte der fünfziger Jahre auf die inneren Widersprüche und Gefahren der traditionellen Wiedervereinigungskonzeption hinwiesen und durch Informationen und rationale Argumente die Illusionen „zersetzten" und kritisch-rationales Denken stärkten
Die Bedeutung der neuen Deutschland-und Ostpolitik für die Interessen der Bevölkerung der DDR und für die deutsche Einheit
Eine Analyse der für die innenpolitische Entwicklung der Bundesrepublik und für die Ost-West-Beziehungen relevanten Faktoren erlaubt eine grundsätzlich positive Bewertung der neuen Deutschland-und Ostpolitik: Sie schafft in der Bundesrepublik bessere Voraussetzungen für demokratisches und rationales Verhalten und für notwendige Reformen; durch die Normalisierung und Verbesserung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR begünstigt sie die Entspannung zwischen Ost und West und vermindert damit die Gefahr eines neuen Krieges; sie ergänzt die bereits vollzogene Aussöhnung mit dem Westen durch die Versöhnung mit den östlichen Nachbarn und leistet damit einen unentbehrlichen Beitrag zu einer europäischen Friedensordnung.
Da Deutschland-und Ostpolitik der Bundesrepublik von ihrem eigenen Anspruch her auch den Interessen der Bevölkerung der DDR und langfristig der deutschen Einheit dienen soll, ist für eine Bewertung der neuen Politik auch die Frage zu stellen, welche Konsequenzen sie für die Bevölkerung der DDR und für das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen aus Ost und West haben kann, das ja eine unentbehrliche Voraussetzungen für ein fortdauerndes Interesse an der deutschen Einheit ist.
Diese für die Bewertung der neuen Politik wichtige Frage ist mit der folgenden These zu beantworten: Die neue Deutschland-Und Ost-politik nützt auch den Interessen der Bevölkerung in der DDR, und die Anerkennung der DDR als zweiter deutscher Staat schwächt nicht das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen. Dagegen hat gerade die traditionelle Wiedervereinigungskonzeption die Entfremdung zwischen der Bevölkerung beider deutschen Staaten, wenn auch ungewollt, gefördert.
Wie ist diese These zu begründen? Die antikommunistischen Bekenntnisse zur Wiedervereinigung stärkten nur in den ersten Jahren der deutschen Teilung — in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre — das Gefühl der Deutschen im Osten, trotz der sich unterschiedlich entwik-kelnden Lebensverhältnisse zur gleichen Schicksalsgemeinschaft zu gehören wie die Deutschen im Westen. Denn diese Proklamationen versprachen ihnen ja, die abgelehnten kommunistischen Verhältnisse zu beseitigen und auch bei ihnen die besseren westlichen Verhältnisse zu verwirklichen. Das Vertrauen zu diesem Versprechen gab ihnen die Kraft, sich nicht mit dem kommunistischen Regime abzufinden und das als bedrückend empfundene Leben in der Zone als bald vorübergehendes Provisorium zu ertragen. Um die Möglichkeiten für die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse, die sich von denen in der Bundesrepublik unterschieden, zu erkennen, brauchten sie kein partikulares Selbstverständnis zu entwickeln. Denn sie dachten nicht daran, diese Verhältnisse von innen zu verbessern, da ihnen ja die Bundesregierung ständig versprach, sie von außen her zu beseitigen. Doch während die Wiedervereinigungsparolen bemüht waren, alle Hoffnungen der Bevölkerung im Osten ausschließlich auf die Beseitigung der DDR zu fixieren, entschied sich die westdeutsche Politik durch die Integration der Bundesrepublik in den westlichen Militärblock für den Fortbestand der DDR. Die gesamtdeutschen Bekenntnisse weckten also in der Bevölkerung der DDR systematisch Hoffnungen, deren Erfüllung die Politik der Bundesregierung zielstrebig verhinderte. Daher verloren gerade diejenigen, die am geduldigsten alle Hoffnungen ausschließlich auf den Westen gesetzt hatten, ihre Hoffnung und ihr Vertrauen zum Westen, regsignierten und verzweifelten, wurden verbittert und apathisch.
In den sechziger Jahren ergänzte die Bundesregierung ihre Hauptforderung nach Wiedervereinigung durch die Forderung nach menschlichen Erleichterungen, nach Liberalisierung und Humanisierung des kommunistischen Regimes. Aber auch diese als „neu" deklarierte Politik konnte den fortschreitenden Entfremdungsprozeß nicht aufhalten, weil sie entgegen ihrem eigenen Anspruch die im Interesse der Bevölkerung der DDR geforderte Liberalisierung des Systems sogar erschwerte, und zwar deshalb, weil die Bundesregierung gleichzeitig wiederum zwei einander sich ausschließende Ziele verfolgte. Einerseits wollte sie im Interesse der Bevölkerung der DDR die Liberalisierung des kommunistischen Systems fördern, andererseits bemühte sie sich, unter Berufung auf das langfristige Ziel der Wiedervereinigung und auf den Alleinvertretungsanspruch, die innen-und außenpolitische Konsolidierung der DDR als Staat zu verhindern. Aber gerade diese innen-und außenpolitische Konsolidierung und die internationale Aufwertung der DDR sind unabdingbare objektive Voraussetzungen für eine konsequente Liberalisierung, weil — unabhängig vom guten oder bösen Willen der Regierenden — in einem innen-und außenpolitisch in Frage gestellten und gefährdeten Staat ein liberales und demokratisiertes Regime nicht funktions-und lebensfähig ist. Eine konsequente Liberalisierung hätte unter diesen Voraussetzungen zum völligen Zusammenbruch des politischen Systems geführt. Die Sowjetunion und die SED-Führung werden evolutionäre Veränderungen in der DDR jedoch nur in dem Maße zulassen, in dem sie sich nicht zu einem revolutionären Umsturz weiterentwickeln und die Existenz des Staates bedrohen können. Da die Deutschlandpolitik der Bundesregierung die Konsolidierung der DDR erschwerte und damit die Gefahr erhöhte, daß evolutionäre Veränderungen zu einem revolutionären Umsturz führen, erschwerte sie die Liberalisierung der DDR und schadete damit den Lebensinteressen der Deutschen im Osten. Diese westliche Politik nützte aber dennoch einem geringen Prozentsatz der 17 Millionen „Brüder und Schwestern", nämlich den stalinistischen Funktionären. Denn gerade die Schwäche des kommunistischen Regimes in der DDR war die Stärke der Stalinisten, weil diese Schwäche eine konsequente Liberalisierung infolge der damit verbundenen Gefahren objektiv unmöglich machte.
Aus dem Alleinvertretungsanspruch ergab sich noch ein zweiter Widerspruch der Deutschlandpolitik der sechziger Jahre: Einerseits wünschte die Bundesregierung die Liberalisierung des kommunistischen Regimes, andererseits zog sie aber weiterhin schematisch eine absolute Trennungslinie zwischen unterdrückenden Funktionären und unterdrückter Bevölkerung. Gesamtdeutsche Politik war daher Politik für die freiheitsliebende Mehrheit der Bevölkerung und gegen die Minderheit kommunistischer Funktionäre, die durch ihre Mitarbeit im System Verrat an der nationalen Einheit begingen. Gegen diese Minderheit und für die Mehrheit der Bevölkerung wollte die Bundesregierung die menschlichen Erleichterungen erzwingen. So wie später die Wiedervereinigung, so sollte zunächst die Liberalisierung der DDR ein Geschenk der Bundesregierung für die Bevölkerung im Osten sein.
Obwohl frühere Bundesregierungen glaubten, mit Hilfe der Nichtanerkennung der DDR und des Alleinvertretungsanspruchs auch künftigen Generationen den unverzichtbaren Rechtsanspruch auf die Wiedervereinigung zu erhalten, haben sie damit schon bei der gegenwärtig in der DDR lebenden jüngeren Generation das Interesse an der deutschen Einheit weitgehend zerstört. Denn es liegt im Interesse dieser Generation, die Lebensverhältnisse in der DDR durch kritisch-loyale Mitarbeit zu verbessern. Der Alleinvertretungsanspruch der Bundesregierung verurteilte jedoch jede Mitarbeit im politischen System der DDR als Kollaboration mit den Feinden der deutschen Einheit. In Wirklichkeit allerdings konnten und können die Verhältnisse in der DDR nur in dem Maße besser werden, in dem die von der Bundesrepublik moralisch verdammten Funktionäre, unterstützt von der Bevölkerung, den vom Westen bekämpften Staat verbesserten, also auch aufwerteten und konsolidierten. Nicht die feindselige Politik der Bundesregierung und auch nicht eine undifferenzierte Opposition, die sich grundsätzlich gegen die Existenz der DDR richtet, sondern kritisch-loyale Mitarbeit der Bevölkerung ist geeignet, zur Verbesserung der Lebensbedingungen in der DDR beizutragen. Denn nur wer die DDR grundsätzlich akzeptiert, kann sie im Detail verändern.
Während nach den Vorstellungen des Alleinvertretungsanspruchs das Schicksal der Menschen im Osten allein in der Hand westlicher Politiker lag, haben wir mit dem Verzicht auf den Alleinvertretungsanspruch anerkannt, daß die Deutschen in der DDR, einschließlich der Funktionäre, nicht mehr die Objekte einer westlichen Wiedervereinigungs-und Befreiungspolitik sind, sondern daß sie mit ihren eigenen Gedanken und Ideen das zukünftige Gesicht Deutschlands aktiv und unabhängig vom Westen mitbestimmen werden und daß sie als gleichberechtigte Partner jeder Deutschlandpolitik anzusehen sind. Und durch die Anerkennung der DDR als zweiter deutscher Staat begünstigt die Bundesrepublik die weitere innen-und außenpolitische Konsolidierung und Aufwertung der DDR, d, h. sie akzeptiert die Voraussetzungen und Konsequenzen systemimmanenter Verbesserung der Lebensbedingungen für die Bevölkerung der DDR, so daß die Politik der Bundesrepublik jetzt endlich den Zielen dienen kann, zu denen sich auch schon von der CDU/CSU geführte Regierungen in den sechziger Jahren bekannten. Die Frage, ob die neue Deutschland-und Ostpolitik auch den Lebensinteressen der Bevölkerung der DDR dient, ist daher eindeutig und uneingeschränkt mit ja zu beantworten.
Schwieriger und komplizierter ist jedoch die Antwort auf die Frage, ob diese Politik auch der deutschen Einheit dient. Eindeutig ist i diesem Zusammenhang nur festzustellen: Die Möglichkeit, für die bisher dargestellten POS. tiven Ziele eine wirksame Politik betreiben Zu können, wurde nicht — wie Gegner der neuen Politik behaupten — mit dem Verzicht auf die deutsche Einheit erkauft, sondern nur mit dem Verzicht auf Doktrinen und Forderungen, die uns nachweislich nicht der Wiedervereinigung näherbringen konnten. Auch die Mehrheit der deutschen Bevölkerung — in Ost und West — teilt die nüchterne Einsicht, daß Hallsteindoktrin, Alleinvertretungsanspruch, Nichtanerkennung der Ostgrenzen und der DDR, Isolierung der DDR, die Forderung nach freien Wahlen und nach außenpolitischer Handlungsfreiheit einer gesamtdeutschen Regierung nicht der Wiedervereinigung dienten, sondern nur die Verwirklichung anderer Ziele verhinderten. Die von Bundeskanzler Willy Brandt offen ausgesprochene Einsicht, „daß eine Wiedervereinigung im ursprünglichen Sinne nicht möglich ist", kann aber nicht als grundsätzlicher Verzicht auf die deutsche Einheit gedeutet werden.
In einem Brief Walter Scheels, der anläßlich der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages im sowjetischen Außenministerium übergeben wurde, stellte die Bundesregierung ausdrücklich fest, „daß dieser Vertrag nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt"
Doch welche Bedeutung hat dieses grundsätzliche Bekenntnis zur deutschen Einheit für die praktische Politik? So unbestritten und klar es sein muß, daß die alte Politik nicht der Wiedervereinigung diente, so wenig ist bisher überzeugend nachzuweisen, daß die neue Politik diesem Ziel wirksamer zu dienen vermag.
Um zu verhindern, daß an die Stelle der mühsam überwundenen alten Illusionen nur neue Illusionen treten, die eines Tages wieder zu Enttäuschungen und irrationalen Reaktionen führen können, ist die Bedeutung des Bekenntnisses zur deutschen Einheit für die praktische Politik sehr nüchtern einzuschätzen: Es bedeutet nur, daß die Bundesregierung weiterhin die deutsche Einheit wünscht und als erstrebenswertes Ziel ansieht. Aber dieses Bekenntnis bedeutet auf keinen Fall, daß die Wiedervereinigung gegenwärtig oder in absehbarer Zukunft zum Gegenstand bewußten politischen Handelns werden könne, die Bundesregierung also in der Lage sei, konkrete Maßnahmen zu ergreifen und Entscheidungen zu fällen, die uns nachweislich diesem Ziel näherbringen könnten.
Die Feststellung, daß die Bundesregierung keine praktische Entscheidung trifft oder in absehbarer Zukunft treffen wird, die uns der deutschen Einheit näherbringen, ist nicht als Vorwurf mißzuverstehen, die Bundesregierung tue nichts für die Erreichung des von ihr anerkannten Zieles deutscher Politik. Denn beim gegenwärtigen Stand der Ost-West-Beziehungen, den innenpolitischen Verhältnissen in Ost und West und den auf beiden Seiten vorherrschenden Theorien über den Charakter des Ost-West-Konfliktes kann keine Regierung etwas tun für die Wiederherstellung der deutschen Einheit.
Aus dieser Einsicht könnte einerseits die Schlußfolgerung gezogen werden, daß es konsequenter und ehrlicher wäre, sich mit den Ergebnissen der neuen Deutschland-und Ost-politik zu begnügen und auf das für die politische Praxis mehr deklamatorische Bekenntnis zur deutschen Einheit zu verzichten. Will man dagegen am Bekenntnis zur deutschen Einheit festhalten, ist es unumgänglich, anhand einer empirischen Analyse festzustellen, ob es in der politischen Wirklichkeit bisher noch nicht erkannte Faktoren, Tendenzen und Möglichkeiten gibt, die — entgegen dem gegenwärtig vorherrschenden Eindruck — eine wirksame Politik für die Wiedervereinigung objektiv möglich machen könnten. Nur wenn es solche Faktoren und Tendenzen gibt oder es möglich ist, sie zu schaffen, und wenn darüber hinaus erkannt wird, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen politischen Maßnahmen sie so zu verstärken sind, daß ein realer Wiedervereinigungsprozeß entsteht, kann das Bekenntnis zur Einheit mehr sein als ein passiver Wunsch oder ein Selbstbetrug, kann es zur Grundlage für ein politisches Programm und zu einer durch praktische Schritte zielstrebig zu verwirklichenden Perspektive der neuen Politik werden.
Während die sozialliberale Koalition die Voraussetzungen und Konsequenzen einer Politik anerkannt hat, die zu menschlichen Erleichterungen für die Bevölkerung der DDR und zu einer friedlichen Entwicklung in Europa beitragen kann, hat die Diskussion über die Voraussetzungen und Konsequenzen einer Politik, die zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten führen kann, bisher noch kaum begonnen. Eine wirksame Politik für die deutsche Einheit kann aber erst beginnen, nachdem die Voraussetzungen, Methoden und Konsequenzen einer solchen Politik empirisch erkannt worden sind und politisch entschieden worden ist, ob sie für uns annehmbar sind oder mit anderen Zielen und Grundsätzen nicht zu vereinbaren wären.
Deutsche Einheit nur durch friedliche Überwindung des Ost-West-Gegensatzes
Ein Versuch, nicht nur in der Phantasie eine ideale Lösung zu konstruieren, sondern aus der Wirklichkeit eine zu realisierende Konzeption der deutschen Einheit abzuleiten, muß von der Einsicht ausgehen, daß die zukünftige Entwicklung des Verhältnisses zwischen beiden deutschen Staaten weitgehend von den Beziehungen zwischen Ost und West abhängen wird. Daher ist die Vereinigung der beiden deutschen Staaten nur möglich auf der Grundlage eines Entwicklungsprozesses, der die Spaltung zwischen Ost und West überhaupt überwindet. Infolge der Integration in den westlichen Block kann die Bundesregierung nur dann eine aktive Politik für die Neuvereinigung Deutschlands betreiben, wenn diese Politik mit den allgemeinen Tendenzen der westlichen Koexistenzkonzeption grundsätzlich übereinstimmt, bzw. wenn es der Bundesregierung gelingt, die allgemeinene Tendenzen der westlichen Koexistenzpolitik so zu beeinflussen, daß sie zur Grundlage für eine Politik der Neu-vereinigung Deutschlands werden können.
Die langfristige Perspektive der neuen Deutschland-und ist nicht zuletzt Ostpolitik deshalb noch weil auch der Westen unklar, insgesamt noch keine eindeutige Perspektive für die Ost-West-Beziehungen entwickelt hat. Die USA haben Ende der fünfziger Jahre ihre Politik des , roll back'und der Befreiung nicht aufgegeben, weil sie eine neue und bessere langfristige Strategie entwickelt hätten, sondern weil sie einsahen, daß diese Konzeption irreal und gefährlich war. Die pragmatische Entspannungspolitik, durch die Ost und West die prinzipielle und weltanschaulich begründete Politik des Kalten Krieges ersetzten, litt darunter, daß sie sich nicht aus einem grundsätzlichen Wandel des politischen Denkens ergab, sondern den Großmächten durch die Entwicklung der atomaren Vernichtungswaffen praktisch aufgezwungen wurde. Die Tatsache, daß Menschen erstmals in der Geschichte über Waffen verfügten, mit denen sie die ganze Menschheit vernichten können, veranlaßte die Repräsentanten der Großmächte zu der Einsicht, daß diese Waffen nicht mehr einzusetzen waren zur Durchsetzung politischer Ziele; aber sie änderten nicht grundsätzlich ihr politisches Denken und gaben die Ziele nicht auf, die ohne Gewaltanwendung nicht zu erreichen sind.
Eine prinzipielle und konsequente Entspannungspolitik wurde und wird noch immer gehemmt durch jenes politische Denken, das den Ost-West-Gegensatz als einen antagonistischen und grundsätzlich nicht friedlich zu überwindenden Gegensatz interpretiert. Während östliche Ideologen den Ost-West-Konflikt als den absoluten und nicht zu versöhnenden Gegensatz zwischen Sozialismus und Kapitalismus interpretieren, deuten ihn westliche Ideologen als unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Unfreiheit und Freiheit, Totalitarismus und Demokratie. So wie in der östlichen Ideologie ein Dritter Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus ausgeschlossen wird, so weisen westliche Ideologen einen Kompromiß zwischen Unfreiheit und Freiheit als unzumutbar zurück. Da die östlichen Apologeten nicht aul den Anspruch verzichten wollen, daß sich ihr Sozialismus in der ganzen Welt durchsetzt und auch die Wortführer der Freien Welt mit ihrer Freiheit die ganze Menschheit beglücken möchten, ist eine Lösung des Ost-West-Konfliktes nur denkbar als Sieg der einen Seite über die andere. Wenn diese antagonistische Interpretation objektiv wahr wäre, wenn also eine evolutionäre Überwindung des Gegensatzes unmöglich ist, die beiden Blöcke auf die Dauer auch nicht nebeneinander existieren können, dann folgt daraus, daß die Menschheit dazu verdammt ist, sich selbst zu vernichten. Solange die Logik einer antagonistischen Interpretation des Ost-West-Gegensatzes das Denken beherrscht, besteht die Gefahr, daß sie auch das Handeln erfaßt, das bisher aus Angst vor der atomaren Katastrophe einer anderen Logik folgte.
Unter diesem Gesichtspunkt war es ein großer Fortschritt, daß Präsident Kennedy in seiner Friedensstrategie ausdrücklich auf das Ziel des , roll back'und der Vernichtung des Kommunismus verzichtete und einen Ansatz für eine Konzeption zur friedlichen Überwindung des Ost-West-Gegensatzes schuf, indem er die außenpolitische Entspannungspolitik gleichzeitig als Mittel ansah, den inneren Wandlungsund Liberalisierungsprozeß im Osten zu begünstigen. Im Zusammenhang mit der pragmatischen Entspannungspolitik Eisenhowers und der Friedensstrategie Kennedys erlangten im politischen Denken und in den Sozialwissenschaften als Alternative zur antagonistichen Interpretation jene Deutungen des Ost-West-Gegensatzes größeren Einfluß, die unter dem Begrif Konvergenztheorie zusammengefaßt werden können Während die Anhänger der antagonistischen Interpretation normativ und moralisierend argumentieren, um die Unversöhnlichkeit des Ost-West-Gegensatzes als Gegensatz zwischen Gut und Böse oder Wahrheit und Lüge zu „beweisen", verfahren die Anhänger der Konvergenztheorie eher „positivistisch", bzw. empirisch-analytisch. Durch eine empirische Analyse der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungstendenzen gelangen sie zu der Schlußfolgerung, daß die Unterschiede zwischen beiden Gesellschaftssystemen in der Wirklichkeit nicht so groß sind wie in den ideologischen Vorstellungen des Ostens und des Westens und daß die noch bestehenden Unterschiede geringer werden, weil beide Systeme sich auf der Grundlage der wissenschaftlichen und technologischen Revolution aneinander annähern und angleichen, also konvergieren
Während nach der antagonistischen Interpretation der Ost-West-Gegensatz nur machtpolitisch zu überwinden ist durch den Sieg der einen Seite und die Übertragung des siegreichen Gesellschaftssystems auf den besiegten Block, hält die Konvergenztheorie die friedliche Lösung des gefährlichen Konfliktes für möglich, und zwar durch den inneren Wandel und eine konvergierende Entwicklung beider Gesellschaftssysteme, die zu einer Art Synthese zwischen Sozialismus und Kapitalismus führt.
Abgesehen von verschiedenen Nuancen, lassen sich die Grundzüge der vorherrschenden Konvergenztheorien wie folgt zusammenfassen: Da die Konvergenztheoretiker nicht normativ argumentieren, sondern empirisch-analytisch vorgehen, stellen sie keine erstrebenswerten Ziele auf und geben auch keine Handlungsanweisungen, wie diese Ziele zu erreichen sind. Die Aussagen der Konvergenz-theorie wollen sich als Tatsachenaussagen über gesellschaftliche Entwicklungsprozesse verstanden wissen, die sich nach objektiven Gesetzmäßigkeiten unabhängig vom Denken und von den ideologischen Zielvorstellungen der Menschen vollziehen. Danach sind es die objektiven Gesetzmäßigkeiten und Sachzwänge der modernen Industriegesellschaft und der wissenschaftlich-technischen Revolution, die unabhängig von den vorherrschenden ideologischen Vorstellungen in Ost und West die Annäherung und Angleichung des kapitalistischen und des sozialistischen Systems in Richtung einer einheitlichen Industriegesellschaft durchsetzen. Mit der Entwicklung der wissenschaftlich-technischen Revolution gewinnen in beiden Systemen die Manager, Fachleute und Technokraten immer größeren Einfluß, und diese fällen nicht mehr unter ideologischen Gesichtspunkten im Westen grundsätzlich andere Entscheidungen als im Osten, sondern gelangen infolge der in beiden Systemen gleichen Gesetzmäßigkeiten und Sachzwänge zu gleichen Sachlösungen. Aus sachlichen Gründen ist es notwendig, in den ökonomischen Entscheidungsprozeß im Osten Elemente der Marktwirtschaft und im Westen Elemente staatlicher Planung einzubauen. Die auf Produktionssteigerung ausgerichtete Industrie-und Leistungsgesellschaft führt aus objektiven Gründen zum Massen-konsum. Auch die kommunistische Gesellschaft entwickelt sich notwendigerweise zur Konsumgesellschaft, verbunden mit der Verbürgerlichung, Privatisierung und Entideologisierung der Massen, die sich nicht mehr für ideologische Ziele engagieren, sondern sich auf den privaten Lebensbereich konzentrieren und nur nach höherem Lebensstandard streben.
Während ein Teil der Konvergenztheoretiker davon ausgeht, daß sich bei der Konvergenz vor allem die rückständigere kommunistische Gesellschaft ändern und der fortgeschrittene-ren amerikanischen Konsumgesellschaft anpassen müsse (z. B. W. W. Rostow), betonen linke Theoretiker (z. B. Jan Tinbergen und P. A. Sorokin), daß sich beide Systeme ändern müssen, so daß sie sich auf einer mittleren Linie treffen und eine Synthese bilden, bei der die Vorzüge beider Systeme zusammengefaßt, ihre Nachteile aber eliminiert werden.
Konvergenztheorie — Grundlage für eine realistische Konzeption der deutschen Einheit?
Auf den ersten Blick scheint die Konvergenz-theorie für eine realistische Konzeption der deutschen Einheit eine geeignete Grundlage zu bieten, da es ja ihr zentraler Gedanke ist, daß es in der Wirklichkeit selbst Faktoren und Tendenzen gibt, die zur friedlichen Überwindung des Ost-West-Gegensatzes führen. Zur Grundlage einer zielstrebigen Politik für die Neuvereinigung Deutschlands könnte die Konvergenztheorie allerdings nur dann werden, wenn sie sowohl im Westen als auch im Osten theoretisch akzeptiert würde und auf beiden Seiten als Anleitung für eine politische Praxis diente, die die gegenseitige Annäherung und die evolutionäre Überwindung der Gegensätze zwischen den beiden konkurrierenden Systemen zum Ziel hätte.
Obwohl die Konvergenztheorie im Gegensatz zu antikommunistischen Ideologien das kommunistische System viel positiver einschätzt, haben die kommunistischen Parteien Osteuropas diese Theorie scharf abgelehnt. Sie sehen in ihr eine „konzeptionelle Grundlage offensiver Ostpolitik", „Waffe der ideologischen Diversion", „eine der wichtigsten konzeptionellen Grundlagen für die imperialistische Strategie der Aufweichung, Spaltung und Zerstörung des Sozialismus", die helfen soll, „konterrevolutionäre Prozesse in Gang zu setzen"
Ist aus dieser ideologischen Ablehnung der Konvergenztheorie nicht die Schlußfolgerung zu ziehen, daß es illusionär wäre, eine friedliche Überwindung des Ost-West-Gegensatzes und die Neuvereinigung Deutschlands durch eine Synthese beider Systeme für möglich zu halten? Haben die osteuropäischen Kommunisten durch die Intervention in der CSSR am 21. August 1968 den zentralen Gedanken der Konvergenz nicht auch praktisch verurteilt und klargestellt, daß sie in ihrem Machtbereich jede konsequente Synthese von Freiheit und Sozialismus notfalls mit militärischer Gewalt verhindern oder zerschlagen werden? Und ist nicht auch die Politik der DDR, die als Antwort auf die neue Deutschland-und Ostpolitik der Bundesregierung die verstärkte Abgrenzung fordert, als deutliche Absage an die Idee der Konvergenz oder eines Dritten Weges anzusehen?
Die radikale Ablehnung der Konvergenztheorie durch die osteuropäischen Kommunisten legt zunächst tatsächlich die pessimistische Schlußfolgerung nahe, daß es unmöglich ist, eine realistische Konzeption zu entwickeln, die zu einer zielstrebigen politischen Praxis für die Überwindung des Ost-West-Gegensatzes durch eine Synthese beider Systeme anzuleiten vermag. Auf der Grundlage der Konvergenztheorie ist es aber auch möglich, den Verzicht auf Politik optimistisch mit dem Argument zu begründen, daß für die Über-windung des Ost-West-Gegensatzes ja gar keine zielstrebige Politik notwendig ist. Denn die vorherrschende Konvergenztheorie ist eine objektivistische Theorie; als objektivistisch oder auch deterministisch ist diese Theorie zu bezeichnen, weil sie die Ursache für die Konvergenz in den objektiven Gesetzmäßigkeiten der modernen Industriegesellschaft sieht. Die Angleichung beider Systeme vollzieht sich also nicht deshalb, weil die in Ost und West handelnden Menschen sie bewußt wollen, sondern weil die in Ost und West unabhängig von den subjektiven Meinungen und ideologischen Vorstellungen der Menschen wirkenden objektiven Gesetzmäßigkeiten der Industriegesellschaft die Unterschiede beider Systeme immer mehr einebnen.
Wer diesen fatalistischen Optimismus der objektivistischen Konvergenztheorie teilt, braucht sich über einen gangbaren Weg zur deutschen Einheit keine Gedanken zu machen und kann darauf vertrauen, daß die ideologische Haltung der osteuropäischen Kommunisten den realen Prozeß der Konvergenz nicht aufzuhalten vermag. Wozu brauchen wir noch eine Konzeption und eine zielstrebige Politik für die Überwindung des Ost-West-Gegensatzes, wenn die objektiven Gesetzmäßigkeiten der modernen Industriegesellschaft auch ohne oder sogar gegen politische Ideologien und Programme die friedliche Angleichung der beiden Systeme und damit auch der beiden deutschen Staaten bewirken? Den apolitischen Positionen sowohl der woPta mistischen" als auch der „pessimistischen Schlußfolgerung, nach denen es grundsätzli nicht notwendig oder aber nicht möglich ist daß die Menschen die gesellschaftliche Ent Wicklung bewußt durch Politik beeinflus sen, sei hier nur die These entgegenge stellt, daß Politik für die friedliche Uber Windung des Ost-West-Gegensatzes sowohl notwendig als auch möglich ist. Denn einerseits gibt es keinen Sachzwang zur Konvergenz, der zielstrebiges politisches Handeln überflüssig macht; andererseits macht die sowjetische Ablehnung der Konvergenztheorie eine Konzeption und eine praktische Politik für die Überwindung des Ost-West-Gegensatzes nicht unmöglich.
Notwendig ist eine zielstrebige Politik deshalb, weil es eine Illusion ist zu glauben, daß die Gesetzmäßigkeiten der modernen Industriegesellschaft, irgendeine „ideologiefreie Rationalität" oder ein „technologischer Sachzwang" die Menschheit unbewußt und ungewollt in eine friedliche, gerechte und humane Gesellschaft „hineinschlittern" lassen. Die Menschheit ist zwar sehr wohl noch immer — wie schon oft in der Vergangenheit — in der Gefahr, unbewußt und ungewollt in verheerende Kriege, Krisen und Katastrophen „hineinzuschlittern". Aber wenn der Menschheit in Zukunft solche Kriege und Krisen erspart bleiben und die Gesellschaft vernünftiger und humaner wird, dann wird das nicht das Geschenk eines vom Willen und Bewußtsein, von den Vorurteilen und dem Fanatismus oder der Trägheit und Gleichgültigkeit der Menschen unabhängigen Sachzwanges sein, sondern nur das Ergebnis bewußten und zielstrebigen politischen Handelns.
Die Auffassung, daß die Sachzwänge der Industriegesellschaft zielstrebige Politik nicht überflüssig machen, ist wahrscheinlich leichter zu begründen als die These, daß es trotz Ablehnung der Konvergenztheorie durch die osteuropäischen Kommunisten möglich ist, eine politische Konzeption für die friedliche Über-windung des Ost-West-Gegensatzes und die Synthese beider Systeme zu entwickeln. Zu begründen ist diese These, wenn es gelingt nachzuweisen, daß die osteuropäischen Kommunisten die Konvergenztheorie und die Synthese von Freiheit und Sozialismus nicht wegen eines starren und unabänderlichen Grundsatzes ihrer Theorie ablehnten, nicht aus Böswilligkeit oder unüberwindlichem Dogmatismus, sondern vor allem aus praktisch-politischen Gründen, weil nämlich die vorherrschende Konvergenztheorie und die damit verbundene Politik des Westens auf die innere Entwicklung in Osteuropa Wirkungen ausübte, die sie für absolut unvereinbar hielten mit den Erfordernissen der Staats-und Gesellschaftsräson. Da sie fürchteten, daß diese Entwicklung zum Zusammenbruch des Sozialismus und zur Restauration des Kapitalismus führen könne, stellte Günther Rose fest: »Die Konvergenztheorie sagt also nicht die
Angleichung beider Systeme, sondern den Untergang des Sozialismus voraus."
Ein Aufsatz von Konstantin Pritzel „Die Sowjetkommunisten und die Konvergenz-theorie" enthält überzeugende Argumente für die These, daß die osteuropäischen Kommunisten die Konvergenztheorie nicht aus grundsätzlichen Überlegungen, sondern aus praktischen Gründen ablehnen. Nachdem Pritzel festgestellt hatte, daß die Konvergenztheorie seit etwa 1967 ein zentrales Thema der ideologischen Auseinandersetzung, vor allem in der SED, wurde, stellt er sich die Aufgabe, zu klären, „warum man sich gerade auf diese Theorie konzentrierte und sie — im Gegensatz zu ihrer tatsächlichen Bedeutung im politisch-geistigen Leben der westlichen Welt — zu einem der wichtigsten und gefährlichsten Instrumente eines aggressiven Imperialismus deutete" Aufschlußreich für die Klärung der Frage, warum die Konvergenztheorie, die zunächst im Osten kaum beachtet worden war, gerade um die Jahreswende 1967/68 in den Mittelpunkt der ideologischen Diskussion rückte, ist die Feststellung Pritzels: „Der Grund hierfür lag in dem verstärkten politischen und ideologischen Erosionsprozeß innerhalb des sozialistischen Lagers, wie er im besonderen an der Entwicklung in der Tschechoslowakei sichtbar wurde. Im Zuge der Abwehr dieser Tendenzen durch Moskau und seine Verbündeten wurde die Konvergenztheorie umgedeutet zur ideologischen Basis des aggressiven Imperialismus, zum bewußt eingesetzten Mittel des Klassenkampfes gegen das sozialistische Lager sowie zum Instrumentarium der neuen Ostpolitik."
Da der Grund für die Ablehnung der Konvergenztheorie nicht in einem unabänderlichen theoretischen Prinzip zu sehen ist, sondern in jenem „verstärkten politischen und ideologischen Erosionsprozeß innerhalb des sozialistischen Lagers", also in realen politischen Faktoren, die sich ändern können, kann sich auch die Einstellung der osteuropäischen Kommunisten zur Konvergenz ändern. Es besteht also die Chance, daß sie die Grundgedanken der Konvergenz akzeptieren, wenn sie nicht mehr einen inneren Erosionsprozeß zu befürchten haben, der zum Zusammenbruch des sozialistischen Systems führen kann.
Wenn wir dazu beitragen wollen, daß die osteuropäischen Kommunisten die Konvergenz der Systeme akzeptieren, müssen wir zunächst die Faktoren erkennen, die jenen inneren Erosionsprozeß bewirken, der aus Gründen der Staats-und Gesellschaftsräson Abwehr-reaktionen gegen die Synthese von Freiheit und Sozialismus hervorruft. Und wir müssen prüfen, ob eine veränderte Konvergenztheorie, verbunden mit einer neuen westlichen Politik, die Erosionswirkung dieser Faktoren aufzuheben vermag, so daß eine konvergierende Entwicklung in Osteuropa nicht mehr gegen die Erfordernisse der Staats-und Gesellschafts-räson verstößt.
Aus der gegenwärtigen Ablehnung der Konvergenztheorie ist jedenfalls nicht zu schließen, daß die osteuropäischen Kommunisten endgültig eine ihnen aus dem Westen entgegen-gestreckte Hand der Versöhnung zurückgewiesen und sich dafür entschieden haben, den Ost-West-Konflikt bis zum Sieg des eigenen Blockes fortzusetzen. Bei einer genaueren Analyse stellt sich sogar paradoxerweise heraus, daß der ideologische Kampf gegen die Konvergenztheorie gar nicht gegen eine fortschrittliche politische Theorie und Praxis des Westens gerichtet ist, sondern gegen eine theoretische und praktische Tendenz progressiver Konvergenz, die im Osten entstanden und nur dort zu einer realen politischen und geistigen Kraft geworden war. Konstantin Pritzel ist zu recht verwundert darüber, daß man sich seit etwa Ende 1967 in der ideologischen Auseinandersetzung auf die Konvergenztheorie konzentrierte und sie, wie er hervorhebt, „— im Gegensatz zu ihrer tatsächlichen Bedeutung im politisch-geistigen Leben der westlichen Welt — zu einem der wichtigsten und gefährlichsten Instrumente eines aggressiven Imperialismus deutete ..." „Im Gegensatz zu ihrer tatsächlichen Bedeutung im politisch-geistigen Leben der westlichen Welt“, wo die Konvergenz-theorie trotz einer gewissen Publizität in den letzten Jahren eine Angelegenheit einiger Intellektueller blieb, wurde sie im politisch-geistigen Leben der östlichen Welt zu einer realen Kraft. Nicht gegen die Konvergenz-theorie im Westen, sondern gegen die revolutionierende politische Wirksamkeit einer neuen politischen Idee im Osten richtete sich in Wirklichkeit die offizielle ideologische Kampagne gegen die Konvergenztheorie.
In seinem 1956 erschienenen Buch „Der Katorgan" berichtet Bernhard Roeder über zahlreiche Gespräche, die er in sowjetischen Zwangsarbeitslagern seit 1950 mit kommunistischen Intellektuellen geführt hat, die oft — ohne das Wort Konvergenztheorie zu verwenden — zentrale Gedanken dieser Theorie vortrugen. Einen dieser Gesprächspartner zitiert Roeder wie folgt: „Je mehr unser System sich wirtschaftlich, wissenschaftlich und technisch entwickelt, um so mehr wird die industrielle Demokratisierung auch bei uns hervortreten. Siehst Du, diese schöne These habe ich als Erster aufgestellt. Im Westen hätte ich dafür ein gutes Honorar, hier aber habe ich fünfundzwanzig Jahre bekommen, — das ist eben der Unterschied." Und ein anderer sowjetischer Intellektueller faßte lange vor den westlichen Theoretikern in einem sowjetischen Arbeitslager die Grundgedanken der Konvergenztheorie zusammen:
„Die Weiterentwicklung der russischen Revolution im freiheitlichen Sinne wird durch die Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft, Technik und Wissenschaft Schritt für Schritt erzwungen. In dem täglichen Konflikt zwischen den Forderungen der Praxis in jedem Betrieb und den Forderungen der Doktrin fällt die Entscheidung schließlich immer zugunsten der Praxis, wird die Doktrin immer wieder revidiert und immer weiter ausgehöhlt. Eines Tages wird man die Doktrin wie ein altes Baugerüst wegräumen, dann wird jeder den neuen Bau sehen, der hinter dem dreckigen alten Gerüst entstanden ist.... In dem Maße, in dem sich die russische Revolution über den Bolschewismus hinaus im freiheitlichen Sinne weiterentwickelt, wird es zu einem friedlichen Zusammenwachsen der beiden großen Welten des Ostens und des Westens kommen, und damit zu dem neuen großen Schritt in der Menschheitsentwicklung, die über die urzeitliche Horde und die moderne Nation zu einer globalen Zusammenfassung, zur Einheit der Menschheit herangereift ist." Daß er diese Konvergenz nicht nur als einen objektiven Prozeß ansah, sondern als eine durch politisches Engagement zu verwirklichende Perspektive, zeigte dieser sowjetische Intellektuelle mit der Antwort, die er auf die Frage gab, wo er in diesem Prozeß seinen Platz sehe: „Morgen — wenn es für uns noch ein Morgen gibt — in der Mitarbeit an der Be seitigung der falschen bolschewistischen Pos tionen, die die freiheitliche Entfaltung der Revolution hemmen."
Waren die in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern entwickelten Gedanken politisch no ohnmächtig, so wurde die Idee eines freihett liehen und demokratischen Sozialismusnicht nur in Polen und in Ungarn, sondern auch in der Sowjetunion und vor allem in der DDR zu einer realen politischen Kraft innerhalb der kommunistischen Parteien. Es war die selbstgefällige Vorstellung von der „Zone", die die westdeutsche Öffentlichkeit daran hinderte, die wohl zukunftträchtigsten politischen Ideen, die im Nachkriegsdeutschland gedacht wurden, überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, geschweige sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Die Konzeption des Dritten Weges nach der ein einheitliches Deutschland sowohl außenpolitisch eine Brücke zwischen Ost und West bilden als auch eine fortschrittliche Gesellschaftsordnung entwickeln sollte, die die Vorzüge beider Systeme vereint, ihre Nachteile aber eliminiert, wurde in den fünfziger Jahren von deutschen Kommunisten in der DDR entwickelt, von der veröffentlichten Meinung in der Bundesrepublik weitgehend ignoriert und von den politischen Parteien nicht aufgegriffen. Der Prager Frühling des Jahres 1968 fand zwar unter antisowjetischem Vorzeichen in der westlichen Welt eine spektakuläre publizistische Resonanz. Aber in keinem westlich-kapitalistischen Land wurde die vom Westen so sehr gelobte Synthese von Freiheit und Sozialismus so weitgehend verwirklicht wie in der CSSR.
Wenn die meisten Führungsgruppen der osteuropäischen Kommunisten die Idee des Dritten Weges, der Synthese von Freiheit und Sozialismus, und die Konvergenztheorie ideologisch und machtpolitisch bekämpft haben, so haben sie damit keineswegs eine ihnen aus dem Westen großzügig entgegen-gestreckte Hand der Versöhnung feindselig zurückgewiesen, haben sie keine westliche Theorie und Praxis für eine friedliche Über-windung des Ost-West-Gegensatzes bekämpft. Sie haben vielmehr die mutigsten und fortschrittlichsten osteuropäischen Kommunisten daran gehindert, dem Westen zu großzügig die Hand zur Versöhnung und zur Zusammenarbeit zu reichen, und zwar vor allem deshalb, weil diesem Angebot weder 1956 noch 1968 ein gleichwertiges Angebot aus dem Westen entgegenkam, weil der realen Chance für einen freiheitlich-demokratischen Sozialismus 1956 in der DDR und in Ungarn und 1968 in der CSSR keine gleichwertige Chance für einen freiheitlich-demokratischen Sozialismus in einem westlich-kapitalistischen Land gegenüberstand. 19 Solange die praktischen Ansätze einer konvergierenden Entwicklung durch die Synthese von Freiheit, Demokratie und Sozialismus auf osteuropäische Länder beschränkt bleiben, wecken sie auch bei nicht-stalinistischen Funktionären die Befürchtung, daß eine Entwicklung wie in der CSSR nicht zur erhofften Höherentwicklung des östlichen Systems, zur Synthese von Freiheit und Sozialismus führt, sondern zur Aufgabe des Sozialismus, zum Übertritt in den westlich-kapitalistischen Block und damit zur Restauration des Kapitalismus. Auch wer — wie der Verfasser — der Meinung ist, daß die meisten Vertreter der bürokratischen Herrschaft in Osteuropa die Intervention nicht deshalb forderten und befürworteten, weil der Sozialismus in der CSSR in Gefahr war, sondern weil dieser vom Volk unterstützte Sozialismus mit menschlichem Gesicht eine ernsthafte Gefahr für die privilegierte und demokratisch nicht legitimierte und kontrollierte Schicht der im Osten politisch herrschenden Bürokratie und der im Westen ökonomisch herrschenden Kapitaleigner wurde, wird zugestehen, daß die akute Gefahr für die innere Stabilität des Ostblocks 1968 größer war als die Gefahr für den westlichen Kapitalismus, die erst mittel-und langfristig wirksam werden konnte. In der Tat ist es logisch überzeugend, daß der Ost-West-Gegensatz nur dann durch eine konvergierende Entwicklung zu überwinden ist, wenn sich nicht nur das östliche sozialistische System zu Freiheit und Demokratie entwickelt, sondern auch das westliche kapitalistische System zum Sozialismus.
Das Risiko, daß eine radikale Liberalisierung und Demokratisierung in einzelnen Ländern Osteuropas eine Kettenreaktion hervorruft und zum schrittweisen Ausbruch aus dem Ostblock führen kann, besteht auch dann, wenn der Westen gar nicht — wie es die östliche Propaganda behauptet — aktiv und bewußt mit Hilfe der Konvergenztheorie dieses Ziel verfolgt. Denn die für die innere Stabilität des Ostblocks gefährliche Anziehungskraft des Westens ergibt sich nicht aus einer bestimmten westlichen Politik oder aus der intellektuellen Überzeugungskraft und Überlegenheit westlicher Ideen, sondern vor allem aus der materiellen Überlegenheit der höher entwickelten und stärker konsolidierten westlichen Konsumgesellschaft. Schon 1948 schrieb Raymond Aron in seiner Analyse des Ost-West-Konfliktes, daß der unterschiedliche Lebensstandard den sowjetischen Bürger dazu verdamme, das Ausland nicht kennenzulernen. Unter diesem Gesichtspunkt hält er den Eisernen Vorhang nicht für einen Unfall der sowjetischen Diplo-matie, sondern für „die Folge der russischen Armut" Die Sogwirkung des westlichen Lebensstandards ist ein objektiver Faktor, der unabhängig von aggressiven oder friedlichen Absichten der westlichen Politik im Bewußtsein der Bevölkerung das östliche System in Frage stellt. Selbst Reformkommunisten fürchten die Öffnung nach Westen, weil der höhere westliche Lebensstandard in der Bevölkerung ein politisches Bewußtsein erzeugen kann, das die Verbesserung der eigenen Situation durch die Übernahme des westlichen Systems anstrebt, nicht aber durch die Weiter-und Höherentwicklung des östlichen Systems. Da zumindest in diesem Jahrzehnt der private Konsum im Westen höher sein wird als im Osten, bleibt das westliche System ein objektiver Faktor, der — unabhängig von der westlichen Außenpolitik — bei den inneren Auseinandersetzungen zwischen Reformkommunisten und Dogmatikern die Position der Dogmatiker stärkt und daher eine konsequente Liberalisierung und Demokratisierung erschwert. Eine westliche Außenpolitik der Entspannung kann diese Wirkung durchaus einschränken, aber nicht völlig ausschalten.
Freiheit und Demokratie im Osten durch demokratischen Sozialismus im Westen
Aus der Einsicht in die Gründe, aus denen die osteuropäischen Kommunisten die Konvergenztheorie ablehnen, ist die Schlußfolgerung zu ziehen, daß die westliche Politik nur dann wirksam zur Überwindung des Ost-West-Gegensatzes und damit zur Neuvereinigung Deutschlands beitragen kann, wenn sie nicht auf eine rein außenpolitische Entspannungspolitik beschränkt bleibt, sondern auch durch systemüberwindende innere Reformen das kapitalistische Wirtschaftsund Gesellschaftssystem schrittweise verändert. Denn nur wenn sich die westlich-kapitalistische Gesellschaft zum demokratischen Sozialismus entwickelt, können sich in Osteuropa die Anhänger eines demokratischen Sozialismus mit menschlichem Gesicht durchsetzen.
Ein Westeuropa, das die bisher nur für kurze Zeit in der CSSR annähernd verwirklichte Synthese von Freiheit, Demokratie und Sozialismus durchsetzte, würde auf die latenten freiheitlichen und demokratischen Tendenzen in ganz Osteuropa ebenso „ansteckend" und stimulierend wirken wie das Beispiel der CSSR 1968. Aber in diesem Fall hätten es die führenden Repräsentanten des bürokratischen Sozialismus einerseits nicht so leicht, die Entwicklung zum demokratischen Sozialismus mit militärischer Gewalt aufzuhalten. Darüber hinaus dürfte eine konvergierende Entwicklung Westeuropas, in deren Verlauf das kapitalistische System schrittweise durch sozialistische Verhältnisse überwunden wird, ohne daß dabei die liberalen und demokratischen Freiheiten und Rechte eingeschränkt oder aufgehoben werden, der herrschenden Bürokratie in Osteuropa kaum einen überzeugenden Vol wurf liefern, die Synthese von Freiheit, Demokratie und Sozialismus als ein Mittel zur Restauration des Kapitalismus zu diffamieren. Um die Frage zu beantworten, ob wir im Interesse der deutschen Einheit die Entwicklung Westeuropas zu einem demokratischen Sozialismus oder ob die Erhaltung akzeptieren des privatkapitalistischen Wirtschaftssystems wichtiger ist als die Neuvereinigung Deutschlands, ist kurz das kapitalistische System zu charakterisieren und auf einige Kriterien eines demokratischen Sozialismus hinzuweisen. Die folgenden Ausführungen erheben keineswegs den Anspruch, eine um'fassende Kapitalismus-Kritik und ein . Regierungsprogramm" anzubieten, das zugleich den demokratischen Sozialismus und die deutsche Einheit verwirklichen könnte, wenn es nur die Bundesregierung als ihr Programm Es geht vielmehr nur darum, Zu einer Diskussion herauszufordern, auf eine , Richtung hinzuweisen, in der eine Lösung der „deutschen Frage“ denkbar ist, und einige Argumente dafür zu liefern, daß die über . Windung des Kapitalismus nicht nur als j „Preis“ für die deutsche Einheit für uns annehmbar wäre, sondern auch unabhängig davon eine sinnvolle politische Zielsetzung ist.
Ein auffälliges Merkmal des zu überwindenden Kapitalismus ist die ungerechte Vermögens Verteilung. In der Bundesrepublik verfügen 1, 70/0 der privaten Haushalte über mehr 45 70°/» der Produktivvermögen. Vertreter a 6 Parteien sehen diese Vermögensverteilung die gegen die Idee der Gerechtigkeit ver stößt, als skandalös an und befürworten 20 1 Änderung dieses Zustandes mit politischen Mitteln. Diese Vermögensverteilung verstößt aber auch gegen die Prinzipien der Demokratie; denn: „Wer in den Großorganisationen der Wirtschaft die Verfügung über Millionenwerte und über Zehntausende von Arbeitnehmern hat, der wirtschaftet nicht nur, er übt Herrschaftsmacht über Menschen aus; die Abhängigkeit der Arbeiter und Angestellten geht weit über das Ökonomisch-Materielle hinaus. ... Mit ihrer durch Kartelle und Verbände noch gesteigerten Macht gewinnen die führenden Männer der Großwirtschaft einen Einfluß auf Staat und Politik, der mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbar ist. Sie usurpieren Staatsgewalt. Wirtschaftliche Macht wird zu politischer Macht."
Eng verbunden mit der ungerechten Vermögensverteilung und dem Privateigentum an Produktionsmittel ist die oft ignorierte Tatsache, daß die Prinzipien demokratischer Meinungs-und Willensbildung und demokratischer Kontrolle der gewählten Repräsentanten des Volkes auf den politischen Bereich beschränkt und für Entscheidungsprozesse im wirtschaftlichen Bereich weitgehend nicht gültig sind.
Folgenschwerer als der Verstoß gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit und der Demokratie sind die Maßstäbe und Mechanismen, nach denen im kapitalistischen System alle ökonomischen Entscheidungen gefällt werden müssen. Diese Maßstäbe und Mechanismen machen auch die Unternehmer zu unfreien Objekten des Systems, indem sie sie dazu zwingen, ihre Entscheidungen unter dem Gesichtspunkt zu fällen, wie sie den höchsten Profit erwirtschaften, nicht unter dem Gesichtspunkt, wie die Produktion am wirksamsten der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse dienen kann.
Die alte Erkenntnis von Marx, daß die Orientierung am Profit gerade nicht dazu führt, daß die Produktion am besten die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse sicherstellt, ist durch den wachsenden Lebensstandard in der Konsumgesellschaft nicht widerlegt, sondern nur noch deutlicher hervorgehoben worden; denn: „Wir produzieren an den wirklichen Bedürfnissen vorbei. Im marktwirtschaftlichen System konzentrieren wir unsere Kräfte auf die Gebiete, die Zuwachs und rasche Rendite versprechen. Dabei kommen die öffentlichen, vor allem die kommunalen Investitionen und Dienstleistungen zu kurz, obwohl von ihnen in Wahrheit die Qualität unseres Lebens abhängt. Die Marktwirtschaft mobilisiert Armeen raum-fressender Automobile dort, wo wir raum-sparende Massenverkehrsmittel brauchen. Sie überschwemmt uns mit Kosmetika und Pharmazeutika, wo Krankenhäuser und Rehabilitationszentren fehlen. Sie zwingt auch noch dem letzten Mitbürger ein Farbfemsehgerät auf, bevor sie den Bedarf an Schulen, Bibliotheken, Universitäten und Schwimmbädern deckt."
Diese Kritik stammt nicht von einem jener scholastischen Pseudomarxisten, die ihre Erkenntnisse über die gegenwärtige Gesellschaft nur aus dem fleißigen Studium der Werke von Marx gewinnen, sondern von einem Politiker, der seine Einsichten aus der täglichen praktischen Auseinandersetzung mit den Problemen unserer Gesellschaft gewinnt, nämlich vom langjährigen Münchener Oberbürgermeister Dr. Hans-Jochen Vogel. Aus seinen Erfahrungen leitet er die Forderung ab, „daß die Politik Vorrang vor der Wirtschaft hat, ihr Ziele steckt, sie aus der herrschenden in die dienende Rolle verweist und sie auf diese Ziele hin unter Kontrolle hält". Zu diesem Zweck sei eine Erhöhung der Steuerquote notwendig. „Jeder von uns wird der Gemeinschaft einen höheren Beitrag leisten müssen, wenn die Lebensqualität nicht weiter absinken, sondern auf längere Sicht sogar steigen soll. Denn der Lebensstandard ist nicht gleich Lebensqualität. Ja, die Lebensqualität sinkt offenkundig bei steigendem Konsum. Und die Strafen, die wir für die Mißachtung dieser Gesetzmäßigkeit zu zahlen haben, sind hoch.“
Wenn auch Vogel nüchtern genug ist, in der Verstaatlichung kein Patentrezept zu sehen, das alle Probleme löst, so gelangt er doch zu der Schlußfolgerung, daß die großen Probleme nicht allein durch Reformen im Rahmen des bestehenden Wirtschaftssystems, sondern nur durch die Reform des Systems selbst zu lösen sind. In einem Referat vor dem Deutschen Städtetag 1971 stellte er die Frage, „ob einige der von mir beschriebenen Mängel und Gefahren innerhalb des bestehenden Wirtschaftsund Gesellschaftssystems überhaupt behoben werden, das heißt, ob die Städte unter den Bedingungen der heutigen Industriegesellschaft überhaupt gesunden kön-nen" In.seiner Antwort auf diese Frage spricht er die Befürchtung aus, „daß die besten Planungsteams mit modernsten Verwaltungs-und Steuerungstechniken ...den Kampf um die Vermenschlichung der Städte nicht gewinnen werden, wenn wir nicht das System selbst reformieren". Nachdem Vogel auf die „widersinnigen, mitunter sogar zerstörerischen und unmenschlichen Konsequenzen" des Systems hingewiesen hat, das unter anderem der Bodenspekulation fast unbegrenzten Vorschub leiste und jede private Investition für produktiv, jede öffentliche aber für unproduktiv halte, fordert er: „Aber es ist an der Zeit, das System in seine Schranken zu weisen und es schrittweise zurückzudrängen."
Der durch die Orientierung am Profit bedingte Sachzwang des privatkapitalistischen Wirtschaftssystems, der gegenwärtig nur zu geringe Sozialinvestitionen und bei steigendem Konsum eine Verringerung der Qualität des Lebens zur Folge hat, bedroht in schon absehbarer Zukunft die materiellen und sozialen Existenzgrundlagen der Menschheit. Am Massachusetts Institute of Technology in den USA haben Wissenschaftler in einer mathematischen Systemanalyse errechnet, daß die Menschheit in einen katastrophalen Zustand geraten wird, wenn die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung weiterhin den dem Industriesystem innewohnenden „Sachzwängen" überlassen bleibt und nicht durch politische Mittel unter Kontrolle gebracht werden kann. (Meadows u. a., The Limits to Growth, New York 1972.) Die Berechnungen der Wi“ bensschaftler scheinen die Zusammenbruchs-und Katastrophentheorie zu bestätigen, die Marx im 19. Jahrhundert aufstellte und die viele durch die Entwicklung des Kapitalismus im 20. Jahrhundert als empirisch widerlegt ansahen. Allerdings war die von Marx unter anderen Voraussetzungen formulierte Katastrophentheorie viel weniger pessimistisch; denn der von ihm erwartete Zusammenbruch des kapitalistischen Wirtschaftssystems bildete ja nur die Grundlage für die Höherentwicklung der menschlichen Gesellschaft zum Sozialismus. Dagegen prognostizieren die Wissenschaftler auf Grund mathematischer Berechnungen den katastrophalen Zusammenbruch der hochentwickelten Industriesysteme überhaupt.
Wenn dem östlichen Kommunismus manchmal vorgeworfen wurde, er opfere die gegenwärtig lebende Generation dem utopischen Glück künftiger Generationen, so ist dem Privat-kapitalismus vorzuwerfen, daß er die Existenzgrundlagen der nächsten Generation der Menschheit dem privaten Profit und dem zweifelhaften Massenkonsum der Gegenwart opfert.
Angesichts dieser die Existenzgrundlagen der Menschheit bedrohenden Gefahren wird die Frage der staatlichen Einheit oder Teilung Deutschlands zu einem relativ nebensächlichen Problem. Wenn wir aber in Deutschland einen Beitrag zur Lösung der wirklich bedrohlichen Probleme leisten, können wir gleichzeitig die Frage der deutschen Einheit in Übereinstimmung mit den Lebensinteressen aller Völker einer Lösung näherbringen. Denn ein Konzept systemüberwindender Reformen, das durch Entwicklung eines demokratischen Sozialismus im Westen die Neuvereinigung Deutschlands auf der Grundlage einer Synthese des westlichen und des östlichen Systems ermöglichen soll, hat gleichzeitig die Aufgabe, die vom Sachzwang des kapitalistischen Systems ausgehenden Gefahren abzuwenden.
Wenn auch im Rahmen systemüberwindender Reformen die private Verfügungsgewalt der wenigen Eigentümer über die Produktionsmittel abzubauen ist, so wird doch die Verstaatlichung nur von den Apologeten des Kapitalismus und von den Vulgärmarxisten als Hauptproblem angesehen. Während erstere darin ein Schreckgespenst sehen, das großes Unheil über die Menschheit bringen wird, betrachten es letztere als billiges Patentrezept, von dem sie das große Heil für die Menschheit erwarten. Da in einer gesellschaftlich geleiteten und kontrollierten Wirtschaftsordnung neue Kriterien für ökonomische Entscheidungen und Prioritäten erforderlich sind, wenn man die materiellen Mittel im Interesse der Menschen sinnvoller als in der profit-orientierten Privatwirtschaft einsetzen will, ist der Sozialismus nicht nur ein institutionelles und technokratisches, sondern auch ein normatives Problem. Eine systemüberwindende Reformpolitik ist zu konzipieren auf daher nur der Grundlage eines neuen politischen Denkens, das über die heute vorherrschenden Ansätze hinausgeht und auch in der Lage ist, über Wertprobleme und Zielvorstellungen etwas auszusagen.
Die Grenzen des Kritischen Rationalismus
/ährend in den fünfziger und sechziger Jahren das politische Denken der Ost-West-Konfrontation weitgehend durch Irrationalismus gekennzeichnet war, kann als theoretische Grundlage der westlichen Entspannungspolitik und der neuen Deutschland-und Ostpolitik der Kritische Rationalismus angesehen werden. Dieser Kritische Rationalismus ist gewiß ein großer Fortschritt gegenüber dem politischen Irrationalismus des Kalten Krieges und der alten Wiedervereinigungskonzeption. Ihm ist es gelungen, falsche Vorstellungen, irreale Hoffnungen und gefährliche Fehleinschätzungen abzubauen. Damit hat er zur Bewältigung der Vergangenheit beigetragen, ohne die es unmöglich ist, einen gangbaren Weg in die Zukunft zu suchen. Aber er reicht nicht aus, um die in der Wirklichkeit enthaltenen konstruktiven Möglichkeiten für eine vernünftige und humane Gesellschaft zu erkennen und zu verwirklichen.
Das theoretische Problem, um das es hier geht und das für die politische Praxis von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist, sei hier kurz mit Hilfe einiger Überlegungen von Jean Amery und Bundesminister Eppler erläutert. Jean Amry hat in einer Rezension des Buches von Hans Albert „Plädoyer für kritischen Rationalismus" in der Wochenzeitung „Die Zeit" die Einwände gegen den Kritischen Rationalismus prägnant zusammengefaßt. Er anerkennt die Leistungen der kritischen Vernunft für die Kritik, hält sie aber für problematisch „dort, wo sie vor der Herausforderung steht, geistige Alternativen, die zugleich auch soziale und politische sein müssen, denn anders wären sie nicht triftig, dem Leser vorzuschlagen" Die aus der Methodologie der Naturwissenschaften stammende kritische Vernunft sei zwar durchaus nicht immer die gehorsame Dienerin bestehender Ordnungen, doch andererseits könne sie auch „keine theoretische und keine existentielle Berufung, bessere Zustände heraufzuführen", nachweisen. Amery bewertet die kritische Vernunft durchaus als ein „emanzipatorisches Denkangebot'1, als notwendige Schranke gegen die Ausschweifung der spekulativen Vernunft, gegen Dogmatismus und Schwärmerei. „Sie enthebt uns jedoch nicht der Aufgabe, Methoden des Denkens und Imperative des Verhaltens zu suchen, die eine wesentlich formale Ratio uns nicht an die Hand gibt.“
Bundesminister Erhard Eppler, der „das Mißtrauen gegen jegliche Ideologie" und pragmatisches Handeln als gemeinsames Merkmal seiner Generation der heutigen Mittvierziger ansieht, stimmt dennoch in einem Artikel der Auffassung der jüngeren Generation zu, daß der Pragmatismus selbst zu einer konservativen Ideologie wird: „Wer sich nur . pragmatisch'von Tag zu Tag durchzuwursteln versucht, kann das Bestehende nicht mehr in Frage stellen." Sodann begründet er die Auffassung, daß der Pragmatismus, der vorgibt, sich von der jeweiligen Zweckmäßigkeit und nicht von ideologischen Prämissen leiten zu lassen, selbst unzweckmäßig wird und zu Fehlentscheidungen über Investitionen führen kann. Besonders langfristige Planungen erfordern Entscheidungen auf der Grundlage von Wertungen. „Und wer gezwungen ist, langfristig zu planen, stößt rasch auf die Frage, worauf er denn hinauswolle. Das alles geht nicht ohne wissenschaftliche Prognosen, aber eben auch nicht ohne Wertentscheidungen. Es reicht nicht, festzustellen, was wahrscheinlich sein wird, wir sind auch gefragt, was wir — immer in der Bandbreite des Möglichen — haben wollen.“
Da die Problematik normativen und empirischen Denkens hier nicht ausführlich zu behandeln ist, kann nur thesenartig zusammengefaßt die Richtung angedeutet werden, in der politisches Denken zur Grundlage einer progressiven politischen Praxis werden kann.
Um eine politische Konzeption mit einer realisierbaren Perspektive zu entwickeln, ist ein zweidimensionales Denken erforderlich, das sowohl empirisch-analytisch und logisch als auch normativ ist, also ein Denken, das die Welt nicht nur empirisch richtig erkennt und interpretiert, sondern das darüber hinaus Normen und Kriterien entwickelt, mit denen die faktisch vorgefundene Wirklichkeit zu bewerten und die Richtung für ihre bewußte Veränderung zu bestimmen ist. Denn nicht nur eindimensional normativ-emotionales Denken, auch eindimensional empirisch-analytisches Denken kann nicht zum rationalen politischen Handeln anleiten und führt daher zum politischen Irrationalismus. Während die Vertreter eines eindimensional normativen Denkens zwar wissen, welche Ziele und Zwecke sie anstreben wollen, sind sie nicht in der Lage zu erkennen, mit welchen Mitteln und Methoden sie diese Ziele verwirklichen können. Mit Hilfe des eindimensional empirisch-analytischen Denkens dagegen kann man sehr wohl erkennen, mit welchen Methoden und Mitteln bestimmte Ziele und Zwecke zu verwirklichen sind, aber man weiß nicht, welche Ziele und Zwecke überhaupt erstrebenswert sind. Um sowohl einen Irrationalismus und Dezisionismus der Ziele und Zwecke zu vermeiden, der die Konsequenz eindimensional empirischen Denkens ist, als auch den für die politische Praxis nicht weniger schädlichen Irrationalismus und Dezisionismus der Mittel und Methoden, der aus einem eindimensional normativ-emotionalen und spekulativen Denken folgt, ist ein zweidimensionales bzw. dialektisches Denken erforderlich. Die politische Philosophie der Kritischen Theorie, bzw.der Frankfurter Schule Adornos und Horkheimers, die auch als Beispiel dialektischen Denkens verstanden wird, erfüllt allerdings diese Ansprüche nicht
Dialektisches Denken verbindet die normativ-emotionale mit der empirisch-analytischen Dimension des Denkens, um gleichzeitig handlungsmotivierendes und handlungsorientierendes Wissen zu erlangen. Die normative Reflexion ermittelt in Verbindung mit einer empirischen Analyse der Wirklichkeit realisierbare Zielvorstellungen. Die empirische Analyse der gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen hat gleichzeitig die Aufgabe, zu erkennen, mit welchen Mitteln, Maßnahmen, Institutionen und Aktionen die Zielvorstellungen zu verwirklichen sind.
Dieses dialektische politische Denken, das empirisch-analytische und normative Elemente verbindet, kann die objektivistische Konvergenztheorie, nach der Politik überflüssig ist, durch eine normative Komponente ergänzen. Auf der Grundlage des dialektischen Denkens ist in die Konvergenztheorie der Aspekt der politischen Praxis einzubeziehen, so daß die friedliche Überwindung des Ost-West-Gegensatzes nicht mehr fatalistisch von den objektiven Gesetzmäßigkeiten der Industriegesellschaft erwartet werden muß, sondern zum bewußten Ziel politischen Handelns gemacht werden kann.
Wenn eine friedliche, humane und gerechte Gesellschaft nicht automatisch aus einem Sachzwang hervorgeht, sondern nur durch zielstrebige Politik schrittweise zu schaffen ist, dann ist zur Verwirklichung dieser Aufgabe die Mitarbeit der jungen Generation unbedingt erforderlich. Obwohl auch die gegenwärtig vorherrschende Konvergenztheorie schon den emotionalen Antikommunismus überwunden hat, wurde sie von der kritischen jungen Generation abgelehnt oder ignoriert, und zwar vor allem wegen ihres objektivistisch-deterministischen und technokratischen Charakters. Denn auf der Grundlage einer objektivistisch-deterministischen Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung akzeptiert der Mensch, daß die von ihm geschaffene technologische und institutionelle Wirklichkeit zum aktiven Subjekt wird, der er sich selbst als Objekt passiv anpassen und unterwerfen muß, der er seine Bedürfnisse und seine Wert-und Zielvorstellungen unterzuordnen hat.
Eine Theorie dagegen, die die junge Generation zur Mitarbeit gewinnen soll, darf sich nicht mit der optimistischen Prognose begnügen, daß sich die bestehenden Gesellschaftssysteme aus einem technologischen Sachzwang in einer erfreulichen Richtung entwickeln, sondern sie muß auch normativ sein und Maßstäbe für die Kritik an der bestehenden Ordnung und Kriterien für eine bessere und gerechtere Gesellschaft enthalten. Und sie muß darüber hinaus den Menschen helfen zu erkennen, auf welchem Wege und durch welche politische Praxis sie die technologische, ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung bewußt in Übereinstimmung mit ihren Bedürfnissen, Interessen und Wert-und Zielvorstellungen beeinflussen und planen können. Zweidimensionales Denken, die dialektische Verbindung der empirischen und der normativen Dimension, kann die Menschen davor bewahren, ihre Kräfte für unerreichbare Ziele zu vergeuden oder aber durchaus erreichbare Ziele mit unangemessenen Mitteln verwirf liehen zu wollen.
Demokratischer Sozialismus und antikapitalistische Haltung der jungen Generation Für die kritische junge Generation grundsätzlich annehmbar ist eine Konzeption des demokratischen Sozialismus und der progressiven Konvergenz beider Systeme deshalb, weil sie ihren antikapitalistischen und antibürokratischen Wert-und Zielvorstellungen entgegenkommt. Das Engagement der jungen Genera tion könnte aber nicht nur helfen, den demokratischen Sozialismus zu verwirklichen. Diese Konzeption könnte auch dazu beitragen, das durch die Protestbewegung geweckte Engagement in politisch wirksamer Form weiterzuentwickeln und zu verhindern, daß es wirkungslos bleibt, weil es sich in Aktionismus, dogmatischem Sektierertum, realitätsfernem Utopismus oder Neokonformismus verliert. Diese Gefahren sind deshalb so groß, weil auch das politische Denken der Neuen Linken weitgehend eindimensional ist, nämlich einseitig normativ-emotional wie das Denken der Vertreter der traditionellen Wiedervereinigungskonzeption. Da sie auf eine Analyse der Bedingungen für zweckrationales politisches Handeln verzichten, verfügen sie nur über ein handlungsmotivierendes, aber nicht über ein handlungsorientierendes Wissen, das ihnen sagt, mit welchen Mitteln und Methoden sie ihre Ziele verwirklichen können.
Eine Konzeption des demokratischen Sozialismus bietet auch die Möglichkeit, sich mit der irrealen Revolutionskonzeption der jungen Generation auseinanderzusetzen und ihre unklare Haltung zur parlamentarischen Demokratie zu beeinflussen. Gegenwärtig besteht die Gefahr, daß die überwiegend antikapitalistisch eingestellte junge Generation auch der parlamentarischen Demokratie gegenüber eine skeptische, gleichgültige oder sogar ablehnende Haltung entwickelt, weil viele glauben, sie sei nur die politische Form, die es den Besitzenden ermöglicht, ihre ökonomische Herrschaft uneingeschränkt auszuüben. Diese für die Zukunft der Demokratie bedenkliche Haltung könnte sich ändern, wenn durch eine schrittweise Entwicklung zum Sozialismus zu zeigen wäre, daß die liberale, rechtsstaatliche und parlamentarische Demokratie auch die politische Form sein kann, die es der großen Mehrheit der ökonomisch Abhängigen ermöglicht, die Herrschaft und die Privilegien der kleinen Minderheit, die über die Produktionsmittel verfügt, abzubauen und die Prinzipien der Demokratie, Mitbestimmung und Selbstbestimmung auf alle Bereiche der Gesellschaft auszudehnen, anstatt sie auch im politischen Bereich aufzuheben.
Anders als beim herrschenden Kommunismus, der noch immer der Kommunismus der Herrschenden ist, geht es hier um eine Konzeption des Sozialismus, die im doppelten Sinne demokratisch ist: Nicht nur das Ziel ist demokratisch, nämlich eine in allen Bereichen demokratisch strukturierte Gesellschaft, auch der Weg, die Mittel und Methoden zur Verwirk-lichung dieses Zieles sind es.
Obwohl in der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie die demokratische Beteiligung der Bevölkerung weitgehend auf die Wahl von Repräsentanten beschränkt bleibt, ist ihre Abschaffung zugunsten einer direkten und radikalen Demokratie kein Mittel für eine weitere Demokratisierung. Denn eine direkte und radikale Demokratie ist nur in einer ziemlich kleinen Gemeinschaft funktionsfähig. Um immer mehr Menschen an den sie betreffenden Entscheidungen zu beteiligen, ist nur eine Synthese parlamentarisch-repräsentativer und direkter Demokratie möglich, indem die repräsentative Demokratie — unter anderem durch Basisarbeit und Erweiterung der innerparteilichen und innerverbandlichen Demokratie — durch Elemente direkter Demokratie ergänzt wird.
Für den friedlichen und demokratischen Weg zum Sozialismus spricht nicht nur das pragmatische Argument, daß in den hochentwickelten Industriegesellschaften keine revolutionäre Situation besteht und revolutionäre Erhebungen daher keine Erfolgschancen haben. Es gibt auch noch ein grundsätzliches Argument gegen eine Konzeption der revolutionären Machtergreifung in der gegenwärtigen Demokratie. Während in einer Diktatur die revolutionäre Strategie mit dem Argument zu rechtfertigen ist, daß die Mehrheit der Bevölkerung gar keine legale Möglichkeit zur Durchsetzung ihrer Interessen besitzt, kann sich eine politische Bewegung in einem demokratischen Staat nur unter den beiden folgenden Voraussetzungen für eine revolutionäre Kampfmethode entscheiden: Wenn die Mehrheit der Bevölkerung die Ziele der revolutionären Partei ablehnt und wenn sich diese auch gar nicht bemühen will, für die Durchsetzung ihrer Ziele die Zustimmung der Bevölkerung zu erhalten. Sie will also die politische Macht ohne die Zustimmung, ja gegen den Willen der Mehrheit erobern und ausüben; allerdings in der elitären Überzeugung, das zwar gegen den subjektiven Willen, aber doch im objektiven Interesse der großen Mehrheit zu tun, die zunächst mit Gewalt, durch eine Erziehungsdiktatur, zu der emanzipatorischen Einsicht gezwungen werden muß, daß die politische Herrschaft dieser bewußten Minderheit im objektiven Interesse der bewußtlosen Mehrheit liegt. Im Gegensatz zu dieser elitären Revolutionstheorie ist aus der historischen Erfahrung die Schlußfolgerung zu ziehen, daß nicht eine Erziehungsdiktatur, eine Erziehungsdemokratie, sondern eine angemessene Methode zur Verwirklichung eines demokratischen Sozialismus sein kann.
Veränderung des innenpolitischen Status quo in Ost und West
Die Konzeption des demokratischen Sozialismus kann die Grundlage für eine Politik zur Überwindung des Ost-West-Gegensatzes und daher auch für die Neuvereinigung Deutschlands werden, weil sie von der Einsicht ausgeht, daß infolge des atomaren Gleichgewichts und der inneren Stabilität der Systeme in Ost und West diese Ziele nicht als außenpolitischer und gesellschaftspolitischer Sieg des Westens über den Osten — oder umgekehrt — zu verwirklichen sind. Eine Lösung des Ost-West-Konfliktes durch den Sieg einer Seite ist aber nicht nur aus machtpolitischen Gründen unmöglich, sondern auch aus innenpolitischen Gründen nicht wünschenswert. Denn die Ideologien beider Seiten, die den Gegensatz verabsolutieren, haben die innenpolitische Funktion, das politische Interesse und Wollen auf außen-politische Probleme zu fixieren und von innenpolitischen Aufgaben abzulenken. Gerade diejenigen, die im feindlichen Lager die Revolution wünschen, bekämpfen in der eigenen Gesellschaft die Evolution. Sie möchten den außenpolitischen Status quo zwischen Ost und West zugunsten des eigenen Blockes verändern, aber den innenpolitischen Status quo im Interesse ihrer Herrschaft und ihrer Privilegien unverändert erhalten.
Die Konzeption für die friedliche Überwindung des Ost-West-Gegensatzes geht dagegen von der Voraussetzung aus, daß der über die Zukunft der Menschheit entscheidende Kampf nicht die außen-und machtpolitische Auseinandersetzung zwischen Ost und West ist, sondern die innenpolitische Auseinandersetzung zwischen dogmatischen und progressiven Kräften innerhalb des Ostens und des Westens. Diese Auseinandersetzung ist aber nicht nur als Kampf gegen bestimmte Personengruppen zu verstehen, sondern vor allem auch als sachliches Bemühen um Lösung der drängenden Probleme. Vorteilhaft für eine friedliche Zukunft und für den Aufbau einer gerechteren Gesellschaft ist es allein, innerhalb des Ostens und des Westens die Macht und die Privilegien der Herrschenden gegenüber dem Volk einzuschränken und gleichzeitig den innenpolitischen Status quo in beiden Blöcken durch systemüberwindende Reformen so zu verändern, daß die Wurzeln der Aggressivität, der unversöhnlichen Feindschaft, der Spannungen und der möglichen Kriege beseitigt und Elemente einer konvergierenden Entwicklung verstärkt und neu geschaffen werden. Die in Ost und West zu lösenden Sachfragen machen eine solche politische Konzeption notwendig, weil sie es nicht auf die Dauer erlauben, von diesen Fragen abzulenken und die zu ihrer Lösung notwendigen Mittel für ein sinnloses Wettrüsten zu vergeuden. Dennoch folgt aus diesen Sachfragen nicht automatisch die Verständigungsbereitschaft. Eine unentbehrliche Grundlage für eine Politik der Versöhnung ist ein intellektueller Wandel der Menschen, eine Entwicklung vom Freund-Feind-Denken zum dialogischen Denken. Dieser Wandel, der die Relativierung des Ost-West-Gegensatzes beinhaltet, wurde begünstigt durch persönliche Begegnungen und Diskussionen zwischen Menschen aus Ost und West, zwischen Anhängern unterschiedlicher politischer und weltanschaulicher Positionen. Eine relativierende Haltung gegenüber konkurrierenden Ideen und Weltanschauungen war auch die Grundlage eines intensiven Dialoges, der schon Mitte der sechziger Jahre zwischen progressiven Vertretern des Marxismus und des Christentums stattfand Die Qualität der Partner in diesem Dialog führte zwar zu einer beachtlichen geistigen und theoretischen Konvergenz, aber infolge der geringen Zahl der Beteiligten und der fehlenden Verbindung zu realen politischen Bewegungen — mit Ausnahme der CSSR 1968 — hat er kaum zur praktischen Konvergenz der feindlichen Welten beigetragen. Wenn es aber zukünftig gelänge, diesen Dialog im Zusammenhang mit konkreten politischen Aufgaben und Zielsetzungen auf eine breitere Basis zu stellen und auch die Sozialdemokratie und die Neue Linke in eine solche Auseinandersetzung mit einzubeziehen, bestünde die Chance, die getrennten Strömungen des Sozialismus — vor allem die sozialdemokratische, die christliche, die kommunistische und die Neue Linke — zu einer politischen Kraft werden zu lassen, die trotz unterschiedlicher Tendenzen gemeinsam für die Lösung der Aufgaben unserer Zeit wirken könnte. Eine solche Kraft wäre stark genug, in Ost und West systemüberwindende Reformen in Richtung eines demokratischen Sozialismus durchzusetzen und den Ost-West-Gegensatz friedlich zu überwinden.
Im Rahmen einer solchen friedlichen Überwindung des Ost-West-Gegensatzes ist auch eine Konzeption für die Neuvereinigung Deutsch lands zu entwickeln, die nicht gegen die Minimalforderung der Staats-und Gesellschaftsräson beider Systeme verstößt und daher für unsere westlichen und östlichen Nachbarn annehmbar ist. Annehmbar für beide Seiten ist eine Politik für die Neuvereinigung Deutschlands, wenn sie nicht die machtpolitische Stärkung des einen Blockes zum Ziel oder zur Konsequenz hat und wenn sie nicht zu einem Faktor werden kann, der im Osten oder im Westen einen Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung zugunsten des konkurrierenden Systems begünstigen könnte. Da das der Fall wäre, wenn bei einer Vereinigung die herrschenden westlichen oder östlichen Verhältnisse innerhalb kurzer Frist auf ganz Deutschland ausgedehnt würden, ist ein einheitliches Deutschland, das nur mit Zustimmung der westlichen und der östlichen Mächte zustande kommen kann, weder auf der Grundlage des westlichen kapitalistischen Wirtschaftssystems noch des östlichen politischen Systems der Parteiherrschaft möglich. Mit der Staats-und Gesellschaftsräson unserer westlichen und östlichen Nachbarn zu vereinbaren ist dagegen ein neuvereinigtes Deutschland, das außenpolitisch eine Brücke zwischen Ost und West bildet und das eine neue politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung entwickelt, die als Synthese beider Systeme sowohl demokratisch und freiheitlich-rechtsstaatlich als auch sozialistisch ist.
Damit die Idee einer Neuvereinigung Deutschlands und Europas durch progressive Konvergenz der konkurrierenden Systeme zu einer realisierbaren Konzeption wird, ist es nicht notwendig, ein fertiges Gemälde einer idealen sozialistischen Gesellschaft zu entwerfen und ein Patentrezept für den Weg zu diesem Ziel zu liefern. Aber es ist notwendig, die allgemeinen Kriterien einer Synthese von Freiheit und Sozialismus zu nennen, empirisch nachzuweisen, daß diese Synthese als reale Möglichkeit schon in den bestehenden Verhältnissen und Entwicklungstendenzen in Ost und West angelegt ist und die allgemeine Richtung aufzuzeigen, in der diese reale Möglichkeit durch zielstrebige politische Arbeit zu verwirklichen ist.
Ein konkretes Programm für eine evolutionäre Neuvereinigung kann — da wir ja den Alleinvertretungsanspruch aufgegeben haben — nicht allein in der Bundesrepublik entworfen werden, sondern kann nur Ziel und Ergebnis einer langfristigen und intensiven gesamtdeutschen Auseinandersetzung sein, in der wir die von der SED gestellte Frage aufgreifen müssen, wie das künftige einheitliche Deutschland aussehen soll.
Trotz der gegenwärtig von der SED erhobenen Forderung nach verstärkter ideologischer Abgrenzung kann es künftig möglich werden, die Bevölkerung der DDR durch intensive Kontakte und Diskussionen in eine Auseinandersetzung um die Zukunft Deutschlands einzubeziehen. Die dazu erforderlichen Kontakte sind allerdings nur mit Zustimmung der DDR herzustellen, die sie nur in dem Maße zulassen wird, in dem sie mit ihrer Staats-und Gesellschaftsräson zu vereinbaren sind. Da solche Kontakte für die DDR die geringsten Gefahren enthalten, wenn sie international anerkannt ist und ihre Existenz weder von der Bundesrepublik noch von der eigenen Bevölkerung in Frage gestellt wird, muß die Bundesrepublik die weitere Konsolidierung der DDR begünstigen.
Wenn diese Diskussionen und Kontakte dazu beitragen sollen, eine konvergierende Entwicklung beider Teile Deutschlands einzuleiten, darf es sich jedoch nicht nur um rein „menschliche" Kontakte auf privater Ebene handeln, sondern dann brauchen wir vor allem auch politische Kontakte mit den Funktionären, die ja die zukünftige Entwicklung der DDR entscheidend beeinflussen. Das Denken und Handeln dieser Funktionäre ist nicht durch eine böse’ Ideologie, sondern wird von zahlreichen Faktoren beeinflußt. Einer jener Faktoren, die in der Vergangenheit und teilweise noch heute ihr Denken und Handeln negativ beeinflussen, sind die Verständnislosigkeit, der pharisäische Hochmut, die undifferenzierte Feindseligkeit aus dem Westen. Wenn wir vom Westen aus versuchen wollen, das Denken dieser Funktionäre zu beeinflussen und zu ändern, müssen wir zunächst unser eigenes Denken ändern und auf einen Dialog einstellen. Und wenn wir wollen, daß sie die Verhältnisse in der DDR in Richtung eines demokratischen Sozialismus verändern, müssen wir ihnen mit entsprechenden Bemühungen in der Bundesrepublik vorangehen.
Wird die Konzeption eines demokratischen Sozialismus in Deutschland, und zwar in Ost und West, zur Grundlage der Politik, so stellt es sich nur an die Spitze von gesellschaftspolitischen Bemühungen, die in allen Ländern notwendig sind, um die inneren Probleme beider Gesellschaften zu lösen und durch eine friedliche Überwindung des Ost-West-Gegensatzes das überleben der Menschheit zu sichern. Isaac Deutscher schreibt in der Schlußbetrachtung zu seinem Buch „Die unvollendete Revolution", daß der gesellschaftliche Status quo keine Basis biete für die Lösung der Probleme und für das überleben der Menschheit. Auch ein auf unabsehbare Zeit hinausgezogener Stillstand, garantiert durch die nuklearen Abschreckungsmittel, würde zum endgültigen Untergang der Menschheit führen: „Die Menschheit bedarf für ihr bloßes überleben der Einigkeit."
Was ist kennzeichnend für diesen gesellschaftlichen Status quo, der tödliche Gefahren für die Menschheit enthält und nicht verewigt werden darf? Der Begriff „Unvollendete Revolution", den Deutscher zur Charakterisierung der etablierten kommunistischen Gesellschaften benutzt, eignet sich auch zur Kennzeichnung des gesellschaftlichen Status quo im Westen. So wie im Osten die sozialistische Revolution wesentliche Hoffnungen und Versprechen noch nicht erfüllt hat, so ist im Westen die demokratisch-liberale Revolution inkonsequent und unvollendet geblieben. Wenn auch die progressive Konvergenz zwischen Ost und West die Geschichte nicht zu einem vollendeten Abschluß bringen wird, so kann sie doch einige entscheidende emanzipatorische Versprechen der unvollendeten Revolution des Westens und des Ostens einlösen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Konvergenz und Synthese beider Systeme nicht als pragmatischer Kompromiß zu verstehen, bei dem beide Seiten etwas aufgeben und sich auf einer mittleren Ebene treffen. Ziel ist nicht die unmögliche Synthese von Freiheit und Totalitarismus, Sozialismus und Kapitalismus, bei der der Westen etwas Freiheit und Demokratie aufgibt und etwas Totalitarismus übernimmt, während der Osten etwas Sozialismus aufgibt und dafür etwas Kapitalismus übernimmt; Ziel ist vielmehr die notwendige Synthese von Freiheit, Demokratie und Sozialismus. Wenn der Westen nicht totalitäre Elemente übernimmt, sondern den Kapitalismus überwindet, und der Osten nicht kapitalistische Elemente übernimmt, sondern die bürokratische Diktatur überwindet, führt die Konvergenz zu mehr Freiheit als gegenwärtig im Westen verwirklicht ist und zu mehr Sozialismus als gegenwärtig im Osten praktiziert wird. Die beiden Systeme überwinden ihre Gegensätze also nicht, indem sie sich auf einer mittleren Ebene, sondern auf einer höheren Ebene treffen. Die sozialistische Revolution des Ostens blieb bisher unvollendet, weil Sozialismus ohne Freiheit und Demokratie bedeutet, daß die Masse der Bevölkerung die Chancen für die freie Entfaltung aller schöpferischen Fähigkei50) ten der Menschen, die der Sozialismus enthält, nur unzureichend nutzen kann. Isaac Deutscher fordert daher für die Veränderung des gesellschaftlichen Status quo im Osten: „Sie (die Sowjetgesellschaft, H. H.) muß sich die Kontrolle über ihre Regierung verschaffen und den Staat, der sich so lange hoch über die Gesellschaft erhoben hatte, in ein Instrument des demokratisch ausgedrückten Willens und Interesses des Volkes verwandeln. Sie muß als erstes die Meinungs-und Vereinsfreiheit wiederherstellen."
Deutscher betont sodann, daß Meinungsund Vereinsfreiheit in einer sozialistischen Gesellschaft eine viel größere emanzipatorische Wirkung haben als im Kapitalismus. Nicht nur der Sozialist Isaac Deutscher sieht diese Tatsache, sondern auch der Liberale Ralf Dahrendorf, wenn er schreibt: „In der Weimarer Republik gab es formell die Rolle des Staatsbürgers für alle, aber diese Garantie wurde untergraben durch die fehlenden sozialen Voraussetzungen ihrer Realisierung. In der DDR gibt es diese Voraussetzungen, aber die Realisierung wird unterbunden durch das Verbot jener Bürger-rechte, die zum Bestand der Verfassung der Freiheit gehören.... aber es gibt eine Gesellschaft, die es ihren Menschen ermöglichen würde, von diesen Freiheiten Gebrauch zu machen, wenn es sie gäbe."
Auch die liberal-demokratische Revolution des Westens blieb unvollendet, weil ohne Sozialismus die Mehrheit des Volkes die emanzipatorischen Möglichkeiten, die Freiheit und Demokratie enthalten, nur unzureichend nutzen kann. Erst die durch Konvergenz zu schaffende Synthese von Freiheit, Demokratie und Sozialismus vollendet auf evolutionäremWege die unvollendeten Revolutionen des Westens und des Ostens und ermöglicht es dem ganzen Volk, die in beiden Systemen schon enthaltenen emanzipatorischen Möglichkeiten tatsächlich zu verwirklichen.
Bei den Bemühungen, die unvollendeten Revolutionen auf evolutionärem Wege weiterentwickeln, können die europäischen Völker die Initiative ergreifen, weil sie infolge ihrer bisherigen Geschichte die besten Voraussetzungen besitzen, die Synthese von Freiheit, Demokratie und Sozialismus zu verwirklichen. Denn während der Sowjetunion eine liberal-demokratische und den USA eine sozialistische Tradition fehlt, besitzen die europäischen Staaten, einschließlich einiger osteuropäischer Län-der, vor allem die CSSR, gleichzeitig eine liberal-demokratische und eine sozialistische Tradition.
Um den Erfolg einer solchen europäischen Initiative nicht ernsthaft in Frage zu stellen, dürfte sie sich keineswegs von antiamerikanisehen und antisowjetischen Tendenzen leiten lassen. Denn diese würden innerhalb der Machteliten der beiden Supermächte gerade die konservativ-reaktionären Kräfte stärken, die bereit wären, die Entwicklung zu einem menschlichen Sozialismus mit Waffengewalt zu verhindern. Auch alle Absichten, einzelne Länder Osteuropas von der Sowjetunion zu trennen und den „Zersetzungsprozeß sowjetischer Macht" zu fördern, wie es z. B. Wolfgang Horladier Vorschlags, erschweren nur die friedliche Überwindung des Ost-West-Gegensatzes durch progressive Konvergenz. Denn die Synthese von Freiheit, Demokratie und Sozialismus ist nicht im Kampf Europas gegen die USA und die Sowjetunion zu verwirklichen, sondern nur gemeinsam mit den progressiven Kräften der amerikanischen und der sowjetischen Gesellschaft.
Ist es der Bundesregierung durch ihre neue Deutschland-und Ostpolitik schon gelungen, „den Weg nach vorn zu öffnen", wie es Bundeskanzler Willy Brandt formulierte? Ist diese Politik schon ein erster Schritt zur evolutionären Weiterentwicklung der unvollendeten Revolutionen des Westens und des Ostens?
Der Bundesregierung ist es gelungen, die Mehrheit des deutschen Volkes zu überzeugen, daß die alte Politik keine Perspektive enthielt und immer tiefer in eine ausweglose Sackgasse führte. Das bewahrt uns davor, weiterhin in einer nachweislich falschen Richtung einen Weg in die Zukunft zu suchen. Wenn auch über den langfristigen neuen Weg noch wenig Klarheit besteht, so hat die neue Politik aber doch die Richtung angezeigt, in der ein Weg in die Zukunft zu bauen ist. Gerade weil die langfristige Perspektive der neuen Politik noch so unklar ist, wird andererseits besonders deutlich, wie notwendig ein politisches Denken ist, das über die aktuellen Probleme und Aufgaben hinausgeht.