I. Zur Rolle von Nationenbildern in den internationalen Beziehungen
Erst in letzter Zeit hat die Wissenschaft von der Politik mehr und mehr damit begonnen, den Bereich der internationalen Beziehungen auch unter dem Aspekt zu untersuchen, inwieweit das Handeln der politisch Verantwortlichen von den Vorstellungen mitbestimmt wird, die sie von sich selbst und voneinander haben. Bisher wurde dieser Aspekt nur eher beiläufig gesehen. Lediglich dann, wenn diese Vorstellungen, die Bilder von der internationalen Umwelt, in sehr hohem Maße von der gegebenen Realität abwichen und ein erhebliches politisches Fehlverhalten bedingten, wurde ihnen erhöhte Aufmerksamkeit zuteil. Im allgemeinen war man allzusehr geneigt, davon auszugehen, daß unterschiedliche Beurteilungen einer gegebenen politischen Situation nur aus einer unterschiedlichen Interessenlage oder einem unterschiedlichen Informationsstand resultierten. So geschah es sehr häufig, daß man bei der Betrachtung von Ereignisabläufen kausale Zusammenhänge konstruierte, die letztlich gar nicht gegeben waren, die nur in der Situationstheorie des Betrachters als kausal erschienen. Andererseits wurden vielfach kausale Zusammenhänge einfach übersehen, weil die Situationstheorien der politischen Akteure nicht hinreichend beachtet wurden. Inzwischen haben Psychologie, Soziologie und Kommunikationsforschung einen Wissensstand erarbeitet, der es der Politikwissenschaft ermöglicht, die internationalen Ereignisabläufe zutreffender zu beurteilen, der aber auch dazu zwingt, manches, das schon für gesichert gehalten wurde, erneut zu überprüfen.
Eine wichtige Rolle in diesem Kontext spielen die Bilder, die Nationen oder Staaten bzw.deren politische Führungen von anderen Nationen oder Staaten haben. Diese Bilder bestimmen wesentlich die Theorie, die sich die Bei der vorliegenden Abhandlung handelt es sich siweise um einen Auszug aus dem im Droste-
erlag, Düsseldorf, erscheinenden Buch: Deutschnno ilder. Die Bundesrepublik aus der Sicht der R und der Sowjetunion, von Jörg-Peter Mentzel und Wolfgang Pfeiler. Dieser Auszug wurde hier um eine Studie zum historischen Deutschenbild erweitert und durch eine AussageneannaigYsuesszeunm Unterschied zwischen internalem und ernalem sowjetischen Heterostereotyp ergänzt.
Führer eines Staates von der gegebenen und der zu erwartenden außenpolitischen Situation machen. Und von dieser Situationstheorie hängt ihr Verhalten in der Welt ab. Das mag folgende Überlegung verdeutlichen: Gegeben seien zwei Staaten, deren Führungen jede ein bestimmtes Bild von sich selbst und von dem anderen Staat haben. Ihr politischer Verkehr miteinander hängt nun nicht von dem tatsächlichen Wesen des jeweils anderen, nicht von dessen realen Handlungen ab, sondern davon, wie diese Handlungen aufgrund des Bildes, das man vom anderen hat, interpretiert werden. Weicht dieses Bild vom anderen nun sehr von der Realität oder dem Bild ab, das der andere von sich selbst hat, so ist es im allgemeinen nicht mehr möglich, die Handlungen des anderen logisch zu verstehen. Es kommt dann im politischen Verkehr miteinander ständig zu Mißverständnissen.
Derartige Mißverständnisse müssen nicht notwendig zu einem Konflikt beider Staaten führen; sie können durch Paraphrasieren wieder überbrückt werden. Ist aber zwischen beiden Parteien zudem ein Interessengegensatz Horst Günther Linke:
Deutschland und die Sowjetunion von Brest-Litowsk bis Rapallo...................... S. 23 gegeben, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, daß es zu einer Eskalation von solchen wechselseitigen Mißverständnissen kommt, die den Interessengegensatz verschärft und die Handlungen des jeweils anderen als feindlich und bösartig erscheinen läßt. Die Staatsführungen neigen dann dazu, das Mißverstehen auf der anderen Seite als ein absichtliches Mißverstehen zu deuten. Der Versuch, die eigenen Handlungen dem anderen durch Explikation der eigenen Situationstheorie plausibel zu machen, ist dann in der Regel schon fruchtlos, da diese Explikation von der anderen Seite nur noch als Propaganda aufgefaßt wird, als ein Versuch, die tatsächlichen Absichten zu verschleiern. Der Konflikt beginnt sich selbst durch positive Rückkopplungsprozesse mit zunehmender Tendenz zu verstärken.
Da aber in der Situationstheorie der politischen Führungen nicht nur die gegenwärtige außenpolitische Lage abgebildet wird, sondern auch die künftige Entwicklung als Prognose enthalten ist, kommt es auch immer öfter zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen, d. h.
zu Handlungen, die auf der anderen Seite eine Reaktion auslösen, der gegenüber eben diese Handlungen adäquate Gegenhandlungen gewesen wären, wenn sie nicht selbst diese Reaktion bedingt hätten. So kann es schließlich geschehen, daß die konfligierenden Parteien in ihrem tatsächlichen Verhalten den wechselseitigen Feindbildern immer ähnlicher werden.
Wenn man das Eskalieren solcher Konflikte verhindern will, wenn man erreichen will, daß Interessengegensätze auf der internationalen Ebene auf dem Wege des Ausgleiches und nicht des Konfliktes ausgetragen werden, so ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dazu, daß die politisch Handelnden sich dieser Zusammenhänge überhaupt erst einmal bewußt werden. Sie müßten stets im Auge behalten, daß die Wirklichkeit auf sehr verschiedene Weisen gesehen werden kann und daß auch das eigene Bild von der Welt nur eine dieser verschiedenen Weisen ist. Sie müßten die Bereitschaft haben, das eigene Bild von anderen Staaten von vornherein mit einem Fehlerkoeffizienten zu versehen, den es durch einen permanenten Informationsprozeß mit negativer Rückkopplung zu minimieren gilt. Sie dürften insbesondere nicht der Neigung nachgeben, das eigene Bild von der eigenen Nation mit der Wirklichkeit gleichzusetzen und davon abweichende Bilder als falsch oder als bösartige Verdrehung anzusehen. Sie sollten statt dessen bestrebt sein, eine möglichst genaue Kenntnis der Vorstellungen zu gewinnen, die andere von der eigenen Nation haben. Denn insoweit die Bilder, die andere von uns haben, deren politisches Handeln uns gegenüber bestimmen, sind diese Bilder für uns eine politische Realität. Und je genauer wir diese Bilder kennen, um so erfolgreicher werden wir mit anderen Staaten kommunizieren können. In der Retrospektive erscheint die Geschichte des sogenannten . Kalten Krieges'und der damit eng verbundenen deutsch-sowjetischen Nachkriegsbeziehungen als ein recht anschauliches Beispiel für Prozesse der oben beschriebenen Art. Eine genaue Untersuchung des sowjetischen bzw.des historischen russischen Deutschlandbildes versprach hier Wesentliches zum Verständnis dieser Epoche beizutragen, aber auch wichtige Anhaltspunkte für die gegenwärtige und künftige sowjetische Politik zu geben. Auf die historische Rückschau mußte schon allein deshalb großer Wert gelegt werden, weil das Bild, das sich eine Nation von einer anderen macht, durch den Charakter der wechselseitigen Beziehungen im Laufe der Geschichte vorgeformt ist. Allerdings ist es nicht so, daß diese wechselseitigen Beziehungen ein kontinuierliches Steuersystem eines solchen Nationenbildes wären. Wenn ein Nationen-bild erst einmal entstanden ist — sei es durch historische Beziehungen oder durch Reisekon-
takte —, so gewinnt es über die Generationen hinweg eine gewisse Eigenständigkeit. Es wird irgendwann im Bewußtsein eines Volkes fixiert, wird an die nächste Generation weitergegeben und wirkt so seinerseits auf die historische Entwicklung mit ein. Dabei kann es durch rückgekoppelte Information, die im Verlaufe historischer Ereignisse aufgenommen wird, einer ständigen Korrektur unterliegen.
Da nicht alle Schichten eines Volkes ihre Erfahrungen in gleicher Weise machen und die Interessenlage bestimmter gesellschaftlicher Klassen im Hinblick auf ein anderes Land vom allgemeinen Interesse durchaus abweichen kann, kann es geschehen, daß ein solches Bild nicht einheitlich ist. Je nach der Interessenlage oder bestimmten unterschiedlichen Erfahrungen kann bei der einen oder anderen Schicht eines Volkes der eine oder andere Teil des Bildes stärker ausgeprägt oder dominant sein. Im Extremfall kann es aber auch so sein, daß innerhalb eines Volkes divergierende Vorstellungen von einem anderen Volk entstanden sind. Derartige Divergenzen im Bilde von einer anderen Nation oder von anderen Nationen (das letztere hieße von der internationalen Umwelt überhaupt) sind nun aber ein klares Indiz für innere Uneinheitlichkeit, denn die Bilder, die Nationen von anderen Nationen haben, sind ein wesentlicher Teil dessen, was eine Nation überhaupt zu einer Nation macht. Das Ausmaß der Divergenzen im Bilde von anderen Nationen reflektiert im allgemeinen bestehende innere Divergenzen. Auch das Bild, das sich das russische Volk im Laufe der Jahrhunderte von den Deutschen und später von Deutschland gemacht hat, ist nicht einheitlich, oftmals sogar widersprüchlich und hat mit der Zeit viele Veränderungen erlebt. Einige Elemente dieses Bildes waren sehr früh schon vorhanden, einige sind erst in diesem Jahrhundert hinzugekommen, einige aber sind auch wieder verschwunden. Sie wurden eliminiert, als in Rußland die gesellschaftlichen Kräfte, an die sie gebunden waren, eliminiert wurden. Es soll hier versucht werden, die Entwicklung dieses Bildes zu skizzieren. Insbesondere soll gezeigt werden, welche Elemente des geschichtlichen Deutschenbildes der Russen in das sowjetische Bild von der Bundesrepublik eingegangen sind.
II. Vom historischen Deutschenbild der Russen
Die erste Begegnung zwischen Russen und Deutschen, die in der Erinnerung der Russen bis heute fortlebt, war der Versuch des Deutschen Ordens, nach Novgorod vorzudringen. Dem Fürsten Alexander gelang es, die deutschen Ordensritter 1241 entscheidend zu schlagen. Wenn auch Alexander seinen geschicht-lichen Beinamen (Aleksandr Nevskij) dem Kampf gegen die Schweden und seine kirchliche Heiligsprechung seinem diplomatischen Geschick gegenüber den Mongolen verdankt, so ist doch die Schlacht auf dem Peipussee gegen die deutschen Kreuzritter in der histori-schen Erinnerung der Russen eines der her-ausragendsten Ereignisse ihrer Geschichte. Stalin berief sich auf Alexander Nevskij, als er das russische Volk 1941 zum Widerstand gegen Deutschland aufforderte, und die Erinnerungen an die „Brutalitäten der deutschen Kreuzritter" werden gelegentlich noch heute wachgerufen.
Offenbar hat aber die Disziplin und das Arbeitsethos der Ritter des Deutschen Ordens ebenfalls einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Als Ivan der Schreckliche Mitte des 16. Jahrhunderts Teile des Ordensgebietes besetzen und ausplündern ließ, wurden mit den Gefangenen auch viele Deutsche nach Moskau abtransportiert und dort zum Nutzen des Russischen Reiches angesiedelt. Friedliche wirtschaftliche Beziehungen hatten sich zwischen Russen und Deutschen vor allem unter dem Einfluß der deutschen Hanse entwickelt. Schon 1189 wurde der erste Vertrag abgeschlossen. Wenn auch Novgorod nicht Hansestadt wurde, so spielte doch gerade diese Stadt im Rahmen der gegenseitigen Beziehungen eine hervorragende Rolle. Die Hanse unterhielt hier den sogenannten St. Peterhof und ihr Kontor. Ende des 15. Jahrhunderts wurden dann — unter Ivan III. — auch diplomatische Gesandtschaften ausgetauscht. Diese Beziehungen verschiedener Art wurden nach dem Ende der Rjurik-Dynastie schon unter Boris Godunov (1598— 1605) wieder aufgenommen und erweitert. Insbesondere wurden die Rechte der Nemeckaja Sloboda'erweitert, die aus einer schon vorher bestehenden evangelischen Gemeinde hervorgegangen war, in der die von " van dem Schrecklichen entführten Deutschen beherbergt wurden.
Nach dieser . Zeit der Wirren'wurde auch von er neuen Dynastie, den Romanovs, eine Politik der guten Beziehungen betrieben. Bereits in „Des weltberühmten Adami Olearii Reise-
eschreibungen" (1696 in Hamburg erschie-nen) wird die Deutschfreundlichkeit der Familie Romanov gelobt Doch nicht nur auf die Zarenfamilie erstreckte sich der Einfluß der . Nemeckaja Sloboda'. Er umfaßte immer mehr die gesamte Oberschicht, so daß unter Zar Aleksej 1675 sogar einmal ein gesetzliches Verbot, die deutschen Sitten und Gebräuche nachzuahmen, erlassen wurde. Dieses Gesetz scheint jedoch keinen nachhaltigen Einfluß gehabt zu haben. Das Leben Peters des Großen (1672— 1725) stand jedenfalls entscheidend unter dem Einfluß der . Nemeckaja Sloboda' Seine erste Freundin stammte von dort, und später heiratete er selbst eine Deutsche — Katharina. Auch seine Tochter Anna und seine Nichte Anna Ivanovna verheiratete er mit Deutschen, und die letztere war es dann, die als Zarin Anna eine Epoche einleitete, die das russische Deutschenbild erneut nachhaltig beeinflußte — die Zeit der sogenannten Biro-novscina (1730— 1741).
Peter der Große hatte bereits im Zuge seiner Reformen auch viele Deutsche in führende Stellungen berufen. Sie kamen als Handwerker und Kaufleute, als Ärzte und Apotheker, als Offiziere und Beamte, als Hauslehrer und auch als kolonisierende Bauern ins Russische Reich. Peter schätzte die „deutsche Gründlichkeit" und handwerkliche Geschicklichkeit. An die von ihm begründete Akademija Nauk‘ wurden in der Folge fast nur deutsche und französische Professoren berufen. Unter Zarin Anna, seiner Nichte, erreichte schließlich der deutsche Einfluß in Rußland seinen Höhepunkt. Anna herrschte mit Hilfe der „deutschen Partei", einer Gruppe von deutschen Günstlingen, die zum großen Teil schon unter Peter in ihre Positionen gelangt waren. Die herausragende Figur dieser Zeit wurde der deutsche Baron Biron, (der ursprünglich Büren hieß), und dessen Name heute noch zur Bezeichnung dieser Epoche dient. Diese Gruppe von Deutschen errichtete mit Hilfe der ebenfalls schon von Peter geschaffenen Geheimpolizei eine Terrorherrschaft, die wegen ihrer Brutalität und Korruption fester Bestandteil der geschichtlichen Erinnerungen der Russen geworden ist.
„Deutsch war die Sprache der Händler und Fabrikanten, der Wissenschaft und der Hauslehrer" und die ganze Wirtschaft wurde von Deutschen beherrscht. Biron selbst verachtete die Russen und zeigte ihnen das auch, so daß diese relativ kurze Epoche die Bironovscina — nicht nur als Terror-, sondern vor allem auch als Fremdherrschaft in Rußland empfunden wurde und sich als solche dem Geschichtsbewußtsein eingeprägt hat
Unter der nächsten Zarin, Elizaveta, wurden die Deutschen aus den unmittelbaren Spitzen-positionen verdrängt, aber schon unter Peter III. und besonders unter Katarina II., die die Tochter eines preußischen Generals war, erlangten sie wieder beträchtlichen Einfluß, wenn auch nie wieder eine derartige führende Rolle wie zur Zeit der Bironovscina. Die Behauptung ist sicher nicht von der Hand zu weisen, daß in der Außenpolitik dieser drei Zaren auch die jeweilige Einstellung zu den Deutschen im eigenen Lande reflektiert wurde. Es ist hier nicht der Ort, die Ursachen der jähen Wende im Siebenjährigen Krieg darzulegen. Die Tatsache aber, daß die russischen Heere unter Elizaveta gewaltige Verwüstungen in den eroberten deutschen Gebieten anrichteten, während Peter die besetzten Territorien sogleich ohne Gegenleistung Preußens räumen ließ, spricht dafür, daß die Einstellung zu den Deutschen hier ein ausschlaggebender Faktor war. Das galt dann auch für Katarina. Wie schon im 17., so kam es auch im 18. Jahrhundert in verschiedenen Teilen Rußlands zur Ansiedlung deutscher Einwanderer. Vor allem umfaßte das große Siedlungswerk, das Potemkin im Auftrag von Katarina durchführte, viele deutsche Siedler. Aus dieser Zeit stammt auch die Mär, die der sächsische Legationsrat Helbig erfunden hatte und die im übrigen Europa rasch verbreitet wurde — die Mär von den , Potemkinischen Dörfern'. Sie erscheint als Prototyp einer weiteren historischen Erfahrung der Russen, der Erfahrung, daß die großen Reformwerke von den Deutschen falsch gesehen werden, daß sie entweder unter einem einseitigen Aspekt dargestellt oder überhaupt gänzlich entstellt werden. So konnte z. B. auch Lomonosov nicht verstehen, daß deutsche Historiker die russische Staatsgründung den Warägern zuscbrieben Ähnliche Klagen finden sich auch heute immer wieder. Während einerseits das Bild von den Deutschen durch die deutschen Einwanderer geprägt wurde — durch die Rolle, die Deutsche im russischen Leben spielten -—, entwickelte sich andererseits das Deutschenbild immer mehr und immer stärker dadurch, daß Russen nach Deutschland kamen, um dort zu studieren oder sich moderne Fertigungsmethoden anzueignen.
In keinem anderen Land studierten so viele Russen wie in Deutschland. Zugleich nahm auch der Reiseverkehr von Russen „nach Europa" zu. Und selbst wenn das Reiseziel nicht Deutschland selbst war, so führte doch der Reiseweg in vielen Fällen durch Deutschland. Und alle, die in Deutschland studiert und gelernt oder die Deutschland bereist hatten, trugen auf unterschiedliche Weise zu dem Deutschenbild bei, das sich später im 19. Jahrhundert in zahlreichen schriftlichen Zeugnissen niedergeschlagen hat.
Unter den Russen, die schon im 18. Jahrhundert Deutschland bereisten und schriftlich darüber berichteten, wäre vor allem D. I. Fonvizin zu nennen, ein russischer Beamter, der seinen Eindruck von Deutschland auf den allgemeinen Nenner zusammenfaßte: „Bei uns ist alles besser, wir sind ein größeres Volk als die Deutschen." Solche pauschalen negativen Aussagen waren aber doch meist mit Respekt und teilweise sogar mit Bewunderung für die deutsche Philosophie und Literatur verbunden, Nikolaj Karamzin etwa, der sich einerseits über die „geistlosen Gespräche der preußischen Offiziere" mokiert, läßt andererseits in seinen „Briefen eines reisenden Russen" keinen Zweifel daran, welch großen Eindruck ihm die deutsche Literatur gemacht hatte, und es war ihm sehr wichtig, in Deutschland Kant, Wieland und Herder zu besuchen, die seine Bewunderung hatten überhaupt wurde kein Land von Russen so stark bereist wie gerade Deutschland Es wurde vor allem das bevorzugte Reiseland des hohen Adels. In vielen deutschen Badeorten waren russische Fürsten mit ihrem Anhang ein gewohnter Anblick geworden. Viele von ihnen verbrachten den ganzen Sommer dort. Fast alle sprachen deutsch und hatten enge verwandtschaftliche Kontakte mit dem deutschen Adel. Diese Beziehungen waren so eng, daß die Bezeichnung „der Kaiser" in Deutschland fast zu einem Synonym für „der Zar" geworden war. Der Kaiser, das war nicht der Kaiser in Wien, sondern der Zar in Moskau. Und so erschien beim Tode von Nikolaj I. die deutsche „Kreuzzeitung" sogar mit der Schlagzeile „Unser Kaiser ist tot".
Auch die Erzieher und Hauslehrer in Rußland waren zu einem großen Teil Deutsche. In der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts ist der deutsche Hauslehrer beinahe so etwas wie ein Stereotyp geworden: gebildet, charaktervoll und gutmütig, ein bißchen schüchtern, ein bißdien zu unterwürfig, eher pedantisch als gewissenhaft und im ganzen eine etwas lächer-liche Figur. Aber auch in der Politik spielten Deutsche weiterhin eine nicht unwesentliche Rolle. Viele Zaren hatten deutsche Erzieher in ihrer Jugend oder wurden von solchen Russen erzogen, die selbst lange in Deutschland gewesen waren und sie mit der deutschen Kultur vertraut machten. So kann man die deutsch-freundliche Einstellung von Alexander II. sicher mit darauf zurückführen, daß ukovskij viele Jahre lang sein Erzieher war, der neben Turgenev auch Goethe und die Brentanos zu seinen Freunden zählte.
Indessen hatte sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine gewisse Verschiebung in den Beziehungen der Russen zum Ausland ergeben. Das war eine unmittelbare Folge des Napoleonischen Krieges gegen Ruß-land, in dessen Verlauf die russische Armee bis nach Frankreich, bis nach Paris marschierte. Der Deutsche war nun nicht mehr, wie es Laqueur ausgedrückt hat, „der Ausländer par excellence" 9). Der französische Einfluß wurde stärker. Im Denken der Dekabristen etwa spielten deutsche oder preußische Ideen überhaupt keine Rolle. Doch hatte andererseits der Verlauf des Krieges die deutsch-russischen Beziehungen noch erheblich vertieft. Wenn es auch nicht an Gegenstimmen gefehlt hat, so trug doch die Konvention von Tauroggen hierzu nachhaltig bei.
Zar Alexander I. holte sich deutsche Berater ins Land, unter denen wohl der Freiherr vom Stein der prominenteste war. Aber auch in der Armee spielten deutsche Generäle und Offiziere wie Scharnhorst, Gneisenau und Clausewitz eine entscheidende Rolle. Das ging zeitweilig so weit, daß ein russischer General den Zaren darum bitten mußte, „zum Range eines Deutschen befördert zu werden". Ähnlich war die Situation auch in der Zivilverwaltung der Armee, und im diplomatischen Korps befanden sich Deutsche in der Mehrzahl. Auch mit dem Tode Alexanders änderte sich das nicht. So waren die beiden engsten Vertrauten von Nikolaj I. ebenfalls Deutsche. Und weiterhin wanderten viele Deutsche ins Baltikum und ins Innere des russischen Reiches ein; sie wurden überall von den Russen gern gesehen. Gegen Ende des Jahrhundert war es dann so, daß Deutsche, die nur ein Prozent der Bevölkerung ausmachten, schließlich etwa 40 °/o der führenden Positionen im Lande innehatten 10).
III. Die Reflexion des russischen Deutschenbildes im 19. Jahrhundert
Im Laufe all dieser Geschehnisse hatte sich in Rußland ein Deutschenbild entwickelt, dessen hervorstechendstes Merkmal wohl eine Dichotomie zwischen Verachtung und Bewunderung war. Vor allem der russische Adel hegte den . unterwürfigen Deutschen" gegenüber tiefe Verachtung, während man Frankreich überwiegend Bewunderung entgegenbrachte. Die deutsche Sprache, obgleich viel weiter verbreitet als die französische, galt als weniger vornehm. Und auch der Spitzname „Kolbasnik", den man dem Deutschen beigelegt hatte (der etwa Wurst oder Wurstmacher bedeutete), klingt herablassend verächtlich.. Andererseits wurden die Deutschen aber auch wegen ihrer Pünktlichkeit, Sauberkeit, Ehrlichkeit, ihres Fleißes und teilweise auch wegen ihrer technischen Fertigkeiten bewundert. So berichtete etwa Saltykov-Scedrin um 1880, daß die deutsche Landwirtschaft und die deutsche Eisen-bahn einen nachhaltigen Eindruck auf ihn gemacht hätten
Dieser wissenschaftlich-technische Aspekt im Deutschenbild scheint jedoch im wesentlichen noch aus früheren Jahrhunderten überliefert worden zu sein und spielte im 19. Jahrhundert nur noch eine geringe Rolle. Wenn Laqueur schreibt, daß die Russen die Deutschen als Meister und Lehrer bewunderten so galt das zu dieser Zeit sicherlich nicht mehr für den Bereich von Wissenschaft und Technik. Diese Rolle hatten in der Vorstellung der Russen nun die Engländer übernommen, die jetzt als das wirtschaftlich und technisch führende Volk der Erde galten.
Die Deutschen dagegen galten zu dieser Zeit als ein überwiegend unpraktisches Volk, das der Philosophie, der Musik und der Poesie zu-neigt, jedoch für Technik und Unternehmertum ungeeignet ist Sie schienen von einer „geradlinigen Schwerfälligkeit" zu sein, wie Veselovskij es ausdrückte. Oder wie Koselov 1874 kurz und bündig schrieb: „Die Deutschen sind klug in der Theorie, aber dumm im praktischen Leben." Im Bereich von Philosophie und Literatur aber hatten die Deutschen ihre Stellung als bewunderte Meister und Lehrer noch weiter ausbauen können. Hegel, Kant, Fichte, Schelling, Feuerbach, Stirner, Nietzsche, Savigny und später Marx, Bebel, Lassalle, Engels, Dietzgen und Kautsky hatten einen mächtigen Einfluß auf das russische Denken. Teilweise war ihr Einfluß — wie etwa bei Hegel — in Rußland größer als in Deutschland. Aus dem literarischen Bereich wurden vor allem Goethe und Schiller viel gelesen. Von letzterem sagt Laqueur nicht nur, daß sein Einfluß in Rußland größer gewesen sei als in Deutschland. Er meint, Schillers Einfluß in Rußland sei sogar größer gewesen als der jedes anderen Dichters überhaupt Und Pushkarev berichtet, daß um die Jahrhundertwende auf dem russischen Büchermarkt 133 deutsche Autoren mit insgesamt 348 Titeln vertreten gewesen seien. Damit lag die deutsche Literatur zu dieser Zeit zwar hinter der Frankreichs auf dem zweiten Platz, rangierte aber klar vor der anglo-ameri-kanischen
Das Bild von den Deutschen hat seinen Ausdruck in vielen schriftlichen Zeugnissen gefunden. Das gilt ganz besonders für die russische Intelligenz, die ja zu einem großen Teil in Deutschland studiert hatte. Mit ihren Aussagen über Deutschland, mit den deutschen Charakteren, die in ihren Werken gezeichnet sind, haben die russischen Schriftsteller dann ihrerseits auf das Deutschenbild vertiefend eingewirkt, das sich im russischen Volke zuvor schon entwickelt hatte und das sie widerspiegelten. Ein sehr großer Teil dieser Werke wird auch heute noch in weitesten Kreisen der Sowjetunion gelesen. Es gibt wohl kaum ein anderes Land auf der Erde, in dem die Belletristik des 19. Jahrhunderts einen so großen Teil der Bevölkerung heute noch erreicht wie in der Sowjetunion. Und damit wird auch das Bild von den Deutschen, so wie die russischen Klassiker es zeichneten, den Menschen dort immer aufs neue vor Augen geführt. Es erscheint deshalb wichtig, Jahrhunderts einen so großen Teil der Bevölkerung heute noch erreicht wie in der Sowjetunion. Und damit wird auch das Bild von den Deutschen, so wie die russischen Klassiker es zeichneten, den Menschen dort immer aufs neue vor Augen geführt. Es erscheint deshalb wichtig, auf einige dieser Klassiker und ihre Aussagen über Deutschland und die Deutschen etwas näher einzugehen, Ivan S. Turgenev hatte wohl von ihnen allen die meisten Sympathien für Deutschland. In einem Streit mit Dostojevskij erklärte er sogar einmal, er fühle sich mehr als Deutscher denn als Russe und sei stolz darauf 17). Er liebte die deutsche Romantik und sah in ihr einen dem russischen Fühlen verwandten We-senszug. Aber so sehr er die deutsche Literatur, die deutsche Kunst und die deutsche Philosophie bewunderte, war er doch kein kritikloser Verehrer alles Deutschen schlechthin. Er betonte den Fleiß und die Sauberkeit der Deutschen, fühlte sich aber von den deutschen Kleinbürgern und Philistern wenig angetan und bezeichnete sie einmal als „gänzlich dumm". Er hatte Sympathien für die deutsche Einigung, die damals das wichtigste politische Ziel der Deutschen war, lehnte aber andererseits „Bismarcks Militarismus" ab. Dieser schien ihm offenbar auch einen negativen Einfluß auf das deutsche Geistesschaffen zu haben, so daß er später einmal äußerte: „Die Deutschen können vielleicht die ganze Welt erobern, aber das Erzählen haben sie verlernt." 18)
Auch Alexander Herzen schätzte Hegel und Goethe wie überhaupt die deutsche Philosophie und Literatur, doch war sein Urteil über die Deutschen im ganzen gesehen negativer. Er hielt sie für schwerfällig und grob, für notorische Besserwisser und Schulmeister. Er sprach ihnen auch — obwohl er nicht zu den Slawophilen gehörte, sondern ein sogenannter Westler war —, die Fähigkeit ab, die Russen zu begreifen. Deutschland habe zwar den Sozialismus hervorgebracht, aber die deutsche Wirklichkeit stehe dem entgegen. Ähnlich äußerte sich auch Goncarov, nur war er noch eine Nuance negativer im Urteil. In seinen Augen waren die Deutschen eher arrogant als nur schulmeisterlich. Sie seien ein „Haufen patentierter Spießbürger" und „keine Gentlemen". Alles müsse bei ihnen nach der Regel gehen. Teilweise erscheinen sie auch als brutal und ausgesprochen böse 19).
Bei Lev Tolstoj haben die Deutschen gar keine sympathischen Züge mehr. Sie erscheinen einerseits pedantisch und genau, andererseits prahlerisch und mit ihren Kriegserlebnissen protzend. „Der Deutsche ist selbstbewußter als alle anderen Nationen, schlichter und unentwegter und widerwärtiger als alle anderen, weil er sich einbildet, er kenne die Wahrheit, die Wissenschaft, die er selbst erdachte, die aber für ihn absolute Wahrheit ist", schreibt er in „Krieg und Frieden". Er bescheinigt ihnen mangelhaftes Einfühlungsvermögen, das auch zu einem Nichtverstehen der politischen Umwelt und ihrer Zusammenhänge führe. Ihre Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit kann ihnen hier nicht weiterhelfen. Etwas weniger feindlich, dafür aber herablassender beurteilte Nikolaj Gogol die Deutschen. Er sah einen steten Gegensatz zwischen ihrem Idealismus, ihrer Romantik und der trivialen deutschen Wirklichkeit. Seine ursprüngliche Schwärmerei, seine Gedanken vom wundersamen, phantastischen Deutschland seien bei der Konfrontation mit der Wirklichkeit schnell verschwunden. Die Deutschen hätten Kartoffelblut in den Adern. Sie seien zwar sauber, zuverlässig und ehrlich, aber sie neigten dazu, alles im voraus zu planen und hätten wenig Einfühlungsvermögen
Fedor Dostojevskij erkannte an, daß die Deutschen in vielem Lehrmeister für die Russen gewesen waren. Er lobte ihre Tüchtigkeit, sprach aber von einem Arbeitseifer über das Pflicht-pensum hinaus. Diese Leistungen veranlaßten sie dann zu ungeheurer Prahlsucht, überwiegend ist seine Haltung zu den Deutschen durch Abneigung bestimmt und seine Meinung von ihnen ist nicht allzu hoch: „Mögen sie auch gelehrt sein, sie sind gleichwohl furchtbare Dummköpfe. Das ganze Volk hier versteht zu lesen und zu schreiben, ist aber ganz unwahrscheinlich dumm und blöd, und es hegt die allerniedrigsten Interessen", schrieb er in Deutschland nieder Seiner Meinung nach hatten die teils langweiligen und dummen, teils überheblichen und rohen Deutschen gerade mit dem russischen Volk nichts gemein. Nach dem deutschen Sieg über Frankreich und der erfolgten Reichsgründung — (Dostojevskij hatte sich inzwischen ganz dem Panslawismus zugeneigt) — äußerte er Bewunderung für Bismarck und dessen staatsmännische Leistung, zugleich aber Zweifel an der Dauerhaftigkeit dieses neuen Staatengebildes. Es sei der wesentlichste Zug dieses Volkes, sagte er, sein Schicksal nicht zu akzeptieren. Der Germane sei jetzt von seinem Triumphe überzeugt und meine, daß es kein höheres Wesen in der Welt gebe als das germanische. Deutschland glaube sich jetzt zur Führung der ganzen Welt berufen und werde aus Angst vor der wachsenden russischen Macht in eine für Deutschland selbst verhängnisvolle Verstrickung mit der zur Zeit gegebenen politischen Abhängigkeit von Ruß-land geraten
Diese bemerkenswerte politische Voraussage basiert auf einem Bild von den deutschen politischen Eliten, das auch in unserer Zeit in dieser oder ähnlicher Form gegeben ist, nur daß es im heutigen Rußland wesentlich weiter verbreitet ist als zu Dostojevskijs Zeiten: Es ist die Vorstellung, daß die deutsche politische Führung sich selbst maßlos überschätzt, daß sie nicht bereit ist, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist.
Im allgemeinen wurde die deutsche Reichs-gründung in der russischen Bildungswelt noch unfreundlicher aufgenommen. So wie etwa Skobelev (der Eroberer Turkestans) im Deutschen und seinem „Drang nach Osten" den Feind schlechthin für Rußland sah, so sah auch Konstantin Leontjev in de-„schäbigen, kleinbürgerlichen, schulmeisterlichen Deutschen" eine politische Gefahr für Rußland. Es gelte daher, den deutschen „Drang nach Osten" möglichst nach Westen abzulenken Die deutsche Gefahr erschien wahrscheinlich deshalb besonders bedrückend, weil in den Augen sehr vieler Russen (z. B. Herzen, Dostojevskij, Pogodin) die Deutschen an sich und nicht nur ihre Führung militant oder militaristisch waren. In jedem deutschen Staatsbürger stecke der Soldat deutsche Männer schienen dem russischen Bildungsbürger „in Zivil verkleidete Feldwebel" zu sein
Wollte man das Deutschenbild, das die russische Literatur des 19. Jahrhunderts gezeichnet hat, auf die überall und immer wieder auftretenden Elemente reduzieren, so müßte man besonders die Eigenschaften Fleiß, Sparsamkeit, Redlichkeit, Ordnungsliebe, aber auch die weniger sympathischen Seiten Geiz, Spießertum, Schulmeisterei, Pedanterie und Prahlsucht anführen. Ihren prototypischen Ausdruck finden diese Eigenschaften vor allem im Bilde des deutschen Hauslehrers, wie es schon beschrieben worden ist: Bestenfalls ein ebenso ehrenwerter wie lächerlicher Lehrmeister Und wenn sich auch immer wieder für bestimmte deutsche Leistungen auf dem Gebiet der Philosophie und der Literatur Bewunderung findet, wenn auch einzelne deutsche Persönlichkeiten in Rußland höchste Anerkennung genießen, so zeigt sich doch allgemein und eindeutig ein Uberlegenheitsgefühl der Russen über die Deutschen, das sich meist in Form einer gewissen nachsichtigen . Herablassung äußert.
Aufgrund dieses allgemeinen Deutschenbildes und auch im Hinblick auf das gute Zusammenleben von Russen und Deutschen könnte man, wie Victor Frank das tut, mit Recht zu dem Schluß kommen, daß die Russen die Deutschen niemals gehaßt haben. Aber auch das Element des Deutschenhasses hat es im Verlaufe der russischen Geschichte durchaus gegeben, und zwar stets verbunden mit fortschrittsfeindlichen, rassistischen (panslawistischen oder slawophilen) oder orthodox-religiösen Einstellungen. Das findet sich schon bei dem Anarchisten Bakunin, der ursprünglich dasselbe Bild wie die Mehrzahl seiner gebildeten Zeitgenossen hatte: Die Deutschen seien schreckliche Philister und überhaupt ein lächerliches Volk. Er hatte auch Bewunderung für die deutsche Literatur empfunden, vor allem für Schiller, Hegel und Fichte, war aber dann nach einem längeren Deutschlandaufenthalt insbesondere von der deutschen Professorenschaft zutiefst enttäuscht worden. So schrieb er denn später, nichts eine die Slawen so erfolgreich wie ein tief verwurzelter Haß gegen die Deutschen Die Wurzeln dieses Deutschenhasses sind tatsächlich, wie Bakunin es sagte, tief in der Geschichte zu suchen. Das hängt einmal damit zusammen, daß aus der Zeit der Bironovscina her Deutsche vielfach als Symbol für Unterdrückung und politischen Terror galten, mehr aber wohl noch damit, daß die russisch-orthodoxe Kirche vom Mittelalter bis zur Neuzeit stets ein erbitterter Gegner aller Reformen in Rußland war. Jeder Zar, der „ein Fenster nach Europa öffnete", mußte sich gegenüber der Kirche durchsetzen, und durch jedes nach Europa geöffnete Fenster kamen vor allem deutsche Einflüsse nach Rußland herein. So wurde deutscher Einfluß in den Augen vieler Orthodoxer und auch beim einfachen gläubigen Volk etwas Verwerfliches, etwas Böses oder sogar das Böse schlechthin. Für viele dieser einfachen, ungebildeten, religiös empfindenden Menschen hatte das Bild vom Deutschen schon keine menschlichen Züge mehr. So schrieb z. B. um 1700 Ivan Pososkov, alles sei bei den Deutschen ohne Sünde: „Wie die Schweine rechnen sie nichts als Sünde an. Wie das unvernünftige Vieh oder wie die Mordwinen essen sie an allen Tagen Fleisch." Und Fonvizin berichtete über ein Gespräch mit einem frommen Russen, der ihm sagte: „Die Russen hat Gott, die Deutschen aber der Teufel geschaffen." Mordwinen wie Deutsche waren dem orthodoxen Gläubigen so recht zuwider, sie waren ihm „Fremdvölker" — nicht weil sie eine andere Herkunft hatten oder eine andere Sprache, sondern weil sie Christus fremd waren, „weil sie nicht seine Völker sind" In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fand die deutschfeindliche Einstellung in der panslawistischen Bewegung ihren stärksten Ausdruck. Auch hier erscheint es angebracht, auf einige Vertreter dieser Richtung etwas näher einzugehen — auch wenn diese Bewegung heute tot ist und ihre Ideen allenfalls noch unterschwellig weiterleben. Für Fedor Tjuev, der mit dem deutschen Kulturleben eng verbunden war, waren es die Ereignisse des Frühjahrs 1848 in Deutschland, die ihn, einen Gegner der Demokratie und der Revolution, zu einer mehr antideutschen Haltung brachten. Man habe sich lange Zeit Illusionen über Deutschland gemacht, schrieb er, man habe geglaubt, es sei ein Land der Ordnung, weil es stets ruhig war. Aber 60 Jahre einer destruktiven Philosophie hätten hier den christlichen Glauben zerstört und den Geist der Revolution zur Entfaltung gebracht. Damit werde nun auch in Deutschland der Haß gegen Rußland wachsen. Die Deutschen seien jetzt dabei, die schrecklichen französischen Gewalt-taten nachzuahmen. Für die Frankfurter Versammlung in der Paulskirche hatte Tjucev nur Haß und Verachtung; der Charakter der Deutschen habe sich mit dem Aufflackern demokratischer Bestrebungen zum Bösen gewandt Ivan Kirejevskij dagegen hatte schon lange davor eine ausgesprochene Antipathie gegen Deutschland entwickelt. Er schrieb aus München: „Von Deutschland haben wir schon mehr als genug. Es gibt auf dem ganzen Globus kein schlechteres, seelenloseres, dümmeres und ärgerlicheres Volk als die Deutschen." Und: „Ich hasse Deutschland ... Die Deutschen allein sagen die Wahrheit, wenn sie ihr Land das Land der Eichen nennen, obwohl es, abgesehen von den Deutschen selbst, in Deutschland fast keine Eichen gibt. Dafür aber sind die Deutschen selbst die hölzernsten aller Eichen." In der Sicht Kirejevskijs (und auch seines Bruders) war das Wort „deutsch" ein Synonym für „schlecht", eine Aussage, die für den Standpunkt der Slawophilen überhaupt kennzeichnend war. Die Deutschen seien darauf aus, andere Völker zu unterwerfen und auszubeuten. Sie seien nicht bereit, ihr Land friedlich zu bestellen. Eroberung sei schon immer das Hauptmerkmal der germanischen Gesellschaft gewesen. Und noch zwanzig Jahre später schrieb Kirejevskij, daß keine Nation so stumpfsinnig und so seelenlos sei wie die deutsche. Im Vergleich mit Deutschland seien selbst die Bulgaren noch genial. Trotzdem scheint seine Haltung zu den Deutschen nicht ausschließlich so kraß negativ gewesen zu sein, denn gelegentlich nannte er sie auch umsichtig und zeigte sich vom deutschen Bildungswesen angetan. Ob man aber bei den Slawophilen von einer „Haßliebe" für das romantische Deutschland sprechen kann, wie Rjazanovskij das tut, erscheint etwas zweifelhaft. Zumindest überwog die ablehnende Haltung
Nikolaj Danilevskij, der wohl bedeutendste der Panslawisten, spricht ausdrücklich vom „russischen Vorurteil der Deutschenliebe". Neben Legitimismus und Philanthropismus bezeichnete er „im besonderen die Deutsch-freundlichkeit" als einen schweren Fehler der Russen. Zwar hält auch er in der gegebenen historischen Situation (Ende der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts) ein zeitweiliges Bündnis zwischen Preußen und Rußland für richtig. Preußen sei bisher unter den russischen Fittichen herangewachsen, und auch die deutsche Einheit könne nur durch Rußland verwirklicht werden. Die politische Notwendigkeit zwinge Rußland, den Vertreter des Slawentums, sich aus eigenem Interesse für das Interesse Preußens einzusetzen, obwohl ja Westslawen und Deutsche im Verlauf ihrer ganzen bisherigen Geschichte stets Feinde gewesen seien — die Slawen als die Unterdrückten, die Deutschen als die Unterdrücker. Sobald jedoch die unmittelbaren Ziele beiderseits erreicht sein würden, werde es zur Trennung des Slawischen vom Deutschen kommen. Wie manche anderen russischen Autoren, die die feindselige und oft hochmütige Art, mit der die Deutschen Rußland und die Russen betrachten, hervorheben, so verurteilt auch er den deutschen Rassehochmut und setzt sich mit den Theorien einiger deutscher Rassenfanatiker auseinander. Ähnlich wie Herzen und Dostojevskij, die im Militarismus einen der wesentlichsten deutschen Charakterzüge sahen, so sieht Danilevskij — nur noch viel ausgeprägter — in der Gewaltsamkeit eines der entscheidenden ethnischen Merkmale des germanisch-romanischen Typs. Diese Gewaltsamkeit erscheint ihm als ein Produkt einer übersteigerten Individualität, die die eigene Denkart und das eigene Interesse so hoch stellt, daß jede andere Denkungsart und jedes andere Interesse als nicht gleichberechtigt empfunden wird und daher zu weichen habe. Eine Unterwerfung des Fremdinteresses wird so nicht mehr als etwas Ungerechtes empfunden, sondern als die natürliche Unterwerfung des Niederen unter das Höhere. Auf diese Weise sei das Christentum unter dem Einfluß des germanisch-romanischen Volkscharakters zum Katholizismus entartet. So werde der alte „Drang nach Osten" wieder zu einer potentiellen Gefahr für Rußland
VI. Von der deutschen Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg
Mit der deutschen Reichsgründung erschien immer weiteren Kreisen in Rußland eine Auseinandersetzung mit Deutschland unvermeidlieb zu werden. Die germanischen und die slawischen Anschauungen würden immer unversöhnlicher, sagten die einen und erwarteten eine Auseinandersetzung vor allem zwischen den Rassen und Kulturen. Andere wieder glaubten, daß sich die nationalen Interessen auf die Dauer nicht koordinieren ließen und es über kurz oder lang zur politischen Gegnerschaft kommen müsse. Wieder andere sahen im Preußentum die Hauptgefahr für die Ideale des Fortschritts und der Toleranz. Selbst Teile des Adels und der Armee und darüber hinaus die Mehrzahl der russischen Liberalen nahmen jetzt verstärkt eine antideutsche Haltung ein. Auch in den Petersburger Regierungskreisen stieg die deutschfeindliche Stimmung. Die Ursache für diese Veränderung war mehrschichtig. Da war zum einen die Furcht vor einem möglichen deutschen Angriff, vor dem Wiederaufleben des „Dranges nach Osten", aber auch allgemeinere Bedenken, wie sie schon dargestellt worden sind. Da war zum anderen die Sympathie mit den Balkanslawen. Die russische öffentliche Meinung stand ganz auf deren Seite und gegen Deutschland. Und da war zum dritten ein politisch-wirtschaftlicher Gegensatz, der darauf beruhte, daß Deutschland Industriegüter in zunehmendem Maße exportieren wollte, aber gegen die Ein-fuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse war, während umgekehrt Rußland landwirtschaftliche Produkte exportieren wollte, ohne in größerem Umfang Industriegüter zu importieren. Dieser Gegensatz wurde noch verschärft, als der deutsche Kapitalmarkt zeitweilig für russische Werte gesperrt wurde. Durch den Berliner Kongreß des Jahres 1878 und ein Jahr später durch den Zweibund Deutschlands mit Österreich wurden diese antideutschen Haltungen weiter verstärkt. Und während unter Alexander II. wenigstens noch der Hochadel zum größten Teil deutschfreundlich gewesen war und sich insbesondere die Zarenfamilie Deutschland durch eine Art Autokratensolidarität und die emotionalen Bindungen Alexanders verpflichtet fühlte, so änderte sich auch dies mit dem Machtantritt von Alexander III. Er stand unter dem Einfluß seiner dänischen Frau und des orthodoxen Slawophilen Pobe-donoscev, die beide Deutschland haßten. Erst nachdem Nikolaj II. die Thronfolge angetreten hatte, gewann die Zarenfamilie wieder ein gutes Verhältnis zu ihrer deutschen Verwandtschaft, doch fuhr die russische Presse fort, sich antideutsch zu verhalten. Die russische Wirtschaft betrachtete Deutschland immer mehr als Hauptgegner, und sowohl Sozialrevolutionäre als auch konstitutionelle Demokraten traten gegen Deutschland auf und befürworteten eine profranzösische Orientierung. Von 1913 an steigerten sich diese Tendenzen noch einmal, und das Schlagwort von der unvermeidbaren Auseinandersetzung zwischen Slawen und Germanen verbreitete sich immer mehr, Der deutsche „Drang nach Osten" war jetzt in aller Munde. Als schließlich der Krieg ausbrauch, kam es zu einer ausgedehnten Haßhysterie. Es fanden Pogrome gegen die deutschstämmige Bevölkerung statt; auch der Zar stand jetzt gegen Deutschland
Interessant sind in diesem Zusammenhang die Angaben, die die beiden großen Enzyklopädien des damaligen Rußland über das kaiserliehe Deutschland zwischen Reichsgründung und Beginn des Weltkrieges machten. Die in Zusammenarbeit mit Brockhaus (Leipzig) von Jefron herausgegebene . Enciklopediceskij Slovar'sieht als die wichtigsten Merkmale dieser Zeit den gegen Rußland gerichteten Agrar-Protektionismus zugunsten des deutschen Großgrundbesitzes. Er verweist auf die „ungeheure Rüstung", die Deutschland betreibt, und auf den deutschen Militarismus und Kolonialismus. Der Wechsel von Kaiser und Kanzler habe dabei nur innenpolitische Bedeutung
In der anderen, rein russischen Enzyklopädie, die auch schon vor 1913 erschienen war, findet sich über das bisher schon Gesagte hinaus ein Deutschlandbild gezeichnet, das in seiner politischen Relevanz weit später hätte geschrieben sein können. Mit der Bismarckzeit, heißt es da, hätten das deutsche Volk und seine Regierung eine „titanische Arbeitswut" in sich entdeckt. Die Deutschen hätten damit begonnen, sich Stützpunkte zu ihrem „Weltenflug" zu schaffen. Im Interesse der herrschenden Kreise habe Bismarck die deutsche Einheit von oben und nicht von unten her geschaffen. Damit habe er die Volksbewegung in enge Bahnen, in einen nationalen Enthusiasmus gelenkt. Diese Einheit durch Eisen und Blut sei eine schlechte Einheit. Die Bismarck-Epoche nach 1871 sei einerseits durch die erfolgreiche Zerschlagung des katholischen Separatismus und den Kampf gegen die Revolution gekennzeichnet, andererseits dadurch, daß die Interessen der deutschen Industrie und der deutschen Landwirtschaft zugleich gewahrt geblieben seien. Den Bedürfnissen der Industrie entspreche dabei die koloniale Expansionspolitik, den Wünschen der Landwirtschaft die Erhebung von Schutzzöllen. Darüber hinaus werde die Epoche Wilhelms II. dadurch charakterisiert, daß eine große Rüstungsproduktion in Gang gesetzt worden sei. Man habe eine starke Flotte und eine schlagkräftige Armee mit dem Ziele aufgebaut, das konservative Regime im Innern zu bewahren und zugleich den äußeren Markt zu erweitern. Audi hier werden landwirtschaftlicher Protektionismus und ein fieberhaftes Rennen nach Kolonien als wesentliche Momente dieser Epoche hingestellt Es ist erstaunlich — zumal im vorangehenden Band der Enzyklopädie der deutsche „Drang nach Osten" dargestellt wird —, daß trotz dieser Sicht der deut-schen Expansionstendenzen offenbar keinerlei akute Gefahr für Rußland vermutet wurde. Ein eindrucksvolles Bild, wie ein junger russischer . Intelligenzler'das Deutschland der Vorkriegszeit erlebt und empfunden hat, ergibt sich aus den Erinnerungen Fedor Stepuns. Die Nationalität eines Menschen war für ihn, wie für die fortschrittliche Intelligenz in Ruß-land, nur eine Sache der Kultur. Doch hatte er schon, ehe er nach Deutschland ging um zu studieren, in Rußland erfahren, daß die Deutschen sich offenbar einer höheren Kultur zugehörig fühlten. Sein Aufenthalt in Deutschland bringt ihn dann zu der Auffassung, daß tatsächlich zwischen beiden Kulturen ein erheblicher Unterschied besteht. Die deutsche Kultur ist für ihn ein Teil der älteren und erfahreneren europäischen Zivilisation. Sie ist eine Berufskultur, die sich auf Arbeit, Wissen und Strebsamkeit gründet, die im Unterschied zur russischen Kultur wenig Seele besitzt, sondern mehr leistungsorientiert ist. Eine schlichte Sachlichkeit und Konventionen beherrschen die zwischenmenschlichen Beziehungen, die in Rußland ganz anders, viel aufrichtiger und herzlicher sind. Auch Stepun hebt hervor, wie sauber und gepflegt Deutschland wirke, auch er berichtet von den pedantisch-genauen und korrekten preußischen Beamten, von deutscher Prahlsucht und dem Bedürfnis, eine Uniform zu tragen. Doch sieht er gerade in preußischer Wesensart schon eine Verwandschaft zur russischen, die man im katholischen Westdeutschland nicht findet
Es haben sich bei der bisherigen Betrachtung vor allem drei Hauptgruppen herausgebildet, die eine prinzipiell unterschiedliche Haltung zu Deutschland und den Deutschen hatten. Da sind die Slawophilen, die Panslawisten und die Orthodoxen, deren Einstellung deutschfeindlich und deren Deutschenbild negativ war. Des weiteren gab es die Bildungsbürger, die sogenannten Westler, deren Einstellung zwischen Verachtung und Bewunderung schwankte und vielleicht mit . Haßliebe'zu umschreiben wäre. Ihr Deutschenbild war differenziert, zeigte positive und negative Eigenschaften, doch überwog im ganzen die negative Seite. Dann gab es den hohen Adel und die Zarenfamilie, deren deutschfreundliche Einstellung durch eine gewisse nachsichtige Verachtung kaum geschmälert wurde und die ein überwiegend positives Deutschen-bild hatten.
Es gab aber auch damals schon eine vierte wesentliche Bevölkerungsgruppe in Rußland, deren Deutschenbild im Verlauf des 20. Jahrhunderts im gleichen Maße wie sie selbst an Einfluß gewann: die russischen Sozialdemokraten, deren Einstellung zu Deutschland positiv und von unverhohlener Bewunderung geprägt war.
V. Vom Deutschlandbild der russischen Sozialdemokraten
Die russischen Sozialdemokraten blickten von Anfang an voller Hochachtung und Respekt auf die deutschen Sozialisten. Es war wie eine Art Schüler-Lehrer-Verhältnis: Marx und Engels, Lassalle und Bebel waren die großen deutschen Theoretiker und Organisatoren der sozialistischen Bewegung. Die deutsche Sozialdemokratie erschien als die selbstverständliche Führerin der sozialistischen Bewegung in aller Welt. Ihr politischer Kampf, ihr Organisationsvermögen, ihre zahlenmäßige Stärke wurden von den russischen Sozialdemokraten nicht nur bewundert, sondern weithin auch als Vorbild angesehen Aber nicht nur die deutsche Sozialdemokratie, sondern das ganze Deutschland erschien vielen von ihnen als fortschrittlich im Vergleich zur autoritären, unsozialen Selbstherrschaft Alexanders III. Plechanov, der in seinen Werken Hegel, Marx, Engels, Feuerbach und Goethe — teilweise im Original — zitiert, erklärte 1893 sogar, daß die deutsche Armee im Falle eines Krieges als efreier nach Rußland kommen würde, so wie 00 Jahre zuvor die französische Revolutions-armee als Befreier nach Deutschland gekommen sei. Deutsch galt auch als die Sprache der Revolution, und die meisten russischen Revolutionäre bemühten sich, diese Sprache — wenigstens bis zu einem gewissen Grade — zu erlernen. Diese Einstellung zu Deutschland führte mit der Machtübernahme der Provisorischen Regierung sofort zur Beendigung der antideutschen Maßnahmen. Wenn auch der Krieg gegen Deutschland fortgesetzt wurde, so war es doch nun in der Sicht der russischen Sozialisten nicht mehr der antideutsche Krieg der russischen Bourgeoisie, sondern der Krieg des freien, demokratischen Rußland gegen die deutsche Bourgeoisie und das kaiserliche Regime. Mit den Waffen der russischen Armeen hofften sie die Freiheit und die Demokratie nach Deutschland hineinzutragen, um damit ihren deutschen Genossen die Machtübernahme leichter zu machen Doch nicht alle Sozialisten dachten so. Die Gruppe der Internationalisten wendete sich gegen diese Art revolutionären Krieges und trat für die sofortige Beendigung des Krieges gegen Deutschland ein. Die stärkste politische Kraft unter den Internationalisten waren die Bolschewiken. Nicht zuletzt durch ihre Forderung nach sofortigem Friedensschluß mit Deutschland gelang es ihnen, einen großen Teil der Massen auf ihre Seite zu ziehen und die Macht zu übernehmen. Zwar war die Mehrzahl unter ihnen zunächst auch nicht für einen Friedensschluß auf der Basis der deutschen Bedingungen. Sie hofften auf einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen und glaubten wohl auch, daß Deutschland aufgrund der militärischen Lage zu einem solchen Friedensschluß bereit sein würde. Es zeigte sich jedoch bei den Verhandlungen sehr bald, daß die deutsche Seite keinen Kompromiß, sondern einen Diktat-frieden anstrebte.
Die Alternative für die neue Regierung lautete: Entweder Annahme der deutschen Bedingungen oder Fortführung des Krieges und deutscher Vormarsch auf Petrograd. In dieser Situation gelang es dem überragenden Führer der Bolschewiken, Vladimir Lenin, gegen den anfänglichen Widerstand seiner Genossen durchzusetzen, daß die deutschen Bedingungen akzeptiert wurden Er gab Raum auf, um Zeit zu gewinnen. In der Retrospektive erscheint Lenins Politik in dieser Frage, darüber hinaus aber auch seine spätere Zusammenarbeit mit führenden Kräften der deutschen Republik, als bedeutende realpolitische Leistung. Das soll hier nicht bestritten werden. Es soll nur darauf verwiesen werden, daß er es leichter hatte, eine solche , pro-deutsche'Politik zu betreiben, da er keine ne-gativen Vorurteile gegenüber den Deutschen überwinden mußte. Seine Einstellung zu ihnen war von Bewunderung und Sympathie bestimmt. Schon im Kriege war er gegen den Deutschenhaß in Rußland aufgetreten: „Die Losung des bürgerlichen Nationalismus war: Haß dem Deutschen, schlagt die Deutschen! Wir sagen: Haß den imperialistischen Räubern, Haß dem Kapitalismus! Und zugleich: Lerne vom Deutschen! Bleib dem Bündnis mit den deutschen Arbeitern treu!“ Dieses „Lernt von den Deutschen" scheint überhaupt der verbale Inbegriff dessen zu sein, wie Lenin Deutschland gesehen hat. Er spricht vom „Kulturvolk Deutschland" und von dem, was das deutsche Proletariat für die Menschheit getan habe
Er ist anfangs auch ein Bewunderer der deutschen Sozialdemokratie gewesen. Von ihr hatte er lernen und ihre Organisationstechniken auf die russischen Sozialdemokraten übertragen wollen. Es muß eine bittere Enttäuschung für ihn gewesen sein, daß sich die SPD, ihre Führung und ihre Presse, nach der Spaltung der RSDAP in Bolschewiken und Menschewiken auf die Seite der letzteren stellte, während er doch sich und die Bolschewiken als die eigentlichen Verfechter der deutschen sozialdemokratischen Ideen verstand. Von nun an wandte er sich zunehmend von der SPD-Führung ab und nannte sie „Philister", „Pseudosozialdemokraten" und „Lakaien der imperialistischen Bourgeoisie" Deutschland als ganzes jedoch, das deutsche Proletariat genauso wie der gut funktionierende bürokratische Apparat dieses Staates, blieben ihm weiterhin das Vorbild, von dem es zu lernen gelte. Und so hat er auch in seinen Schriften immer und immer wieder darauf hingewiesen: „Deutschland ist das am weitesten entwickelte, fortschrittlichste Land Europas."
VI. Veränderungen als Folge der beiden Revolutionen von 1917
Im Verlaufe der beiden russischen Revolutionen und im nachfolgenden Bürgerkrieg waren zwei der weiter oben unter dem Aspekt ihrer Einstellung zu Deutschland beschriebenen Gruppen ihres Einflusses vollständig be-raubt worden. Es gab keine Zaren-Familie mehr, und der Hochadel war zur Emigration gezwungen worden. Aber auch der Einfluß der slawophil-orthodoxen Gruppen war auf ein Minimum zurückgegangen. Angesichts des gewaltigen sozialen Aufbruchs, angesichts der Fortschrittsorientiertheit der neuen Regierung erschienen derartige konservativ-mythische Vorstellungen weiten Kreisen der Bevölkerung als antiquiert. Umgekehrt erschien den Vertretern dieser konservativen Denkweisen die bolschewistische Fortschrittsorientiertheit als das Böse schlechthin. Der Marxismus war in ihren Augen eine der „bürgerlichen Ideologien" des „verlogenen Europa, das uns durch seine Theorien vergiftet und im plombierten deutschen Waggon auch noch die Verderber unserer (!) Revolution, die Bolschewiken, geschickt hatte", wie Stepun es ausdrückte 47), der selbst in einer religiösen Ideen-welt lebte. Soweit die russisch-orthodoxe Kirche Träger dieser Ideen war, wurde ihr Einfluß durch administrative Maßnahmen des neuen Staates unterdrückt. Aber Unterdrükkung des Einflusses bedeutete nicht, daß die Vorstellungswelt der Orthodoxen sich gewandelt hätte. Das sollte sich später als ein Vorteil für den bolschewistischen Staat erweisen, als dieser — von Deutschland angegriffen — um seine Fortexistenz kämpfte. In den Predigten der russischen Priester hatten die deutschen Feinde kaum noch menschliches Antlitz: Sie erschienen den Gläubigen als Bestien und als Ausgeburten der Hölle Wenn es heute gelegentlich in der Sowjetunion noch einen Anklang von Deutschfeindlichkeit gibt, dann in diesen kirchlichen Kreisen.
Durch die Ereignisse der Revolution und den Bürgerkrieg war aber auch ein Teil der russischen Bildungsschicht und ein Teil der revolutionären Linken zur Emigration gezwungen worden. Für viele von ihnen wurde die Einstellung zu Deutschland bestimmend für die Wahl ihres Exils. Manche Sozialisten waren nach Frankreich gegangen, um im Dienste der Fremdenlegion noch am Sturz der deutschen Monarchie und an der Befreiung der deutschen Arbeiterklasse teilzunehmen. Viele andere Intellektuelle und . Linke'zogen Deutschland vor, um sich hier eine neue Existenz aufzubauen.
Die auf „Arbeit, Wissen, Strebsamkeit“ aufgebaute deutsche Berufskultur bot ihnen die Möglichkeit dazu.
Für viele Konservative aber war Deutschland das Land des Feindes, das seine Agenten, die Lenin-Helphand-Gruppe, in Rußland an die Macht gebracht hatte. Sie zogen es vor, in andere Länder (Frankreich, USA, England)
zu emigrieren. Ihr Deutschenbild blieb weiter negativ. Recht zutreffend wird das durch die Worte Vladimir Nabokovs ausgedrückt: „Deutschland erschien uns immer als ein Land, in dem die Gemeinheit (polost"), statt verspottet zu werden, einer der wesentlichsten Teile des Nationalcharakters, der Gewohnheiten, der Tradition und der allgemeinen Atmosphäre war." Für diese Konservativen mußte die von vielen anderen Russen so empfundene Größe der deutschen Philosophie und Literatur einfach eine Legende sein. Victor Frank schreibt sogar, daß die Sicht Nabokovs der wirkliche Eindruck der Mehrheit der Russen sei. Auch wenn sie vielleicht einzelne Deutsche und deren hervorragende Leistungen bewunderten, wäre doch im Hintergrund immer der Verdacht, daß die Deutschen letztlich einer essentiell unfreien Nation angehörten
Andererseits war es jedoch nicht so, daß nun im neuen Rußland, in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, ein uneingeschränkt positives Deutschlandbild übriggeblieben wäre. Hier besteht ganz offensichtlich ein Zusammenhang mit der Enttäuschung über die deutsche Sozialdemokratie, die nicht nur von Lenin allein so stark empfunden wurde. So bezeichnete etwa Konstantin Fedin die deutsche Revolution des Jahres 1918 nur als eine Parodie der russischen Revolution. Während des Krieges, schreibt er über die deutschen Arbeiter, hätten diese zwar gegen den Krieg demonstriert, sich dann aber wieder von der Polizei in die Fabriken schicken lassen, um dort für eben den Krieg zu arbeiten, gegen den sie zuvor demonstriert hatten. Deutschland sei das Land des Mittel-maßes, der Behördenfrömmigkeit, des Militarismus und des Polizeiregimes. Und in der Sicht Zoscenkos waren auch manche der positiv zu bewertenden deutschen Eigenschaften den Deutschen nur mit Gewalt anerzogen worden Jelisaweta Drabkina, die Sekretärin Sverdlovs, bringt ihre Empörung zum Ausdruck, daß die deutsche sozialdemokratische Partei die Revolution niedergeschlagen hat. Bei einem weiteren Deutschlandbesuch im Jahre 1925 fällt ihr neben einem „Gewimmel von Adligen, Schiebern und Kriegsgewinnlern" vor allem auf, daß die deutsche Republik ihre Straßen und Plätze noch immer nach Kaisern, Königen und Fürsten benennt
Diese Empörung, Verachtung und Enttäuschung über die deutsche Sozialdemokratie empfand auch Josef Stalin, der ansonsten, ge-nau wie Lenin und die meisten anderen Bolsdiewiken, ein uneingeschränkter Bewunderer Deutschlands war. Sein Bild von Deutschland, seine Einstellung zur Weimarer Republik, zum Hitlerreich und zum Nachkriegsdeutschland, seine Vorstellungen von deutschen Kapitalisten, Faschisten, Proletariern, Sozialdemokraten und vom Nationalcharakter überhaupt, haben das Deutschlandbild der sowjetischen Führungsschicht in der Folgezeit entscheidend geprägt. Viele Andersdenkende hat er allmählich ausgeschaltet, und oft war dabei ein entscheidendes Kriterium für das „Andersdenken" die jeweilige Einstellung zu Deutschland. Zugleich mit oder unmittelbar im Anschluß an diese „Säuberungen“ begann dann der Aufstieg derjenigen politischen Kräfte, die bis heute die führenden Positionen in der Sowjetunion innehaben. Ihr Weltbild, insbesondere ihr Deutschlandbild, war dem Stalins sehr ähnlich und mit eine Voraussetzung für ihren politischen Aufstieg.
VII. Vom Deutschlandbild Josef Stalins
Schon in jungen Jahren war der Marxismus für Josef Dzugasvili, der sich später Stalin nannte, die Maxime seiner politischen Aktion. Was er von und über Deutschland erfuhr, dürfte er mangels direkter Kontakte von anderen Revolutionären erfahren haben. Die gesamte georgische Befreiungsbewegung war aber sehr stark von der russischen Linken beeinflußt, so daß deren Gedankengut auch Teil seines Weltbildes wurde Er bemühte sich, wie die meisten anderen Revolutionäre, die deutsche Sprache zu lernen und beherrschte sie schließlich soweit, daß er deutsche Texte mit Hilfe eines Lexikons lesen konnte Deutschland — das war für ihn Europa mit mehr oder weniger politischer Freiheit, ein Land, in dem es keine nationale Unterdrückung wie in Georgien und keine Pogrome gegen Minderheiten gab, ein Land, das demokratischer und damit freier als das halbasiatische Rußland war, jedoch zugleich weniger demokratisch als Frankreich und die Schweiz Erst gegen Ende seines dritten Lebensjahrzehnts kam er selbst zum erstenmal nach Deutschland, und es scheint, daß dieser Aufenthalt seine Vorstellungen von der Mentalität der Deutschen und darüber hinaus von der revolutionären deutschen Arbeiterschaft und der deutschen Sozialdemokratie entscheidend geformt hat. Besonders ein Erlebnis war es, das er später gern berichtete und aus dem er konkrete Schlußfolgerungen über das deutsche Wesen ableitete, vornehmlich über den „unvernünftigen Sinn von Disziplin", über die „Mentalität von Autorität und Gehorsam, die nicht zu ändern sei": Eine Gruppe von ungefähr 200 sozialdemokratischen Arbeitern wäre mit erheblicher Verspätung zu einem Kongreß erschienen, weil sie auf einem Bahnsteig warten mußte, bis sich ein Kontrolleur fand, der sich um ihre Fahrkarten kümmerte. Konnten solche Arbeiter eine Revolution machen? „In Deutschland kann man keine Revolution machen, weil man dazu den Rasen betreten müßte", spottete er. Und so hat er die Möglichkeit einer Revolution in Deutschland stets verneint
Zwar hatte auch er ursprünglich Hoffnungen in die deutsche Sozialdemokratie gesetzt, die „mit einer Handbewegung eine Demonstration von Hunderttausenden" aufmarschieren lassen konnte, und er bewunderte ihren großen Führer August Bebel Aber genau wie bei Lenin und sicher auch unter dem Einfluß Lenins wandelte sich später diese Bewunderung zunächst in Verachtung und später in Feindschaft. Die SPD der Weimarer Republik war für ihn nicht nur keine revolutionäre Organisation mehr, sondern ein Instrument der Bourgeoisie zur Verhinderung revolutionärer Umgestaltungen und zur Vorbereitung neuer Kriege. So wie für ihn der Nationalsozialismus das Terrorinstrument der Bourgeoisie zur Aufrechterhaltung ihrer Macht in einer unstabilen Situation war, so war ihm die SPD-Führung das Hauptinstrument der Bourgeoisie zur Spaltung der Arbeiterklasse. Faschisten und Sozialdemokraten erschienen so ganz logisch als „Zwillingsbrüder": „Die Sozialdemokratie ist objektiv der gemäßigte Flügel des Faschismus." Da sich darüber hinaus die SPD-Führung als konsequentester Gegner seiner Außenpolitik erwies, nimmt es nicht wunder, daß sie in seinen Augen zum „Hauptfeind" in Deutschland überhaupt wurde. Sie, die „Sozialfaschisten", waren ihm ein größeres Übel, eine größere Gefahr noch als die „Nationalfaschisten". Solange die SPD ihre Position behaupte, sei die Stellung der Bourgeoisie in Deutschland unerschüttert und die sowjetische Außenpolitik gefährdet
Während Stalin so einerseits die Enttäuschung aller Bolschewiken über die Haltung der deutschen Sozialdemokratie teilte, so hatte er doch andererseits von den Deutschen insgesamt eine recht hohe Meinung gehabt: „Sie sind eine hochentwickelte Industrienation mit einer äußerst qualifizierten und zahlreichen Arbeiterklasse und einer technischen Intelligenz. Gebt Ihnen zwölf oder fünfzehn Jahre Zeit, und sie werden wieder auf den Beinen stehen", äußerte er um die Jahreswende 1944/45 Wenn Stalin überhaupt einzelnen Völkern gegenüber so etwas wie emotionale Empfindungen gehabt hat, dann war es eine Sympathie für Deutschland. Zu keiner Zeit vor dem Kriege hat er s ch über das deutsche Volk negativ geäußert. Seine äußerst scharfen Angriffe auf das Frankreich der späten zwanziger Jahre finden keine Entsprechung in seinen Reden über das nationalsozialistische Deutschland, das sicherlich wesentlich militaristischer war. Und hinsichtlich Amerika sagte er in einem Interview 1931 eindeutig: „Wir dürfen natürlich nicht vergessen, unsere Sympathien für die Deutschen zu erwähnen. Unsere Sympathien für die Amerikaner können damit nicht verglichen werden."
Auch ihre militärischen Fähigkeiten schätzte er sehr hoch ein. Dafür spricht, daß die militärisch-technische Zusammenarbeit zwischen Roter Armee und Reichswehr sich beinahe im gleichen Maße vertiefte, wie Stalin in der Sowjetunion an Einfluß gewann. Und Stalin war sich wohl bewußt, daß viele Menschen in der UdSSR eine ähnliche Meinung vom deutschen Militär hatten. So war es zu Beginn des Krieges eine seiner ersten Maßnahmen, die auf die Stärkung der Moral der Roten Armee abzielten, so viele sowjetische Einheiten wie möglich die erste . Feuertaufe’ erleben zu lassen: „Die Truppen müssen lernen, daß die Deutschen keine Übermenschen sind und getötet werden können." Hinsichtlich der Teilnahme nichtdeutscher Verbände am Angriff auf die Sowjetunion meinte er, daß nur die deutschen Divisionen zählten Nachdem sich die Kriegswende bereits abgezeichnet hatte, bereiteten ihm die organisatorisch-militärischen Fertigkeiten der Deutschen erneut im Hinblick auf die Nachkriegsentwicklung Sorgen. Die Fristen, die Deutschland gebraucht habe, um einen neuen Krieg zu beginnen, seien seit 1870 immer kürzer geworden, auch unter den Bedingungen unzureichender Mittel für die militärische Ausbildung
Die Kraft des deutschen Nationalismus war von Stalin im allgemeinen korrekter eingeschätzt worden als von der Mehrzahl seiner Genossen. Doch lehrten ihn die ersten Phasen des Krieges, daß auch er diesen Faktor offensichtlich unterschätzt hatte. Noch 1943 berichtete er beeindruckt, daß es bei den deutschen Soldaten keinen Unterschied mache, welcher Klasse sie angehörten oder aus welchem Teil Deutschlands sie kämen; nur die Österreicher gäben sich bei der Gefangennahme ausdrücklich als solche zu erkennen Dieser Eindruck von der Kraft des deutschen Nationalismus bestimmte auch seine Bedenken gegenüber Roosevelts Formel von der . bedingungslosen Kapitulation'. Diese Formel werde das deutsche Volk nur noch enger zusammenschließen, meinte er. Aus dem gleichen Grunde erschienen ihm die Pläne zur Teilung Deutschlands als die zweitbeste Lösung. „Es gibt keinerlei Maßnahmen, die die Möglichkeit einer Wiedervereinigung Deutschlands ausschließen könnten", sagte er dazu Seiner Konzeption entsprechend konnte eine Teilung des bürgerlichen Nationalstaates Deutschland nur eine Stärkung des bürgerlichen Nationalismus zur Folge haben Er befürwortete daher ein Nachkriegsdeutschland bis zur Oder, in dem sozialistische Reformen die Macht der Großindustrie und der Junker beseitigt hätten. In der internationalen Politik spielen nationale Vorurteile oder Präferenzen bestimmter Führungsgruppen oder gar einzelner Führer keine ausschlaggebende Rolle. Wenn sich Koalitionen bilden, dann deshalb, weil es Interessen-gemeinsamkeiten gibt. Solche fundamentalen Gemeinsamkeiten gab es auch nach dem Ersten Weltkrieg zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich. Es verdient aber hervorgehoben zu werden, daß Stalin im Rahmen der gegebenen Interessen und später sogar über diesen Rahmen hinaus, stets das Bündnis mit Deutschland gesucht hat. Selbst in den Jahren 1935 bis 1938, als die Sowjetunion — durch die deutsche Haltung beunruhigt — ihre . Politik der kollektiven Sicherheit'betrieb, hatte für ihn die Annäherung an Deutschland jederzeit absolute Präferenz. Diejenigen sowjetischen Führer, die für eine antideutsche außenpolitische Linie eintraten, ließ er aus ihren Positionen entfernen und teilweise hinrichten. Er war immer der „Eckpfeiler der deutsch-sowjetischen Verständigung", der sich schließlich nach dem Abschluß des Freundschaftsvertrages vom September 1939 am vorläufigen Ziel seiner Wünsche sah Selbst nach dem Kriege hing er diesem außenpolitischen Traum noch nach, wenn er immer wieder äußerte: „Zusammen mit den Deutschen wären wir unbesiegbar gewesen!" Gerade diese seine Aussage nach dem Siege über Deutschland erlaubt einen tiefen Einblick in seine Gedankenwelt vor dem Kriege.
Es ist oft mit Erstaunen vermerkt worden, daß Stalin trotz aller Meldungen über einen bevorstehenden Angriff keine Vorbereitungen gegen diesen getroffen hatte. Dieses Negieren und Falscheinordnen eingehender Informationen ist wohl letztlich nur als Folge einer vom Wunschdenken fixierten Einstellung erklärlich, die der eigenen Situationstheorie zuwiderlaufende Informationen einfach abschirmt. Der deutsche Angriff war für Stalin ein Schock. Unter dem Eindruck dieses Ereignisses hat Stalin dann seine Vorstellung von den Deutschen teilweise geändert. Während er sie früher für verläßlich und vertrauenswürdig gehalten hatte, wandelte sich jetzt dieses Element seines Deutschlandbildes ins Gegenteil. Im Juli 1941 etwa äußerte er sich gegenüber Hopkins, zwischen den Nationen müsse es ein Minimum an moralischen Maßstäben geben. Die gegenwärtigen (!) Führer Deutschlands würden diese nicht kennen und seien daher eine asoziale Macht. Und auch in Teheran wiederholte er, wie wenig er den Deutschen noch traue. Man müsse sehr vorsichtig mit ihnen sein. Nachkriegsdeutschland könnte seine Friedensindustrie heimlich für Kriegszwecke verwenden. Die Deutschen hätten in solchen Täuschungsmanövern große Geschicklichkeit bewiesen. Verbote könnten sie leicht umgehen Noch ganz unter dem Eindruck der von den deutschen Streitkräften hinterlassenen Zerstörungen erklärte er dann in Jalta, die Deutschen schienen die schöpferische Arbeit des Menschen zu hassen — und zwar mit einem sadistischen Haß
Selbst wenn man davon ausgeht, daß es zu diesem Zeitpunkt möglicherweise Stalins Anliegen war, Roosevelt gegenüber Deutschland einzunehmen, so darf das doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß dies damals eine weit-verbreitete Vorstellung in der ganzen Sowjetunion war. Es ist jedoch bemerkenswert, daß die sowjetische Führung auch während des Krieges und in der ersten Nachkriegszeit fort-fuhr, zwischen der deutschen Führung, der „faschistischen Clique", und dem deutschen Volk zu differenzieren. Der Kausalnexus, der die faschistische Führungsclique und die Deutschen zu einer aggressiven Einheit verbunden hatte, wurde ungefähr so gesehen, wie es Rudenko in seiner einleitenden Rede zum Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß ausdrückte: „Der Dunst des Chauvinismus und des Menschenhasses vergiftete systematisch das Bewußtsein der Deutschen als Folge der faschistischen Propaganda und des gesamten Systems der Maßnahmen, die von dem Hitler-staat gepflegt wurden."
Entgegen seiner noch 1944 geäußerten Auffassung, daß der Kommunismus für die Deutschen wie der Sattel für die Kuh passe war Stalin unter dem Eindruck des Verhaltens der Deutschen in der sowjetisch besetzten Zone allmählich zu der Meinung gelangt, daß auf lange Sicht gesehen Deutschland doch kommunistisch werden könne Dazu war gar kein besonderer revolutionärer Elan der deutschen Arbeiter vonnöten, man konnte vielmehr diejenigen Eigenarten der Deutschen für das sowjetische Interesse ausnutzen, die ihm als so typisch erschienen: Gehorsam, Disziplin, bedingungslose Befehlausführung, verbunden mit Fleiß, Begabung und technischem Können. Nachdem sich für Stalin spätestens im November 1947 abzeichnete, daß Deutschland nunmehr geteilt bleiben würde, versuchte er das, was er immer angestrebt hatte, wenigstens partiell zu verwirklichen: Die enge Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und Deutschland. Insofern konnte er mit Recht in der Gründung der DDR einen „Wendepunkt in der Geschichte Europas" sehen.
IX. Vom sowjetischen Deutschlandbild der Gegenwart
Im Vorangegangenen wurde versucht, diejenigen Elemente zu beschreiben, die das russische und später das stalinistische Deutschland-bild konstituiert haben. Es soll im folgenden darauf eingegangen werden, wie die Struktur des Deutschlandbildes der sowjetischen Führer von heute aussieht, d. h., wie sind diese Bild-elemente einander zugeordnet und welche von ihnen haben sich verstärkt oder abge-schwächt oder sind überhaupt mit der Zeit verschwunden? Oder sind vielleicht noch neue Elemente hinzugetreten? Die Struktur dieses Bildes wird von drei Faktoren bestimmt: den innenpolitischen Veränderungen, die in der UdSSR seit 1917 vor sich gegangen sind, der kommunistischen Weltanschauung und dem Trauma des letzten Krieges.
Die innenpolitischen Veränderungen dieses Jahrhunderts haben in der heutigen Sowjetunion eine Führungsschicht entstehen lassen, die durch den Stalinschen Ausleseprozeß homogenisiert wurde. Man könnte diese Veränderungen in bezug auf Deutschland etwa wie folgt konzisieren: Wenn man aus der Menge der historisch gewachsenen Einstellungen zu Deutschland diejenige Teilmenge her-ausgreift, die sich ausschließlich auf den deutschen Nationalcharakter bezieht, so kommt man zu dem Schluß, daß mit der Februarrevolution des Jahres 1917 gesellschaftliche Kräfte die Macht in Rußland übernahmen, die eine überwiegend positive Einstellung zu Deutschland hatten, während zugleich der Einfluß der Kräfte mit negativer Einstellung zurückgedrängt wurde. Unter den russischen Sozialisten aber waren es die Bolschewiken, die am weitestgehenden prodeutsch eingestellt waren, vor allem die engere Gruppe um Lenin. Unter Stalin wurden schließlich die pro-deutschen Einstellungen weiter begünstigt und antideutsche Einstellungen noch mehr zurückgedrängt. Deutschfeindliche Einstellungen oder gar Haß gegen Deutsche sind in der Sowjetunion von heute praktisch nicht mehr vorhanden.
Hier nun könnte man einen Widerspruch zwischen sowjetischer Einstellung und sowjetischem Verhalten sehen. In der Bundesrepublik ist die Vorstellung weitverbreitet, daß die Agitation der UdSSR zumindest bis vor zwei Jahren permanent in haßerfüllter Weise entstellend und verzerrend über die Bundesrepublik berichtete und sie in aller Welt zu verteufeln versuchte. Die Lösung dieses nur scheinbaren Widerspruches findet sich in der kommunistischen Weltanschauung, die die Welt in Klassen aufgeteilt sieht, deren Interessen prinzipiell unvereinbar sind. Diese dichotome Sicht liefert die Struktur für die Bilder, die sich sowjetische Führer von anderen Staaten machen. Sie ist das Kriterium zur Einteilung der Staatenwelt in verschiedene Objektklassen. Diejenige Gruppe von entwickelten Industrieländern, in denen die Produktionsmittel und der Boden überwiegend privat genutzt werden, werden zur Objektklasse . Kapitalistische Welf oder . Imperialistische Staaten'zusammengefaßt. So ist auch das Bild, das die sowjetische Führung von der Bundesrepublik hat, kein isoliertes Nationen-bild, sondern ein Teil dieser Objektklasse und unterscheidet sich damit grundlegend von der DDR. Die dichotome Sicht der Kommunisten gilt aber auch für jedes einzelne kapitalistische Land. Sie differenziert grundsätzlich zwischen der Bevölkerung und den . herrschenden Kreisen'. So muß auch, was die sowjetischen Aus-sagen über die Bundesrepublik angeht, stets genau unterschieden werden zwischen Aussagen über die Deutschen im allgemeinen und zwischen Aussagen über die Monopole, die Regierung und die Verwaltung. Wenn man das beachtet, so ergibt sich, daß die Agitation der Sowjetunion nahezu ausnahmslos gegen die . herrschenden Kreise'der Bundesrepublik gerichtet war, während über die Bevölkerung meist positiv berichtet wurde.
Diese Erklärung für den oben angeführten Widerspruch ist jedoch nicht hinreichend. Wenn die Bundesrepublik Deutschland nur als Teil einer Objektklasse gesehen wird, wie kommt es dann, daß sich die sowjetische Agitation in weit höherem Maße gegen sie und nicht in gleichem Umfang auch gegen andere kapitalistische Länder richtete? üblicherweise wird diese Frage so beantwortet, daß man auf die politische Funktion kommunistischer Agitation hinweist. All das sei eben , nur Propaganda'mit dem Zweck, die Bundesrepublik in der übrigen Welt zu verteufeln und im Innern allmählich aufzuweichen. Sehr oft wird auch die , Buhmann-Funktion'des westdeutschen Staates für den Zusammenhalt des sozialistischen Lagers und der Sowjetunion selbst betont. Hinter Erklärungen dieser Art steht unausgesprochen die Hypothese, daß es einen Unterschied gebe zwischen dem, was die sowjetische Agitation schreibt, und dem, was die sowjetische Führung tatsächlich denkt. Die Sozialpsychologie kennt den Unterschied von internalen und exiernalen Heterostereotypen. Die Frage, die sich hier aufdrängt, ist: Gibt es einen signifikanten Unterschied zwischen dem internalen und dem externalen BRD-Heterostereotyp der sowjetischen Führung?
Um (neben einigen anderen) diese Frage zu beantworten, wurde eine quantitative Aussagenanalyse zweier sowjetischer Zeitschriften vorgenommen, die für die Fragestellung weitestgehend adäquat erschienen. Es wurden ausgewählt: 1. Die Monatszeitschrift . Mirovaja ekonomika i mezdunarodnye otnosenija'(Weltwirtschaft und internationale Beziehungen), deren Umfang jeweils ca. 150 Seiten beträgt. Sie wird vom Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der ANSSR herausgegeben. Sie hat weder agitatorischen noch propagandistischen Charakter und trägt dazu bei, außenpolitische Entscheidungshilfen vorzubereiten. Sie erscheint nur in russischer Sprache. Diese Zeitschrift (abgekürzt , Memoj schien am ehesten für das internale Heterostereotyp repräsentativ zu sein. 2. Die Wochenzeitschrift . Neue Zeit', deren Umfang jeweils 32 Seiten beträgt. Sie hat propagandistischen, teilweise auch agitatorischen Charakter und erscheint in sieben Sprachen. Diese Zeitschrift (abgekürzt , NZ') konnte am ehesten als repräsentativ für externale Stereotype angesehen werden. Von beiden Zeitschriften wurden alle Ausgaben der Jahrgänge 1965 bis 1968 vollständig ausgewertet, d. h., es wurden nicht wie üblich Stichproben gemacht, sondern Seite für Seite gelesen.
Die Einheit der Zählung war die Beurteilung, d. h. die jeweils zentrale Idee der logischen Kette. Es wurde nur die Häufigkeit des Vorkommens gezählt, die Intensität der Beurteilungen wurde nicht gewertet. Der Primär-inhalt des Textes wurde in 43 Kategorien erschlossen. Für die obige Fragestellung war aber vor allem auch der Sekundärinhalt interessant, d. h.der Beziehungsaspekt der einzelnen Beurteilungen. Es wurde also außerdem gezählt, ob mit der Beurteilung ein positiver oder negativer Wertakzent im Hinblick auf die dichotome Sicht von der Bundesrepublik verbunden war. Das allgemeine Resultat dieser Untersuchung läßt sich wie folgt zusammenfassen: Die Hypothese, es gäbe einen signifikanten Unterschied zwischen internalem und externalem BRD-Bild, war (mit Ausnahme einer Klasse) nicht zu verifizieren. Auch NZ gibt auf die entscheidenden Fragen prinzipiell die gleiche Antwort wie Memo. Nur ist diese Antwort häufig agitatorisch vereinfacht und übersteigert.
Sehr aufschlußreich sind darüber hinaus die Zahlen für den Sekundärinhalt, die in den folgenden Tabellen wiedergegeben sind. Die negativen Zahlen in Klammern bedeuten Zuordnung eines gegenteiligen Wertakzentes. In diesen Tabellen sind keine Wertakzente erfaßt, die sich auf die SPD-Führung bzw. -Mitgliedschaft und die Gewerkschaften beziehen. 1. Positive Wertakzente im Zusammenhang mit Aussagen über die Bevölkerung der Bundesrepublik (im Gegensatz zu den . herrschenden Kreisen') Die Tatsache, daß die Zahl der negativen Erwähnungen der . herrschenden Kreise'stets ein Mehrfaches der Zahl der positiven Erwähnungen der Bevölkerung beträgt, ist wohl dadurch zu erklären, daß sich beide Zeitschriften vornehmlich mit den von den . herrschenden Kreisen'geschaffenen Strukturen und weniger mit der Bevölkerung befassen. Auffällig ist aber das unterschiedliche Verhältnis zwischen negativen und positiven Zuordnungen in den beiden Zeitschriften (im Mittel 6, 7 : 1 bei Memo, aber nur 4, 1 : 1 bei NZ). Das läßt den Schluß zu, daß die sowjetische Agitation nicht bestrebt ist, im Ausland deutschfeindliche Stimmungen zu provozieren. Sie richtet sich im wesentlichen nur gegen die Politik der . herrschenden Kreise'der Bundesrepublik. Dieses unterschiedliche Verhältnis unterstreicht aber noch einmal, daß es keinen nennenswerten Unterschied zwischen internalem und externalem BRD-Bild in der Sowjetunion gibt. Eher könnte man für die Jahre 1965 bis 1968 die Aussage wagen, daß das Bild vom westdeutschen Staat, das sich die sowjetische Führung machte, noch negativer war als das von der sowjetischen Agitation gekennzeichnete.
Damit ist aber nach wie vor die Frage ungeklärt, warum gerade die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zu anderen westlichen Staaten ein solch negatives Image bei der sowjetischen Führungsschicht hat. Alles was bisher über die innenpolitischen Veränderungen in der UdSSR und über die dichotome Weltanschauung des Kommunismus gesagt wurde, ließe eher eine Vermutung in gegenteiliger Hinsicht zu. Die Antwort auf diese Frage hängt denn auch nur sehr bedingt von den genannten beiden Faktoren ab. Sie ist vor allem im Zusammenhang mit den konkreten persönlichen Erfahrungen zu sehen, die fast alle sowjetischen Menschen, die heute in verantwortlicher Position stehen, im Kriege gemacht haben. Der letzte Krieg ist in der Sowjetunion und für die Sowjetunion in weit höherem Maße lebendige Gegenwart als etwa in der Bundesrepublik, wo der Überfall auf die Sowjetunion im Bewußtsein der Menschen weitgehend verdrängt wurde. Für die sowjetischen Völker und die gegenwärtige Führungsschicht war dieser Krieg die bedeutendste Erfahrung ihres Lebens. Er hat ein Element des historischen Deutschenbildes gerade der russischen Sozialisten zerstört: Während die Deutschen früher für zuverlässig und vertrauenswürdig gehalten wurden, wird ihnen heute Mißtrauen entgegengebracht.
Nicht zuletzt dieses Mißtrauen führt wohl auch immer wieder dazu, daß man zwischen deutschen Deklarationen und Handlungen unterscheidet. Auch in weiten Kreisen der sowjetischen Bevölkerung, die nicht zur Führungsschicht gehören, besteht dieses Mißtrauen-, es hat seine Ursache zum großen Teil darin, daß man die Haltung der Westdeutschen und ihre Mentalität nicht begreifen, nicht in die eigene Vorstellungswelt einordnen kann. Unbegreiflich wie der deutsche Angriff 1941 und die deutsche Besatzungspolitik erscheint ihnen auch heute vieles an der Haltung der Westdeutschen. Man hat den Deutschen heute verziehen, was sie im Kriege zerstört haben, und kann deshalb um so weniger verstehen, warum sich gerade die Bundesrepublik immer wieder gegen die Sowjetunion richtet. Man kann nicht verstehen, daß die Deutschen den Russen, deren Land sie aufs schwerste zerstört hatten, immer noch die Vergewaltigungen in der Schlußphase des Krieges vorwerfen, während sie für die Amerikaner Sympathie entwickeln, die doch mit ihren Flächenangriffen auf deutsche Städte dem Volk viel mehr Leid und Schaden zugefügt hatten. Die deutschen Ansprüche erscheinen aus dieser Sicht unlogisch und Ausdruck eines unverhohlenen Revanchismus zu sein.
Das Mißtrauen gegenüber diesem deutschen Staat ist wesentlich dadurch gesteigert worden, daß die Bundeswehr inzwischen die modernste und leistungsfähigste Armee Westeuropas geworden und darüber hinaus mit den USA eng verbündet ist. Die Hauptgefahr wird dabei keineswegs in den Vereinigten Staaten gesehen.
Zwar überschätzt man nicht die Stärke der Bundesrepublik -, wenn man aber trotz der eigenen Überlegenheit diesen Staat für gefährlich hält, so ist das nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß als Folge des Krieges und der Nachkriegsentwicklung die negativen Elemente des historischen Deutschlandbildes in den Vordergrund getreten sind. Dabei sieht man die Deutschen nicht nur als Militaristen, die je nach der Situation brutal oder heuchlerisch vorgehen. Besonders gefährlich erscheinen sie erst durch ihre außergewöhnliche Wirklichkeitsfremdheit, ihre Fehleinschätzung politischer Situationen: „Auf Grund ihrer natürlichen (!) Geneigtheit, das Gewünschte für das Gegebene auszugeben", schreibt Pavel Naumov, seien die westdeutschen Politiker dem Wunschdenken verfallen 75). Und A. Stepanov meint, Bismarck habe die Deutschen zu Recht davor gewarnt, sich von der Wirklichkeit zu entfernen. Die Haltung der westdeutschen politischen Führer in der Mitte der sechziger Jahre sei aber genauso „illusionär" wie die der deutschen Außenpolitik in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Die Lehren der Vergangenheit hätten diese Politiker nicht beherzigt Insbesondere neigten sie auch dazu, ihre eigenen Kräfte und Fähigkeiten zu überschätzen.
Selbstüberschätzung und Überheblichkeit ist wohl das ausgeprägteste und häufigste negative Element sowohl des historischen als auch des gegenwärtigen Deutschlandbildes. So erscheint der westdeutsche Staat als ein Produkt des staatsmonopolistischen Kapitalismus, dessen herrschende Kreise unfähig sind, politische Situationen richtig einzuschätzen, die ihre eigenen Ziele und Wünsche ständig mit der Realität verwechseln und dabei noch die eigenen Kräfte überbewerten. Aus dieser Sicht erscheint die Bundesrepublik und ihr Bündnis mit den USA als bedrohlich und schwer berechenbar. Man ist deshalb in der Sowjetunion allem gegenüber, was in der Bundesrepublik vorgeht, ganz besonders empfindlich und stets auf das Schlimmste gefaßt, denn „es gibt eine objektive Diskrepanz zwischen der wirtschaftlichen Macht Westdeutschlands und seiner politischen Lage. Dieser Widerspruch läßt sich theoretisch auf zwei Wegen lösen: Auf dem kriegerischen — wie es die herrschenden Kreise Deutschlands bisher immer getan haben — und auf dem friedlichen"
X. Schlußbemerkung
In den letzten zweieinhalb Jahren zeichnen sich deutlich Veränderungen in der Art und Weise ab, wie die sowjetische Publizistik die Bundesrepublik darstellt. Diese veränderten Darstellungen reflektieren auch partielle Veränderungen des BRD-Bildes der sowjetischen Führung. Daß eine Regierungsübernahme durch die Sozialdemokraten überhaupt möglich war, hat die sowjetischen Hoffnungen bestärkt, daß der Bonner Staat nicht einfach eine historische Parallele zur Entwicklung der Weimarer Republik ist.
Wenn sich auch prinzipiell die Vorstellungen, die man von den . herrschenden Kreisen'und der westdeutschen Bevölkerung hat, so gut wie nicht geändert haben, so hat sich doch die Vorstellung vom Kräfteverhältnis zwischen ihnen geändert. Ein wachsender Teil der Bevölkerung, so glaubt man, hat die Einsicht gewonnen, daß die frühere Politik nicht den eigenen Interessen diente. Dadurch wurde die Position der . herrschenden Kreise'entschieden geschwächt. Zugleich aber hat sich das sowjetische Bild von der sozialdemokratischen Führung geändert, die man jetzt nicht mehr als wirklichkeitsfremd ansieht, der man realpolitisches Handeln bescheinigt und von der man langfristig positive Veränderungen in der Bundesrepublik erwartet. Das ist ein deutlicher Unterschied zu früher, als die SPD-Führung noch als Hauptstütze der Monopolbourgeoisie in der Arbeiterklasse galt.
So wie man früher schon hier und da einzelne politische Persönlichkeiten oder Gruppen in der Bundesrepublik, die sich in Wort oder Tat mit den deutsch-sowjetischen Beziehungen befaßt hatten, gesehen und eingeschätzt hatte, so scheint man jetzt die sozialdemokratische Führung einzuschätzen: Noch keine prinzipielle Alternative, aber immerhin eine Alternative insoweit, daß ein gemeinsamer modus vivendi gefunden werden kann und daß vorhandene gemeinsame Interessen auch gemeinsam verfolgt werden können. Das Gefühl einer Bedrohung durch eine deutsche Fehleinschätzung der Lage und deutsche Selbstüberschätzung ist nicht mehr akut. Das hat es denn auch mit sich gebracht, daß die Berichte über die Bundesrepublik differenzierter und auch positiver geworden sind. Das Bild der Bundesrepublik Deutschland, das die sowjetische Agitation heute zeichnet, ist jetzt nicht mehr negativer als das anderer kapitalistischer Länder.