Der Artikel versucht die Frage empirisch zu beantworten, inwieweit sich die Vertriebenen in ihren politischen Einstellungen und ihrem politischem Verhalten von den Einheimischen unterscheiden. Der Prozeß der ökonomischen und politischen Integration wird anhand verfügbarer Umfragedaten vom Anfang der fünfziger Jahre bis heute untersucht. Zusätzlich werden neue Ergebnisse einer umfangreichen Erhebung der Verfasser bei jungen Erwachsenen in Hamburg herangezogen, um den Grad der politischen Integration der jungen Vertriebenen aus der Kriegs-und Nachkriegsgeneration für den Zeitraum von 1964 bis heute zu belegen. Es zeigt sich, daß der Unterschied zwischen Vertriebenen und Einheimischen im politischen Bereich bereits in den fünfziger und frühen sechziger Jahren geringer als vermutet war. Dies ist wahrscheinlich eine Auswirkung der erfolgreichen ökonomischen Integration. In der Kindergeneration, Ende der sechziger Jahre, verschwinden die Unterschiede völlig: Unter dem Druck eines Neubeginns in der gesamten Lebenssituation der Herkunftsfamilie waren die Kinder der Vertriebenen insgesamt stärker zu Leistung und Aufstieg motiviert. Die Vertriebenen stellen also keine politisch und sozial isolierte, besonders konservative Gruppe dar, schon gar nicht die Jüngeren. Damit stellt sich die Frage, inwieweit die Vertriebenenverbände, dort wo sie die Besonderheit der Vertriebenen-Interessen betonen, die Meinungen ihrer Mitglieder repräsentieren. Darüber hinaus verweist der Artikel am Beispiel der Vertriebenenverbände auf das Problem, ob nicht die Öffentlichkeit angesichts der steigenden Bedeutung der verschiedensten Interessenverbände einen legitimen Anspruch darauf hat, etwas über den Grad der Übereinstimmung der politischen Ansichten von Verbandsfunktionären und ihren faktischen sowie potentiellen Mitgliedern zu erfahren. Es ist dies ein Problem innerverbandlicher Demokratie mit weitreichenden Konsequenzen für die Dynamik und Stabilität einer Demokratie.
Für die Politik-und Sozialwissenschaft kann gegenwärtig die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Ostpolitik der Bundesregierung und dem inneren Frieden unter den durch die Außenpolitik tangierten politischen Kräften der Bundesrepublik als empirisches Problem ersten Ranges gelten. In diesem Zusammenhang dürften diagnostische und prognostische Aussagen über Situation und Verhalten der Vertriebenen immer noch bedeutsam sein.
Wenn man nun nach dem Gewicht der Vertriebenen, ihren Zielen und der Bewertung dieser Politik fragt, stößt man sehr bald auf einen erstaunlichen Tatbestand: Offenbar hat man sich damit begnügt, die politischen Einstellungen der Vertriebenen an den Äußerungen ihrer Verbandsfunktionäre zu messen; denn es hat bisher keine einzige Primärerhebung zur politischen Lage der Vertriebenen gegeben. Es fehlt auch der Versuch, den Prozeß der Integration der Vertriebenen zumindest sekundär-analytisch (d. h. unter Verwendung vorhandener Meinungsumfragen oder demographischer Statistiken, die man noch einmal, unter neuem Aspekt untersucht) aus der Perspektive der Betroffenen zu analysieren.
Abbildung 4
Tabelle 5: Vertriebene 1969 und Leistungsorientierung (in 0/o)
Tabelle 5: Vertriebene 1969 und Leistungsorientierung (in 0/o)
Wer nun nachträglich das Ausmaß sozialer und politischer Differenzierung zwischen Vertriebenen und Einheimischen in den 50er und 60er Jahren untersuchen will — auch um aus dem Grad der heutigen politischen Integration der Vertriebenen zu gesicherten Aussagen über die Verteilung von Zustimmung, Toleranz oder Ablehnung dieser Gruppe in bezug auf die Ostpolitik der Bundesregierung zu gelangen —, stößt in einen informationsfreien Raum der empirisch orientierten politischen Soziologie Außer den verstreuten und spär-t 61 Erscheint in Kürze auch in: GEGENWARTSKUNDE, H. 2, 1972. liehen Zahlen in den periodischen Veröffentlichungen der kommerziellen Meinungsforschungsinstitute lassen sich keinerlei Daten zur zuverlässigen Beantwortung etwa der folgenden Fragen finden:
Abbildung 5
Tabelle 4: Vertriebene und soziale Selbsteinschätzung (in °/o)
Tabelle 4: Vertriebene und soziale Selbsteinschätzung (in °/o)
Kann die politische Integration der Vertriebenen als abgeschlossen gelten?
Abbildung 6
Tabelle 8: Vertriebene 1969 und Rigidität Rigidität gegenüber der APO
Tabelle 8: Vertriebene 1969 und Rigidität Rigidität gegenüber der APO
Stellt die Gruppe ein rechtsradikales oder restauratives Potential dar, und wenn ja, welchen Umfang hatte dieses früher im Vergleich zu heute?
Abbildung 7
Tabelle 6: Vertriebene 1969 und Politische
Tabelle 6: Vertriebene 1969 und Politische
Welche emprirische Legitimationsbasis hat der seitens der Regierung öffentlich nie angezweifelte Anspruch der Funktionäre von Landsmannschaften und Vertriebenenverbänden, die gesamte Gruppe der Vertriebenen, im Jahre 1961 ca. 20 °/o der Bevölkerung der Bundesrepublik, zu repräsentieren?
Abbildung 8
Tabelle 9: Vertriebene (in Hamburg) 1969 und Gewählte Parteien V 28j 69 E V 23j 69 E
Tabelle 9: Vertriebene (in Hamburg) 1969 und Gewählte Parteien V 28j 69 E V 23j 69 E
Bevor anhand der spärlichen, öffentlich zugänglichen Informationen dennoch ein Versuch, diese Fragen wenigstens teilweise zu beantworten, gemacht werden soll, muß zunächst eine übergeordnete Frage diskutiert werden: Wessen Interessen oder welchen Umständen ist diese Informationslücke zuzuschreiben? Falls die zuständigen Ministerien und/oder Parteien und/oder Verbände nicht doch entsprechende Untersuchungen für den ausschließlich internen Gebrauch in Auftrag gegeben haben, lassen sich Bedingungen denken, unter denen jede dieser Instanzen an einer öffentlichen Diskussion der Vertriebenenfrage gleichermaßen, wenn auch aus verschiedenen Gründen, nicht interessiert war: 1. Verbände, die ihrem selbstgewählten und öffentlich stillschweigend legitimierten Anspruch nach nicht nur die Interessen und Ziele ihrer faktischen, sondern auch aller ihrer potentiellen Mitglieder repräsentieren, können kein Interesse daran haben, daß das Problem der Distanz zur Basis öffentlich diskutiert, ge-i schweige denn empirisch untersucht wird.
Abbildung 9
Tabelle 7: Vertriebene 1969 und Einstellung zur Diktatur (in al«)
Tabelle 7: Vertriebene 1969 und Einstellung zur Diktatur (in al«)
Zwar muß den Parteien der Bundesrepublik daran gelegen haben, zu untersuchen, inwieweit die Äußerungen der Vertriebenenfunktionäre mit den Ansichten ihrer Mitglieder, die sie doch repräsentieren sollen, übereinstimmen, doch konnten sie andererseits es sich für lange Zeit kaum leisten, mögliche Ergebnisse einer derartigen Untersuchung öffentlich zu diskutieren, wenn die Untersuchung eine Entfremdung der Spitze von denen, die sie dem Anspruch nach repräsentieren, zum Ergebnis gehabt hätte. In diesem Falle hätte die Publikation der Ergebnisse sich zweifellos als eine „self-destroying prophecy" erwiesen: Daraufhin wären zahlreiche Mitglieder der Vertriebenenverbände zur Unterstützung ihrer Funktionäre angetreten und hätten sich zumindest kurzfristig hinter deren Ansichten gestellt.
Schließlich steht zu befürchten, daß die einmal und konsequent eingeschlagene Strategie der Regierung Adenauer, vorrangig eine Integration der Bundesrepublik in das westliche Bündnissystem anzustreben, sich nur allzu gut im Zuge antikommunistischer Doktrinbildung u. a. mit den Stimmen der Vertriebenenfunk-
tionäre legitimieren ließ. Man kann dieses zumindest für die ersten vier Legislaturperioden der BRD annehmen.
4. Wenn man die Zurückhaltung der politisch aktiven Instanzen noch angesichts ihrer legitimen Interessenlagen nachvollziehen kann, so ist freilich nach dem empirischen Beitrag derjenigen, das kritische Potential in Gesellschaft und Politik fördernden Institutionen zu fragen, die ihrem eigenen Auftrag nach die Transparenz komplexer politischer Zusammenhänge erhöhen sollten: der politischen Wissenschaft bzw.der politischen Soziologie. Daß auch sie sich das Thema der politischen Integration von zwölf Millionen Vertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft jenseits der institutionellen Analyse entgehen ließen, hat, für sich genommen, vielfältige Gründe: In erster Linie dürfte die innerhalb der Profession bis in die sechziger Jahre dominierende Fraktion ideengeschichtlich oder institutionstheoretisch orientierter Politikwissenschaftler mit ihrer abwehrenden Kritik gegenüber empirischer Sozialwissenschaft dafür verantwortlich sein.
Es wurde in der BRD mit der empirischen Analyse politischen Verhaltens erst sehr spät begonnen.
Die Vertriebenenverbände sind daher nur ein Fall unter vielen in der unzureichenden empirischen Untersuchung der Frage nach dem Verhältnis zwischen den Repräsentanten der Verbände und ihren tatsächlichen oder potentiellen Mitgliedern.
Zur ökonomischen und politischen Integration der Vertriebenen
Abbildung 1
Tab. 1: Parteipräferenz von Einheimischen und Vertriebenen nach Umfragejahr (in Prozent)
Quellen: Daten 1953: DIVO-Umfrage, zit. nach: W. Hirsch-Weber u. U. K. Schütz, Wähler und Gewählte.serlin-Frankfurt 1957, s, 288 Daten 1956: E. Noelle u. E. P. Neumann (Hrsq.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1957. Allensbach-
Tab. 1: Parteipräferenz von Einheimischen und Vertriebenen nach Umfragejahr (in Prozent)
Quellen: Daten 1953: DIVO-Umfrage, zit. nach: W. Hirsch-Weber u. U. K. Schütz, Wähler und Gewählte.serlin-Frankfurt 1957, s, 288 Daten 1956: E. Noelle u. E. P. Neumann (Hrsq.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1957. Allensbach-
Bei der Prüfung des empirischen Materials zu Ben politischen Einstellungen der Vertriebenen kann man von folgenden Hypothesen aus-Sehen:
h Wenn eine Bevölkerungsgruppe ökonomisch in eine Gesellschaft integriert wird, dann folgt der ökonomischen eine politische Integration.
’ Die politische Integration geschieht mit siner zeitlichen Verspätung gegenüber der ökonomischen. n der Literatur zum Problem der Vertriebenen esteht nun so gut wie kein Zweifel darüber, 4 die Vertriebenen ökonomisch integriert S 1nd. Da es sich um einen Prozeß handelt, ist a ein der Zeitpunkt strittig. Am ehesten kann man ihn mit der Phase 1950— 1960 festlegen; z. B. waren im Jahre 1960 die Vertriebenen etwa gleich gut mit Wohnraum versorgt wie die Einheimischen (69% gegenüber 79%) 2), ihr Anteil an den Arbeitslosen war im Bundesdurchschnitt wie in den einzelnen Ländern nicht mehr höher als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung (17, 5 % der Arbeitslosen bei 18, 4 % Anteil an der Gesamtbevölkerung) 3).
Während sich die ökonomische und soziale Integration durch relativ umfangreiche Literatur belegen läßt, sind die Daten zur politischen Integration rar, sehr verstreut und nach wissenschaftlichen Maßstäben unzureichend. Wir können daher nur an wenigen Beispielen un-sere Hypothesen untersuchen. In Ermangelung anderen Materials ziehen wir die wenigen Ergebnisse von repräsentativen Meinungsumfragen heran, in denen die Antworten nach dem Merkmal „einheimisch—vertrieben" aufgegliedert worden sind. Unter „politischer Integration" soll verstanden werden, daß eine Bevölkerungsgruppe — hier die Vertriebenen —-in ihren politischen Ansichten nicht signifikant von den politischen Ansichten der Restbevölkerung abweicht, sondern sich die Ansichten dieser Gruppe ähnlich über das Spektrum möglicher Ansichten verteilen wie die der restlichen Bevölkerung.
1. Auf die Frage, ob in Westdeutschland eine Armee aufgestellt werden soll, antworteten 1955 mit „Ja" 45 % der Vertriebenen und 39 °/o der Einheimischen
2. Für eine allgemeine Wehrpflicht sind im Jahre 1956: 57 % der Vertriebenen und 49 % der Einheimischen
3. Bei einer Umfrage im Dezember 1956 sind der Ansicht, daß es besser gewesen wäre, „wenn die Ungarn den Aufstand nicht gemacht hätten": 55#/o der Vertriebenen und 59 0/0 der Einheimischen
4. Die Wiedervereinigung haben sich in den Grenzen von 1937 vorgestellt (Umfrage 1965): 41 0/0 der Vertriebenen gegenüber 32 0/0 der Einheimischen
5. Bei einer Umfrage im Jahre 1965 zur Denkschrift der EKD wurde u. a. gefragt, ob auch die Polen, die in den ehemals deutschen Ostgebieten wohnen und geboren sind, auf diese Gebiete einen Anspruch haben. Dies verneinten 44 °/o der Vertriebenen und 32 °/o der Einheimischen Auf die Frage, wie man sich eine Lösung des Problems vorstelle, ergaben sich praktisch keine Unterschiede in den Antworten der Vertriebenen und der Einheimischen 6. In der Bevölkerung wird die Gruppe derer, die sich mit der jetzigen deutsch-polnischen Grenze nicht abfinden kann, immer kleiner.
Waren es 1951 noch 80 °/o, so sank die Zahl auf 67 0/0 im Jahre 1959, auf 59 % (1964) bis auf 54% im Jahre 1966 und schließlich auf 29% im Jahre 1970 Selbst unter den Vertriebenen sinkt der Anteil jener, die eine Anerkennung der Oder-Neiße-Linie ablehnen: im Oktober 1969 waren es 57 %, im Dezember 1970 hingegen nur noch 34 %
7. In der Frage, ob der Bundestag nach der Auszeichnung Brandts mit dem Friedensnobelpreis den Ostverträgen zustimmen sollte oder nicht, liegt der Anteil der Zustimmenden bei den Vertriebenen mit 39 % zwischen den Anhängern der CDU (17%) und der SPD (74 %)
Diese Daten ermöglichen sicherlich keine hinreichende Prüfung der Hypothesen. Sie lassen aber erkennen, daß die Vertriebenen keineswegs in dem Maße von den politischen Einstellungen der übrigen Bevölkerung abweichen, wie man es ihnen unterstellt und wie es die Äußerungen ihrer Funktionäre vermuten lassen. Was sich vielmehr abzeichnet, ist eine relativ frühzeitige politische Integration: Vermutlich war die Mehrzahl der Vertriebenen nicht konservativer als die jeweilige Politik und die anderen Einwohner der BRD. Hinzu kommt, daß die zentralen ökonomischen Interessen der Vertriebenen mit dein Inkrafttreten des Lastenausgleichsgesetzes 1952 mehr oder minder juristisch gesichert waren. Ihre politischen Interessen sollten in dem 1950 gegründeten BHE organisiert und artikuliert werden. Mit dieser Parteigründung trat eine Politisierung von Vertriebenengruppen ein, die schon bald erheblich restaurative Züge tragen mußte, sollte noch eine Existenzberechtigung für diese Partei gegenüber anderen optisch plausibel sein. Dies zeigen U. a. die nut kurzen Erfolge der Partei. Zum anderen hat die Analyse von Neumann sehr deutlich gezeigt, in welchem Maße sich bereits von An-fang an von einem „Oligopol der BHE-Führer der , ersten Stunde'" sprechen läßt. Neumann weist auch nach, daß der BHE zwischen 1950 und 1960 kaum nach unten hin offen war und daß die Interessen der Mitglieder an der Partei, nach mehreren Kriterien beurteilt, gering waren Auch die unterschiedlichen Programmatiken der Landsmannschaften und seit 1958 des BdV lassen die Zielprobleme erkennen: Nachdem zuerst die „gesamtdeutsche Verantwortung" thematisiert wurde, in der Folge dann der Europa-Gedanke, bleibt schließlich nur ein restau-ratives Syndrom von „Heimat", „Volk", „Dienst an der Menschheit", Elitismus und Antikommunismus als politisches Programm
Die Sorge um den Mitgliederbestand führte bereits 1954 bei der Landsmannschaft Ostpreußen zu einer Ergänzung der Satzung, die später andere Landsmannschaften übernahmen: „Als Ostpreußen gelten auch die außerhalb von Ostpreußen geborenen Nachkommen, auch wenn ein Elternteil nicht Ostpreuße ist.. Die Landsmannschaften und der BdV verstehen sich in der Folgezeit zunehmend als eine Institution, die kulturelle Inhalte des Ostens bewahren und tradieren soll. Entsprechend kümmert man sich stärker um die Jugend. Die Vertriehenenverbände konzentrieren sich auf so-zio-kulturelle Funktionen, die Heimattreffen bilden das zentrale Ritual.
Der BHE war noch gegründet worden, um die Interessenlosigkeit der anderen Parteien an dem Vertriebenenproblem zu durchbrechen. Diese Begründung aber ließ sich nicht mehr bis in die Mitte der fünfziger Jahre aufrechterhalten. Längst nämlich waren, wie " Wambach nachweist, in allen Parteien Abgeordnete, die aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten stammten. Sie konnten (und sollten) nicht als eigene Partei, sondern in den großen Parteien CDU, SPD und FDP die Interessen der Vertriebenen vertreten. Aus der Sicht der Parteien waren sie ein Aushängeschild für den Willen der Partei, diese Interessen zu berücksichtigen.
Wie erfolgreich diese Strategie (wohl für beide Seiten) war, zeigt sich daran, daß sich die Parteipräferenzen von Vertriebenen und Einheimischen in etwa seit 1953, spätestens aber seit 1956, nicht mehr wesentlich unterscheiden (vgl. Tab. 1). Mit dieser andersartigen Repräsentation ihrer Interessen wurden wahrscheinlich die politischen Funktionen von BHE und Vertriebenenverbänden nicht ergänzt, sondern geschwächt. Ein weiteres Beispiel für die politische Integration ist die Tatsache, daß neuere Wahlanalysen nach Gemeinden bei den Vertriebenen kein einheitliches Stimmabgabemuster für eine bestimmte Partei mehr erkennen lassen
Sicherlich ließen sich nicht alle Gruppen der Vertriebenen gleich gut integrieren; für bestimmte war (und ist es) unmöglich, eine ihrer ursprünglichen Position (z. B. als Selbständige, Landwirte) gleichwertige Stellung zu fin-den. Auch dürfte die Diskrepanz von Anspruchsniveau aufgrund des ehemaligen sozialen Status und tatsächlicher heutiger Stellung die Betroffenen eher für rechtsradikale Parteien oder politische Apathie anfällig machen. Wir wissen nur nichts über das Ausmaß derartiger Prozesse, schon gar nichts über ihre Zusammenhänge mit Merkmalen wie z. B. Landsmannschaften und Alter
Die bislang vorgelegten Daten führen zu dem Schluß, daß in den Vertriebenenverbänden zunehmend Aussagen der Funktionäre und politische Einstellungen der Vertriebenen bzw.der Mitglieder des BdV auseinandertraten. Offenbar bestand hier ein soziales Tauschverhältnis: Die Funktionäre stellten auf Heimattreffen politische Forderungen im Namen der Mitglieder, die die Mitglieder in der großen Mehrzahl nicht teilten (zumindest nicht außerhalb des sozialen Zusammenhanges einer derartigen Veranstaltung), aber duldeten, um weiterhin Aufmerksamkeit und Subventionen für ihre symbolischen (Trachten, Sitten, Sprache) und sozialen (Kommunikation) Bedürfnisse zu erhalten. Funktionäre und Vertriebene hatten ein gemeinsames Interesse an der Aufrechterhaltung ihrer Treffen — aber aufgrund recht heterogener Ziele.
Die politische Zielsetzung, soweit sie programmatisch in Reden, Satzungen und Aufsätzen zum Ausdruck kommt, gerät zunehmend in eine Isolation gegenüber den Mitgliedern, die zugleich Ausdruck der Oligarchisierung der Verbände ist. Dieser Sachverhalt ist wohl allen Gruppen, Mitgliedern, Funktionären und Politikern der Parteien bekannt.
Diese Feststellungen führen zu der heutigen Kernfrage des „Vertriebenenproblems": wie
stark eigentlich noch das politische Potential an der Basis ist, das die oiiizielien Sprecher der Vertriebenen legitimerweise repräsentieren,
Abbildung 2
Tab. 2: Vertriebene und Bildungsqualiiikation (in •/o) Volksschule Mittlere Reife Abitur
Tab. 2: Vertriebene und Bildungsqualiiikation (in •/o) Volksschule Mittlere Reife Abitur
und wie lange ein spezifisches „politi-
sches Mandat" der Vertriebenen überhaupt noch besteht. Wir möchten hier der Frage nach dem „politischen Erbe" der Elterngeneration an die Kindergeneration der Vertriebenen nachgehen — konkret: der Frage nach Unterschieden der sozialen Situation und des politischen Verhaltens von „Vertriebenen" (einschl. DDR-Flüchtlingen) und anderen Personen jüngerer Erwachsenenjahrgänge. Wir ziehen zu diesem Zweck, soweit verfügbar, relevante Daten aus einer soeben beendeten Untersuchung heran.
Es handelt sich um eine Generationenuntersuchung in Hamburg, der drei repräsentative Stichproben von jeweils 800 Befragten des Jahrgangs 1941 im Jahre 1964 (als 23jährige) und 1969 (als 28jährige) und des Jahrgangs 1946 im Jahre 1969 (als 23jährige) zugrunde liegen. Untersucht wurde u. a.der Einfluß von Generationszugehörigkeit, Altersentwicklung und der sozialen Veränderungen in der BRD auf politische Einstellungen und politisches Verhalten der Befragten
Wir gehen dabei von folgenden Annahmen aus:
1. Unter dem Drude der Notwendigkeit eines Neubeginns in der gesamten Lebenssituation der Herkunftsfamilie und aufgrund besonderer staatlicher Förderungen in der Ausbildung waren die Kinder der Vertriebenen insgesamt stärker zu Leistung und Aufstieg motiviert als die Kinder der Nichtvertriebenen, was zu relativ größerem sozio-ökonomischen Erfolg und Anpassung der ersteren führte. Es wird also behauptet, daß erzwungene räumliche Mobilität unter materiellen und symbolischen Verlusten und ihre staatliche Kompensation besonders starke „Motoren" des sozio-ökono-mischen Aufstiegs in der zweiten Generation gewesen sind.
2. Dies trifft für den älteren Jahrgang 1941 stärker zu als für den jüngeren Jahrgang 1946, für deren Mitglieder die Nachkriegsprosperität bereits zu einer weitaus selbstverständlicheren Erfahrung in der Kindheit gehörte, hier also vermutlich eher eine Nivellierung der sozio-ökonomischen Antriebsfaktoren zwischen Vertriebenen und Nichtvertriebenen stattgefunden hat. 3. Hinsichtlich des politischen Verhaltens weichen die Vertriebenen der zweiten Generation von ihren einheimischen Altersgenossen nicht mehr ab. Jüngere Bevölkerungsgruppen mit hohen sozio-ökonomischen Anpassungsleistungen und fehlenden traditionellen Bindungen an ihr heutiges Wohngebiet haben am wenigsten Anlaß, konservative oder restaurative politische Ideologien im Sozialisationsprozeß zu verinnerlichen, was hingegen bei alteingesessenen Bevölkerungsgruppen bei sich wandelnder äußerer Situation (z. B. Bauern, deren ökonomische Existenz vom technisch-wirtschaftlichen Wandel gefährdet ist) viel wahrscheinlicher ist.
4 Diese Angleichung des politischen Verhaltens ist beim jüngeren Jahrgang (1946) stär-
er ausgeprägt als beim älteren (1941), ver-mutlich weil hier die traditionellen Bindungen noch schwächer sind.
Das Material unserer Untersuchung erlaubt eine teilweise Überprüfung dieser Hypothesen. Wir stellen im folgenden die Ergebnisse dieser Überprüfung dar. 1. Die Bildungsqualifikation der Vertriebenen (einschl. DDR-Flüchtlinge) ist beim Jahrgang 1941 signifikant höher (doppelt so hoher Anteil der Personen mit Abitur). Diese Differenz ist beim Jahrgang 1946 (23j 69) nicht mehr statistisch gesichert (Tab. 2)
Der sozio-ökonomische Status der Vertriebenen ist ebenfalls beim Jahrgang 1941 durchschnittlich höher, statistisch signifikant jedoch erst bei den 28jährigen im Jahre 1969, in einem Alter also, in dem der Statuserwerb weitgehend abgeschlossen ist. Dieser Unterschied ist bei den 23jährigen im Jahre 1969 nicht mehr gegeben; die fast völlig gleiche Verteilung des Status von Vertriebenen und übrigen Befragten läßt mit Sicherheit annehmen, daß sich signifikante Statusunterschiede zwischen beiden Gruppen auch in späteren Jahren nicht mehr herausbilden werden. 3. Die 28jährigen Vertriebenen des Jahrgangs 1941 schätzten sich auch subjektiv im Durchschnitt sozial etwas — aber signifikant — höher ein als ihre übrigen Altersgenossen — ein Indiz für die Verankerung der oben aufgezeigten Unterschiede im Bewußtsein der Betroffenen. 4. Daß der gesicherte Befund höherer sozioökonomischer Aufstiegs-und Anpassungsleistungen des älteren („Kriegs") -Jahrgangs der Kindergeneration der Vertriebenen im Vergleich mit den übrigen Altersgenossen nicht nur auf institutioneile Begünstigungen des Statuserwerbs, sondern auch auf erlernte Motive und Verhaltensdispositionen zurückzuführen ist (die der entsprechende Index überwiegend mißt), zeigt Tab. 5: Die Vertriebenen beider Altersgruppen des Jahrgangs 1941 wiesen eine signafikant höhere Lei stungsorientierung auf.
Diese Einzelergebnisse unserer Untersuchung bestätigen die oben formulierten Annahmen 1. und 2. Sie belegen eindeutig am Beispiel von zwei Jahrgängen, daß die Vertriebenen der zweiten Generation in einer Großstadt nicht nur keine Einschränkungen beim Aufbau ihres sozio-ökonomischen Status mehr in Kauf nehmen mußten, sondern daß im Gegenteil sogar die älteren unter ihnen in dieser Hinsicht erfolgreicher waren, was sowohl auf institutioneile wie auf motivationale Begünstigungen der Vertriebenenkinder zurückgeführt werden muß.
Geht man nun davon aus, daß sich bestimmte Abweichungen des politischen Verhaltens etwa in der Form eines stärkeren Rechtsradikalismus bei einer Gruppe insbesondere dann ergeben, wenn diese im Verhältnis zur Vergleichsgruppe in sozio-ökonomischer Hinsicht diskriminiert oder behindert ist, so lassen die Befunde keine spezifischen Abweichungen der zweiten Vertriebenengeneration in ihrem politischen Verhalten nach irgendeiner extremen Richtung erwarten. Dies wird in der Tat auch durch folgende Ergebnisse bestätigt: 5. In bezug auf einen Index der politischen Einstellung, mit dem versucht wurde, die komplexe Einstellungsdimension „Progressivi-tät/Liberalität" versus „Konservatismus“ zu messen weisen beide Jahrgänge keine signifikanten Differenzen zwischen Vertriebenen und Nichtvertriebenen auf (Tab. 6). Die Jüngeren beider Kategorien äußerten sich dagegen jeweils etwas „progressiver": ein deutliches Anzeichen dafür, daß Unterschiede zwischen Geburtszeitpunkt und Alter (Sozialisation) für die Differenzierung politischer Einstellungen bei diesen Jahrgängen bedeutsamer sind als der Unterschied vertrieben/nichtver-trieben. 6. Dieses Ergebnis kann anhand der für das innenpolitische und demokratische Klima in der BRD so wichtigen Fragen nach der Einstellung zur Diktatur (Tab. 7) sowie nach der Rigidität der Einstellung gegenüber der APO spezifiziert werden: auch hierbei waren keine Unterschiede der beschriebenen Ait festzustellen (Tab. 8). 7. Schließlich weichen auch die Muster der Parteipräferenzen in den letzten Bundestagswahlen bei den Vertriebenen bzw. Nichtvertriebenen der Jahrgänge nicht signifikant voneinander ab (Tab. 9). Dabei zeigt sich sogar ein Übergewicht der SPD-Wähler bei den 28jährigen Vertriebenen bzw.der FDP-Wähler bei den 28jährigen Nichtvertriebenen.
Diese weiteren Befunde stimmen weitgehend mit unserer Hypothese 3 überein, während sich für Annahme 4 keinerlei Belege ergaben.
E c ::" . Vt 1 Zusammenfassend läßt sich — als plausible Hypothese anhand der Daten aus Meinungsumfragen und gesichert durch unsere Daten aus der Generationen-Untersuchung — sagen: die jungen Vertriebenen sind in ihrer überwiegenden Mehrzahl ökonomisch und politisch integriert. Bei ihnen kann auch von besonderem restaurativen Tendenzen nicht die Rede sein.
Der Abschied vom politischen Erbe der Väter vollzieht sich seit längerem: Spezifische politische Haltungen und wahrscheinlich auch Aktivitäten der Vertriebenen verschwinden endgültig in der Kindergeneration. Die Vertriebenenverbände und ihre Funktionäre repräsentieren daher überall dort, wo sie Vertriebenenpolitik propagieren, höchstens noch Teile der auf natürliche Weise schrumpfenden Elterngeneration der Vertriebenen, ohne daß ihnen „politischer Nachwuchs" zuwächst. Eine solche Politik, geht sie über die anfangs genannten traditionalistisch-symbolischen Funktionen der Repräsentation hinaus, verliert zunehmend an politischer Legitimation.
Darüber hinaus können die Vertriebenen als Beispiel für Struktur und Funktion eines In teressenverbandes dazu dienen, das Problem zu diskutieren, ob nicht die Öffentlichkeit angesichts der steigenden Bedeutung (und Zahi) solcher Verbände Anspruch darauf haben könnte, unverzerrte Informationen über den Grad der Übereinstimmung von Äußerungen der Repräsentanten und Funktionäre mit den Ansichten der Verhaltensweisen der Mitglieder, die sie repräsentieren, zu erfahren — ein Problem innerverbandlicher Demokratie mit umfassenden strukturellen Konsequenzen für die Dynamik und Stabilität einer Demokratie.
Bernd Buchhofer, cand. phil., Jahrgang 1940, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle der Hochschule für Wirtschaft und Politik, Hamburg; Studium der Soziologie, Psychologie und Sozialanthropologie in Köln und Hamburg. Veröffentlichungen: Verschiedene sozialwissenschaftliche Aufsätze mit J. Friedrichs und H. Lüdtke, u. a.: Alter, Generationsdynamik und soziale Differenzierung, in: Kölner Zeitschrift f. Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 22, 1970.
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