Eine Bilanz anläßlich der Welthandelskonferenz in Santiago de Chile
Eine kürzlich veröffentlichte amerikanische Karikatur zeigt einen Mann aus einem Entwicklungsland, dem man mit einer Hand Entwicklungshilfe einflößt, während ihm die andere, den Welthandel symbolisierende Hand, den Hals zudrückt. Das drastische Bild illustriert in überspitzter Form eine These, bei der es sich aber keineswegs um ein absolutes Zerrbild handelt. Die Zeichnung karikiert den krassen Widerspruch in der Haltung der Industrieländer. Ihnen fällt es — wie Andrew Shonfield einmal schrieb — schwer, „ihre Handelspolitik mit der von ihnen immer wieder zum Ausdruck gebrachten Sorge um das Wohlergehen und die Stärkung des Produktionspotentials der unterentwickelten Welt auf einen Nenner zu bringen".
Die Handelspolitik der Industrieländer gegenüber den Entwicklungsländern gehört zu den Hauptthemen der vom 13. April bis 19. Mai 1972 in Santiago de Chile stattfindenden Dritten Welthandelskonferenz, d. h.der UN Conference on Trade and Development — abgekürzt UNCTAD —, der entsprechende Konferenzen in den Jahren 1964 in Genf und 1968 in New Delhi vorausgegangen waren.
Wie die englische Bezeichnung klarer als die deutsche Übersetzung erkennen läßt, befaßt sich die Konferenz nicht nur mit Handel, sondern im gleichen Maße mit Entwicklung. In der Tat können Welthandel und Entwicklungshilfe nicht getrennt werden. Je mehr es ge-ingt, die Entwicklungsländer in den Welthandel, einer besonders wichtigen Quelle des Wohlstandes der Industrieländer, einzuschal-ten, d. h. vor allem ihre Einkünfte aus den Exporten zu steigern, um so weniger werden sie auf Entwicklungshilfe angewiesen sein.
Wesentlich erweiterter Text eines Vortrags, den mer Verfasser am 10. April 1972 im Dritten Pro-9 amm des Westdeutschen Rundfunks gehalten hat.
Ihr Anteil an den Weltexporten lag im Jahre 1950 noch bei fast 32 Prozent. Er verminderte sich 1960 auf ein Viertel und bis 1969 auf ein Fünftel. Noch stärker sank der Anteil der Entwicklungsländer an der Welteinfuhr. Das heißt aber nicht, daß die Exporterlöse der Entwicklungsländer auch in absoluten Werten rückläufig waren. Sie stiegen in den fünfziger und sechziger Jahren um fast 150 Prozent. Aber die Exporterlöse der Industrieländer erhöhten sich im gleichen Zeitraum um über 420 Prozent. Die „Schere" zwischen den Reichen und den Armen öffnete sich auch auf diesem Gebiet. Der Grund dafür liegt darin, daß die Preise für die Industriewaren schneller zu steigen pflegen als die für Rohstoffe
Außer der Frage, welches Eigenpotential die Entwicklungsländer zur Stärkung ihrer Exporte besitzen, stellt sich vor allem das damit untrennbar verbundene und sehr ernste Problem der Aufnahmebereitschaft der Industrieländer für Erzeugnisse aus den Entwicklungsländern, und zwar nicht nur für Rohstoffe, sondern vor allem auch für Halb-und Fertigwaren. Schon in den beiden ersten Welthandelskonferenzen stand das letzte Problem im Vordergrund, und es ging dabei vor allem um den Abbau von Handelsschranken aller Art — nicht nur von Zöllen, die unter den Einfuhrbarrieren sozusagen nur die sichtbare Spitze des Eisbergs darstellen —, sondern auch um die Beseitigung der sogenannten „nicht-tari-fären" Protektion. Die nicht-tarifären Handels-hemmnisse sind überaus vielfältig und oft einschneidender als die tarilren, d. h. die Zollbelastungen. Als einige von vielen Beispielen für nicht-tarifäre Protektion seien hier nur erwähnt: mengenmäßige Einfuhrbe-sdiränkungen in Form von Kontingenten, devisenmäßige Einfuhrbelastungen, Verwaltungsgebühren, Kreditrestriktionen, besonders strenge Anforderungen an Verpackung und Kennzeichnung, überspitzte pflanzenschutz-
und veterinärpolizeiliche Bestimmungen, Handelsmonopole sowie übertriebene Einfuhrformalitäten verschiedenster Art.
Es wäre sicherlich eine Illusion zu glauben, daß bei der bevorstehenden dritten Sitzungsperiode von UNCTAD die sogenannten entwickelten Länder bereit sein werden, ihre Haltung substantiell zu ändern und die Handelshemmnisse aller Art so wesentlich abzubauen, wie es im Interesse einer rascheren Entwicklung der Länder der Dritten Welt geboten wäre. In dem oft zitierten Strategiedokument der Vereinten Nationen für die laufende Zweite Entwicklungsdekade sind alle Länder aufgefordert, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um ein rationelles System der internationalen Arbeitsteilung durchzusetzen. Das Thema der internationalen Arbeitsteilung ist ein beliebter, in vielen Festreden verwendeter Slogan, wobei allerdings auch heute noch gar nicht so selten unterstellt wird, daß die Entwicklungsländer sich im Grunde mit der Rolle des Rohstofflieferanten zu begnügen haben, während die viel lukrativere Verarbeitung weiterhin das Primat der Industrieländer bleibt Mit Argumenten der verschiedensten Art, die sich z. T.selbst widersprechen, verteidigen die Industrieländer protektionistische und dem Erfordernis einer rationellen Arbeitsteilung zuwiderlaufende Positionen, die nicht konform mit ihren entwicklungspolitischen Deklamationen sind.
Wenn eines der wesentlichen Ziele aller Entwicklungshilfe darin besteht, die Entwicklungsländer durch „Hilfe zur Selbsthilfe" wirtschaftlich zu stärken und damit ihren Lebensstandard zu erhöhen, so sollte das konsequenterweise bedeuten, daß man ihnen weitestgehende Chancen einräumen muß, den Export auf allen Warengebieten zu steigern und sich damit selbst zu helfen. Das gilt nicht nur hinsichtlich der in den Industrieländern benötigten Rohstoffe und Genußmittel („Kolonialwaren"), sondern für viele Agrarprodukte und insbesondere für solche Industrieerzeugnisse, für welche die Entwicklungsländer ein Eigenpotential besitzen. Dieses ließe sich auch durchaus noch wesentlich besser ausschöpfen, wenn der Absatz nicht auf Einfuhrschranken in den meisten reichen Ländern stoßen würde.
Zu den Formen der Entwicklungshilfe, die in jedem Kompendium der seitens der Bundesrepublik gewährten Hilfe regelmäßig — wenn auch erst ziemlich am Ende — erwähnt wird, gehört die sogenannte Handelshilfe. Auch in einem Memorandum der Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 27. Juli 1971 über eine gemeinschaftliche Politik der Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern wird die Bedeutung handelsfördernder Maßnahmen besonders hervorgehoben. Man will den Exporten aus den Entwicklungsländern den Weg vor allem auf die Märkte der entwickelten Länder ebnen, und man könnte diese Hilfsform daher viel klarer Exporthilfe nennen. Dann allerdings würde der Widerspruch dieser Form der Entwicklungshilfe, ja der Entwicklungshilfe an sich, zu gewissen Aspekten der Handelspolitik deutlich sichtbar werden. Die Handelspolitik fast aller Industrieländer (die des Ostens nicht ausgeschlossen) ist nämlich sehr systematisch bemüht, gerade für diejenigen Erzeugnisse der Dritten Welt Handelsschranken aufrechtzuerhalten, bei denen die Entwicklungsländer relativ am konkurrenzfähigsten sind. Alle Bemühungen im Rahmen der UNCTAD, hier wesentliche Abhilfe zu schaffen, sind bisher auf den Widerstand der Industrieländer gestoßen.
Gunnar Myrdal hat in seinem letzten Buch „Aid, Trade, and Finance" ein sehr pessimistisches Urteil über die Haltung der „Reichen gegeben: „Alles was seit der Welthandelskonferenz von 1968 geschehen ist, läßt befürchten, daß die Majorität der entwickelten Länder mit den USA an der Spitze nunmehr die Absicht hat, UNCTAD auf Eis zu legen... und die OECD, die als der Klub des reichen Mannes anzusehen ist, wird zu einem Instrument, um diese Sabotage zu organisieren.“ Das ist sicherlich eine überspitzte, aber keineswegs eine am Kern der Sache vorbeigehende Formulierung. Der Widerspruch zwischen den Zielen der Ent Wicklungspolitik und denen der Handelspolit besteht sowohl auf dem Gebiet der Rohsto e einschließlich der Agrarprodukte als auch auf dem der Erzeugnisse von Industrie und Handwerk. Bei Rohstoffen ergibt sich der Zielkonflikt insbesondere aus — sicherlich nicht leicht zu nehmenden — agrarprotektionistisen Erwägungen. Aber wenn man es mit der Entwicklungspolitik — d. h.der Hilfe zur Selbsthilfe — ernst meint, so kann der gegenwärtige Zustand, bei dem die Handelspolitik der Reichen der Selbsthilfe der Entwicklungsländer Schranken auferlegt, nicht als unantastbarer Status quo hingenommen werden.
Die Entwicklungsländer sind zur Schließung ihrer „Handelslücke" — d. h. zwecks Selbstfinanzierung ihrer lebenswichtigen Importe und damit der Beschleunigung ihres Wirtschaftswachstums — auf erhöhte Deviseneinnahmen aus ihren Exporten angewiesen. Ferner benötigen sie höhere Exporterlöse zur Tilgung ihrer Schuldenlast. Vielleicht noch wichtiger aber ist doch ein anderer — untrennbar mit den vorgenannten Gesichtspunkten verbundener — Aspekt der Exportsteigerung: nämlich ihr Beitrag zur Lösung des Problems der Schaffung von zusätzlichen Arbeitsplätzen, das angesichts der Bevölkerungsexplosion von Jahr zu Jahr ernster wird.
Manche Handelspolitiker der entwickelten Länder gehen heute noch in die Verhandlungen mit Entwicklungsländern, bei denen es um den Abbau von Handelsschranken geht, mit der gleichen kühlen Distanzierung und einer engstirnigen do-ut-des-Einstellung, als ob es sich um Verhandlungen mit wirtschaftlich gleich starken Handelspartnern handeln würde Dabei hat sich das GATT bereits seit 1963 ausdrücklich mit einer Abweichung von der Meistbegünstigungsklausel durch die Einräumung von einseitigen Zollpräferenzen zugunsten der Entwicklungsländer einverstanden erklärt. Es ist fraglich, ob die Verhaltensweise mancher Regierungen die gleiche wäre, wenn sie sich der vollen Tragweite des Arbeitsbeschaffungsproblems in den Entwicklungsländern bewußt wären. Die Bedeutung gerade der handelspolitischen Hilfestellung auch für die Lösung dieser Frage könnte ihnen dann nicht entgehen.
Das Arbeitsbeschaffungsproblem
Im Gegensatz zu vielen Handelspolitikern ha-ben die meisten Entwicklungspolitiker von der besonderen Bedeutung des Problems der Schaffung produktiver Arbeitsplätze heute Kenntnis genommen. Sie sehen diese Frage als ein — wenn nicht als das — Hauptproblem der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung an. Man könnte das heute mehr und mehr als richtig anerkannte strategische Entwicklungskonzept in einem Slogan von drei Worten ausdrücken: Entwicklung durch Arbeitsbeschaffung — einer Formel, die in diametralem Gegensatz zu der bisher überwiegenden Meinung steht, welche von dem Motto Arbeitsbeschaffung durch Entwicklung (im Sinne von bloßem Wachstum) ausging.
Würde es sich nur darum handeln, in den nächsten Jahren und Jahrzehnten für einige Millionen Menschen zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, so wäre kaum eine völlige Neuorientierung der gesamtenEntwicklungspolitik — und zu ihrer Unterstützung der Handelspolitik — notwendig. Aber in Wirklichkeit stellt sich ein Problem, welches das Schicksal von Hunderten von Millionen von Menschen betrifft.
Nach den gegenwärtig bei der ILO und bei den UN verfügbaren Schätzungen über die künftige Entwicklung der Weltbevölkerung müßten in der laufenden Dekade nicht nur für die heute vorhandenen Arbeitslosen, sondern zusätzlich für neu hinzukommende Arbeitskräfte 280 Mio. Arbeitsplätze geschaffen werden, von denen allein auf die Entwicklungsländer etwa 226 Mio. entfallen. Auch wenn die über das Jahr 1980 hinaus gehenden Schätzungen sehr spekulativen Charakter tragen, so läßt sich immerhin die mögliche Größenordnung des Problems einigermaßen andeuten. Danach wird die Zahl der Arbeitsfähigen in den Entwicklungsländern bis zum Jahre 2000 auf 1, 7 Mrd. anwachsen, gegenüber 1 Mrd. heute und 1, 2 Mrd. im Jahre 1980. Unterstellt man, daß gegenwärtig 10% der Arbeitsfähigen in den Entwicklungslärdern erwerbslose sind (d. h. etwa 100 Mio.), so müßten von heute bis zum Jahre 2000 in den Entwicklungsländern zusätzliche Arbeitsplätze für etwa 800 Mio. Menschen geschaffen werden, falls alle Arbeitsfähigen in Arbeit und Brot gebracht werden sollen. Selbst wenn sich die ILO in ihren Schätzungen für das Jahr 2000 um 100 oder gar 200 Mio. irren sollte und man bis zum Jahre 2000 nicht 800, sondern nur 600 Mio. Arbeitsplätze schaffen müßte, würde das Problem immer noch eine erschreckende Größenordnung haben.
Die Hauptverantwortung und damit die Initiative für die Lösung des Problems der Arbeitsbeschaffung kann nur bei den einzelnen Entwicklungsländern selbst liegen, und sie besitzen insofern ein beträchtliches Eigenpotential, das sie durch zielbewußte Eigenanstrengungen ausschöpfen müssen. In diesem Zusammenhang erhält auch das Problem der „Bevölkerungsexplosion" einen sehr hohen Stellenwert. Geburtenkontrolle stellt für die meisten Entwicklungsländer eines der Probleme dar, dessen Lösung höchste Priorität zukommt. Allerdings hat Erhard Eppler mit Recht betont: „Daß es ohne Familienplanung nicht mehr geht, spricht sich herum. Daß es mit Familienplanung allein auch nicht geht, liegt auf der Hand."
Freilich reicht das Eigenpotential der meisten Entwicklungsländer nicht aus, um ohne Hilfe von außen das Beschäftigungsproblem — und das damit untrennbar verbundene Problem der Geburtenkontrolle — rechtzeitig zu lösen.
Es kommt daher darauf an, sowohl durch eine richtig angesetzte, d. h. ausschließlich auf den Bedarf der Empfängerländer abgestellte (also nicht vorwiegend an den Exportinteressen der Geber orientierte) Entwicklungshilfe als auch durch eine radikale Neuorientierung der Handelspolitik die Länder der Dritten Welt bei der Lösung der gewaltigen Aufgabe zu unterstützen. Mit anderen Worten: Zu den Eigenanstrengungen der Entwicklungsländer und zur Entwicklungshilfe muß die Bereitschaft der Industrieländer kommen, so schnell und so umfassend wie möglich die noch bestehenden beträchtlichen Handelsbarrieren sowohl für Rohstoffe als auch für Erzeugnisse von Industrie und Handwerk gegenüber den Entwicklungsländern abzubauen. Das entscheidende Ziel einer Handelspolitik, die mit dem Konzept der Entwicklungshilfe nicht in Konflikt stehen will, darf nicht das Herausschlagen von reziproken handelspolitischen Konzessionen seitens der Entwicklungsländer sein. Vielmehr muß eine entwicklungspolitisch konforme Handelspolitik den Entwicklungsländern prinzipiell und unter Abweichen vom Prinzip der Meistbegünstigung die weitestmöglichen einseitigen Konzessionen hinsichtlich des Abbaus von Handelsschranken aller Art gewähren
Das Rohstoffproblem
Es ist selbstverständlich, daß die meisten Entwicklungsländer vor allem im Hinblick auf die Notwendigkeit, ihre Deviseneinnahmen aus Rohstoffexporten zu steigern, Maßnahmen verschiedenster Art auf dem Gebiet der internationalen Rohstoffpolitik fordern. Sie wer-den und müssen dafür auch in Santiago de Chile kämpfen, weil ihre eigene Entwicklung entscheidend von der Lage auf den Rohstoffmärkten abhängt.
Nach den neuesten Schätzungen entfielen von den Gesamtausfuhren aller Entwicklungsländer nur etwa 20 0/0 auf verarbeitete Waren, die verbleibenden 80 °/o auf Rohstoffe (vor allem landund forstwirtschaftliche Produkte, Rohöl und Erze); nach dem Pearson-Beridit sogar fast 90 °/o. Die Prozentsätze variieren zwar von Land zu Land, lassen aber doch die vorhandenen Größenordnungen erkennen. Besonders groß ist der Anteil der landwirtschaftlichen Rohstoffe, nämlich 40 °/o des Gesamtexports. Wenn man das Erdöl ausklammert, liegt der Anteil der landwirtschaftlichen Exporte am Gesamtexport der Entwicklungsländer sogar bei durchschnittlich 60 %. Nach Untersuchungen der FAO erreicht in 24 Entwicklungsländern der Anteil der Landwirtschaft amExport nicht weniger als 80%. Der Pearson-Bericht hebt hervor, daß 50 % der Exporterlöse von etwa der Hälfte aller Entwicklungsländer auf der Ausfuhr eines einzigen Rohstoffs beruhen, und 75 % dieser Länder verdienen mehr als 60 % ihrer Devisen aus dem Export von nur drei Rohstoffen.
Die schwankende Höhe der Deviseneinnahmen aus dem Rohstoffexport stellt einen großen Unsicherheitsfaktor dar, der die wirtschaftliche Planung erschwert. Das angestrebte Mindestziel besteht darin, die Rohstoffexporte — und damit die daraus zu erzielenden Erlöse — auf eine stabilere Basis zu stellen.
Schon die Welthandelskonferenzen 1964 und 1968 brachten heftige Debatten zum Rohstoff-thema. Damals wurde ein vom UNCTAD-
Sekretariat entwickeltes Konzept zur Debatte gestellt, wonach internationale Rohstoffabkommen dazu beitragen sollten, „ganz allgemein ein dynamisches und ständiges Wachstum anzuregen und eine vernünftige Voraussehbarkeit bezüglich der realen Exporteinnahmen der Entwicklungsländer sicher-zustellen, um sie mit wachsenden Ressourcen für ihre wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu versehen, wobei die Verbraucher-interessen in den Importländern berücksichtigt werden sollen. Dieses Ziel soll durch kosten-deckende, gerechte und stabile Preise (re-numerative, equitable and stable prices) für Rohstoffe erreicht werden ..." Darüber hinaus kam und kommt es der UNCTAD darauf an, Mittel und Wege zu finden, um im Zusammenhang mit der Erzeugung und dem Export von Rohstoffen einen über den Status quo hinausgehenden, höheren Transfer von Einkommen aus den entwickelten Ländern in die Entwicklungsländer als bisher zu erreichen.
Die Verwirklichung derartig weit gesteckter Ziele stößt aber auf außerordentliche Schwierigkeiten, die auch beim besten Willen der importierenden Länder kaum befriedigend zu Ösen sind. Internationale Rohstoffabkommen önnen allenfalls einen ziemlich marginalen — trotzdem nicht unwichtigen — Beitrag leisten. Dabei sind Exportquoten, ergänzt durch produktionsbeschränkende Maßnahmen, die unerläßliche Voraussetzung für eine Stützung oder Anhebung der Preise, und insofern kommt es vor allem auf Einigkeit der Exportländer untereinander an. An solcher Einigkeit fehlt es angesichts verschiedener Interessenlagen der einzelnen Entwicklungsländer noch häufig; man kann diesen wichtigen Aspekt nicht auf das Schuldkonto der Reichen abwälzen. Die Erfahrung hat gezeigt, daß oft schon ein oder zwei Außenseiter in der Lage sind, ein Exportquotensystem zu verhindern oder zu zerstören. Auch ist es — aus Gründen, für die die Entwicklungsländer selbst verantwortlich sind — bisher für keinen Rohstoff gelungen, ein wirksames System von Produktionsbeschränkungen zu vereinbaren. Hier müssen sich die Entwicklungsländer zunächst einmal untereinander einigen.
Der Erfolg von produktionsbeschränkenden Maßnahmen hängt vor allem von der Durchführung horizontaler und vertikaler Diversifizierungsmaßnahmen ab, und insofern können die entwickelten Länder nützliche Hilfe (entwicklungspolitischer und handelspolitischer Art) leisten, vor allem, soweit es sich um die Erfolgschancen der vertikalen Diversifizierung handelt. Bei der horizontalen Diversifizierung geht es darum, einen Teil der Erzeugung eines einzigen oder nur weniger Rohstoffe (vor allem von Agrarprodukten) durch die Erzeugung anderer Rohstoffe zu ergänzen (z. B. statt des ausschließlichen Anbaus von Kaffee auch Anbau von Mais oder von anderen Nahrungsmitteln). Vertikale Diversifizierung bedeutet den Übergang von der Erzeugung eines Roh-stoffes auf seine Aufbereitung und Weiterverarbeitung (z. B. Rohkaffee zu Kaffee-pulver). Nur im Einzelfall, d. h. Rohstoff für Rohstoff, kann entschieden werden, welche Technik oder Methode den besten Erfolg verspricht. Es gibt kein Patentrezept für die Steigerung der Deviseneinnahmen aus Rohstoffexporten. Schlagworte wie „Internationale Marktordnung für Rohstoffe" oder „Sicherung des Zugangs zu den Märkten" besagen wenig, solange nicht praktikable Vorschläge zur Debatte stehen.
Angesichts der bisher gemachten Erfahrungen wäre es unrealistisch annehmen zu wollen, daß die Rohstoffexporte durch noch so umfassende Maßnahmen der „Marktordnung“, wie z. B. internationale Rohstoffabkommen oder auch die Erhebung und Rückerstattung spezifischer Einfuhrabgaben, zur Hauptfinanzierungsquelle des Entwicklungsprozesses gemacht werden können. Zu hoch angesetzte Preise würden die Nachfrage dämpfen und gleichzeitig einen Anreiz zur Überschußproduktion bieten, außer wenn man einen Abnahmezwang einführt — ein utopischer Gedanke. Ferner darf bei jeder Preisanhebung die Gefahr der Substitutionskonkurrenz nicht übersehen werden. Nur bei Rohstoffen mit einer gegenüber gewissen Preisschwankungen unelastischen Nachfrage (z. B. Kaffee oder Tee) würde der Konsument die Last einer Einfuhrabgabe selbst tragen. Die Entwicklungspolitiker sollten diese Möglichkeit sorgfältig prüfen. Der über das Vehikel Rohstoffe mögliche Einkommenstransfer und der damit erstrebte Zuwachs der Deviseneinnahmen stößt also auf Grenzen, deren Überschreitung einen Bumerang-Effekt haben könnte.
Bei Rohstoffen, die nicht nur in den Entwicklungsländern, sondern auch in den entwickelten Ländern erzeugt werden, sind es allerdings weniger objektive Sachzwänge, die einer Steigerung der Erlöse aus Rohstoffexporten entgegenstehen, als politische Entscheidungen der Industriestaaten, die durch umfassende Protektion ihre eigene Erzeugung vor der Konkurrenz der Entwicklungsländer abschirmen. Diese aus innenpolitischen und anderen Gründen für opportun gehaltene Protektion trifft viele Rohstoffe als solche, aber auch die daraus erzeugten Halbund Fertigwaren. Die den Entwicklungsländern gelegentlich gegebene Empfehlung, daß sie sich hinsichtlich der Deckung ihres Devisenbedarfs nicht ausschließlich auf ihre Rohstoffexporte verlassen dürften und sich strukturell der Situation durch Übergang auf völlig andere Aktivitäten, d. h. durch horizontale und vertikale Diversifizierung, „anpassen" müßten, wird daher von den Entwicklungsländern als hypokritisch empfunden. Man vermißt-Folgerichtigkeit bei den Reichen, die selbst nicht be-reit sind, in ausreichendem Maße, wenn schon nicht zugunsten ihrer Konsumenten, so doch im Interesse der Entwicklung der armen Länder ihre eigenen überholten Strukturen anzupassen.
Der eindeutig standortbedingte Kostenvorsprung der Entwicklungsländer bei Erzeugnissen wie z. B. Zucker, pflanzlichen Fetten und ölen kann sich wegen der bestehenden Protektion nicht auswirken; deshalb wird auch die beste Ordnung der Märkte den Entwicklungsländern solange wenig nützen, wie die entwickelten Länder nicht bereit sind, ihnen durch Abbau der Einfuhrschranken einen größeren Marktanteil als heute einzuräumen, Die Überspitzung der Protektion ist das Ergebnis des Drucks mächtiger Interessentengruppen. Ein besonders unerfreuliches Beispiel stellt die hochprotektionistische Zucker. Politik der EWG dar. Sie hält nicht nur die überseeischen Produzenten vom EWG-Raum ab, sondern verursacht darüber hinaus Überschüsse, die mit Hilfe von erheblichen Subventionen in den Weltmarkt gepumpt werden und damit die Absatzmöglichkeiten der Entwicklungsländer noch weiter schmälern. Bisher hat man sich nicht einmal bereit gefunden, den tropischen Zuckerproduzenten wenigstens einen gewissen Anteil am Verbrauchszuwadis der kommenden Jahre zuzugestehen.
Es ist schwer, dem früheren Generalsekretär von UNCTAD, Raul Prebisch, zu widersprechen, wenn er auf dem 2. Welternährungskongreß der FAO im Sommer 1970 in Den Haag sagte: „Wenn es tatsächlich die Absicht gewesen wäre, eine Lage zu schaffen, die den Außenhandel der Entwicklungsländer ernst-haft stören würde, so wäre nichts zweckmäßiger gewesen, als die Situation herbeizuführen, die heute auf dem Zuckermarkt herrscht. Zum Nachteil der mit niedrigen Kosten produzierenden Entwicklungsländer fördern die Industrienationen ihre eigene Produktion trotz Höchstkosten." In die gleiche Richtung geht der Kommentar des Generaldirektors derFAO, A. H. Boerma: „Das Zuckerbeispiel ist ein Fall, in dem Schutzmaßnahmen die Industrieländer in eine Lage gebracht haben, die unhaltbar ist, gleichgültig, ob man sie unter weltwirtschaftlichen oder unter ethischen Aspekten betrachtet. Weit mehr als bei jedem anderen Rohstoff ist das ein Hohn auf die Theorie der komparativen Kosten, weil sie die Reichen zum Nachteil der Armen begünstigt. Obwohl diese Feststellung auf wenig Gegenliebe bei den Zuckerrübenproduzenten stoßen wird, entspricht sie dennoch der Wahrheit.
Die gegenwärtige, offensichtlich vorüberge gende Zuckerhausse auf dem Weltmarkt kann keinesfalls als Rechtfertigung für eine protektionistische Zuckerpolitik in den entwickelten Ländern angeführt werden. Sollte tatsächlich die gesteigerte Nachfrage nach Zucker ein Dauerzustand werden, so müßte der zusätz-liche Bedarf dort gedeckt werden, wo das wirtschaftlich vernünftig ist, d. h. in den tropischen Ländern.
Der Zugang tropischer Fette und öle — die sich z. B. für die Margarineherstellung eignen— in die entwickelten Länder wird zugunsten der eigenen Butterprotektion sehr erschwert. Die starke Protektion der Reiserzeugung in Japan, den USA und in einigen südeuropäischen Staaten trägt zur Verzerrung der Lage auf dem Weltreismarkt zu Lasten der Absatzmöglichkeiten der traditionellen Reis-produzenten bei. Der außerordentlich große japanische Reisüberschuß (z. Z. etwa 6 bis 8 Mio. Tonnen, die fast dem japanischen Jahresbedarf entsprechen) ist eine der Folgen davon. Auf dem internationalen Markt für Rind-und Kalbfleisch verhindert die — durch überspitzte veterinärpolizeiliche Bestimmungen noch verstärkte — Hochprotektion der meisten entwickelten Länder eine Ausnutzung des in einer Anzahl von Entwicklungsländern vorhandenen Produktionspotentials.
Ein anderes unerfreuliches und typisches Beispiel ist die Marktordnung für Wein, die nicht nur durch einen undurchsichtigen Interventionsmechanismus gekennzeichnet ist, sondern die auch durch überhöht angesetzte Preise den Anreiz für unwirtschaftliche Produktionserweiterungen im Innern der EWG bietet, zum Nachteil z. B. von Marokko, Algerien und Tunesien. Andere Beispiele von Marktregulierungen, die die Interessen der Entwicklungsländer völlig vernachlässigen, sind die für Plaths, Hanf und für Tabak.
Das Verhalten fast aller Industrieländer auf dem Gebiet der Agrarpolitik geht nicht konform mit den erklärten Zielen ihrer Entwicklungshilfepolitik. Dies gilt insbesondere — aber nicht ausschließlich — für die EWG. Im Vergleich zum Agrar-Protektionismus und -Dirigismus von heute mutet die europäische Agrar-Handelspolitik der fünfziger Jahre, die durch straffe Einfuhrkontingentierung charakterisiert war, fast harmlos an. Auch wenn die Agrarpolitiker in Brüssel und in den Land-wirtschaftsministerien der sechs Mitgliedsländer es nicht wahrhaben möchten: die EWG hat sich auf dem Agrargebiet immer mehr von den Weltmärkten isoliert. Die sogenannten Marktordnungen streben unter Mißachtung des Gesetzes der Wirtschaftlichkeit viel zu einseitig vor allem die Sicherung des Absatzes der inländischen Produktion an. Es ist für die Entwicklungsländer ein schwacher Trost, daß auch die Handelspolitik der USA — wenn auch in anderer Weise — nicht konform ist mit den entwicklungspolitischen Zielsetzungen dieses größten westlichen Landes.
In der für ihn charakteristischen milden Methode der Formulierung stellt der Pearson-Report resigniert fest: „Dramatische Fortschritte in Richtung auf einen freien Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen können in kurzer Frist nicht erwartet werden." Immerhin fährt der Bericht dann fort: „Die entwickelten Länder könnten allerdings eine Anzahl von Maßnahmen zur Erleichterung der fraglichen Einfuhren ergreifen, die sowohl mit ihrer Landwirtschaftswie ihrer Hilfspolitik vereinbar sind." Vielleicht hat es angesichts der vorwiegend geberorientierten Zusammensetzung des Pearson-Teams ein gewisses Gewicht, wenn sogar von ihm die formelle Empfehlung ausgesprochen wird, daß „die entwickelten Länder bezüglich der einfuhrgeschützten Waren Pläne entwerfen, um sicherzustellen, daß im Laufe der Zeit ein steigender Anteil des heimischen Verbrauchs durch Einfuhren aus den Entwicklungsländern gedeckt wird." Es sind allerdings Zweifel erlaubt, ob nicht heute schon die Handels-und Agrarpolitiker solche vernünftigen — ja ausgesprochen bescheidenen — Thesen des auf anderen Gebieten durchaus nicht immer überzeugenden Pearson-Berichts aus ihrer Erinnerung verdrängt haben. Ohne Bezugnahme auf den Pearson-Bericht forderte der Sozialist Andre Philip, früherer französischer Finanz-minister, im Sommer 1970 auf dem Zweiten Welternährungskongreß derFAO in Den Haag den Abschluß einer Reihe von internationalen Abkommen über einzelne Rohstoffe, in denen sich die reichen Länder verpflichten sollten, Importe aus den Entwicklungsländern we-nigstens in Höhe des laufenden Zuwachses ihres nationalen Verbrauchs zuzulassen, und er plädierte für gewisse, in diesem Zusammenhang notwendige Strukturveränderungen in den entwickelten Ländern. Diese und andere Stimmen sind ohne Reaktion geblieben.
Halb-und Fertigwaren
Sind die protektionistischen Maßnahmen der Reichen auf dem Rohstoffgebiet vorwiegend agrarpolitisch motiviert, so will die Protektion auf dem Gebiet der Halb-und Fertigwaren die breiten Fächer der industriellen und handwerklichen Verarbeitung sowohl landwirtschaftlicher als auch industrieller Rohstoffe schützen. Es ist heute eine triviale Feststellung, daß sich die Entwicklungsländer in zunehmendem Maße industrialisieren und insbesondere versuchen müssen, ihre eigenen Rohstoffe selbst zum Halb-oder Fertigprodukt zu verarbeiten. Ohne Industrialisierung ist an eine Lösung des Beschäftigungsproblems nicht zu denken. Da die Möglichkeiten zur Exportsteigerung auf 1 dem Röhstoffgebiet nicht unbegrenzt sind, während die Märkte von morgen den Halb-und Fertigwaren gehören, d. h. das weltwirtschaftliche Wachstum vorwiegend industriebestimmt sein wird, kommt den’ Exportmöglichkeiten für verarbeitete Güter außerordentliche Bedeutung zu. In den sechziger Jahren lag der Anteil der Entwicklungsländer an den Weltexporten von Haibund Fertigwaren bei nur 6, 5 Prozent, und von diesen Exporten entfielen etwa 75 Prozent auf nur 12 Entwicklungsländer.
Potential der Entwicklungsländer
In den meisten Entwicklungsländern fehlen bisher die Voraussetzungen, um auf breiter Front auf den kaufkräftigen Märkten der Industrieländer konkurrieren zu können. Diese Rückständigkeit ist zum Teil eine Erbschaft aus der Kolonialzeit, in der die meisten Kolonialmächte alles taten, um zwar wichtige Rohstoffe in der Kolonie zu gewinnen (und zum Schaden des Landes die ganze Wirtschaft auf die Erzeugung eines oder weniger Rohstoffe auszurichten), sie aber dann im eigenen Lande zu verarbeiten. Viele Entwicklungsländer sind heute noch nicht zu einer Verarbeitung ihrer eigenen Rohstoffe zu Halb-oder Fertigwaren in der für die Weltmärkte erforderlichen Qualität in der Lage. Der Entwicklungshilfe, vor allem der technischen Hilfe und der „Handelshilfe 11 Liefet sich insofern ein großes und wichtiges Feld.
Hier allerdings ergibt sich ein tiefer Zielkonflikt mit der Handelspolitik, die den Halb-oder Fertigwaren der Entwicklungsländer den Zugang zu den Märkten nicht ausreichend öffnet. Es trifft zwar zu, daß vielen Entwicklungsländern heute noch ein größeres Industrie-und damit Exportpotential fehlt. Aber auch für solche Erzeugnisse, für die die Entwicklungsländer standortmäßig (sei es z. B. klimatisch oder sei es im Hinblick auf die reichliche Verfügbarkeit von Arbeitskräften) relativ am stärksten wettbewerbsfähig wären, unterbleiben zahlreiche Investitionen, weil sie nur im Hinblick auf eine Kombination der Erzeugung für den Inlandsbedarf und den Export interessant sein würden. Die Zielsetzung, sich von Fertigwareneinfuhren aus den entwickelten Ländern unabhängig zu machen, d. h. die sogenannte Importsubstitution, ist wegen der unzureichenden inneren Nachfrage oft für sich allein kein ausreichender Anreiz für die Industrialisierung.
In einer besonders aktuellen Studie hat G. Fels für das Kieler Institut für Weltwirtscha t im Jahre 1971 das Problem der Arbeitsteilung zwischen Industrie-und Entwicklungsländern untersucht Fels geht davon aus, daß in den Industrieländern die Arbeitskräfte knapp sind und dank der gewerkschaftlichen Organisationen über eine starke Marktstellung verfügen. Demgegenüber ist in den Entwicklungsländern das Angebot an Arbeitskräften, jedenfalls an weniger qualifizierten Kräften, reichlicher, die entweder gewerkschaftlich gar nicht oder weniger straff organisiert sind. Falls sich die Entwicklungsländer stärker in das System der internationalen Arbeitsteilung eingliedern wollen, müssen sie — wie Fels ausführt — ihre Ressourcen in jene Industriebranchen lenken, in denen sie komparative Vorteile haben. Andererseits müßten die Industrieländer in erster Linie aufhören, jene Branchen zu schützen, in denen ihre komparativen Nachteile liegen. Fels kommt auf Grund einer Untersuchung der Verfügbarkeit an Sach-und Ausbildungskapital in den einzelnen Branchen der deutschen Industrie in den sechziger Jahren zu dem Ergebnis, daß als „potentielle Konkurrenten der Entwicklungsländer ... vor allem jene Branchen angesprochen werden (müssen), die relativ wenig Sach-und Ausbildungskapital absorbieren, d. h.den Produktionsfaktor . ungelernte Arbeitskraft'in relativ hohem Maße einsetzen". Für die industrielle Spezialisierung in den Entwicklungsländern kommen also insbesondere diejenigen Industriezweige in Betracht, die zwar arbeitsintensiv sind, in denen aber der Kapitaleinsatz unterdurchschnittlich ist. Dies ist bei fast zwei Dritteln der Industriebranchen der Fall. Fels greift als Beispiele zwölf der am wenigsten kapitalintensiven Zweige heraus: Textilien und Bekleidung, Holzwaren, Leder-erzeugnisse, Schuhe, Stahlverformung, Musikinstrumente, Spielwaren, Feinkeramik, Papier, Feinmechanik, Kunststofferzeugnisse und elektronische Erzeugnisse. Auf diese Industriezweige entfielen in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1969 47, 8 Prozent der industriellen Einfuhren aus Entwicklungsländern, oder — wenn man Nahrungs-und Genußmittel ausklammert — sogar 84, 3 Prozent.
Es besteht kein Zweifel, „daß die Einfuhren dieser Produkte aus Entwicklungsländern noch höher wären, wenn nicht unter den (erwähnten) Branchen gerade diejenigen beson-ders zahlreich vertreten wären, die einen überdurchschnittlich hohen effektiven Importschutz genießen, sei es aufgrund des Eskalationseffekts, den die Struktur der Zölle bewirkt, sei es aufgrund nicht-tarifärer Handelshemmnisse“
Die Lage in anderen Industrieländern dürfte etwa ähnlich wie in Deutschland sein, und man kann im allgemeinen zu dem Schluß kommen, daß sich die Entwicklungsländer stärker als bisher auf die Erzeugung der erwähnten Waren spezialisieren sollten, falls die Industrieländer sich zu einer liberalen Einfuhrpolitik entschließen könnten. Bei einem statistischen Vergleich in zwölf Ländern ergibt sich übrigens, daß die relativ geringste Kapitalintensität in den Branchen Schuhe, Bekleidung und Holzprodukte zu verzeichnen ist. Die Frage, ob es unter dem Gesichtspunkt einer dynamischen Entwicklung für die Entwicklungsländer lohnend sei, sich auf kapitalsparende Aktivitäten zu spezialisieren, die angeblich nicht zu den „Wachstumsindustrien" gehören, beantwortet Fels mit Recht bejahend: „Wenn sich Entwicklungsländer auf arbeitsintensive Produktgruppen spezialisieren, können sie durchaus mit einer überdurchschnittlichen Expansion der Absatzmärkte dafür rechnen, vorausgesetzt natürlich, daß die Industrieländer ihnen nicht durch protektionistische Regelungen den Marktzutritt verwehren. Nicht nur eine divergierende Entwicklung der Standortbedingungen, sondern auch unterschiedliche Einkommenselastizitäten bewirken, daß Bereiche, die in Industrieländern relativ schrumpfen, in den Entwicklungsländern zu den Wachstumsindustrien gehören können." Dem wäre noch hinzuzufügen, daß die gegenteilige These ganz offenbar auch den Ernst des Beschäftigungsproblems verkennt. Eine hochmoderne, kapitalintensive Technologie, wie sie für entwickelte Länder angesichts des Mangels an Arbeitskräften angebracht ist, würde in Entwicklungsländern mit Massen von Arbeitslosen nicht durchweg in das Konzept einer gesunden Enwicklung passen.
Alles in allem kann nicht ernstlich bezweifelt werden, daß die meisten Entwicklungsländer ein beachtliches und ungenutztes Eigenpotential für die Steigerung ihrer Exporte an Haibund Fertigwaren besitzen. Entscheidend für die Entwicklung dieses Potentials, d. h. die Schaffung von Exportindustrien, ist jedoch der Zugang zu den Märkten der entwickelten Länder, und insofern kommt alles auf deren Haltung an. Hier setzt die Diskussion, ja man kann sagen der Kampf, im Rahmen der UNCTAD zwischen den Armen und den Rei-chen ein. Es geht um Zölle und um andere — nicht-tarifäre — Handelshemmnisse.
Zölle
Die Einfuhr von Rohstoffen ist weitgehend zollfrei. Mit zunehmendem Verarbeitungsgrad der einzuführenden Ware steigen jedoch die Zölle. Daß bei diesem System der tatsächliche Schutz für das verarbeitete Erzeugnis erheblich höher ist als der nominelle Satz, zeigt das folgende, einer anderen verdienstvollen Untersuchung des Instituts für Weltwirtschaft entnommene Beispiel. Rohjute kann zum Preis von DM 80 je dz zollfrei importiert werden, während Jutegarn, das frei Grenze DM 150 je dz kostet, mit nominell 8 Prozent Zoll, d. h. mit DM 12 belastet wird. Setzt man diese Zoll-schuld von 12 DM in Beziehung zu der im Einfuhrland vorgenommenen Wertsteigerung von DM 70, so ergibt sich eine Zollbelastung von effektiv 17, 1 Prozent. Die deutschen Jutespinnereien sind also effektiv nicht mit nur 8 Prozent, sondern mit 17, 1 Prozent vor der ausländischen Konkurrenz geschützt
Fragwürdige Zollpräferenzen
Die Entwicklungsländer haben seit langem die Einräumung einseitiger, also nicht reziproker Zollpräferenzen zu ihren Gunsten gefordert, d. h. von Zollbefreiungen oder wenigstens Zollermäßigungen. Die erste Sitzungsperiode der UNCTAD im Jahre 1964 in Genf brachte keine Zugeständnisse. Erst in der zweiten Sitzungsperiode im Jahre 1968 in Neu Delhi wurde die Gewährung von Zollpräferenzen zugunsten der Entwicklungsländer im Grundsatz beschlossen. Die Ausführung des Beschlusses blieb den Mitgliedstaaten überlassen. Ende 1970 einigten sich 18 Industrieländer des Westens und fünf östliche Staatshandelsländer grundsätzlich darauf, den Entwicklungsländern für einen möglichst großen Bereich von Haibund Fertigwaren Zollfreiheit zu gewähren.
Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gewährte daraufhin autonom mit Wirkung ab 1. Juli 1971 „Allgemeine Zollpräferenzen" an 91 Entwicklungsländer bzw. abhängige Gebiete. Taiwan, Kuba und Israel sind bisher ebensowenig in die Regelung einbezogen wie Spanien, Portugal, die Türkei, Griechenland und Malta. Japan folgte der EWG am 1. August 1971. Die EWG-Präferenzen wurden im Dezember 1971 bis Ende 1972 verlängert. Wenn man von dieser kurzen Befristung, die eine planmäßige Ausnutzung fast unmöglich macht, absieht, so könnte bei oberflächlicher Betrachtung die Initiative der EWG-Länder als ein fast revolutionärer und entwicklungspolitisch konformer Schritt gewertet werden. In manchen Reden und amtlich inspirierten Verlautbarungen wird daher auch der „Mut“ der EWG gelobt, einseitig die Zölle für einen wesentlichen Teil der Einfuhren aus den Entwicklungsländern abzubauen. Die „Führungsrolle" der EWG wird dabei gern unterstrichen. Eine etwas nähere Betrachtung der Bestimmungen und eine Würdigung der bisherigen praktischen Erfahrungen dämpfen allerdings dieses positive Urteil erheblich.
Einleitend sieht die EWG-Präferenz-Regelung vielversprechend und lapidar vor, daß alle industriellen Halb-und Fertigwaren aus den Entwicklungsländern zollfrei eingeführt werden können. Gleichzeitig wurden bei etwa 150 landwirtschaftlichen Positionen die Zölle gesenkt. Wenn man aber weiter liest, so zeigt sich, daß von dem Grundsatz der völligen Zollfreiheit nicht nur auf dem besonders empfind-lichen Agrarsektor abgewichen wird, sondern auch auf dem Industriesektor wesentliche Ausnahmen vorgesehen sind. Von der Zollbefreiung bleibt nur wenig übrig Es wäre abwegig, die EWG-Präferenz-Regelung deshalb als Farce zu betrachten, aber eine Analyse der Präferenzen und die bisherigen Erfahrungen zeigen, daß damit noch längst kein substantieller Durchbruch zur Zollfreiheit gegenüber den Entwicklungsländern erreicht wurde. Allenfalls kann man von einer ziemlich bescheidenen Geste guten Willens sprechen, der die eigentlichen Taten nun noch folgen müssen.
Von dem in der Präferenz-Regelung einleitend proklamierten Prinzip der vollen und sofortigen Zollfreiheit für industrielle Produkte wird insbesondere dadurch abgewichen, daß die Zollfreiheit nur bis zu einem bestimmten Einfuhrumfang, d. h. bis zur Höhe bestimmter Jahresplafonds gewährt wird, welche sich für jedes Erzeugnis nach dem Wert der cif-Ein-fuhren im Jahre 1968 (mit gewissen Zuschlägen) errechnen. Ferner darf kein einzelnes Entwicklungsland den jeweiligen Jahresplafonds zu mehr als 50 0/0 ausnützen, und für Waren aus — gerade für die Entwicklungsländer so besonders wichtigen — Rohstoffen wie Baumwolle, Jute und Kokosfasern gelten noch zusätzliche Einschränkungen. Vor allem aber bestehen für sogenannte „sensible" und »halbsensible" (I) Waren Zollkontingente mit festem Aufteilungsschlüssel zwischen den Mitgliedsstaaten, wobei auf Deutschland 37, 5 0/0, auf Frankreich 27, 4 % und Italien 20 % entfallen. Der Schlüssel wird unter Berücksichtigung des Bruttosozialprodukts, der Bevölkerungszahl und des Volumens des Handels mit dritten Ländern errechnet. Differenzierte statistische Überwachungsverfahren sollen das Funktionieren dieser Regelung sicherstellen. Die zollfreie Einfuhr ist lediglich für solche Warenpositionen nicht begrenzt, bezüglich derer die Entwicklungsländer ohnehin nicht liefern können. „Ruinöse" Konkurrenz der Länder der Dritten Welt soll vermieden werden. Je besser die Liefermöglichkeiten der Entwicklungsländer sind, um so kleiner sind die zollfreien Plafonds. 60 bis 70 °/o der Importe an Haibund Fertigwaren aus Entwicklungsländern sind als sensibel eingestuft und daher mengenmäßig begrenzt. Die Positivliste für Agrarprodukte beschränkt sich vor allem auf Positionen, die für den deutschen Markt nahezu uninteressant sind. Von einer wirksamen Förderung der Einfuhr aus Entwicklungsländern kann daher keine Rede sein.
Es ist nicht übertrieben, wenn der Bundesverband des Deutschen Groß-und Außenhandels in seinem Jahresbericht 1970/71 die EWG-Regelung als „zu kompliziert, zu protektionistisch und zu dirigistisch" charakterisiert. Der gleiche Verband hat in einem Schreiben an Bundeskanzler Brandt, an die Bundesminister Schiller, Scheel, Eppler und Leber und an das EWG-Kommissionsmitglied Dahrendorf anerkannt, daß die EWG durch die Gewährung der Zollpräferenzen im Rahmen der UNCTAD-Beschlüsse in der Geschichte des internationalen Handels eine einmalige Initiative ergriffen und daß die Bundesregierung daran einen wesentlichen Anteil habe. In dem Schreiben heißt es dann aber weiter, daß die Präferenz-Regelung „nicht der anvisierte große Wurf der Welthandelspolitik geworden ist, sondern daß das gesamte System durch protektionistische Züge ebenso wie durch eine pedantische Verwaltungshandhabung unpraktikabel ist und dadurch die entwicklungspolitische Konzeption nicht zum Zuge kommt. Die Zielsetzung, den Entwicklungsländern durch Zollvorteile eine bessere Wettbewerbsfähigkeit im Export zuzusichern, wird mit dem gegenwärtig praktizierten Verfahren weitgehend zunichte gemacht. Ebenso wird der Anreiz zum Aufbau neuer Industrien in den Entwicklungsländern genommen; denn das an sich großzügig konzipierte Präferenzangebot ist weitgehend entwertet durch Einschränkungen, Beschränkungen, Ausnahmen, so vor allem durch die Schaffung von Zollkontingenten, Plafonds, Länderkontingenten, sowie durch den Ausnahmekatalog auf dem Textilsektor und durch eine nicht praktikable Ursprungsregelung. Die bereits jetzt feststellbare Enttäuschung in den Entwicklungsländern wird eine stagnierende Ausfuhrpolitik und eine negative Investitionspolitik zur Folge haben. Eine negative Auswirkung auf die Entwicklung der Ausfuhr europäischer Investitionsgüter in die Entwicklungsländer ist somit wahrscheinlich . . . Die ausgefeilt protektionistische Ursprungsregelung widerspricht in geradezu grotesker Weise den Zielsetzungen eines liberalen Welthandels. Man hätte bei allem Verständnis für gewisse Schutzinteressen erwarten können, daß die Bundesregierung ihre Zustimmung zu einer Ursprungsregelung der EWG verweigert, die darauf abzielt, mit Hilfe technischer Kriterien über den Ursprungsnachweis das groß angelegte Projekt zielsicher funktionsunfähig zu machen." Wenn es sich auch um die Meinung des am Außenhandel direkt interessierten Fachverbandes handelt, so kann seiner Würdigung der Lage kaum widersprochen werden.
Es ist viel zu wenig in der breiten Öffentlichkeit bekannt, für wie viele Warengruppen sogar aus dem industriellen Bereich trotz des großartig verkündeten Prinzips der völligen Zollfreiheit Beschränkungen in Form von Zoll-kontingenten beibehalten werden. Aus der langen diesbezüglichen Ausnahmeliste seien — unter Außerachtlassung der besonders stark protektionierten Erzeugnisse der Textil-und Bekleidungsindustrie — die folgende Beispiele herausgegriffen: Stickstoff-und andere Düngemittel, Reifen, Lederwaren, Schirme, feuerfeste Steinwaren, Stahlrohre, Zinkbleche, Schlösser, Batterien, Radiogeräte, Fahrräder, Autoteile und Autozubehör, Ferngläser, Uhrengehäuse, Möbel, Spielzeug, Isolierflaschen, Porzellangeschirr, Mikroskope und legierter Stahl. Wohlgemerkt, es handelt sich nicht um Schutzmaßnahmen gegenüber der starken Industrie Japans oder anderer entwickelter Länder, sondern um Protektion gegenüber Einfuhren aus 91 Entwicklungsländern. Es ist besonders schwer einzusehen, daß z. B. die Düngemittel-, Reifen-, Autozubehör-oder Porzellanindustrie gegenüber den Entwicklungsländern eines Zollschutzes bedarf.
Zu den bemerkenswerten negativen Aspekten der als Pioniertat gefeierten EWG-Präferenz-Regelung gehört auch das Problem der Ursprungsregelung. Es war von Anfang an klar, daß viele Entwicklungsländer nicht in der Lage sein würden, die für das Funktionieren des mit seinen zahllosen Ausnahmen überaus komplizierten Präferenzsystems benötigten Ursprungszeugnisse formgerecht beizubringen. Nach den üblichen Kriterien hat eine bestimmte Ware dann in einem bestimmten Lande ihren Ursprung, wenn „die letzte wesentliche und wirtschaftlich gerechtfertigte Be-oder Verarbeitung" in dem betreffenden Lande erfolgte. Von diesem Grundsatz werden zuungunsten der Entwicklungsländer zahlreiche Ausnahmen gemacht, die zudem so kompliziert sind, daß ihre Anwendung in der Praxis auf außerordentliche Schwierigkeiten stoßen muß. Als besonders krasses Beispiel ist in Fachkreisen die Position Nähmaschinen bekannt. Wollte man die Vorschrift über die Ursprungs-regelung, die man auf dem Gebiet der Oberbekleidung gegenüber den Entwicklungsländern anwendet, auf Berlin übertragen, so könnte die Berliner Oberbekleidungsindustrie nicht mehr exportieren. Ein Entwicklungsland gilt für Oberbekleidung nämlich dann nicht als Ursprungsland, wenn es importierte Gewebe zur Bekleidung verarbeitet. Man gesteht ihm zu, daß es importierte Garne verwendet, fordert aber, daß es die weiteren Be-und Verarbeitungsvorgänge selbst vornimmt. Zahlreiche Entwicklungsländer erfüllen diese Voraussetzung (noch) nicht.
Dieser Punkt und viele andere der EWG-Prä-ferenz-Regelung werden in Santiago de Chile Gegenstand harter und berechtigter Kritik der Entwicklungsländer an den Industrieländern sein. Die Maßnahmen der EWG, die nicht weiter reichen können als die Bereitschaft jedes einzelnen Mitgliedslandes, wurden hier nur als Beispielsfalls erwähnt. Mindestens ebenso fundierte Kritik können die Entwicklungsländer an der Zollpolitik der meisten anderen Industrieländer, insbesondere auch der der USA, üben. Das reichste westliche Land nahm bei der Festsetzung des zehnprozentigen Zusatzzolls im August 1971 nicht einmal die Entwicklungsländer aus.
Andere Handelshemmnisse
Das Gesagte gilt weltweit nicht nur für die Belastung durch Zölle, sondern auch für die von allen Ländern geübte Protektion nicht-tarifärer Art, hinsichtlich derer der Phantasie der Protektionisten keine Grenzen gesetzt zu sein scheinen. Diese, vor allem die mengenmäßigen Einfuhrbeschränkungen, betreffen auch heute noch etwa 30 Prozent der Halb-und Fertigwaren aus Entwicklungsländern, welche nicht weniger als drei Viertel der Einfuhren aus diesen Ländern ausmachen, darunter insbesondere Textilwaren aller Art und verarbeitete Agrarprodukte Verhandlungen über weitere Zollsenkungen müßten, wenn den Entwicklungsländern wirklich geholfen werden soll, von dem parallelen Abbau außer-tarifärer Maßnahmen begleitet werden Auch verschleierte Formen des Protektionismus, wie sie sich in zunehmendem Maße in internationalen Kartellabsprachen bemerkbar machen, dürfen nicht außer acht gelassen werden. Das UNCTAD-Sekretariat hat für die bevorstehende Konferenz zu dem Thema der durch Kartelle praktizierten restriktiven Geschäftspraktiken eine spezielle Studie ausgearbeitet. In dieser wird auf die Gefahren hingewiesen, daß die Exporte von Industrieunternehmen in den Entwicklungsländern durch Kartelle und multinationale Gesellschaften künstlich beschränkt werden könnten. Es wird dargelegt, daß manche multinationalen Gesellschaften dem Export ihrer Tochtergesellschaften und assoziierten Unternehmen in den Entwicklungsländern Restriktionen auferlegen. Als handelshemmend wird auch bezeichnet, daß manche multinationalen Konzerne ihre Tochtergesellschaften zwingen, Rohstoffe und Halbfabrikate nur bei der Muttergesellschaft zu kaufen, selbst wenn diese ihnen dafür Preise in Rechnung stellt, die über den Marktpreisen liegen. Schließlich ist auch eine besonders moderne Form des Protektionismus nicht in ihrer Bedeutung zu unterschätzen, nämlich sogenannte „freiwillige" Exportselbstbeschränkungen, für die es Beispiele vor allem auf dem Textilgebiet nicht nur gegenüber Japan, sondern auch gegenüber einer Anzahl von Entwicklungsländern gibt. Man kann solche freiwilligen Exportselbstbeschränkungsabkommen als ein besonders „modernes" Instrument des Protektionismus bezeichnen. Sie spielen bei Baumwollwaren eine wichtige Rolle und stellen für diesen Sektor ein Mittel zur Einfuhrbeschränkung dar.
Mit welchen Mitteln die Entwicklungsländer bei ihren Exportbemühungen diskriminiert werden, zeigt ein Beipiel aus jüngster Zeit: Die Republik Elfenbeinküste •—assoziiertes EWG-Mitglied — bemüht sich seit langem um die Zulassung ihrer Exponate auf der — übrigens vom Bund subventionierten — Frankfurter Interstoff-Messe, um ihre sich durch einen originellen Afro-Look auszeichnenden, attraktiven Baumwollgewebe auszustellen. Dieses Ersuchen wurde durch die Messeleitung unter Hinweis auf die — wie es in einem Kommentar hieß „selbstgestrickten" —Zulassungsbedingungen abgelehnt. Der SPD-Abgeordnete Harry Tallert kritisierte das: „Da reden wir immer davon, man müsse den Entwicklungsländern die Märkte öffnen, aber wenn es darauf ankommt, dann sperrt man sie aus." Im bereits zitierten Bundesverband des Deutschen Groß-und Außenhandels meinte man dazu, daß die Interstoff-Messe mit ihrer Entscheidung den „Charakter eines Kartells der Industrienationen gegen die Entwicklungsländer" angenommen habe.
Das Anpassungsproblem
Wie sich zeigt, haben bisher die Bemühungen, die Handels-und Entwicklungspolitik widerspruchsfreier auszurichten, ziemlich magere Ergebnisse gehabt. Zeitungsmeldungen war nach Abschluß der Anfang 1972 zwischen der EWG und den USA geführten Handelsbesprechungen zu entnehmen, daß sich Brüssel — ebenso wie vorher Tokio und Ottawa — bereit erklärt hat, im Jahre 1973 an einer breitangelegten Verhandlungsrunde im Rahmen des GATT teilzunehmen. In diesen Verhandlungen sollen weitere Fortschritte in Richtung auf eine Liberalisierung angestrebt werden. Die Offent-lichkeit in den Industrieländern ist noch längst nicht ausreichend darüber aufgeklärt, daß gewisse protektionistische Maßnahmen, welche gegenüber gleichstarken Handelspartnern vielleicht hingenommen werden können, im Verhältnis zu den Entwicklungsländern fragwürdig und widerspruchsvoll sind. Ein substantieller Abbau der Protektion gegenüber den Entwicklungsländern ist nicht ohne Anpassung, d. h, ohne strukturelle Veränderungen in den Industrieländern möglich, und zwar sowohl auf dem landwirtschaftlichen wie auf dem industriellen Gebiet. Das Stichwort von der Notwendigkeit der „Anpassung" („adjustment") — und darum würde es sich handeln — weckt Emotionen, die sehr tief gehen, zumal sie den Geldbeutel mächtiger Gruppen berühren. Man scheut sich vor eigenen Anpassungsmaßnahmen, hält es aber für selbstverständlich, daß sich die wirtschaftlich schwachen Entwicklungsländer anpassen, übersehen wird, daß diese finanziell dazu kaum in der Lage sind und daß ihnen durch die Haltung der protektionistischen Industrieländer eine Anpassung gerade auf den Gebieten, auf denen sie natürliche Wettbewerbsvorteile besitzen, besonders schwer, wenn nicht unmöglich gemacht wird, Viele Industrieländer betreiben unter sehr hohem direkten und indirekten Kostenaufwand eine Politik der Marktintervention (intern und an der Grenze) als Mittel des nationalen Einkommenstransfers, die — da sie dazu beiträgt, eine Anpassung zu vermeiden oder zu verzögern — sich für die Dritte Welt nachteilig auswirkt, „Wettbewerbsfähigkeit bei landwirtschaftlichen Exporten bedeutet mehr und mehr die Fähigkeit, sich in der Gewährung von Exporthilfe zu übertreffen." Die Entwicklungsländer können aus finanzieller Schwäche an diesem „Wettbewerb" ebensowenig teilnehmen, wie sie sich kostspielige interne Stützungsmaßnahmen leisten können.
Sie haben durchaus Verständnis dafür, daß der Anpassungsprozeß nicht von heute auf morgen vollzogen werden kann, wenden sich aber mit Recht dagegen, daß man auf Seiten der Reichen unter dem Motto einer „realistischen" Politik im Grunde nur um die sture Verteidigung eines überholten Status quo bemüht ist. Es gibt Handelspolitiken — und unter ihnen vor allem die Agrarpolitiker — die gern dem Wort Max Webers von der Notwendigkeit des Augenmaßes für das „jeweils Mögliche" folgen, wobei sie allerdings das „Mögliche" eng zu definieren bemüht sind. Man könnte im Zeitalter der Entwicklungshilfe die Webersche These auch abwandeln und von der Möglichkeit des Notwendigen sprechen, nämlich des entwicklungspolitisch Notwendigen.
Das Linsengericht der Hilfe
Es wäre naiv, die überaus komplexe Problematik der Anpassung — vor allem auf dem Agrarsektor — nicht sehen zu wollen. Aber Anpassung muß sein, oder die gesamte Entwicklungshilfe wird unglaubwürdig. Man kann den Entwicklungsländern mit dem Linsengericht der Hilfe nicht auf die Dauer ihre-doch im Grunde natürlichen Rechte abkaufen. Eine ehrlich gemeinte Entwicklungshilfe muß durch eine liberalere Handelspolitik ergänzt werden. Das bedeutet — kurz-oder mittelfristig — echte Opfer, die allerdings von der gesamten entwickelten Welt als einer Gemeinschaft und nicht allein von der Landwirtschaft oder von den Textil-oder Schuhfabrikanten oder anderen schwachen Industriezweigen getragen werden sollten. Langfristig dagegen liegt ein sol-cher Kurswechsel im Interesse aller, ja er ist eine Frage des überlebens. Treffend formulierte das der Generaldirektor der FAO, A. H.
Boerma „Zu welcher Politik auch immer man sich entschließt, sie muß so formuliert werden, daß die Last nicht fast gänzlich auf die Landwirtschaft entfällt, sondern von der Gemeinschaft getragen wird. . . Wir können einfach nicht erwarten, daß die Landwirte der entwik-kelten Länder angesichts der harten Probleme, vor denen sie stehen, und in Anbetracht ihrer relativ unterprivilegierten Lage in ihrer eigenen nationalen Gemeinschaft die Hauptlast einer Regierungspolitik tragen, die den Entwicklungsländern helfen will. . . Die Dritte Welt als ein Ganzes bedarf der Hilfe, die entwickelte Welt als ein Ganzes muß sie aufbringen." War Boerma für die Lastenverteilung bezüglich der Landwirtschaft sagte, gilt grundsätzlich auch — wenn auch abgeschwächt — für manchen betroffenen Industriezweig. Die entscheidende Frage ist freilich die, und auch darauf wies Boerma hin, inwieweit die Regie-rungen wirklich den Willen haben, in diesem Sinne zu handeln. Wie Boerma ausführte, gibt es bisher nur wenige Anzeichen dafür, daß dieser politische Wille bei den meisten Regierungen schon vorhanden ist.
Die deutsche Haltung
Man kann der Bundesregierung nicht vorwerfen, daß sie diese und andere damit zusammenhängenden Probleme verkennt. Wie es in der im Februar 1971 vom Kabinett verabschiedeten „entwicklungspolitischen Konzeption" heißt, unterstützt die Bundesregierung „nachdrücklich die Bemühungen des Allgemeinen Zoll-und Handelsabkommens („General Agreement on Tariffs and Trade" — GATT) und der UNCTAD, den Außenhandel der Entwicklungsländer zu fördern und insbesondere den Abbau solcher Handelsschranken voranzutreiben, die sich dem Handel mit Grundstoffen, Halb-und Fertigwaren entgegenstellen. Sie wird sich dafür einsetzen, daß bei der Gestaltung und Durchführung der europäischen Agrarmarktorganisationen die Interessen der Entwicklungsländer in angemessener Weise berücksichtigt werden." Im gleichen Dokument wird es auch als Auffassung der Bundesrepublik bezeichnet, daß „Maßnahmen zur Strukturanpassung in Industrieländern wesentlich zur Steigerung der Ausfuhren der Entwicklungsländer beitragen" können. Ferner wird angekündigt, daß sich die Bundesregierung „in der EWG und in anderen internationalen Organisationen nach wie vor für eine liberale Außenwirtschaftspolitik einsetzen" wird.
Man sieht, daß sich der Entwicklungsminister bei der Formulierung dieser Konzeption im Kabinett durchgesetzt hat, und es besteht auch kein Zweifel, daß Erhard Eppler aufrichtig an die Notwendigkeit glaubt, die formulierten Thesen in die Tat umzusetzen. Prüft man allerdings, was seit Februar 1971 handelspolitisch deutscherseits oder mit deutscher Zustimmung geschehen ist, so zeigen sich überaus magere Ergebnisse. Die mit deutscher Billigung verabschiedete EWG-Zoll-Präferenz-Regelung ist die einzige zugunsten der Entwicklungsländer getroffene handelspolitische Maßnahme — und wie problematisch sie ist, wurde oben dargelegt. Dabei bietet die Bundesrepublik immer noch das liberalste Bild unter den EWG-Ländern. Viele andere Länder besitzen noch nicht einmal auf dem Papier eine vernünftige entwicklungspolitische Konzeption.
Das „Aktionsprogramm" der EWG — kein „Sprengstoff"
Die unter dem Motto „Solidarität mit der Dritten Welt“ stehende Märzausgabe der von der Kommission selbst herausgegebenen Zeitschrift „Europäische Gemeinschaft" berichtet über das von der Kommission der EWG am 2. Februar 1972 verkündete „Erste Aktions-Programm für die Neue Entwicklungspolitik": Das Aktionsprogramm soll „eine neue Ära weltweiter Gemeinsamkeit eröffnen . .. (und) die Kommission erweist sich wieder einmal als der Motor der Integration innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft." Nach dieser vielversprechenden Ankündigung liest man, daß Brüssel zwar zwei schwierige Fragenkomplexe — die Freizügigkeit der Wanderarbeiter und den Weltmarkt für Ölfrüchte — zunächst mit Stillschweigen übergangen habe, aber: „Das, was die Kommission jetzt vorschlägt, enthält Sprengstoff genug und läßt ernste Auseinandersetzungen mit großen Interessenten erwarten." Wie sieht dieser „Sprengstoff" aus? Auf dem Kaffeegebiet will sich „die Gemeinschaft rechtzeitig in die Verhandlungen einschalten, und sie faßt ihre Beteiligung an dem für die Produktionsplanung wichtigen Fonds ins Auge." Dazu ist zu bemerken, daß die „Einschaltung" der EWG in die für 1973 zu erwartenden Verhandlungen über die Verlängerung des laufenden Internationalen Kaffeeabkommens sowieso längst eine Selbstverständlichkeit war. Bei dem „Fonds" dürfte es sich um den bereits seit 1968 bestehenden Diversifizierungsfonds im Rahmen des geltenden Kaffeeabkommens handeln. Eine Beteiligung der EWG daran kann ebenfalls kaum als große Konzession gewertet werden, zumal die EWG längst ihre assoziierten Mitglieder auf dem Gebiet der Änderung landwirtschaftlicher Strukturen unterstützt. Bezüglich Kakao kündigt die Kommission an, daß sie versuchen wolle, „die wichtigsten Produktions-und Verbrauchsländer der Welt an einen Tisch zu bringen". Jeder Kenner der Materie weiß, daß es nicht an Kontakten und Kontaktmöglichkeiten zwischen diesen Gruppen fehlt. Die EWG dürfte auf den Verlauf der Verhandlungen kaum größeren Einfluß haben als UNCTAD. Bei Zucker sieht sie „eine Möglichkeit, die assoziierten Länder dadurch zu unterstützen, daß der Zuckerrüben-anbau in der Gemeinschaft kontingentiert und teilweise durch Lieferung aus Madagaskar und aus dem Kongo ersetzt wird". Sicherlich ist die Absicht löblich, sich endlich für eine Re-
duzierung des Zuckerrübenanbaus in der Gemeinschaft einsetzen zu wollen (was die automatische Folge einer Senkung der außerordentlich hohen Subventionen wäre). Aber werden die anderen Entwicklungsländer die gezielte Unterstützung von nur zwei assoziierten Ländern mit Freude aufnehmen? Als weiterer „großer Ansatzpunkt" für die Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern wird die technische Hilfe erwähnt, bezüglich derer es sich herumgesprochen haben sollte, daß es dafür weniger an finanziellen Mitteln aus bilateralen und multilateralen Quellen fehlt als an der Aufnahmefähigkeit vieler Entwicklungsländer. Wenn angekündigt wird, daß die Kommission „nicht weniger fordert als die rigorose Erhöhung der öffentlichen Leistungen auf 0, 7 % des Bruttosozialprodukts", so handelt es sich dabei um eine alte — längst im UN-Bereich und anderswo erhobene — Forderung. Es ist sicher zu begrüßen, daß die Kommission sich diese Forderung nun auch zu eigen macht. Aber es fehlt dieser Ankündigung der Charakter des Sensationellen. Glaubt man wirklich in Brüssel, mit solchen „brisanten" Ideen den Entwicklungsländern ihre Hauptforderung auf substantielle handelspolitische Zugeständnisse abkaufen zu können? Z. B. würde eine durchgreifende Revision der unzureichenden Zoll-Präferenz-Regelung schon eher ein sensationelles Zugeständnis bedeuten.
Aid — a softer Option to trade?
Der Druck der öffentlichen Meinung auf die Regierungen muß viel stärker werden, als es heute — teilweise aus mangelnder Kenntnis der nicht immer ganz einfachen Zusammenhänge — der Fall ist. Es geht darum,, gegen eine starke und in ihren Methoden nicht allzu wählerische Lobby in den Industriestaaten anzugehen. Bisher ist es der Lobby der Interessentengruppen, zu denen leider auch manche Gewerkschaften zu rechnen sind, gelungen, jeden Versuch eines substantiellen Einbruchs in den jeweiligen Interessenbereich zu stoppen. Selbst so maßvolle Anregungen wie B. die von Andre Philip sind in den Wind gesprochen, und sie werden es bleiben, wenn die öffentliche Meinung den vollen Ernst des Problems nicht erkennt. Politiker und Staatsmän-ner, die dem Druck der Lobby ausgesetzt sind und ihm nachgeben, versuchen, ihr schlechtes Gewissen teilweise durch Gewährung von direkter Entwicklungshilfe zu besänftigen, und es werden Hunderte von Millionen, ja Milliarden für Kapitalhilfe und für technische Hilfe gewährt, während es eigentlich und in erster Linie darauf ankommen sollte, den Entwicklungsländern die Chance zur Selbsthilfe durch Exporte nicht völlig zu verbauen. Man predigt das Schlagwort „trade not aid", zieht aber die Gewährung von mehr Hilfe vor.
Lester B. Pearson hat diese egozentrische Haltung wie folgt gegeißelt: „Es ist eine ganz andere Sache, wenn man ersucht wird, statt 100 Mio. Dollar als Geschenk oder Anleihe zu geben, aus dem Lande, dem man helfen möchte, einige Millionen Hemden einzuführen. Diese Einfuhr kann das Ergebnis der gut organisierten heimischen Produzenten unterbieten ... In einem solchen Zwiespalt kann das langfristige wirtschaftliche Interesse gegenüber dem kurzfristigen politischen Druck unterliegen. Der Gesetzgeber ebenso wie die Regierung haben dann zu entscheiden, ob die Entwicklung in Ostasien wichtiger ist als Wählerstimmen im . Middle West'. Sie müssen darüber befinden, ob sie durch staatsmännisches Handeln vielleicht ihren Posten riskieren wollen, oder ob sie ihn als Politiker halten möchten ... Es ist daher nicht verwunderlich, daß es Leute gibt, die Entwicklungshilfe dem Handel als eine mildere Alternative (, sof-ter option to trade') vorziehen." Mit anderen Worten: Trotz der Problematik der Kapital-hilfe bleibt man weiter bemüht, die soge-nannte Handelslücke durch Gewährung weiterer Kapitalhilfe zur Förderung der industriellen und landwirtschaftlichen Entwicklung in den Ländern der Dritten Welt zu schließen, hält aber die Produkte vom eigenen Markt fern.
Das Anpassungsproblem wird auf der bevorstehenden Sitzungsperiode von UNCTAD eine wichtige Rolle spielen. Es steht leider bereits vor der Konferenz so gut wie fest, daß die Industrieländer — auch die des Ostblocks — mit leeren Händen dastehen und nur bemüht sein werden, ihre mangelnde Bereitschaft zu echten Konzessionen durch unverbindliche, in die Zukunft weisende Grundsatzerklärungen zu verhüllen. Das Thema der Anpassung auf dem Agrargebiet („International Agricultural Adjustment") wird eines der Hauptthemen auch der FAO-Konferenz im Herbst 1973 sein. Es wird auch dort an unverbindlichen Phrasen nicht fehlen. Aber werden es mehr als „Worte, Worte, nichts als Worte" sein?
Minimalziel: Stillhalteverpflichtung
Audi wer die Aussichten für substantielle Fortschritte in der bevorstehenden Sitzungsperiode von UNCTAD pessimistisch beurteilt, sollte wenigstens eine Hoffnung nicht aufgeben: daß es gelingen möge, auf dem Gebiet der Handelspolitik eine Art von Stillhalteverpllichtung aller Industrieländer zu erwirken, d h. eine verbindliche Zusage, die bestehenden Schutzmaßnahmen auf tarifärem und nicht-tarifärem Gebiet gegenüber den Entwicklungsandem nicht noch weiter zu verschärfen. Eine erartige Verpflichtung müßte den Industrie-ud den Agrarsektor betreffen und könnte v>e leicht der bescheidene Ausgangspunkt für einen überfälligen Zeitplan zur schrittweisen oringerung und schließlichen Beseitigung er Handelshemmnisse gegenüber den Ent" iclungsländern werden.
Wie gering die reale Aussicht für einen schnellen und substantiellen Abbau der Handels-hemmnisse auf dem besonders komplexen Agrarsektor ist, ergibt sich aus einer Erklärung, die der Generalsekretär des mächtigen internationalen Verbandes der landwirtschaftlichen Erzeuger (IFAP), Roger Savary, in einem Hearing des USA-Kongresses im März 1970 abgab: „Das einzige, was wir erreichen können, ist ein aufgeklärter Agrarprotektionismus. Schon ein solcher würde einen ungeheuren Fortschritt gegenüber dem gegenwärtigen Chaos darstellen ... Falls ein aufgeklärter Protektionismus statt eines engstirnigen und nur nach innen schauenden Protektionismus das Maximum unserer Hoffnung darstellt, so ist es nicht zu spät, um eine realistische Politik für den internationalen Agrarhandel in den siebziger Jahren zu entwickeln."
Daß selbst eine Aufrechterhaltung des handelspolitischen Status quo keine Selbstver-ständlichkeit ist, zeigt die Tatsache, daß die größte und reichste westliche Nation, die Vereinigten Staaten, sich im August 1971 nicht gescheut hat, durch einseitige Maßnahmen zusätzliche Einfuhrhemmnisse zu verfügen. Eine feierlich im Rahmen von UNCTAD weltweit eingegangene Stillhalteverpflichtung der oben angedeuteten Art bietet zwar angesichts der laufend auf handelspolitischem Gebiet zu verzeichnenden Vertragsbrüche keine Garantie dafür, daß wenigstens der Status quo nicht verschlechtert wird; aber sie würde vielleicht doch für manch einen Staatsmann, der sich seiner internationalen Verantwortung bewußt ist, eine zusätzliche moralische Bremse bedeuten.
„Die Sorge um die Dritte Welt (muß) eine Dimension unserer Gesamtpolitik“ (einschließlich der Handelspolitik) werden Alle Politiker, insbesondere aber diejenigen, die sich mit Außen-, Handels-und Entwicklungspolitik befassen, sollten die folgende fundamentale These Epplers zur Kenntnis nehmen: „Ohne eine Wende der Handelspolitik wird auch verstärkte Entwicklungshilfe verpuffen: der Verlust jedes weiteren Prozents am Welthandel bedeutet für die Entwicklungsländer derzeit soviel wie zwanzig Prozent des gesamten Kapitaltransfers aus westlichen Industrieländern."
Die vorstehende Analyse der Fakten und Zusammenhänge zeigt, daß zwischen der Handels- und Entwicklungspolitik in der Tat ein großer Widerspruch besteht. Wenn wenigstens diese Erkenntnis sich allgemein durchsetzen würde, so wäre das bereits ein kleiner Schritt in Richtung auf die Lösung der Probleme. Allerdings ist es theoretisch ziemlich einfach, ganz allgemein die Forderung nach einer entwicklungspolitisch konformen Handelspolitik zu stellen. Viel schwerer fällt es, auch noch so geringe praktische Fortschritte zu erzielen, denn Abbau des Protektionismus bedeutet den Einbruch in vielfältige und seit langem etabliete Interessensphären. Sogar auf dem Gebiet der Industriewaren wird es schwer sein, zugunsten der Entwicklungsländer durch handelspolitische Maßnahmenn eine raschere und umfassendere Hilfestellung als bisher zu ge-ben. Noch unvergleichbar viel schwerer ist der Abbau des Agrarprotektionismus, da die Regierungen aller entwickelten Länder fest da-von überzeugt sind, daß sie, wenn überhaupt, nur mit größter Behutsamkeit an die Anpassung der überholten Strukturen herangehen dürfen.
T. K. Warley, ein führender kanadischer Agrarökonom, hat das mit fast brutal anmu. tender Offenheit festgestellt: „Es ist wichtig, daß wir für die voraussehbare Zukunft den Mythos aufgeben, die landwirtschaftliche Erzeugung und der Handel könnten von den simplen Thesen des komparativen Vorteils und des Marktmechanismus bestimmt werden. Es gibt kein Land, in dem die Regierung be-reit ist, der Landwirtschaft ein rein marktwirtschaftliches System aufzuzwingen ... Es ist eine Illusion, wenn man erwartet, daß Regierungen -— und insbesondere europäische Regierungen — den Agrarprotektionismus und die Interventionspolitik aufgeben werden.“ Warley warnt auch davor, an der Forderung festzuhalten (wie es z. B. die USA tun), daß Abmachungen auf dem Gebiet des Agraraußenhandels nur parallel und im gleichen Tempo wie Abmachungen auf dem Gebiet des Außenhandels mit gewerblichen Erzeugnissen abgeschlossen werden dürften: „Das ist nicht nur unproduktiv, sondern sogar schädlich, da es einen konstruktiven Dialog und die Suche nach mehr Erfolg versprechenden Wegen und Lösungen versperrt."
Solche „realpolitischen" Einsichten und die These von der Notwendigkeit eines „aufgeklärten" Agrarprotektionismus dürfen freilich kein Anlaß sein, eine rückhaltlose klare An-alyse der Fakten und Zusammenhänge zu unterdrücken, wie es manche Interessentengruppen gerne möchten. Das Bewußtsein und da-mit das Gewissen der Politiker und der breiten Öffentlichkeit bedürfen der Schärfung durch ständige Konfrontierung mit den Tatsachen. Zusammeniassend ist festzustellen: Zwar ha-ben weite Kreise auch in den reichen Ländern erkannt, was die „weltpolitische Stunde" geschlagen hat. Aber keine westliche oder östliche Regierung ist bereit, daraus handelspolitisch die notwendigen Konsequenzen zu zie-hen. Audi auf der Dritten Sitzungsperiode von UNCTAD in diesem Jahr ist nicht damit zu rechnen, daß wesentliche Fortschritte in Richtung auf die überfällige Integration der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft erzielt werden können. Die Armen werden die Konferenz als eine „Bettlerkonferenz" ansehen. Die Verantwortung dafür liegt vor allem bei den reichen Ländern. Da die Länder der Dritten Welt angesichts der Hinhaltetaktik der Reichen keine Zeit haben, noch Jahrzehnte auf einen handelspolitischen Wandel (im Westen und im Osten) zu warten, müssen sie in zunehmendem Maße autarkistische Tendenzen verfolgen Das bedeutet große Opfer und dürfte kaum ohne die Anwendung autoritärer, ja totalitärer Methoden zu verwirklichen sein, wobei das chinesische Beispiel nicht übersehen werden kann. Die „Proletarier der Welt" werden näher zusammenrücken und der Gegensatz zwischen den Armen und den Reichen wird sich noch weiter verschärfen. Mit einer weltweiten Klassenkampf-Diplomatie nach chinesichem Muster ist zu rechnen.
Das Problem des „Link"
Angesichts der Aussichtslosigkeit aller bisherigen Versuche, die Grundprobleme der Entwicklungshilfe — und unter ihnen das der handelspolitischen Komponente — zu lösen, ist es verständlich, daß nach anderen, neuen Lösungsmöglichkeiten Ausschau gehalten wird. Nicht nur in den Entwicklungsländern wird zur Zeit lebhaft die Frage diskutiert, ob sich die seit kurzem im Rahmen des Internationalen Währungsfonds eingeführten Sonderziehungsrechte zu einem Instrument der Entwicklungsfinanzierung, d. h.des entwicklungspolitisch erwünschten Einkommenstransfers von reich auf arm, ausbauen lassen könnten Und zwar lautet die Kernfrage, ob die Sonderziehungsrechte, die bisher nur die Funktion hatten, die internationale Liquidität zu verbessern, auch dazu verwendet werden können, um einen Dauertransfer von Realmitteln und eine Umverteilung des Welteinkommens zu bewirken. Zur Zeit sind die Sonderziehungsrechte Mr zum Ausgleich für Notfälle bei kurzfristigen Zahlungsbilanzdefiziten da und nicht zur Finanzierung für langfristige Entwicklungsvorhaben. Es ist schwer einzusehen, wieso die Verwendung der Sonderziehungsrechte für Zwecke der Entwicklungshilfe nicht den gleichen inflationistischen Effekt haben kann wie das Ingangsetzen der Notenpresse. Der Internationale Währungsfonds und die Weltbank prüfen z. Z., ob es Wege gibt, das Instrument der Sonderziehungsrechte auch für langfristige Finanzierungszwecke zugunsten der Entwicklungsländer zu verwenden, ohne daß dadurch ernstere inflationistische Gefahren entstehen, als das heute schon bei der Ausnutzung dieser Rechte durch entwickelte Defizitländer der Fall ist. Auch eine Autorität auf dem Gebiet der Währungstheorie wie Gottfried Haberler sieht in der Koppelung („link") zwischen der Schaffung solcher zusätzlicher Liquiditätsreserven und der Entwicklungshilfe ernste, inflationistische Gefahren. Ferner bestehen Bedenken, daß die angeregte Koppelung die Last der Entwicklungshilfe zwischen den Geberländern weniger gerecht aufteilen würde, als es bei einer Aufschlüsselung entsprechend dem Bruttosozialprodukt der Fall ist. Man tut den echten Interessen der Entwicklungsländer sicher keinen guten Dienst, wenn man das für den kurzfristigen Liquiditätsausgleich bestimmte System der Sonderziehungsrechte ver-wässert. Das Spiel mit den Sonderziehungsrechten ist ein gefährliches Spiel, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß diese Frage vor allem deswegen — insbesondere von den Entwicklungsländern — so in den Vordergrund gerückt ist, weil man erkennt, daß es kurzfristig keine alternativen Vorschläge zu einer substantiell verstärkten Entwicklungshilfe gibt. Die Reichen halten sich weder an das im Pearson-Bericht gesetzte Minimalziel, wonach sie 0, 7 °/o ihres Bruttosozialprodukts für öffentliche Hilfe aufbringen sollen, noch sind sie bereit, sich handelspolitisch richtig zu verhalten. Manch ein industrielles Land kokettiert mit dem Gedanken des „link" deswegen, weil es glaubt, sich dadurch Erhöhungen in seinem Entwicklungshilfe-Budget zu ersparen — ein gefährlicher Trugschluß.