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Strukturelemente des Linksradikalismus | APuZ 24/1972 | bpb.de

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APuZ 24/1972 Artikel 1 Strukturelemente des Linksradikalismus Entnazifizierung Der fast vergessene Versuch einer politischen Säuberung nach 1945

Strukturelemente des Linksradikalismus

Rene Ahlberg

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Zusammenfassung

Der Linksradikalismus ist nicht mit seiner sozialphilosophischen Ursprungskonzeption identisch und daher auch nicht von hier aus anzufechten. Er ist im Gegenteil — ebenso wie der Rechtsradikalismus — Ausdruck einer spezifischen Verzerrung seiner theoretischen Ursprünge unter dem Eindruck tatsächlicher oder vermeintlicher Konflikte in der Gesellschaft, so daß er als eine besondere Form des abweichenden Verhaltens von jenen Normen in Erscheinung tritt, die ihn ursprünglich begründen. Die besondere Deformation seines Verhältnisses zu einer marxistisch orientierten Sozialwissenschaft äußert sich im ahistorischen Gebrauch marxistischer Begriffe und Theoriefragmente, mit denen er einerseits die sozialen Probleme der Gegenwart verschleiert und andererseits die sozialen Konflikte der Vergangenheit zu aktualisieren versucht. Die damit notwendigerweise verbundene Abkapselung von der sozialen Wirklichkeit führt wiederum zu einer tiefen Unsicherheit über die tatsächlichen Entwicklungschancen der Gesellschaft, die er durch einen hektischen Aktionismus kompensiert. In diesem Zusammenhang gewinnt die Anwendung von Gewalt eine entscheidende Bedeutung für die Überwindung der Kluft zwischen Theorie und Praxis; denn in einer demokratisch strukturierten Industriegesellschaft würde die revolutionäre Theorie allein sehr rasch von der tatsächlichen Entwicklung entkräftet werden, wenn sie sich nicht auf eine — von linksradikalen Gruppen inspirierte — gewaltsame Praxis als sichtbaren Ausdruck der theoretisch behaupteten Strukturkonflikte stützen könnte. Da die friedliche Regulierung sozialer Konflikte heute nur noch durch den Einsatz von Gewalt durchkreuzt werden kann, wird die gezielte Anwendung und der Aufruf zur Anwendung von Gewalt bei der Lösung sozialer Konflikte zum Mittel der Selbstbestätigung linksradikaler Gruppen. Dieses Vorgehen wird dann mit dem Besitz eines besonderen Wissens über die „wahre" Bedürfnisstruktur der Gesellschaft und die einzig „progressive" Richtung der Geschichte gerechtfertigt, das heißt mit einem Wissen begründet, das nicht mehr — wie noch im vorigen Jahrhundert — von der Arbeiterklasse existenziell erfahren, sondern nur noch aufgrund eines theoretischen Studiums der Gesellschaft von einer sozialistischen Intelligenz erworben werden kann.

Wenn man die wichtigsten Strukturelemente der linksradikalen Ideologie und Mentalität zu klären versucht, drängt sich zuerst ein Vergleich mit den sozialphilosophischen Ausgangspunkten des Rechtsradikalismus auf. Ein solcher Vergleich bietet sich aus drei Gründen zur Einführung in das Thema an: Erstens können dadurch die unterschiedlichen Ausgangspositionen des Links-und Rechtsradikalismus verdeutlicht werden. Zweitens macht eine solche Gegenüberstellung erst recht auf die Tatsache aufmerksam, daß sich diese extremen Abweichungen von ihren wechselseitigen Ursprungskonzeptionen in der politischen Praxis berühren und unter dem Gesichtspunkt des Zwanges austauschbar werden. Drittens läßt sich dabei aber auch herausarbeiten, daß die Ähnlichkeit der politischen Praxis die genaue Unterscheidung zwischen den entgegengesetzten ideengeschichtlichen Quellen nicht überflüssig macht. Die liberale Öffentlichkeit reagiert auf links-und rechtsradikale Bewegungen trotz der grundsätzlichen Ablehnung beider Extreme im Einzelfall mit merklichen Intensitätsunterschieden, was sicherlich nicht mit den Gemeinsamkeiten der extremistischen Praxis erklärt werden kann. Diese differenzierte Haltung der Öffentlichkeit gegenüber extremistischen Aktionen hängt unter anderem auch mit den Unterschieden der sozialphilosophischen Ausgangspunkte des linken und rechten Extremismus zusammen. Ihre ideologischen Unterschiede bleiben im öffentlichen Urteil wirksam.

I. Der linke und der rechte Radikalismus

Robert Fritzsch:

Entnazifizierung. Der fast vergessene Versuch einer politischen Säuberung nach 1945 ............................................. S. 11

Die gegensätzliche Struktur der links-und rechtsradikälen Ursprungskonzeption wird schon bei einem Vergleich der ihnen entsprechenden Einstellungen zu den jeweils bestehenden Staats-und Gesellschaftsordnungen erkennbar Im Blickfeld eines konservativen Denkens erscheinen die bestehenden Verhältnisse vielfach als Auflösungserscheinungen oder gar als Zerfallsprodukte vormals intakter sozialer Ordnungsmächte. Diese Vorstellung verwandelt sich in der rechtsradikalen Ideologie in das überwältigende Bewußtsein eines allgemeinen staatlichen und gesellschaftlichen Niedergangs, dem sie mit dem Ziel entgegenzuwirken versucht, die traditionellen Ordnungsinhalte zu restaurieren. Die Verfechter linksradikaler Ideen gehen demgegenüber von der in ihren Ursprüngen aufklärerischen Überzeugung aus, daß humane Werte bisher noch nicht oder nur unvollkommen verwirklicht sind und daß die Zeit überreif geworden ist, die Gesellschaft nach Maßgabe einer höheren Einsicht zu verändern. Diese entgegengesetzten Blickrichtungen verbinden sich mit ebenso kontroversen Ordnungsinhalten oder genauer gesagt — sie werden durch diese unterschiedlichen Normensysteme bestimmt. Die dem Rechtsradikalismus zugrunde liegenden Ordnungsvorstellungen sind meist kollektiver Natur; für seine Repräsentanten verkörpern staatliche Macht, nationale Größe oder rassische Reinheit und Überlegenheit eine Wertordnung, die der Gesellschaft wiedergegeben werden muß.

Der Linksradikalismus wählte dagegen ursprünglich das Schicksal des Individuums zum Maßstab einer politischen Orientierung; seine Vertreter sind von der historischen Macht der Vernunft überzeugt und denken in Begriffen der Gerechtigkeit und Emanzipation von über-individuellen Mächten. Diese individualistischen und rationalistischen Ursprünge des Linksradikalismus stehen allerdings in einem kaum geklärten Verhältnis zu den ebenfalls bejahten kollektiven Subjekten der Geschichte, wie sie sich in den Begriffen „Masse", „Klasse" und „Partei" ausdrücken. Auch wenn man in Betracht zieht, daß die mit diesen Begriffen verbundenen Inhalte nur als kollektive Wegbereiter individueller Entfaltung und allgemeiner Vernunft gedacht werden, wird an dieser Stelle eine sozialphilosophische Überschneidung mit den rechtsradikalen Wegweisern durch die Geschichte erkennbar.

Mit diesen kontroversen sozialphilosophischen ist Wertsystemen weiterhin ein unterschiedliches Menschenbild verknüpft: In der rechtsradikalen Ursprungskonzeption erscheint der Mensch als ein seiner ganzen Anlage nach chaotisches und willkürliches Wesen, das auf sich allein von kollektiven Ordnungsmächten verlassen, keine bedeutenden sozialen oder kulturellen Leistungen hervorzubringen vermag und daher einer -überindividuel len Ordnung bedarf, um sich sozial zu formieren. Die Vertreter des Linksradikalismus sind im anthropologischen Ansatz davon überzeugt, daß der Mensch von Natur sozial veranlagt aus ist, daß sein Wesen eigentlich schöpferisches nur unter dem unheilvollen Einfluß einer unvernünftigen Gesellschaftsordnung entartet und daher auch durch eine Änderung der Gesellschaft geheilt werden kann. Daraus ergibt sich — auch nur theoretisch und in der historischen —, daß im Perspektive rechtsradikalen Denken der Zwang ein soziale konstitutives Element jeder Gesellschaftsordnung ist und mit einer intakten Kultur verbunden bleiben muß, wenn nicht in Chaos sie und Willkür ausarten will. Die radikale Linke begreift den sozialen Zwang dagegen nur als eine vorübergehende Maßnahme, die zur Errichtung jener Verhältnisse ergriffen werden muß, in denen sich der Mensch frei entfalten kann, und die nur solange berechtigt ist, bis der Mensch zu seinem humanen Wesen gefunden hat.

Ein solcher genereller Vergleich wirft freilich sofort die Frage auf, inwiefern die genannten

Unterschiede der Extreme überhaupt relevant sind. Beide Richtungen münden, wenn sie in ihren extremistischen Formen politisch erfolgreich sind, in eine seelenlose Zwangsherrschaft ein, die sich nur in Nuancen unterscheidet. Unbeschadet der Tatsache, daß die extremen Abweichungen von ihren Ursprungskonzeptionen in der politischen Verwirklichung austauschbar werden, bleiben die unterschiedlichen Ausgangspositionen in der ideologischen Dimension und in der individuellen Mentalität erhalten. Die Tatsache zum Beispiel, daß sich der Linksradikalismus — wenn auch in verzerrten Formen — auf Vernunft, Individuum und Wissenschaft beruft, während das rechtsradikale Denken von überindividuellen Ordnungsvorstellungen dominiert wird, bleibt — wie schon angedeutet — in der liberalen Öffentlichkeit nicht folgenlos für die Beurteilung dieser politischen Extreme. Bedeutsam ist dieser Unterschied auch noch deshalb, weil zwischen der rechtsradikalen Ideologie und ihrer politischen Praxis nicht jener eindeutige Widerspruch der eine sozialistisch fundierte Terrorherrschaft immer kennzeichnet. Der sozialistische Terror läßt sich systemimmanent, das heißt auch mit sozialistischen Argumenten verurteilen und bekämpfen. Die Zwangsherrschaft enthält in ihren ideologischen Grundlagen keine Ideen, die sich gegen sie ins Feld führen ließen. Die sozialistische in eigenen impliziert ihrer Ideologie noch immer einen Aufruf zur Befreiung; der rechtsradikale Terror bleibt dagegen auch in seinem ideologischen Selbstverständnis ausweglos. Wie auch immer man diese ideologischen Differenzen beurteilen mag — und bei der Bewertung dieser Frage scheiden sich fast immer die Geister —, sie machen ein gültiges Urteil über den Rechtsradikalismus leichter, unkomplizierter und weniger kontrovers als über die Erscheinungen des Linksextremismus.

II. Wissenschaft und Mythos

Mit dem vorstehenden Vergleich sind bereits einige charakteristische Strukturelemente des Linksradikalismus namhaft gemacht. Es bleibt allerdings noch zu ergänzen, daß der linke und rechte Extremismus bisher nur in seinen sozialphilosophischen Ursprungskonzeptionen verglichen worden sind, das heißt aber, daß diese Extreme keineswegs direkt aus ihren sozialphilosophischen Wurzeln abgeleitet werden können und sich auch nicht unmittelbar aus ihnen ergeben. Mit den umrissenen Grund-positionen sind direkt nur konservative oder sozialistische Einstellungen verknüpft. Anders als ihre extremistischen Abweichungen sind progressives und konservatives Denken und Handeln historisch gleichwertig und können sich daher auch in der politischen Auseinandersetzung gleichberechtigt gegenübertreten. Der linke und der rechte Extremismus verzerren demgegenüber in signifikanter Weise ihre sozialphilosophischen Ursprünge und treten erst in dieser besonderen Deformation als extremistische Richtungen in Erscheinung.

Der Linksextremismus weist eine ganze Reihe solcher charakteristischen Verzerrungen seiner ideengeschichtlichen Quellen auf. Greifen wir zuerst das Verhältnis zur Wissenschaft heraus. Der moderne Linksextremismus ist eng mit den Sozialwissenschaften verbunden, in einigen Fällen, wenn man zum Beispiel an linksextreme Gruppierungen an den Universitäten und Hochschulen denkt, scheint er sogar mit einer bestimmten sozialwissenschaftlichen Richtung zu verschmelzen. In der Regel ist er mit einer marxistisch-leninistischen Sozial-theorie verbunden, die in Forschung und Lehre vorherrschend wird. Nun kann kein Zweifel daran bestehen, daß das Werk von Karl Marx zu den bedeutendsten wissenschaftlichen Leistungen des vorigen Jahrhunderts gehört. Insofern sich der akademische Linksradikalismus auf den Marxismus beruft und marxistische Methoden und Begriffe in den Sozialwissenschaften verwendet, wäre vorderhand nichts gegen ihn einzuwenden. Wenn er tatsächlich für sich in Anspruch nehmen könnte, daß seine Aussagen über die Staats-und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik das Ergebnis einer auf marxistischen Methoden beruhenden und in marxistischen Begriffen formulierten Erkenntnis sind, dann wäre der Widerspruch gegen die daraus folgenden Konsequenzen eine Desavouierung der ihr zugrunde liegenden Forschung. Eine empirische Überprüfung dieses für den modernen akademischen Linksextremismus zentralen Anspruchs zeigt jedoch sofort, daß dabei eine ganze Reihe von Widersprüchen und Ungereimtheiten auftreten. Auch und gerade wenn man sich bei dieser Prüfung marxistischer Verfahrensweisen bedient und ihre Ergebnisse in marxistischer Terminologie festzuhalten versucht, bestätigen die Ergebnisse weder die linksradikalen Urteile noch machen sie die damit zusammenhängenden politischen Appelle verständlich.

Man kann einen dieser Widersprüche an einem heute weithin bekannten Beispiel verdeutlichen, und zwar an der von linksradikalen Theoretikern immer wieder vorgebrachten Behauptung, daß in der Bundesrepublik planmäßig eine Klassengesellschaft restauriert worden sei, wobei die Bourgeoisie alle Machtpositionen besetzt halte und das Proletariat systematisch ausbeute. Wenn man diese Aussagen in marxistischen Begriffen vorträgt, sind damit unter anderem folgende inhaltliche Feststellungen über die soziale Lage der arbeitenden Bevölkerung getroffen: Erstens ist damit gesagt, daß die Arbeiterschaft am Rande des materiellen Existenzminimums lebt, zweitens keine Bildungs-und Ausbildungschancen besitzt und drittens von jeder politischen Mitbestimmung im Staate ausgeschlossen bleibt. Eine empirische Untersuchung der sozialen Lage der Arbeiterschaft zeigt sofort, daß keine dieser Thesen zutrifft. Die Verwendung marxistischer Begriffe suggeriert eine soziale Wirklichkeit, die in dieser Form nicht mehr existiert.

Es ist zwar unbestreitbar, daß sich in der Bundesrepublik Gesellschaftsklassen mit unterschiedlichen materiellen Interessen gegenüberstehen, aber ihre Zusammensetzung und ihre soziale Lage sind nicht mehr mit dem traditionellen marxistischen Begriffsapparat adäquat zu erfassen. Zwar trifft es zu, daß in der bürgerlichen Gesellschaft der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit noch immer besteht, aber die soziale Bedeutung dieser Feststellung hat sich in den letzten hundert Jahren gründlich geändert. Der damit zusammenhängende soziale Wandel bezeichnet die Demarkationslinie, die ein revolutionäres von einem evolutionären Zeitalter trennt.

Das Beispiel mag deutlich machen, daß die Theoretiker des Linksradikalismus überall dort, wo sie sich auf den Marxismus berufen, in eklatanter Weise selber gegen den marxistischen Grundsatz verstoßen, daß die jeweils verwendeten Begriffe historisch benutzt werden müssen, daß ihr Inhalt der sozialen und ökonomischen Entwicklung angepaßt werden muß. Zur Eigenart linksradikaler Denkfiguren gehört es nun, den Inhalt marxistischer Begriffe nur soweit den modernen sozialen Existenzbedingungen anzupassen, wie ihre appellierende, emotionalisierende und mobilisierende Intention erhalten bleibt. Wenn man in der Diskussion auf den ahistorischen Gebrauch marxistischer Begriffe hinweist und auf den Bewußtseinswandel der Arbeiterschaft zu sprechen kommt, der gerade nach marxistischer Auffassung Ausdruck des sozialen Wandels ist, bekommt man stereotyp zu hören, daß das nichts mit einer Änderung der Realität zu tun habe, sondern auf die geschickte Manipulation durch die herrschenden Mächte zurückzuführen sei. Bezieht man dieses Argument auf ein marxistisches Koordinatensystem, so würde das bedeuten, daß wir in eine Epoche eingetreten sind, in der nicht mehr die Wirklichkeit das Bewußtsein, sondern umgekehrt, das Bewußtsein die Wirklichkeit bestimmt. Im ahistorischen Gebrauch marxistischer Begriffe macht sich die Unfähigkeit bemerkbar, einerseits die eigenen politischen Überzeugungen mit der objektiven Wirklichkeit abzustimmen und an-5 dererseits das moralisch Wünschbare unter den Bedingungen der Demokratie mit dem gesellschaftlich Möglichen zu verbinden.

Hinter dem abstrakten und appellatorischen Gebrauch marxistischer Begriffe verbirgt sich jedoch noch eine weit fundamentalere Verzerrung des Verhältnisses zur Wissenschaft. Denn es handelt sich hier nicht sosehr um einen bewußten Mißbrauch von Begriffen, sondern vielmehr um ein von kritisch-rationalen Standards abweichendes Wissenschaftsverständnis. Bei einer Vertiefung der Analyse zeigt sich, daß der Marxismus im linksradikalen Selbstverständnis eine signifikante Umdeutung erfährt. Er wird nicht mehr als ein besonderes wissenschaftliches Verfahren verstanden, mit dem man sich der sozial-ökonomischen Wirklichkeit versichert, mit dem man Wahres und Unwahres unterscheidet und mit dem man sich schließlich sachliche Grundlagen für politische Entscheidungen verschafft, sondern als ein Lehrgebäude aufgefaßt, in dem bereits alles Wesentliche auch über den modernen Sozialprozeß ausgesagt ist. Damit verwandelt sich der Marxismus aus einer Methodologie, die das sozial Mögliche und Notwendige auf Grund gesamtgesellschaftlicher Bedingungsanalysen sichtbar macht, in eine wissenschaftlich verbrämte Heilslehre, deren Dogmen auch gegen den Widerstand der Gesellschaft durchgesetzt werden müssen.

Aus dieser Umformung des Marxismus in ein Erlösungswissen mit psychologischer Tiefenwirkung resultiert die Forderung, daß man sich beim politischen Handeln nicht danach richten dürfe, was in der demokratischen Staats-und Gesellschaftsordnung möglich sei, sondern ausschließlich danach, was im Interesse der Menschen auch gewaltsam möglich gemacht werden muß. Mit dieser Interpretation des „sozial Möglichen" meldet aber der Linksradikalismus bereits unverkennbar seinen Anspruch auf eine gewaltsame Umgestaltung der demokratischen Gesellschaftsordnung an.

Diese Ideologie ist in einer Dimension angesiedelt, in der der Marxismus zu einer psychologischen Rückversicherung gegen jedwede wissenschaftliche Aufklärung degeneriert. Seine Begriffe verwandeln sich in eine Sammlung politischer Beschwörungsformeln, mit denen nüchterne Sachverhalte dämonisiert werden. Man braucht hier nur an Begriffe wie Monopolkapitalismus, Imperialismus oder Faschismus zu erinnern, die im linksradikalen Sprachgebrauch ein mythisches Eigenleben führen und zu geschichtsmächtigen Subjekten stilisiert werden, die auf geheimnisvolle Weise das Schicksal der Völker regieren. Wer die Wirklichkeit in dieser Weise in Begriffen verkörpert sieht, erlebt sein falsches Bewußtsein als Realität und die empirisch erfaßbare Wirklichkeit als Illusion.

III. Der Aktionismus

Ein weiteres Merkmal des linksradikalen Verhaltens wird durch eine ideologisch motivierte Unrast hervorgerufen. Linksradikale Gruppen werden meist durch eine vage, aber intensive Ungeduld gekennzeichnet, die sich häufig zu einem unstillbaren Aktionismus steigert. Derjenige, der in Gruppen hineingerät, die von politischem Erlösungswahn beherrscht werden, ist sofort von einer Stimmung des Aufbruchs umgeben. Er begegnet einer Geisteshaltung, die von der Vorstellung getragen wird, daß keine Zeit zu verlieren sei, daß der geeignete Zeitpunkt für eine schicksalhafte Wende ungenutzt zu verstreichen drohe und daher alles auf einmal gemacht werden müsse. Die subjektive Gewißheit, die Lösung aller sozialen Probleme zu kennen, und das überwältigende Gefühl, an der Schwelle entscheidender Ereignisse zu stehen, drängen unwiderstehlich zum Handeln. Dieser Drang, etwas zu tun, vor allen Dingen etwas zu verändern, nimmt oft groteske Formen an. Nach innen — innerhalb solcher Gruppen — äußert er sich in endlosen Diskussionen, Streitigkeiten und Spaltungen. Nach außen nimmt dieser diffuse Aktionismus sofort gewaltsame Formen an, wenn er auf Widerstand trifft.

Auch hinter dieser eigentümlichen Unrast verbergen sich ideologische Motive. Die Aktion wird oberflächlich gesehen nur um der politischen Konfrontation willen gesucht. Geht man diesem Verhaltensmuster auf den Grund, so findet man sehr bald, daß es von einem bestimmten Wertsystem gelenkt wird. Audi dem linksradikalen Geschichts-und Fortschrittsbegriff liegt ein von kritisch-rationalen Einstellungen abweichendes Wertbild zugrunde. Im Rahmen kritisch-rationaler Einstellungen erscheinen evolutionäre Entwicklungsperioden der Gesellschaft als friedliche und wünschbare Epochen der Geschichte. Bei einer solchen Betrachtung wird die soziale Erneuerung, die ohne Blutvergießen, Bürgerkrieg und Terror erfolgt, grundsätzlich höher bewertet als eine Änderung der Sozialordnung, die im Verlauf brutaler Machtkämpfe durchgesetzt wird. Am vorbildlichen Charakter der sozialen Evolution ändert sich im Rahmen dieser Einstellung auch dann nichts, wenn man der gewaltsamen Revolution einen berechtigten Platz in der Geschichte einräumt.

Die linksradikale Aspektstruktur unterscheidet sich nun gerade dadurch von einer rationalen Geschichtsbetrachtung, daß ihr Fortschrittsbegriff soweit eingeengt ist, daß von ihm nur Perioden der gewaltsamen Änderung als Ausdruck echter sozialer Innovation erfaßt werden können. Nur der katastrophenartige Umsturz der bestehenden Ordnung fügt sich dem linksradikalen Fortschrittsbegriff als wahrer Selbstheilungsprozeß der Gesellschaft ein; alles was von diesem Klischee abweicht, bleibt suspekt. Friedliche Perioden der sozialen Entwicklung, des sozialen Wandels unter Beachtung rechtlicher Normen, werden meist als Zeiten der verschleierten Unterdrückung denunziert.

Wenn man sich dieses Geschichtsverständnis vor Augen führt, in dem nur der durch die Revolution eingeleitete oder von sozialen Pressionen der verschiedensten Art begleitete Änderungsprozeß als genuiner Fortschritt gewürdigt werden kann, wird der linksradikale Aktionismus als spezifischer Ausdruck eines ideologischen Fortschrittsbegriffs erkennbar. Zu den genannten generellen Bewertungsmaßstäben gesellen sich dementsprechende Anforderungen an das individuelle Verhalten in der Gesellschaft. Die aggressiven Verhaltenserwartungen, denen das Individuum unterworfen wird, hängen mit der grundsätzlichen Wertentscheidung zusammen, daß ein vom Willen zur Veränderung bestimmtes Dasein höher zu bewerten ist als differenziertere Verhaltensmotivationen. Im Horizont dieses Wertsystems existiert keine Rechtfertigungsmöglichkeit für ein individuell motiviertes Verhalten in der Gesellschaft. Die Enthaltung von politischer Arbeit, von ätzender Kritik und rücksichtsloser Anklage des Bestehenden bedeutet hier eben-soviel wie die Mißachtung von unabdingbaren Pflichten der sozialen Existenz des Menschen. Selbst die bewußte Abkehr vom politischen Kampf erscheint mit den Pflichten des Fortschritts unvereinbar und daher auch moralisch verwerflich. Nach Maßgabe dieser Konzeption räumt man auch mit einer zeitweiligen Entscheidung gegen politische Betätigung unvermeidlich das Feld für die Reaktion, die wiederum immer auf dem Sprung steht, aus politischer Abstinenz politisches Kapital zu schlagen. In diesem System von Verhaltensnormen gibt es kein Menschenrecht auf eine unpolitische Existenz, die sich ihre Zwecke außerhalb des öffentlichen Lebens sucht. Die Hingabe an wissenschaftliche Erkenntnis oder ästhetisches Schöpfertum erscheint hier ebenso verdächtig wie die Identifizierung mit dem Beruf, den man ausübt.

IV. Die Rolle der Gewalt

Mit der Umwertung der sozialen Entwicklungsmodalitäten sowie des individuellen Verhaltensmusters hängt auch die besondere Bewertung der Rolle der Gewalt in der menschlichen Geschichte zusammen. Wie stark übrigens die Glorifizierung der umstürzenden Gewalt auch auf das allgemeine Geschichtsverständnis und die öffentliche Meinung abgefärbt hat, mag man daraus ersehen, daß in zeitgeschichtlichen und sehr oft auch in aktuellen Äußerungen leerformelhaft beklagt wird, daß es in der deutschen Geschichte keine radikale Revolution gegeben habe. Sicherlich hat Marx nicht nur metaphorisch die Gewalt als die Geburtshelferin des Neuen bezeichnet, aber damit nicht den humanen Charakter, die Wünschbarkeit und die Möglichkeit eines evolutionären Sozialprozesses unter demokratischen Verhältnissen prinzipiell in Abrede gestellt. In der Einleitung zum Programm der französischen Arbeiterpartei hat Marx ausdrücklich erklärt, daß die Arbeiter das Wahlrecht aus einem Mittel der Prellerei in ein Werkzeug der Befreiung verwandelt hätten Die einseitige und verengte Rezeption der Marxschen Revolutionstheorie hat in der linksradikalen Ideologie zur Verklärung der Gewalt geführt.

Die Gewaltmetaphysik bildet einen wesentlichen Bestandteil der linksradikalen Gesellschaftstheorie. In ihr figuriert die Gewalt als ein ontologisches Phänomen, das aus der menschlichen Geschichte solange nicht weggedacht werden kann, wie es noch die kapitalistische Gesellschaft gibt. Solange die kapitalistische Gesellschaft noch existiert, gleichviel in welchen politischen Organisationsformen, bleibt die Gewalt in dieser Interpretation eine unaufhebbare Begleiterscheinung des sozialen Entwicklungsprozesses. In diesem Geschichtsverständnis ist es daher pure Heuchelei, die Anwendung von Gewalt aus moralischen Gründen zu kritisieren und zu verwerfen. Die Verurteilung der Gewalt, ohne sie mit dem revolutionären Fortschritt in direkte Beziehung zu setzen, erscheint hier deswegen als blanker Zynismus, weil der Linksradikalismus davon ausgeht, daß die bürgerliche Gesellschaft selbst nur durch die Androhung und Anwendung von Gewalt existenzfähig ist. Das bedeutet aber, daß über den moralischen Stellenwert der Gewalt nur entschieden werden kann, wenn man sich über die „progressive" und die „reaktionäre" Rolle der Gewalt Klarheit verschafft hat. In diesem Zusammenhang gilt die Gewalt, die zur Aufrechterhaltung der bestehenden demokratischen Staatsordnung benutzt wird, als reaktionär. Im Rahmen einer progessiven und revolutionären Bewegung erscheint hingegen die Anwendung von Gewalt gegen offene und heimliche Feinde des Fortschritts sowohl historisch als auch moralisch legitim. In den Perspektiven des sozialen Fortschritts ist sie ein selbstverständliches und erlaubtes Mittel der Befreiung.

Diese doppelbödige Gewaltlehre spielt eine wichtige Rolle in der linksradikalen Auseinandersetzung mit der demokratischen Staats-und Gesellschaftsordnung. Die Anwendung von Gewalt kann heute nicht mehr unmittelbar aus der Erfahrung politischer Unterdrückung oder existenzgefährdender Ausbeutung abgeleitet und gerechtfertigt werden. Man kann das heute um so weniger, als es in der parlamentarischen Demokratie ein gesamtgesellschaftlich anerkanntes und rechtlich kodifiziertes Instrumentarium zur gewaltlosen Überwindung sozialer Ungleichheit gibt.

Die Anwendung von Gewalt oder anderer, subtilerer Formen des sozialen Zwanges stellt schlechthin das Gegenprinzip zu den allgemein anerkannten demokratischen Verfahrensweisen dar. Der Humanitätsanspruch der demokratischen Staatsordnung, der ganz wesentlich auf der von einer breiten Zustimmung getragenen gewaltfreien Strategie zur Überwindung sozialer Konflikte beruht, ist so fest im öffentlichen Bewußtsein verankert, daß es schon eines ganz beträchtlichen intellektuellen Aufwandes und einer abstrakten Vergröberung aller empirischen Konflikte in der Gesellschaft bedarf, um die Legitimität von physischer Gewalt überhaupt sinnvoll ins Gespräch zu bringen. Aus diesem Grunde befolgt die linksradikale Agitation die Regel, auf der Existenz des Widerspruches zwischen Kapital und Arbeit in abstrakter Form zu beharren, die Möglichkeit einer gewaltfreien Lösung dieses Konfliktes in der bestehenden Ordnung prinzipiell zu bestreiten und jeden konkreten Fortschritt beim Abbau sozialer Spannungen herabzusetzen.

In Demokratien auf industriegesellschaftlicher Entwicklungsstufe läßt sich die Anwendung von Gewalt grundsätzlich nur plausibel machen, wenn man im sozialen Bewußtsein den Eindruck der äußersten Unerträglichkeit und allgemeinen Ungerechtigkeit der bestehenden Verhältnisse zu wecken vermag. Die in einer demokratischen Gesellschaft verinnerlichten Vorbehalte gegen ein gewaltsames Vorgehen brechen naturgemäß am leichtesten zusammen, wenn man die Vorstellung zu erzeugen vermag, daß die bestehende Ordnung selber nur durch rohe Gewalt wird. Die -erhalten links radikale Agitation verfolgt hier die Absicht, die ethischen Barrieren mit einer massiven Kritik niederzureißen. Sie bedient sich dabei einmal der Behauptung, daß allein schon der dem Kapitalismus innewohnende Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit ausreiche, um die Unmenschlichkeit dieses Systems zu beweisen. Aus diesem Grundwiderspruch ergebe sich zwangsläufig die Aggressivität des kapitalistischen Systems, die sich nach innen in rücksichtsloser Profitgier und nach außen in der Verstrickung in imperialistische Kriegsabenteuer äußere. Zum anderen indoktriniert man die These, daß sich die bürgerliche Gesellschaft ohne jede historische Alternative zum Faschismus entwickle, ja daß der Faschismus schon heute überall in der Bundesrepublik gegenwärtig sei, ständig vordringe und sich unvermeidlich durchsetzen werde. Wenn man sich erst einmal vermittels einer solchen Indoktrination in die Vorstellung hineingesteigert hat, daß die sozialen Konflikte des 19. Jahrhunderts nicht nur nichts von ihrer Intensität eingebüßt, sondern sich sogar durch die Gefahr des Faschismus potenziert hätten, dann ist die Anwendung von Gewalt zur Beseitigung der bestehenden Ordnung nicht nur ein wohlbegründetes Menschenrecht, sondern auch eine allgemeine politische Pflicht.

In der positiven Bewertung der Gewalt als Schrittmacher des Fortschritts deuten sich schließlich noch jene Argumentationsfiguren in der linksradikalen Ideologie an, mit denen man den sozialen Zwang auch noch nach der sozialistischen Revolution ausüben und begründen kann. Das Recht, auch Gewalt gegen die Demokratie einzusetzen und ihren Umfang nach dem Widerstand zu bemessen, auf den sie trifft, wird mit der Absicht begründet, eine gewaltfreie Gesellschaft zu schaffen. Betrachtet man die linksradikale Gewaltmetaphysik etfi was genauer, so zeichnen sich sofort Argumentationsmuster ab, mit denen man die Anwendung von Gewalt selbst unter sozialistischen Entwicklungsbedingungen rechtfertigen kann. Folgt man nämlich dieser Gewaltlehre, in der Fortschritt und Gewalt eng verbunden sind, so bleibt die Gewalt auch nach der Revolution und auch noch während des sozialistischen Aufbaus in den Händen der Gralshüter der Revolution das wirksamste Mittel, die neue Gesellschaft gegen alle inneren und äußeren Feinde zu schützen.

In diesem Orientierungssystem erscheinen alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten, auf die die progressive Planung stößt, nicht als immanente Probleme des Sozialismus, sondern grundsätzlich als Machenschaften der Reaktion oder Intrigen des Klassenfeindes, die man gewaltsam bekämpfen muß. Aus der falschen Erwartung, daß die sozialistische Gesellschaft keine ernsthaften immanenten Probleme kennt und ohne willkürliche Störungen harmonisch verläuft, folgt ideologisch konsequent der Schluß, daß die in der nachrevolutionären Praxis auftretenden Konfliktherde vom Klassenfeind angezettelt werden und daher mit Gewalt unterdrückt werden dürfen. Erst von hier aus wird die Degeneration der linksradikalen Gewaltmetaphysik in ihrem ganzen Umfang einsichtig: Sie beginnt mit der Rechtfertigung der Gewalt zur Niederschlagung der Reaktion und endet mit der Legitimierung der Gewalt auch bei der Sicherung der sozialistischen Zukunft.

V. Der Elitismus

Die enge Verquickung von Moral, Gewalt und Fortschritt stellt einen eklatanten Rückschritt in der Entwicklung der politischen Philosophie dar. Während die strenge Trennung von Gewalt und Fortschritt die Erprobung gewalt-freier Strategien des sozialen Fortschritts unterstützt, verschüttet die linksradikale Geschichtsideologie diese elementaren Bedingungen zur Humanisierung des Sozialprozesses. Innerhalb dieses ideologischen Entwicklungsideals kann die Anwendung von Gewalt nur allzuleicht mit esoterischen Argumenten begründet und erklärt werden. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem linksradikalen Demokratieverständnis. In einer ersten Formulierungsschicht gibt sich der Linksradikalismus demokratisch und egalitär. Schaut man jedoch hinter die Fassade, so findet man als Bodensatz ein ausgeprägtes und selbstgerechtes Missionsbewußtsein bei jenen, die auf absolute Egalität pochen.

Die Anwälte der Revolution sind von der Überzeugung beherrscht, daß sie auserwählt seien, eine historische Aufgabe zu erfüllen, die ihnen niemand abnehmen könne. Als Vollstrecker dieser historischen Mission fühlen sie sich von allen konventionellen sozialen Rücksichten entbunden und nur den Entwicklungsgesetzen der Geschichte verantwortlich. Der Glaube, nur dann dem Fortschritt zu dienen, wenn man sich nach den abstrakten Sinntendenzen der Geschichte richtet, bedeutet aber die Bindung an ein außermenschliches Prinzip, an ein abstraktes Allgemeines, das keine Rücksichten für das Besondere und Individuelle kennt. Die Bindung an einen vorformulierten Musterkatalog der Geschichte bedeutet aber für das politische Handeln, daß man sich im Zweifelsfall nicht an den realen Bedürfnissen der Gesellschaft, sondern immer nur in den Grenzen des abstrakten Dogmas orientiert.

Das politische Sendungsbewußtsein umreißt nur die elitären Grundpositionen des Linksradikalismus. Die Rechtfertigung dieses Elitismus äußert sich wiederum in zwei charakteristischen Denkfiguren: Die Vertreter des linksradikalen Sendungsbewußtseins verstehen sich zwar immer nur als ein Teil der breiten Volks-massen, denen sie sich verbunden meinen, aber indem sie ihre Verbundenheit mit den Massen betonen, begreifen sie sich gleichzeitig als jener Teil der Massen, der die Bedürfnisse und Interessen des Volkes besser kennt als das Volk selbst. Sie glauben die Interessen der Massen besser zu kennen, weil sie die Strukturgesetze der sozialen Bedürfnisse wissenschaftlich durchschaut zu haben meinen.

Inhaltlich schreiben nun diese Strukturgesetze vor, daß die Volksmassen in der kapitalistischen Gesellschaft ausgebeutet, unterdrückt und gedemütigt werden und sich auch dementsprechend verhalten. Wenn aber die arbeitende Bevölkerung von diesen revolutionären Verhaltenserwartungen abweicht, so signalisiert das Versiegen des revolutionären Elans nur, daß es der herrschenden Klasse gelungen ist, die Massen zu bestechen oder zu betrügen. In diesem Fall hat die kleine Gruppe der Wissenden, die sich weder betrügen noch korrumpieren läßt, die unabdingbare Pflicht, stellvertretend für das Volk zu handeln. In solchen Situationen hat die Avantgarde des Proletariats die Pflicht, die Führung der Mas9 sen zu übernehmen und vorsorglich für jene zu denken und zu handeln, die schuldlos in eine unmündige Abhängigkeit geraten sind.

Nun gehört der Anspruch, die Massen zu führen, zu den traditionellen Grundlagen des Linksextremismus. Schon Lenin hat um die Jahrhundertwende erklärt, daß die Arbeiterschaft aus eigener intellektueller Kraft niemals in der Lage sein werde, ein sozialistisches Bewußtsein hervorzubringen und daher durch eine zielklare sozialistische Intelligenz geführt werden müsse In den letzten Jahren ist dieses leninistische Argument, namentlich unter dem Eindruck industriegesellschaftlicher Entwicklungen, ausgeweitet und ergänzt worden. Heute wird in der einschlägigen Literatur zur Begründung des Führungsanspruches durch eine Elite nicht mehr so sehr die ökonomisch bedingte geistige Unreife der Massen angeführt, sondern immer häufiger darauf verwiesen, daß die Grundwidersprüche der kapitalistischen Gesellschaft von der arbeitenden Bevölkerung nicht mehr direkt erfahren und daher nur schwer erkannt werden können, so daß man einer wissenschaftlich aufgeklärten Elite bedarf, um das Wirken dieses destruktiven Widerspruchs verständlich zu machen. Mit diesen Überlegungen wird aber die Idee der sozialistischen Revolution, die sich nach Marx als Ergebnis eines unmittelbar erlebten Bedürfnisses in den Massen ausbreiten sollte, in eine Sache der intellektuellen -und abstrak ten Erkenntnis umgeformt Die Deformation besteht des Marxismus in diesem Zusammenhang darin, daß in der sozialistischen Ur-Sprungskonzeption die Volksmassen selbst die Notwendigkeit der Revolution existenziell erfahren, während sie in der modernen Version in ihrer Notwendigkeit lediglich auf Grund eines abstrakten Erkenntnisprozesses eingesehen werden kann. In der linksradikalen Form sozialistische ist Revolution daher nicht die mehr durch die empirischen Bedürfnisse der Gesellschaft motiviert — die Beachtung dieser Bedürfnisse hat sogar konterrevolutionäre Folgen —, sondern durch theoretische Erkenntnis begründet.

Die Behauptung, daß die sozialistische Revolution unter industriegesellsOhaftlichen Bedingungen nur vermittels theoretischer Analysen in ihrer Notwendigkeit erkannt werden könne und nicht mehr in der Bedürfnisstruktur der Massen wurzle, begründet in neuer — und wie mir scheint —, recht aufschlußreicher Weise den elitären Führungsanspruch der linksradikalen Intelligenz. Denn wenn man erst akzeptiert, daß die sozialistische Revolution in der modernen Industriegesellschaft nicht mehr äüs der tatsächlichen Bedürfnis-Struktur der Arbeiterschaft abgeleitet werden könne, sondern zu einer Sache der theoretischen Erkenntnis geworden sei, dann können die Massen selbst überhaupt nicht mehr über den Zeitpunkt, den Charakter und den Ablauf der Revolution mitbestimmen. Sie sind dann in dieser Schicksalsfrage auf Gedeih oder Verderb den Entscheidungen ihres Führungskaders ausgesetzt. Eine Revolutionsidee, die aus abstrakten Erkenntnissen resultiert, wird endgültig zu einer Domäne der wissenden Elite, die damit ihren traditionellen Führungsanspruch auf das Wirksamste mit dem Hinweis auf ihre intellektuellen Qualitäten absichern kann.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. zu diesem Abschnitt J. L. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln und Opladen 1961.

  2. Zitiert nach der Einleitung von Friedrich Engels für das Werk von Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. I, Berlin 1951, S. 114.

  3. W. I. Leniri, Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung, in: W. I. Lenin, Ausgewähite Werke in zwei Banden, Bd. I, Moskau 1946, S. 199.

Weitere Inhalte

Rene Ahlberg, Dr. phil., Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin, geboren am 16. April 1930 in Riga. Veröffentlichungen u. a.: Dialektische Philosophie und Gesellschaft in der Sowjetunion, Berlin 1960; Entwicklungsprobleme der empirischen Sozialforschung in der UdSSR, Berlin 1968; Akademische Lehrmeinungen und Studentenunruhen in der Bundesrepublik, Freiburg 1970; (Hrsg.) Soziologie in der Sowjetunion, Freiburg 1969.