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Durch Kriegsverhütung zum Krieg? | APuZ 15/1972 | bpb.de

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APuZ 15/1972 Durch Kriegsverhütung zum Krieg? Junge Vertriebene: Abschied vom politischen Erbe

Durch Kriegsverhütung zum Krieg?

Carl Friedrich von Weizsäcker

/ 70 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In diesem Beitrag wird unter den folgenden Thesen die Fragwürdigkeit des Abschrekkungssystems — für die Bundesrepublik wie für die Supermächte — diskutiert und begründet: Die Bundesrepublik ist mit konventionellen Waffen nicht zu verteidigen. Der Einsatz nuklearer Waffen in der Absicht der Verteidigung der Bundesrepublik würde zur nuklearen Selbstvernichtung führen. Für die Bundesrepublik gibt es nur eine in sich widerspruchsvolle Abschreckung (Abschreckung durch für beide Seiten unkalkulierbares Risiko). Zwischen den Supermächten gibt es heute zwar eine in ihrer militärischen Logik widerspruchsfreie Abschreckungsstrategie; die Abschreckung zwischen den Supermächten führt aber zum Wettrüsten. Das Wettrüsten führt zur Erhöhung des Kriegsrisikos. Der Versuch, durch Rüsten das Abschreckungsgleichgewicht zu erhalten, lähmt die Supermächte politisch und militärisch. Aus diesen Thesen ergeben sich Konsequenzen: Gerade die Fragwürdigkeit des Abschreckungssystems eröffnet der Bundesrepublik einen Spielraum, rüstungspolitische Entscheidungen als Mittel der Außenpolitik einzusetzen. Bei der Beurteilung jeder Politik hat heute der Beitrag zur Schaffung eines politisch gesicherten Weltfriedens die erste Priorität. Mit den gegenwärtig verfügbaren Mitteln der Politik kann nur das bescheidene Ziel eines Zeitgewinns erreicht werden. Zeitgewinn wäre aber letzten Endes vergeblich, wenn die gewonnene Zeit nicht genutzt wird, um die in der heutigen Weltlage noch schlechthin utopische große Strukturänderung vorzubereiten: einen Weltfrieden, der durch eine föderative Weltregierung mit einem Kernwaffenmonopol garantiert würde, oder einen Weltzustand, in dem das Prinzip des zur Kriegführung berechtigten souveränen Staates überwunden ist.

1. THESE: Die Bundesrepublik ist mit konventionellen Waffen nicht zu verteidigen

Verteidigung ist die Anwendung militärischer Mittel, um einen Gegner daran zu hindern, uns seinen Willen mit militärischen Mitteln aufzuzwingen. Abschreckung dagegen ist die Verhinderung der Anwendung militärischer Mittel durch das Androhen eines empfindlichen Übels für den Fall des Einsatzes Beide Instrumente ergänzen einander. Das klassische Konzept der Verteidigungsbereitschaft sucht den Gegner dadurch vom Angriff abzuschrek-ken, daß es androht, den Angriff mit militärischen Mitteln abzuschlagen. Dort aber, wo die Fähigkeit zur erfolgreichen Verteidigung fehlt, setzt die Abschreckung im engeren Sinne ein. Man droht dem Gegner mit einem Übel, etwa mit sehr großen Verlusten beim Angriff, mit einem atomaren Gegenschlag oder einem anderen Schaden, der den Vorteil übersteigt, den er sich selbst von einem erfolgreichen Angriff verspricht.

u i Das Verhältnis von Verteidigung zur Abschreckung hat sich nun durch die Waffenentwicklung verschoben: Früher waren die militärischen Mittel selbst beschränkt. Die von Clausewitz betonte natürliche Überlegenheit, welche bei gleichen beiderseitigen Kräften die Verteidigung gegenüber dem Angriff hatte, ließ ein militärisches und damit auch politisches Gleichgewicht mehrerer verteidigungsbereiter Mächte als natürlichen Zustand erscheinen. Die Steigerung der Angriffswaffen in den beiden Weltkriegen, die Entwicklung der Wasserstoffbombe und der weitreichenden Raketen, hat zwar einerseits im Weltbewußtsein zur moralischen Verdammung des Angriffs, zur moralischen Betonung der Verteidigung geführt. Sie hat aber die Verteidigung gegen den vollen Einsatz der verfügbaren Waffen technisch mehr und mehr illusorisch gemacht. Die Wahrung des Gleichgewichts hängt damit Mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser erlages in München wird aus dem in Kürze erscheinenden Buch „Durch Kriegsverhütung zum Krieg?" von H. Afheldt, Ch. Potyka, U. -P. Reich, «• Sonntag, C. F. v. Weizsäcker dieser Beitrag als Vorabdruck veröffentlicht. nicht mehr an der Verteidigung, sondern an der Abschreckung. Verteidigung ist allenfalls noch gegen absichtlich begrenzt gehaltene Angriffe möglich, und die Garantie der Begrenztheit fällt der Abschreckung zu.

In dieser Situation befindet sich die Bundesrepublik. Wer eine Verteidigung für die Bundesrepublik aufbaut, muß sich deshalb fragen, welche Begrenzungen der Gegner seinem Angriff möglicherweise aufzuerlegen bereit sein Buchhofer/Friedrichs/Lüdtke:

Junge Vertriebene. Abschied vom politischen Erbe ................................... S. 30 wird, falls er überhaupt einen militärischen Angriff führen will. Das hängt einerseits davon ab, welche begrenzten Ziele der Gegner sich stecken mag, andererseits davon, welche Begrenzung der Mittel ihm das Abschreckungssystem aufnötigt.

Die sichtbarste Beschränkung der tatsächlich eingesetzten militärischen Mittel im letzten Vierteljahrhundert war der Verzicht auf den Gebrauch von Atomwaffen. Die Atombombe von Nagasaki im August 1945 war bis heute die letzte Atomwaffe, die im Krieg tatsächlich benutzt worden ist. Es ist deshalb eine sinnvolle Frage, ob die Bundesrepublik in einem Krieg verteidigt werden könnte, der beiderseits ausschließlich mit konventionellen Mitteln geführt würde. Die Antwort unserer ersten These ist, daß sie in einem solchen Krieg nicht verteidigt werden kann. Auch diese Antwort ist aber aufzugliedern je nach der möglichen weitergehenden Beschränkung der gegnerischen Ziele. Der klassische Angriffsfall wäre der mit der Absicht der Eroberung vorgetragene Angriff. Ob diese Absicht bei unseren östlichen Nachbarn eines Tages bestehen wird, wissen wir nicht. Ein solcher Entschluß ist sicherlich auch von der Politik der Bundesrepublik abhängig. Der klassische Begriff der Verteidigungsbereitschaft bedeutet jedenfalls, daß wir imstande sein müßten, einen Angriff abzuwehren, falls er geführt würde. Zu den materiellen Mitteln, die für einen derartigen Krieg heute zur Verfügung stehen, sagt das „Weißbuch 1970" der Bundesregierung folgendes: „In den der Bundesrepublik Deutschland vorgelagerten Staaten DDR, Polen und Tschechoslowakei stehen 28 sowjetische und 29 einheimische Divisionen mit insgesamt 855 000 Mann und 13 650 Kampfpanzern bereit; innerhalb kurzer Fristen können sie um 29 Divisionen mit weiteren 6500 Panzern aus dem westlichen Teil der Sowjetunion verstärkt werden. Diesen Kräften liegen im entsprechenden NATO-Bereich (AFCENT, Allied Forces Central Europe, zuzüglich Schleswig-Holstein und Dänemark) insgesamt 26 Divisionen, darunter fünf amerikanische und zwei französische, mit 703 000 Mann und nur 6600 Panzern gegenüber. Zu ihrer Verstärkung im Verteidigungsfall würde die NATO, die neue Einheiten zum großen Teil über den Atlantik heranführen müßte, mehr Zeit benötigen als der geographisch begünstigte Warschauer Pakt. . . Die NATO verfügt ... (in Europa) ... über 2800, der Warschauer Pakt über 4480 taktische Flugzeuge (beide einschließlich Marineflugzeuge). Für die Luftverteidigung hält außerdem die NATO 510, der Warschauer Pakt dagegen 3400 Jagdflugzeuge bereit ... In Mitteleuropa unterhält der Warschauer Pakt wesentlich stärkere konventionelle Streitkräfte als die NATO. Sie sind weit stärker, als dies für die Abwehr eines Angriffs aus dem Westen nötig oder für die Aufrechterhaltung der sowjetischen Vorherrschaft erforderlich wäre. Die Existenz solch riesiger Streitkräfte darf nicht als Bluff behandelt oder betrachtet werden. Zudem erhöhen die Sowjetunion und ihre Verbündeten — anders als der Westen — ihre Verteidigungsanstrengungen von Jahr zu Jahr weiter. Es gibt kein konventionelles Gleichgewicht in Zenttaleuropa. .. . Eine großangelegte Aggression gegen Westeuropa, die auf Vernichtung oder Annexion der Bundesrepublik und ihrer Nachbarländer abzieit, liegt zwar nicht außerhalb der militärischen Möglichkeiten des Warschauer Pakts. Sie würde jedoch die vorbedachte Eskalation der NATO auslösen und, wenn der Gegner sein Vorhaben fortsetzte, leicht in den nuklearen Weltkrieg führen, den auch ein Angreifer nicht ohne unannehmbare Schädigung seiner nationalen Substanz zu überleben vermöchte. Eine groß-angelegte Aggression gegen Westeuropa ist daher z. Z. wenig wahrscheinlich."

Diese neueste offizielle Feststellung der Bundesregierung bestätigt: „Es gibt kein konventionelles Gleichgewicht in Europa." Sie begründet die Unwahrscheinlichkeit einer groß-angelegten Aggression gegen Westeuropa mit der nuklearen Abschreckung, der wir uns in der 2. These zuwenden werden. Sie betrachtet daneben auch andere, begrenztere Bedrohungen:

„Eine begrenzte Aggression gegen Teile des NATO-Gebietes, bei der der Gegner nur Faustpfänder in seinen Besitz bringt. . ., wäre dem Warschauer Pakt mit seinem militärischen Potential ebenfalls möglich. Aber in der heutigen politischen Situation erscheint ein solches Vorgehen wenig wahrscheinlich . . . Konstant bleibt indessen die Möglichkeit der politischen Pression, die ausdrücklich oder stillschweigend mit militärischen Mitteln gestützt wird." Also auch gegen eine Aggression mit begrenzten territorialen Zielen (etwa die gelegentlich diskutierte „Wegnahme von Wolfsburg") besitzen wir keine wirksame Verteidigung. Am deutlichsten ist diese Verwundbarkeit, wie das „Weißbuch" mit Recht hervorhebt, in West-Berlin. West-Berlin ist weder gegen einen militärischen Angriff noch gegen eine Abschnürungsaktion zu verteidigen. Das Weißbuch stellt fest:

„Solange jedoch die drei Westmächte Truppen in Berlin stationiert haben und die Sowjetführung überzeugt ist, daß seine Integrität im vitalen Interesse der drei Mächte liegt, ist eine militärische Aktion gegen Berlin oder die Abschnürung seiner Verbindungswege zum Westen unwahrscheinlich."

Das Weißbuch faßt die gegenwärtige Lage zusammen in die Sätze:

„Die Schmälerung ihrer politischen Entscheidungsfreiheit durch Druck oder Drohung ist die eigentliche Gefahr, die der Bundesrepublik und ihren Bündnispartnern drohen können. Die Gefahr eines militärischen Angriffs ist demgegenüber zur Zeit gering. Keine Aktion der so-Führung in den vergangenen Jahren wjetischen deutet auf die Absicht hin, militärisch gegen Westeuropa vorzugehen. Aber die Absichten könnten sich ändern, wenn die gegenwärtige obwaltende vorsichtige Einschätzung des Risikos einer unbedachten, bedenkenlosen Beurteilung weichen sollte — oder wenn das Gleichgewicht aufgehoben würde." 5)

Das Gleichgewicht, von dem hier die Rede ist, ist das strategische Gesamtgleichgewicht der beiden Bündnissysteme, das auf den Kernwaffen beruht, denn es gibt ja kein konventionelles Gleichgewicht in Europa. Ehe wir uns der Analyse dieses Gleichgewichts zuwenden, stellen wir noch zwei zueinander komplementäre Fragen, die sich auf unsere konventionelle Rüstung beziehen:

1. Warum rüsten wir nicht konventionell bis zu dem Niveau auf, das zur Verteidigung aus-reicht?

2. Warum haben wir überhaupt eine konventionelle Rüstung, wenn diese doch zur Verteidigung nicht ausreichend und zur Abschrek-kung vielleicht nicht nötig ist?

1. Technisch müßte den Westeuropäern eine zur Verteidigung gegen die konventionellen Streitkräfte des Warschauer Pakts ausreichende konventionelle Rüstung möglich sein. Die europäischen NATO-Länder sind an Bevölkerungszahl der Sowjetunion, an industrieller Kapazität den gesamten Staaten des War-schauer Pakts überlegen. Zudem braucht eine rein defensive konventionelle Rüstung derjenigen des potentiellen Angreifers an Umfang nicht gleichzukommen.

So hat man in den späten vierziger Jahren einen entsprechenden Aufbau konventioneller Streitkräfte im westlichen Teil Europas immer wieder gefordert, aber ohne Erfolg. Der Grund dafür lag einmal in den extrem hohen Kosten eines solchen Aufbaues. In den fünfziger Jahren kam hinzu, daß derart hohe Aufwendungen nicht notwendig zu sein schienen. Denn nach der herrschenden Doktrin der massiven Vergeltung sollte der Gegner von jedem konventionellen Übergriff durch die Drohung eines atomaren Schlages abgeschreckt werden. Die Doktrin der massiven Vergeltung wurde in Amerika seit dem Beginn der sechziger Jahre mehr und mehr verlassen. Die offizielle NATO-Strategie ist seit 1967 die der flexiblen Reaktion, welche der gegnerischen Aggression mit Waffen der gleichen Ebene entgegenzutreten sucht. Logischerweise hätte dieser Gedanke nun die Errichtung einer zur Verteidigung aus-reichenden konventionellen Streitkraft erfordert. Da aber allen Planern klar war, daß dies politisch nicht durchsetzbar sein würde, verband man den Gedanken der Reaktion auf gleicher Ebene mit dem andersartigen Gedanken der Abschreckung durch die Drohung einer Eskalation zu einer höheren Ebene.

Wer die Probleme dieser Strategie sieht, kann in der Tat zu der Frage veranlaßt werden, ob es nicht auch heute noch besser wäre, eine zur Verteidigung fähige konventionelle Streit-macht aufzubauen. Doch sind es keinesfalls ausschließlich Kostengründe, die gegen einen solchen Aufbau sprechen: Der Versuch Westeuropas, in der konventionellen Rüstung mit dem Warschauer Pakt gleichzuziehen, wäre unseres Erachtens ein Nachgeben gegenüber der Versuchung des Rüstungswettlaufs an einer besonders teuren und schon darum gefährlichen Stelle. Wir werden uns in den folgenden Thesen die Lähmung und Gefährdung der Supermächte durch ihr Gefangensein im Rüstungswettlauf vor Augen stellen müssen. Es war wirtschaftlich, aber auch politisch, eine glückliche Situation Westeuropas und — noch mehr — Japans, an diesem Wettlauf weniger oder nicht beteiligt zu sein. Nicht nur würde die erhebliche Steigerung unserer Verteidigungshaushalte, die dazu nötig wäre, unsere wirtschaftliche und soziale Entwicklung schwer belasten Auch die Schaffung der politischen Atmosphäre der Aggressionsfurcht, die erforderlich wäre, um diese Ausgaben durchzusetzen, würde voraussichtlich zu politischen Verhaltensweisen führen, die uns wegen ihrer Starrheit leicht stärker gefährden könnten als die zu schaffende Rüstung im Wettlauf der technischen Neuerungen uns schließlich schützte. Denn daß auch die exzessivste konventionelle Rüstung in Europa nur einen begrenzten Verteidiguhgswert hat, ist evident. Eine Verteidigung mit konventionellen Mitteln gegen eine invasionswillige Supermacht kann überhaupt nur als „mögliche Verteidigung" diskutiert werden, wenn man aus den Kapazitäten der gegnerischen Supermacht alle nuklearen Kampfmittel ausblendet. Dieses Verfahren kann zwar als erster Schritt einer Analyse sinnvoll sein. Spätestens in dem Moment, in dem man als Verteidigungsmittel auf der eigenen Seite gleichwertige konventionelle Streitkräfte aufgebaut hat, hängt der Ausgang eines Konfliktes in der Realität aber davon ab, daß die gegnerische Supermacht einen Teil ihrer Kapazität, die nuklearen Kapazitäten, nicht einsetzt. Diese wären, wie hier ohne weitere Begründungen angenommen werden soll, gegenüber rein konventionellen Streitkräften auf dem europäischen Kriegsschauplatz entscheidend. Ein Verzicht auf ihren Einsatz ist nun zwar nicht auszuschließen. Ein solcher Verzicht wäre aber ein Akt des Willens des Gegners, nicht jedoch eine durch die extreme konventionelle Verteidigung erzwungene Handlung. Wieder stünde man vor der Frage, inwieweit eine solche Begrenzung durch Abschreckung gesichert werden kann. Grundlage der Sicherheit wäre also auch nach dem Aufbau konventioneller Verteidigungsmittel die Abschreckung. Schließlich würde gerade die scheinbare Möglichkeit konventioneller Verteidigung ein weites Feld unterhalb der „Atomschwelle" für militärische Auseinandersetzungen neu eröffnen, den Krieg in Mitteleuropa jedenfalls für die Supermächte somit wieder zu einem denkbaren Mittel der Politik machen.

Etwas anderes ist es, die Möglichkeiten der modernen Technik zur Entwicklung von Waffen auszunutzen, die lediglich defensiv verwendet werden können und die in dieser Verwendung effektiv sind. Solche Techniken können zu einer politischen Entspannung beitragen, wenn sie an die Stelle auch offensiv verwendbarer Waffen gesetzt werden. Doch erscheint es uns unwahrscheinlich, daß sie das gesamte Rüstungssystem revolutionieren werden, und unsere weiteren Überlegungen führen überhaupt nicht zu der Meinung, das Problem der Kriegsverhütung sei von der Waffentechnik her zu lösen. Bei der Entwicklung rein defensiver Waffensysteme kann es sich daher nur um die technische Unterstützung einer politisch fundierten Friedensordnung handeln. 2. Die komplementäre Frage, warum wir überhaupt konventionell rüsten, wenn diese Rüstung doch zur Verteidigung auch im Sinne der flexiblen Reaktionen nicht ausreicht, welchen Anlaß wir insbesondere haben, unsere konventionelle Rüstung eher auf dem jetzigen als auf einem beliebigen anderen Niveau zu fixieren, kann erst mit der Analyse des Abschreckungssystems beantwortet werden. Denn auch die unvollkommene konventionelle Rüstung findet im Konzept der flexiblen Reaktion ihren Stellenwert als Abschreckungsfaktor.

Eine ganz andere Frage ist es, ob in der Zukunft neben oder anstelle der nuklearen und der klassischen konventionellen Rüstung Guerillakampf und zivile (= gewaltlose) Verteidigung reale Mittel der Konfliktaustragung sein werden. Unsere Studie hat diese Frage nur genannt, aber nicht ausführlich erörtert 7).

2. THESE: Der Einsatz nuklearer Waffen in der Absicht der Verteidigung der Bundesrepublik würde zur nuklearen Selbstvernichtung führen

Das Wort „Selbstmord" wird heute im Zusammenhang mit einem möglichen Einsatz von Atomwaffen oft voreilig gebraucht. So spricht man von einem atomaren Weltkrieg als dem Selbstmord der Menschheit. Tatsächlich wäre ein großer Atomkrieg nach unserer heutigen Kenntnis nicht notwendig Selbstmord der Menschheit, sondern zunächst einmal ein Selbstmord der heutigen Supermächte und ihrer europäischen Verbündeten. Die Gefahr, daß er eines Tages begonnen wird, beruht darauf, daß technische Entwicklungen denkbar sind, die ihn für die Supermacht, die ihn beginnt, nicht länger als Selbstmord erscheinen lassen (vgl. die 6. These).

Vor dem Hintergrund dieses Wissens sagen wir, daß für die Bundesrepublik in ihrer besonderen geographischen und politischen Lage nicht erst der große atomare Weltkrieg, son-dem schon die Verwirklichung der atomaren Drohung, auf die wir die heutige Strategie zum Schutz unseres eigenen Territoriums stützen, den atomaren Selbstmord bedeuten würde.

Unser Land ist klein. Zugleich ist es der natürliche Schauplatz für einen Bewegungskrieg zwischen NATO und Warschauer Pakt, vorausgesetzt, ein solcher Krieg bräche aus irgendeinem Anlaß aus. Krieg erzieht nicht zur Schonung, und auf den Wunsch, gerade die Deutschen und das deutsche Wirtschaftspotential zu schonen, wird man sich in einem einmal ausgebrochenen Krieg nicht verlassen können. Die Mittel zur Vernichtung unseres Landes stehen bereit. Nicht nur die vielzitierten 700 Mittelstreckenraketen östlich unserer Grenze reichten dazu aus, ebenso ausreichend wäre der Einsatz eines Bruchteils der Gefechtsfeldwaffen unserer Verbündeten und unserer Gegner in einem Bewegungskrieg, der einige Zeit in unserem Lande hin-und herginge.

Gegen diese Überlegungen kann man einwenden und hat man eingewandt, man müsse bei den Annahmen über die Anzahl der Waffen, die zum Einsatz kommen, nicht von den Kapazitäten, sondern von den Intentionen ausgehen. Das „Weißbuch 1970" betont — und zwar mit Recht — die Notwendigkeit äußerster Zurückhaltung im Einsatz nuklearer Waffen. Aber dieser Vorsatz kollidiert mit dem Auftrag der Verteidigung. Wenn man gewillt ist, zum Zweck der Verteidigung der Bundesrepublik Atomwaffen einzusetzen, hängt das Maß, in dem man sie einsetzt, von der Stärke des gegnerischen Angriffs ab und nicht von selbst-gewählten Einschränkungen. Es ist unwahrscheinlich, daß der Gegner gerade nur so viel seines Angriffspotentials mobilisiert, wie die Bundesrepublik überleben kann. Die Drohung mit dem rücksichtslosen atomaren Einsatz dient nicht der Verteidigung, sondern der Abschrek-kung, d. h., wir fallen auf die Frage zurück, ob das Abschreckungssystem hinreichend zuverlässig ist, um zu verhindern, daß der bewaffnete Konflikt überhaupt beginnt.

3. THESE: Für die Bundesrepublik gibt es nur eine in sich widerspruchsvolle Abschreckung (Abschreckung durch für beide Seiten unkalkulierbares Risiko)

Unser Widerspruch gegen die Meinung, man könne sich mit der heutigen Abschreckungssituationberuhigen, beruht auf dieser These zur Lage unseres eigenen Landes. Wir werden unter der 4. These die Logik des Abschreckungssystems zwischen den Supermächten darstellen. Die dann folgenden Thesen werden die Probleme erörtern, in welche die Supermächte durch dieses Abschreckungssystem geführt werden. Zu diesen Problemen gehört die politische und militärische Lähmung der Supermächte durch das Abschreckungssystem (7. These). Ein Aspekt dieser Lähmung ist die Unfähigkeit, eingegangene militärische Verpflichtungen in einer widerspruchsfrei garantierten Weise einzulösen. Das uns am nächsten angehende Beispiel dafür ist der innere Widerspruch in der Abschreckungsstrategie der NATO. Diesen Widerspruch schildern wir in der gegenwärtigen These vor dem Hintergrund der schon dargestellten Unmöglichkeiten einer erteidigung, die unser Land nicht zerstört.

In der Darstellung der NATO-Strategie folgen wir wiederum dem „Weißbuch 1970", obwohl wir uns den Konsequenzen des „Weißbuchs" in diesem Falle nicht anschließen können.

Das „Weißbuch" schreibt:

„Die Entwicklung fand ihren Abschluß im Jahre 1967 mit der Festlegung des neuen strategischen Konzepts der flexiblen Reaktion.

Dieses Konzept gibt, sofern die erforderlichen Streitkräfte zeitgerecht, einsatzbereit, ausreichend und richtig disloziert zur Verfügung stehen, den Alliierten die Möglichkeit, in einer Krise oder im Falle eines Angriffs bemessen und angemessen zu reagieren. Mit dieser Doktrin sind Begriffe wie kontrollierte Eskalation und Vorneverteidigung untrennbar verbunden. Laut NATO-Definition beruht sie auf zwei Grundsätzen:

Der erste Grundsatz besteht darin, jeder Aggression durch eine direkte Verteidigung auf etwa der gleichen Ebene entgegenzutreten, und der zweite darin, durch die Möglichkeit der Eskalation abschreckend zu wirken. Es ist das wesentliche Merkmal der neuen Strategie, daß ein Angreifer davon überzeugt sein muß, die NATO werde erforderlichenfalls Kernwaffen einsetzen, jedoch muß er gleichzeitig hinsichtlich des Zeitpunktes und der Umstände dieses Einsatzes im Ungewissen bleiben.

Die Abschreckung wirkt bei dieser Strategie auf drei Ebenen: der strategischen, der taktisch-nuklearen, der konventionellen.

Die strategische Abschreckung verbürgen das Kernwaffenarsenal der Vereinigten Staaten und die darauf beruhende gesicherte Vernichtungskraft (assured destruction capability) . . .

Auf der taktisch-nuklearen Ebene bleibt die Abschreckung gleichfalls verbürgt, solange auch der Westen in Europa über nukleare Waffen für den taktischen Einsatz verfügt. Darin liegt eine Entmutigung ihrer Anwendung durch den Osten. Außerdem wirkt die Drohung der Eskalation auf die strategische Ebene auch hier abschreckend; die enge Verflechtung des taktisch-nuklearen Potentials mit den strategischen Kräften der USA macht diese Drohung glaubwürdig.

Im konventionellen Bereich ist die Abschrekkung kleinerer Übergriffe durch ein präsentes Kampfpotential der NATO zu Lande, zu Wasser und in der Luft gegeben. Der Bereitschaftsstand der NATO und ihre Fähigkeit zur Verstärkung, Entfaltung und Mobilmachung im Spannungsfall bilden die Grundlage. Die rechtzeitige Mobilisierung von Reserven und die Überführung von Streitkräften in ihre Operationsgebiete ist dabei von großer Bedeutung. Dies würde im gegebenen Fall ein frühzeitiges Tätigwerden der Regierungen verlangen, denn die Möglichkeiten der Verteidigung wären stark eingeengt, wenn Mobilisierungsmaßnahmen nicht rechtzeitig oder nicht in ausreichendem Umfang getroffen würden ...

Es kommt dabei entscheidend darauf an, daß in Westeuropa konventionelle Streitkräfte in einem Umfange aufrechterhalten werden, die der NATO die Möglichkeit belassen, auf alles außer einen vorsätzlichen Großangriff anders als nuklear zu reagieren: und die, wenn ein Angriff dieses Maßstabes erfolgen sollte, Zeit lassen für Verhandlungen über eine Beendigung des Konflikts und für Konsultationen unter den Verbündeten über den Ersteinsatz von Kernwaffen, falls die Verhandlungen fehl-schlagen sollen. Im Augenblick reicht der Umfang der konventionellen Streitkräfte für diesen Zweck gerade aus.

Strategische Grundprinzipien. Die neue Strategie der NATO beruht auf drei Prinzipien: Verhältnismäßigkeit der Mittel, Hinlänglichkeit der Kräfte, Begrenztheit der Ziele. Die Strategie der flexiblen Reaktion kennt keinen militärischen Automatismus. Sie beläßt der politischen Führung die Möglichkeit, nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel alle von ihr für notwendig erachteten Maßnahmen zu ergreifen. Sie schreckt ab, ohne für den Fall des Versagens der Abschreckung die Verteidigung unglaubwürdig zu machen“

Wir leugnen nicht, daß die Absicht der Abschreckung in diesen Darlegungen richtig wiedergegeben ist und daß die technischen Mittel, die dafür eingesetzt werden sollen, in aller Knappheit richtig beschrieben sind. Ebenso-wenig leugnen wir, daß die Kriegsgefahr in Europa im jetzigen Augenblick nicht groß ist (vgl. unsere Zitate aus dem „Weißbuch" unter der 1. These). Wir leugnen aber den engen Zusammenhang zwischen der NATO-Strategie und der Kleinheit der Kriegsgefahr. Und wir meinen, daß die Darstellung des „Weißbuches'die inneren Widersprüche dieser Strategie nicht zum Ausdruck bringt.

Halten wir uns an die zwei Grundsätze der NATO-Definition: 1. direkte Verteidigung auf gleicher Ebene und 2. Abschreckung durch die Möglichkeit der Eskalation. Zwischen ihnen besteht ein Widerspruch, der den Planern dieser Strategie bekannt ist: Die Möglichkeit zur rein konventionellen Verteidigung ist nicht gegeben (These 1). Die soeben zitierten Stellen des „Weißbuches" sprechen zwar von der Verteidigung gegen konventionelle Angriffe, die mit begrenzten Mitteln vorgetragen werden, und von der Möglichkeit des Zeitgewinns. Analoges gilt wohl nach der Ansicht des „Weißbuches" auch für begrenzte taktisch-nukleare Angriffe. Aber es erscheint nicht sehr wahrscheinlich, daß die Sowjetunion oder ihre Verbündeten Anlaß sähen, begrenzte militärische Angriffe zu führen, wenn damit immerhin das Risiko der Eskalation bis zum großen nuklearen Krieg verbunden ist, und zugleich doch darauf verzichten, die ihnen verfügbaren militärischen Mittel einzusetzen, die wenigstens einen Erfolg in der gewählten militärischen Ebene sicherstellen. D. h., der wahre Grund® eine kriegsverhindernde Wirkung der NATO Strategie läge nach dieser Argumentation eben doch im zweiten Grundsatz, in der Eskalationsdrohung, welche die neue Theorie der flexiblen Reaktion mit der alten Theorie der massiven Vergeltung gemeinsam hat.

Es ist freilich vom amerikanischen Standpunkt aus sehr gut zu verstehen, warum flexible Reaktion, also direkte Verteidigung auf gleicher Ebene, Teil des Systems sein soll. Die Drohung der massiven Vergeltung ist gegen kleinere Übergriffe nicht glaubwürdig, und man kann sehr zweifeln, ob selbst eine russische Eroberung ganz Europas die Vereinigten Staaten im Ernst zum großen strategischen Schlag mit seinen mutmaßlich selbstmörderischen Fol-gen veranlassen würde. Deshalb braucht die Supermacht USA die Möglichkeit, einen begrenzten Krieg begrenzt zu führen. Wenn dieser Krieg aber in unserem Lande wirklich geführt würde, wäre er die Zerstörung unseres Landes (These 2). Im Generalstabsspiel mag man sich begrenzte Kriegsverläufe ausdenken können, welche Teile unseres Landes und Volkes verschonen. Man kann nicht ausschließen, daß ein wirklicher Krieg auf einer dieser frühen Eskalationsstufen abgebrochen würde, aber wahrscheinlich machen kann man das ebensowenig. Das europäische und ganz besonders das deutsche vitale Interesse ist also zweifellos, daß keine dieser Möglichkeiten flexibler Reaktion je ausprobiert wird. Wir sind auf die Zuverlässigkeit der Abschreckungswirkung des Systems angewiesen, nicht auf die Finessen seiner denkbaren Durchführung. Ein zuverlässiger Abschreckungseffekt entsteht aber nur, wenn dem Gegner bei Einsatz hinreichend hoher Mittel der Sieg nicht sicher ist. Da ihm die Möglichkeit bleibt, schwere Nuklearwaffen gegen Europa einzusetzen und dabei die USA zu verschonen, gibt es für den Westen keine untere Ebene, auf der ein Konflikt mit Gewißheit zum Stehen gebracht werden könnte.

Auf der höchsten Ebene, der der strategischen Kernwaffen, gilt aber: Sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Sowjetunion können heute als erster angreifen und den Gegner vernichten oder als zweite politisch bereits vernichtete Nation noch genügend Kernwaffen einsetzen, um auch den Angreifer zu vernichten. Eben diese Situation nennen wir das nukleare Patt. Das bedeutet aber: Wird, wie es im „Weißbuch" heißt, „die nukleare Komponente der Abschreckung ins Spiel gebracht" indem die Vereinigten Staaten mit Kernwaffeneinsätzen gegen die Sowjetunion drohen, so entsteht das Vernichtungsrisiko sowohl für die Sowjetunion als auch gleichermaßen für die Vereinigten Staaten. Das heißt aber, das Risiko ist für beide gleich hoch. Glaubt man an die Wirksamkeit einer solchen Drohung, so schrecken sich die USA somit selbst ab, ihre eigene Drohung wahr zu ma-chen. Die Drohung ist damit im Ergebnis wiederum unglaubhaft. Glaubt man nicht an die Wirksamkeit einer derartigen Drohung, kann man auch nicht behaupten, man habe eine glaubhafte Abschreckung gegenüber der Sowjetunion, die die Sowjetunion zwinge, sich vom NATO-Territorium zurückzuziehen. An diesem Dilemma ändert sich auch nichts, wenn man einige Kernwaffen „zur nuklearen Demonstration" zündet Die Planung von „Demonstrationen" schiebt nur das unauflösbare Problem, in einer solchen verzweifelten Lage zwischen Kapitulation und Selbstvernichtung wählen zu müssen, vor sich her, in den Ernst-fall, indem die Planung sich bewähren müßte. Manches spricht dafür, daß wir hier eine Argumentation vorfinden, die sich auf ein inzwischen ausgestorbenes Konzept für die amerikanischen Raketenstreitkräfte und Fernbomber stützt: die „counter-force" -Strategie, mit der die drei-oder mehrfache Überlegenheit der USA an Interkontinental-Raketen und anderen Nuklearwaffenträgern in der Mitte der sechziger Jahre militärisch nutzbar gemacht werden sollte (exploitable capability). Auf die Zweifelhaftigkeit jener Annahmen, bei Existenz wechselseitiger Zweitschlagskapazitäten lasse sich eine zahlenmäßige Überlegenheit zur Abschreckung in Europa ausbeuten, kommen wir unten zurück Und überdies gehört die zahlenmäßige Überlegenheit der Vergangenheit an.

So enthüllt sich die NATO-Strategie als sich selbst widersprechend. Sie hat in Europa nichts anzudrohen, was den Gegner zum Stehen brächte und wovon der Gegner zugleich zuverlässig glauben kann, man sei in den Vereinigten Staaten bereit, das betreffende Mittel auch einzusetzen. Denn die strategische Schlagkraft kann nicht zugleich zur Garantie der Vermeidung des nuklearen Weltkriegs und zur Drohung mit diesem Weltkrieg dienen. Entweder die Abschreckung Vor dem Gebrauch strategischer Waffen durch die Drohung mit ihresgleichen ist zuverlässig; dann kann man nicht glaubwürdig drohen, man werde sie am Ende einer Eskalationskette von kleineren — zuerst konventionellen, dann nuklearen — Waffen wirklich einsetzen. Oder man ist zu diesem Einsatz bereit; dann ist das Risiko des großen nuklearen Krieges reell.

Dieser Widerspruch ist jeder lokalen Strategie unter der Lähmung des großen Abschreckungssystems inhärent. Er hat sich seit mehr als zehn Jahren in der Diskussion um die NATO-Strategie gespiegelt Wir haben deshalb in unserer Studie die Strategie der flexiblen Reaktion eine „Mystifikation" dieses Widerspruchs genannt

Wir haben darauf hingewiesen, daß auch eine solche Mystifikation mit dem Ergebnis des Aufbaus eines für Freund und Feind unkalkulierbaren Risikos eine gewisse abschreckende Wirkung entfaltet*). Die Abschreckungswirkung folgt dabei gerade aus der Möglichkeit, daß der Konflikt, entgegen den kalkulierbaren Interessen der Bundesrepublik, durch das Zusammenspiel von unkalkulierbaren Eskalationsfaktoren auf beiden Seiten über das für die Bundesrepublik allenfalls noch erträgliche Ausmaß hinaus eskalieren könnte. Und eben diese, hier instrumentale Möglichkeit der Eskalation gegen unsere Interessen verbietet auf der anderen Seite, eine solche Strategie der „flexible response" als verläßliches, handhabbares Instrument unserer Sicherheit anzusehen und zu verwenden. Pointiert ausgedrückt: Entweder, man droht mit einer für uns kalkulierbaren Eskalation, dann schreckt die Drohung nicht ab, weil sie wegen ihrer notwendigerweise niedrigen Limitierung auch für den Gegner kalkulierbar und überbietbar wird. Oder man läßt zu, daß das Eskalationsmaß auch für die eigene Seite unkalkulierbar wird, dann aber gibt man die Steuerung des Konflikts aus der Hand, verzichtet also auf eine Strategie.

Hinzu kommt: Wenn eines Tages die Drohung der Vereinigten Staaten mit dem Vernichtungsschlag gegen die Sowjetunion vollständig leer werden sollte, hätte die Sowjetunion keine der niedrigen Stufen „flexibler Reaktion" entscheidend zu fürchten. über diesen Sachverhalt dürfen wir uns nicht selbst mystifizieren.

4. THESE: Zwischen den Supermächten gibt es heute eine in ihrer militärischen Logik widerspruchsfreie Abschreckungsstrategie

Obwohl wir von dieser Strategie und den Verhandlungen zu ihrer Sicherung jeden Tag in der Zeitung lesen, sind die subtilen Bedingungen ihrer Zuverlässigkeit nicht im allgemeinen Bewußtsein. Hier trägt die Undifferenziertheit der These vom atomaren Selbstmord ihre gefährlichen Früchte. Das durchschnittliche politische Bewußtsein ist noch nicht wesentlich über die Meinung hinauskommen: „Diese Waffen sind so groß, daß ihr Einsatz Selbstmord wäre; also werden sie nicht eingesetzt werden." Die seit einem Jahrzehnt gültige Abschreckungsdoktrin beruht jedoch gerade auf einer kritischen Analyse dieser primitiven Meinung. Ihre Basis ist: Es ist nicht Selbstmord, sondern bloß und einfach Mord, wenn eine Supermacht diese Waffen gegen eine andere einsetzt. Selbstmörderisch werden die Folgen erst, wenn der Gegner mit gleicher Wirkung zurückschlagen kann und dies auch tut. Stabil ist eine Abschreckung zwischen zwei Mächten daher dann, wenn beide eine unzerstörbare Vergeltungskapazität besitzen (Zweitschlagskapazität, assured destruction capacity). Diesem Konzept fehlt der Widerspruch, der die Brauchbarkeit von Abschreckungsdoktrinen für die europäischen Bundesgenossen in Frage stellte:

Greift nämlich eine Großmacht X eine andere Großmacht Y mit einem ersten Schlag an, so ist die Frage für die angegriffene Macht Y nicht, ob sie die wechselseitige Vernichtung für begrenzte Ziele in Kauf nehmen soll oder nicht; Denn Y ist in diesem Fall bereits weitgehend zerstört. Die Frage für Y ist vielmehr, ob es dabei bleiben soll, daß nur sie selber zerstört ist, oder ob auch der Konkurrent X als lebensfähige Industriegesellschaft ausgeschaltet wer-den soll, Die Fähigkeit, dies zu erreichen, hat Y behalten, wenn es eine Zweitschlagskapazität besitzt.

Man mag darüber streiten, ob ein solcher „Racheschlag" rational ist, aber das spricht mehr gegen die Verwendung des Begriffes rational an dieser Stelle als gegen die Glaubhaftigkeit einer solchen Reaktion. Immerhin lassen sich auch „rationale" Erklärungen denken, wie z. B. das Ziel, dem gegnerischen Gesellschaftssystem nicht kampflos den Sieg zu überlassen, sondern von gleichermaßen geschwächten Positionen aus erneut in das Ringen einzutreten.

Klar ist jedenfalls: Diese Form der Abschrekkung durch ein Konzept wechselseitig unverwundbarer Zweitschlagskapazitäten (stabile Abschreckung) basiert nicht auf einem logischen Widerspruch. Das Konzept ist insoweit glaubhaft.

Warum ist diese Abschreckungssituation nur stabil, wenn beide Kernwaffenmächte eine gesicherte Kapazität für den zweiten Schlag aufbauen?

Nehmen wir an, X habe eine gesicherte Fähigkeit zum zweiten Schlag, Y nicht. Y sei aber in der Lage, in einem ersten Schlag die gegnerische Wirtschaft vernichtend zu treffen; nur eben zur Zerstörung der Gegenschlagsraketen von X reiche die Kapazität von Y nicht aus, während umgekehrt X in einem ersten Schlag nicht nur die Wirtschaft von Y, sondern auch dessen Raketen vernichten kann.

Dies scheint zunächst eine bessere Stellung von X zu gewährleisten. Aber überlegen wir, wie die politische und militärische Führung von Y reagieren wird: Wenn die politische Spannung zwischen den Mächten gering ist, so wird keine von beiden in Versuchung sein, ihre nukleare Schlagkraft einzusetzen. Solange bedeutet es keinen Vorteil für X, nuklear stärker zu sein als Y. Ist aber die Spannung groß, hat vielleicht ein begrenzter Krieg zwischen beiden schon begonnen, so wird man sich in Y fragen, ob X nicht ein Interesse haben könnte, sich seines Gegners Y mit einem einzigen großen Atomschlag zu entledigen. Die Führung von Y hätte dagegen keine Gegenwehr. Wenn sie schon untergehen soll, wird sie dann aber nicht den Gegner in den Untergang hineinziehen wollen? Wenn schon das „einzig richtige" politisch-wirtschaftliche System, das sie zu vertreten überzeugt ist, zerstört werden sollte, soll dann sein böswilliger Gegner triumphieren? Wird man nicht wenigstens mit dem Wahnsinnsakt drohen, das Land von X zu zerstören, ehe X seine eigenen Raketen auf Y abschießt? Und wird man die Nerven behalten und die Drohung nicht wahr machen? Wenn sich aber die Führung von X einigermaßen ausmalen kann, daß man beim Gegner mit diesem Gedanken umgeht, so ist nun umgekehrt für X die Versuchung zum Präventiv-schlag sehr groß. Und eben daß Y dies weiß, kann vielleicht der auslösende Faktor für den Schlag sein, den Y gerade, weil er der Schwächere ist, schließlich wirklich führt. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, daß das militärische Kräfteverhältnis Chinas zur Sowjetunion und zu den Vereinigten Staaten bald in diese Stufe der Instabilität eintreten wird und voraussichtlich auf Jahrzehnte die Stufe des Gleichgewichts nicht erreichen kann, wenn der Ausbau der Nuklearpotentiale der USA und der Sowjetunion im derzeitigen Tempo forge-setzt wird.

Gleichgewicht auf der Ebene der strategischen Abschreckung ist also die für beide Seiten günstigste Position. Dieses Konzept der stabilen Abschreckung hat seit dem Ende der fünfziger Jahre das ältere amerikanische Konzept der „massiven Vergeltung" abgelöst. Militärische Analysen der Schwäche des älteren Konzepts und die Annahmen der Schule des sogenannten politischen Realismus (Morgenthau) haben auf die Entstehung der neuen Doktrin eingewirkt. Diese Strategie suchte den Krieg dadurch zu verhindern, daß sie durch die wechselseitige Vernichtungsdrohung Machterhaltung und „Nichtkriegführung" identifizierte; Kriegsverhütung also nicht durch Abrüstung, sondern durch eine intelligent geplante begrenzte Rüstung anstrebte.

Die Frage war aber: Wie soll der Weg weitergehen? Hier gabelten sich die Intentionen. Einige sahen das Abschreckungssystem vor allem als Sprungbrett zur wahren Abrüstung. Die Abschreckung sollte Sicherheit garantieren, die Sicherheit sollte die gegenseitige Angst auflösen, der Abbau der Angst sollte Entspannung ermöglichen, und die Entspannung schließlich zur Abrüstung und einem weltweiten stabilen Sicherheitssystem führen. Es gehört zur Ironie der Weltgeschichte, was hiervon wirklich geworden ist:

Die Sicherheit der Supermächte voreinander hat zugenommen, ihre Angst voreinander hat ein wenig abgenommen, sie treiben eine Politik vorsichtiger Entspannung, von Abrüstung ist im Ernst keine Rede. Diskutiert wird lediglich eine Begrenzung des Wettrüstens. Die Steigerung des Rüstungsaufwandes ist in den Jahren nach der Entwicklung der Theorie nicht zurückgegangen. Es muß offen bleiben, ob ohne diese Theorie ein noch schnelleres Wettrüsten stattgefunden hätte. Die politischen Probleme der beiden Großmächte, sowohl mit den eigenen Verbündeten wie in der Dritten Welt, sind größer als vor zehn Jahren.

Die Gründe hierfür zeigen sich deutlicher, wenn wir die anderen an die Abschreckungsdoktrin anknüpfenden Intentionen betrachten:

Man sah leicht, daß man zwar ein wichtiges, aber doch nur ein partielles Problem „gelöst“ hatte. Die Lösung bezog sich nur auf die größten, sogenannten strategischen Waffen, nur auf das gegenseitige Verhältnis der Supermächte in diesen Waffen, und nur auf eine zeitlich begrenzte Phase der Waffenentwick. lung. Sie schloß günstigenfalls einen großen Krieg der beiden Mächte gegeneinander aus, aber nicht die Fortdauer ihres weltpolitischen Ringens und nicht die wachsende Unerträglich-keit der amerikanisch-russischen Dominanz für den Rest der Welt. Die große Weltsicherheitslösung blieb am fernen Zukunftshorizont und die Sicherheit durch Abschreckung wurde zum Eckpfeiler einer „realistisch" fortgesetzten Interessen-und Machtpolitik.

5. THESE: Die Abschreckung zwischen den Supermächten führt zum Wettrüsten

Daß die politische Spannung des kalten Krieges, zusammen mit den noch unentwickelten Abschreckungsvorstellungen der fünfziger Jahre, zum Wettrüsten führte, braucht nicht zu verwundern. Daß aber auch die wachsende politische Entspannung zwischen den beiden Supermächten, zusammen mit dem Konzept der Abschreckung durch begrenzte Zweitschlagskapazitäten, von unablässigem weiterem Wachstum der Rüstungen begleitet war, ist paradox. Man wußte zwar, daß die strategische Abschreckung in sich selbst noch nicht die Abrüstung bedeutet. Das direkte rüstungspolitische Ziel der neuen Strategie nannte man konsequenterweise nicht disarmament, sondern arms control. „Arms control" bedeutet hier gemäß englischem Sprachgebrauch nicht „die Einhaltung von Rüstungsbeschränkungen durch den Gegner kontrollieren", sondern etwa „die Entwicklung der Waffensysteme in der Hand behalten". Warum ist die Rüstung gleichwohl „außer Kontrolle geraten"? Denn wäre sie es nicht, so wären z. B. die SALT-Gesprä-ehe heute nicht nötig.

Man kann den Grund zunächst mit der Maxime „mehr ist besser" bezeichnen, eine Maxime, die auf beiden Seiten fortwirkt. R. McNamara hat in seiner Rede von San Francisco 1967 diesen Mechanismus in klassischer Genauigkeit beschrieben. Er sagte dort:

„Einen Punkt möchte ich allerdings völlig klarstellen: unsere derzeitige numerische Überlegenheit über die Sowjetunion an präzisen und wirksamen Sprengköpfen geht über un-sere ursprünglichen Planungen hinaus und ebenso über unsere eigentlichen Erfordernisse ... Wie es dazu kam, ist bezeichnend für die Dynamik, die sich beim nuklearen Wettrüsten entfaltete.

Im Jahre 1961, als ich Verteidigungsminister wurde, besaß die Sowjetunion ein sehr kleines Arsenal einsatzbereiter Interkontinentalraketen. Aber es standen ihr sehr wohl die technischen und industriellen Möglichkeiten zu Gebote, um dieses Arsenal im Verlauf der folgenden Jahre beträchtlich zu vergrößern. Wir hat-ten keine Beweise, ob die Sowjets beabsichtigten, ihre Kapazität tatsächlich in vollem Ausmaß zu nutzen. Doch man muß sich, wie ich bereits darlegte, bei strategischen Planungen in seinen Berechnungen von konservativen Erwägungen leiten lassen. Das heißt, man muß Vorsorge für den denkbar schlechtesten Fall treffen und sich nicht damit zufrieden geben, auf den wahrscheinlichen zu hoffen und dementsprechende Vorkehrungen treffen. Da wir keine Gewißheit über die sowjetischen Intentionen hatten — wir wußten nicht, ob sie ihr Potential nicht erheblich verstärken wür-den _, mußten wir uns gegen eine solche Eventualität absichern, indem wir unsere eigenen Minutemanund Polaris-Verbände wesentlich vergrößerten. So kam es, daß wir im Zuge der Schutzmaßnahmen gegen eine — damals nur theoretisch mögliche —• sowjetische Kräfteballung Entscheidungen trafen, die unsere derzeitige Überlegenheit in der Anzahl der Sprengköpfe und der verfügbaren Megatonnen zur Folge hatten. Doch die nüchterne Tatsache -bleibt bestehen, daß wir unser nukleares Arsenal einfach nicht in der gegenwärtigen Stärke hätten anzulegen brauchen, wenn wir genauere Informationen über die vorgesehenen strategischen Streitkräfte der Sowjets gehabt hätten.

Idi möchte hier ganz offen sprechen. Ich sage nicht, daß unsere Entscheidung im Jahre 1961 ungerechtfertigt war. Ich sage, daß sie durch den Mangel an präzisen Informationen bedingt wurde. Außerdem konnte diese Entscheidung an sich — so gerechtfertigt sie war — letzten Endes nicht ohne Auswirkungen auf die künftigen nuklearen Planungen der Sowjetunion bleiben.

Man muß erkennen, daß die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten einander bei ihren strategischen Plänen beeinflussen.

Welche Absichten die Sowjets oder wir im Zusammenhang mit dem Aufbau nuklearer Streitkräfte auch haben mögen — seien es tatsächliche oder auch nur mögliche Aktionen —, sie lösen zwangsläufig Reaktionen aus. Es ist gerade dieses Phänomen von Aktion und Reaktion, das ein Wettrüsten auf Hochtouren hält.“

McNamara, der damals noch selbst die Verantwortung für die amerikanische Seite dieses Wettrüstens trug, hebt den objektiven Sachzwang hervor, der aus der Kombination des Zieles „stabile Abschreckung" mit der beiderseitigen Ungewißheit über die Absichten der Gegenseite entsteht. Auch Rüstungsbeschränkungen setzen eben eine Kooperation beider Seiten voraus. Freilich war es eine der Pointen des arms-conrol-Denkens, daß richtig angesetzte Absdireckungsstreitkräfte nicht aus Mißtrauen und Fehlkalkulationen heraus zu wach-sen brauchen. Denn bei als „unverwundbar" angesehenen Zweitschlagskapazitäten hätten auch relativ große Differenzen in den Raketenzahlen beider Seiten die Stabilität der Abschreckung nicht aufheben können. Aber militärische und nicht-militärische Gründe haben diese Logik überspielt.

Einerseits stellt die Waffenentwicklung die strategischen Abschreckungswaffen immer von neuem in Frage; dieses Gleichgewicht ist nicht automatisch stabil, sondern bedarf ständig neuer Stabilisierung. Die Balance, das Patt, eben die Fähigkeit zum zweiten Schlag ist das Resultat bestimmter Waffensysteme: Raketen, die in Bunkern geschützt sind, Raketen auf U-Booten. Die technische Entwicklung schreitet aber fort und „Verbesserungen" der Technik gefährden das heute bestehende Gleichgewicht. Genauere und stärkere Raketen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, daß die gegnerischen Raketen im Bunker zerstört werden können. Raketen mit Mehrfachköpfen haben denselben Effekt. Raketen-Abwehrraketen können die Vergeltungsraketen abfangen. Die U-Boot-Ab-wehr wird verbessert. Sind nun beide Seiten auf die Stabilität der Abschreckung angewiesen, müssen beide Seiten ein solches Resultat der Entwicklung der gegnerischen Arsenale verhindern. Das heißt aber, sie müssen ihre eigenen Waffensysteme ebenfalls weiterentwickeln, um so zu versuchen, ein Gleichgewicht zu erhalten.

Dieser Zwang ist zum Teil mit dem Zwang durch „konservative Erwägungen" über den quantitativen Ausbau der gegnerischen Arsenale identisch, der uns schon oben als Grund für den übermäßigen Ausbau der amerikanischen Kapazitäten begegnete. Aber nur zum Teil. Neben diesen politischen Beschleunigungsfaktor tritt der technische (qualitative), der aus dem allgemein technischen Trend zu „Verbesserungen" resultiert.

Hinzu kommt, daß gerade die erfolgreiche gegenseitige Abschreckung der großen, strategischen Waffen diese Waffen für jede andere Verwendung lahmlegt. So entstand ein ständig wachsendes Bedürfnis nach Waffen zu anderer, begrenzter Verwendung. Zwar sollten nach einigen Konzepten die strategischen Kernwaffen auch dieser Verwendung dienstbar gemacht werden. Um die sowjetische Überlegenheit in Europa z. B. auszugleichen, sollten die Vereinigten Staaten eine Überlegenheit an strategischen Kernwaffen entwickeln (exploi13 table capability) Sinn dieser „ausbeutbaren Kapazität" sollte es sein, in einem „counter-force" -Angriff möglichst viele gegnerische Raketen auszuschalten. Die Vereinigten Staaten sollten nach dieser Theorie anschließend noch in der Lage sein, der Sowjetunion vernichtendere Schläge gegen deren Bevölkerungszentren (counter-value) zuzufügen, als die Sowjetunion umgekehrt den Vereinigten Staaten Und die Drohung mit diesem zweiten Schlag sollte daher die Sowjetunion zwingen, Angriffsoperationen in Europa einzustellen.

So sollte mit Hilfe dieser Uberlegenheitsstrategie einmal eine zusätzliche Stufe in die Eskalation vom lokalen Konflikt bis zur wechselseitigen Vernichtung eingebaut werden. Zum anderen sollte das Verfahren dazu dienen, die strategischen Kernwaffen in lokalen Konflikten trotz einer Zweitschlagskapazität der Gegenseite politisch und militärisch zu nutzen.

Es wird schnell deutlich, daß diesem „Kompromiß" zwischen „stabiler Abschreckung" und „Überlegenheit der USA" die Nachteile der Instabilität (durch Überlegenheit) und mangelhafter Glaubwürdigkeit der Eskalationsdrohung anhaften. Wie groß die Rolle dieses Konzeptes für die heute zu beobachtende Verschärfung des Wettrüstens war, muß offen bleiben. Als Postulat, auf das sich beide Seiten einlassen können, war das Konzept jedenfalls ungeeignet, da es die wechselseitige Überlegenheit übereinander erfordert hätte. Und die zeitliche Korrelation dieser Doktrin zu den Entscheidungen über die Entwicklung der heute sichtbaren destabilisierenden Waffensysteme ist ebenfalls eindeutig.

Der Versuch, die Verpflichtungen („commit-ments") durch strategische Kernwaffen abzudecken, ist sowohl unter dem Konzept „massive retaliation" als auch unter dem Gesichtspunkt einer „exploitable capability" in der sta-bilen Abschreckung wohl endgültig gescheitert. Aber das Problem bleibt. Bisher jedenfalls hat diese Ungewißheit in einer Logik, die unwiderleglich ist, wenn man nur die Prämissei des Systems akzeptiert, beide Supermächte dazu genötigt, ein immer wachsendes Arsenal von Waffen aufzubauen, die auf einer niedrigeren als der strategischen Ebene operieren, und die darum eine höhere Wahrscheinlichkeit des Einsatzes haben sollen. Diese Waffen stellen das weitaus größere Kontingent der Kosten der beiderseitigen Rüstung

Einen weiteren, nicht-militärischen Grund für das Wettrüsten hat ein anderer führender amerikanischer Staatsmann, Präsident Eisenhower, in seiner Abschiedsrede unter dem Titel des militärisch-industriellen Komplexes genannt. Mit den Waffensystemen sind die partikularen Interessen der Wehrmachtsteile, die die Waffen benutzen, und der Industrien, die sie produzieren, aufs engste verbunden. In Amerika sind diese Zusammenhänge in den letzten Jahren immer mehr in öffentliche Beleuchtung gerückt worden Auch hier genügt es nicht, Vorwürfe gegen Personen zu erheben. Man muß viemehr die strukturellen Sachzwänge begreifen, wenn man hoffen will, zum Zweck der Änderung hinreichend tief anzusetzen. In der zivilen privaten Wirtschaft gehört es zu den Mitteln der großen Industrien im Kampf ums Dasein, daß sie die Nachfrage, die sie zu befriedigen versprechen, in weitem Umfang selbst erzeugen Dasselbe tut die Rüstungsindustrie. Ein großer Motor des Rüstungswettlaufs liegt so in der Verknüpfung privatwirtschaftlicher Interessen mit der Rüstung. Auch Bürokratien sind analogen, strukturell bedingten Versuchungen ausgesetzt. Es wäre erstaunlich, wenn es auf sowjetischer Seite nicht eine Parallele zum militärisch-industriellen Komplex gäbe, die nur, dem politischen System gemäß, vor den Augen der Öffentlichkeit besser verborgen ist. Schließlich ist auch die politisch-wirtschaftliche Konkurrenz verschiedener Staaten ein Faktor. So sind im ständig expandierenden Rüstungshandel mit der Dritten Welt die privaten Firmen als Lieferanten immer mehr gegenüber den Regierungen der Industrieländer zurückgetreten

6. THESE: Das Wettrüsten führt zur Erhöhung des Kriegsrisikos

Mit der 6. These setzen wir uns in Gegensatz zu einer vielfach ausgesprochenen oder stillschweigend vertretenen Ansicht. Wir sind in ihr jedoch einig mit dem „Weißbuch 1970" der Bundesregierung, welches feststellt:

„Eine Vermehrung oder eine einseitige qualitative Verbesserung der strategischen Waffen könnte das prekäre Gleichgewicht des Schrekkens gefährden — darin liegt die Bedenklichkeit des fortgesetzten Wettrüstens. Wenn eine Supermacht die andere technologisch überflügelte, mag wenigstens in einer Übergangsphase eine Situation eintreten, in der eine Seite entweder tatsächlich im Vorteil wäre oder sich doch im Vorteil wähnte und deshalb in Versuchung geraten könnte, einen ersten Schlag zu führen, der den Angegriffenen entwaffnete."

Wir haben schon unter der vierten These dargelegt, daß die verbreitete Meinung, die Supermächte würden nicht zum großen Krieg schreiten, für den Augenblick zwar eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit für sich hat, aber nicht aus dem bloßen Grund der Größe der Waffen, sondern wegen des hochdifferenzierten Abschreckungssystems der Zweitschlagskapazitäten. Die Frage ist, ob dieses System das Wettrüsten ungefährdet überstehen kann. Ganz grob kann man hier vielleicht annehmen: Durchschnittlich alle sieben Jahre ist heutzutage die Waffenentwicklung so weit fortgeschritten, daß man von einem wesentlich neuen Waffensystem sprechen muß. Die Existenz einer garantierten Fähigkeit zum zweiten Schlag ist eine besondere technische Tatsache, die in jedem Waffensystem stets von neuem garantiert werden muß. Sie bestand z. B. nicht, solange die Interkontinental-Raketen von un-verbunkerten ortsfesten Basen abgefeuert wurden, die durch einen ersten gegnerischen Schlag ausgelöscht werden konnten. Dem wurde durch verbunkerte Raketenstellungen abgeholfen. Der Bunker schützt aber nur gegen einen ungenauen Treffer, nicht aber gegen einen nahen Treffer mit atomarem Sprengkopf. So führt die technische Entwicklung hin und her zwischen Erfindungen, die das Abschreckungssystem stabilisieren, und solchen, die es destabilisieren. Welcher von beiden Effekten sich in einem neuen Waffensystem durchsetzen wird, ist a priori kaum vorher-zusagen. Wollten wir also die gegenwärtige Stabilität der Abschreckung auch nur ein halbes Jahrhundert lang gesichert sehen, so müßten wir etwa siebenmal (7 mal 7 Jahre = 49 Jahre) das Glück haben, daß die jeweils modernsten Waffen von neuem die Stabilität begünstigen. Drücken wir das Nichtwissen in jedem Einzelfall durch die Wahrscheinlichkeit 1/2 aus, so hätte eine durch ein halbes Jahrhundert durchgehaltene garantierte Stabilität der Abschreckung die Wahrscheinlichkeit (1/2) 7, d. h. etwas weniger als 1 °/o. Umgekehrt gesagt: Die Wahrscheinlichkeit, daß wir wenigstens 7 Jahre des nächsten Halbjahrhunderts ohne den Schutz der Zweitschlagskapazitäten werden leben müssen, ist nach dieser sehr vereinfachten Rechnung 99 °/o.

Für das jetzt bevorstehende Jahrzehnt kann man genauer reden. Das „Weißbuch 1970" nennt einige wohlbekannte Faktoren: „Die gefährliche Situation einseitigen Vorteils könnte auf dreierlei Weise entstehen: durch den Aufbau eines Raketenabwehrsystems (ABM) bis zu dem Punkt, an dem die eigene Bevölkerung einen Vergeltungsschlag nicht 25 mehr fürchten müßte; durch die Bestückung zielgenauerer Angriffsraketen mit mehreren Sprengköpfen (MIRV) welche in einer . Sättigungsattacke'die generischen Vergeltungsraketen ausschalten; oder durch eine Kombination von beidem."

Hier ist noch nicht genannt die Sicherung der Schlagkraft durch ihre Verlegung auf U-Boote und die damit einsetzende rapide Entwicklung von technischen Mitteln zur Ortung und Bekämpfung von U-Booten In diesem Wettlauf haben im Augenblick die U-Boote noch einen Vorsprung, doch wird man nicht wagen, mit Sicherheit zu prognostizieren, wie lange er andauern wird.

Wir haben diesen Fragen wegen ihrer Wichtigkeit eine ausführliche Systemanalyse gewidmet

Das Ergebnis dieser Untersuchung ist knapp zusammengefaßt:

Eine Kernwaffenmacht (X) kann sich gegenüber einer anderen Kernwaffenmacht (Y) in drei prinzipiell unterschiedlichen Positionen befinden:

1. Sie kann in der Lage sein, sowohl mit einem ersten Schlag als auch nach einem Überraschungsangriff der anderen Seite diesen Gegner als lebensfähige Industrienation auszulöschen. 2. Sie kann die Fähigkeit haben, den Gegner mit einem ersten Schlag auszulöschen, aber nicht, einen zweiten Schlag zu führen.

3. Sie kann unfähig sein, selbst mit einem ersten Schlag den Gegner vernichtend zu treffen. i 1L, -

Dieses Prinzip gilt für beide Mächte, und so ergeben sich als erstes Resultat acht mögliche unterschiedliche strategische Fälle

Sieben von ihnen sind wohl definiert. Als Beispiele geben wir nur an: Fall 1: Beide Mächte besitzen die garantierte Fähigkeit zum zweiten Schlag. Fall 3: Beide Mächte sind atomar unverwundbar (d. h., keine von beiden besitzt eine Fähigkeit zum zerstörenden ersten oder zweiten Schlag). Fall 4: Die Macht X hat die Fähigkeit zum ersten und zweiten Schlag, die Macht Y nur die Fähigkeit zum ersten Schlag (unter These 4 diskutierter Fall). Schließlich bezeichnet der Fall 8 die Ungewißheit: Die Waffen, ihre Anzahlen und Treffgenauigkeiten liegen so, daß man nicht vorhersagen kann, ob sie zum zerstörenden ersten oder zweiten Schlag ausreichen werden oder nicht.

Nun kann niemand mit Sicherheit vorhersagen, wie sich die Treffgenauigkeit und die Zahl der verschiedenen Waffentypen in den kommenden zehn Jahren entwickeln werden. Insbesondere sind die Effizienzen gegenüber den gegnerischen Abwehrmaßnahmen (z. B. Panzerungen, elektronische Gegenmaßnahmen usw.) im Frieden nicht einmal durch gemeinsame Tests der beiden Gegner (!) exakt zu verifizieren. Zuverlässige Prognosen hierüber stehen also auch den Regierungen nicht zur Verfügung. Auch die Regierungen müssen sich also auf Wahrscheinlichkeitsschätzungen verlassen.

Wir haben nun die Frage studiert: Angenommen, die Anzahlen und die Treffsicherheiten der Interkontinental-Raketen, der antiballistischen Raketen und der MIRV-Sprengköpfte nehmen gewisse Werte an — welcher strategische Fall wird dann jeweils vorliegen? Wir trugen'die Ergebnisse in Diagramme ein, in denen die jeweiligen Ausgangsannahmen als unabhängige Veränderliche behandelt werden und die Bereiche der Werte dieser Veränderlichen schraffiert werden, in denen jeweils der strategische Fall 1, Fall 2 usw. vorliegt. Käme z. B. heraus, daß bei jedem möglichen Wert der Anzahlen und TreffWahrscheinlichkeiten der vollstabile Fall 1 (beiderseitige assured destruction) vorläge, so würde man sagen: diese Waffenentwicklungen bedrohen die Stabilität nicht. Käme hingegen etwa heraus, daß bei vielen Parameterwerten der instabile Fall 4 vorliegt, so würde man eine große Wahrscheinlichkeit der Entstabilisierung voraussagen. Das Ergebnis zeigt einmal die Ungewißheit der Prognose. Deutlich ist andererseits: MIRV insbesondere in Verbindung mit ABM, wir-ken destabilisierend, überraschend — auch für die Verfasser — war, wie dicht die instabilen Fälle neben den stabilen Fällen liegen, wie kleine Verbesserungen von Treffwahrscheinlichkeiten zum Beispiel aus stabilen Lagen in instabile führen.

Für die genaueren Einzelheiten sei auf den Aufsatz „Dynamik und Entwicklung der Abschreckung" und die Originalstudie verwiesen. Man kann nach diesen Ergebnissen nicht damit rechnen, daß verläßliche Zweitschlagskapazitäten das nächste Jahrzehnt überdauern werden. In diesem Sinne sagen wir, das Wettrüsten werde wieder zu einer Erhöhung der Kriegsgefahr führen.

Hiergegen lassen sich zwei Einwände erheben: 1. Die SALT-Gespräche werden das Wettrüsten beenden.

2. Die wahre Sicherheit liegt in Zukunft nicht in verläßlichen wechselseitigen Zerstörungskapazitäten, sondern gerade in der Ungewißheit des Ausgangs eines Krieges, im „unkalkulierbaren Risiko".

1. Wenn es den SALT-Gesprächen („Strategie Arms Limitation Talks") in der Tat gelänge, das gesamte Wettrüsten zu beenden, so wäre zwar nicht unsere 6. These widergelegt, daß Wettrüsten des Kriegsrisiko erhöht, wohl aber die 5., daß das Abschreckungssystem zum Wettrüsten führt. Nichts Willkommeneres könnte der ganzen Welt heute im Bereich strategischer Waffen geschehen. Es ist ganz gewiß eine der Aufgaben einer heutigen Friedenspolitik, zum Erfolg dieser Gespräche alles nur mögliche beizutragen. Aber Vereinbarungen, die, wie zunächst angestrebt, neben Raketenzahlen allenfalls einige wenige qualitative Parameter wie Durchmesser oder Schub-kraft von Raketen begrenzen, bedeuten nicht einmal das Ende des Wettrüstens auf dem Gebiete der strategischen Waffen. Denn der »qualitative Wettlauf" geht als Nebenprodukt der Fortentwicklung der Tecknik weiter. Die Treffgenauigkeiten, die Zahl der MIRVs Je Rakete (als Ergebnis fortschreitender Miniaturisierung der Köpfe und der Verbesserung der Lenksysteme) werden steigen usf. * Und wie wir zeigten, wird dieser qualitative Wettlauf dem Gleichgewicht ebenso gefährlich wie der quantitative.

Und selbst wenn es gelingen sollte, auch den qualitativen Wettlauf auf diesem Spezialgebiet einzufangen, wäre allenfalls ein Zeitgewinn erreicht. Denn die wissenschaftlich-technische Waffenentwicklung auf allen anderen Gebieten (z. B. Laser) geht weiter, solange einander mißtrauende souveräne Groß-mächte gegenüberstehen. Der oben mit den Worten McNamaras beschriebene Mechanismus, die eigenen Entscheidungen unter Zugrundelegung „konservativer Annahmen", unter Zugrundelegung der schiechtest-möglichen Entscheidungen des Gegners also zu treffen (worst case analysis), wird wieder für den Aufbau dieser neu entwickelten Systeme sorgen.

Um mehr zu bedeuten als eine Atempause, müßte SALT ein Sprungbrett für viel größere, nämlich politische Entscheidungen werden. Entscheidungen, die außerhalb des Abschreckungssystems motiviert sind. 2. Es liegt uns ferne, zu behaupten, der Über-gang von der Abschreckung durch garantierte Zerstörungskapazitäten („assured destruc-tion") zur Abschreckung durch inkalkulables Risiko werde'alsbald einen Weltkrieg auslösen. Wir behaupten eine Erhöhung der Kriegsgefahr, mehr nicht. Die Wahrscheinlichkeit dieser Gefahr abzuschätzen, bleibt sehr schwer. Das biblische! Empfinden: „Wie war es in den Tagen Noahs? Sie aßen und tranken, kauften und verkauften, freiten und ließen sich freien, bis die Flut kam und sie alle ertränkte" — dieses Empfinden läßt sich nicht in mathematische Wahrscheinlichkeitsschätzungen umsetzen. Wir behaupten immerhin, daß das unkalkulierbare Risiko in den fünfziger Jahren bestand und daß die politischen und strategischen Planer mit guten Gründen der Sicherheit mißtrauten, unter der sie damals lebten, und darum die Abschreckungsstrategie entwarfen und verwirklichten, die wir hier besprochen haben. Wir haben die militärische Logik dieser Doktrin erkannt. Wir behaupten aber, daß die innere Konsequenz ihrer Weiterentwicklung genau diese militärische Logik wieder auflöst;

7. THESE: Der Versuch, durch Rüsten das Abschreckungsgleichgewicht zu erhalten, lähmt die Supermächte politisch und militärisch

Das Prinzip der Kriegsverhütung durch stabile Abschreckung zwingt also die Supermächte in ein Aktionsund Reaktionsschema, in dem die eigenen Rüstungsmaßnahmen von denkbaren (potentiellen) Rüstungsentwicklungen der Gegenseite diktiert werden Zu dieser Lähmung der Entscheidungsfreiheit über die eigenen Rüstungsanstrengungen tritt als traurige Ironie, daß am Ende einer Kette derart rationaler Entscheidungen zur Erhaltung des Gleichgewichts eben dieses Gleichgewicht verlorengehen dürfte.

Da sich überdies die strategischen Waffensysteme als ungeeignet zur Abschreckung von Aktionen gegen die Schützlinge der Supermächte erwiesen, haben — wie oben beschrieben — beide Supermächte ein immer wachsendes Arsenal von Waffen aufgebaut, die auf einer niedrigeren als der strategischen Ebene operieren. Da diese Waffen die weitaus größten Kosten der beiderseitigen Rüstung erfordern, zeigt sich hier ein zweiter Aspekt der Lähmung: die finanzielle Selbstblockierung beider Supermächte durch ihr Rüstungssystem. Wer die ungelösten inneren Strukturprobleme beider Gesellschaften ins Auge faßt, kann die Tragweite dieser Lähmung ermessen.

Das Prinzip der Kontrollierbarkeit der Waffen-einsätze in diesem Konzept verlangt zudem die zentrale Steuerung des Konfliktes. Es begünstigt daher eine duopolistische Struktur der Machtverteilung und diente in der Vergangenheit auch zu deren Rechtfertigung. Diese duopolistische Struktur lähmt wiederum die Entwicklung von weltweiten kooperativen Strukturen

Hat das Konzept der stabilen Abschreckung diese Folgen, so ist zu fragen, ob nicht andere Kriterien für die Aufrechterhaltung der militärischen Komponente der Sicherheitspolitik — insbesondere der Sicherheitspolitik der Supermächte — entwickelt werden müßten.

Als erster Versuch einer solchen Änderung mag der Versuch des „unkalkulierbaren Risikos" angesehen werden. Dieser Versuch ist aber unzureichend, da er einerseits weniger deutlich kriegsverhindernde Militärapparate aufbaut als die stabile Abschreckung und andererseits ähnliche Forderungen an die eigenen Rüstungsanstrengungen stellt wie das Stabilitätskriterium und mit den ähnlichen Anforderungen denselben Mechanismus auslöst wie das derzeitige Konzept.

KONSEQUENZEN A. Gerade die Fragwürdigkeit des Abschreckungssystems eröffnet der Bundesrepublik einen Spielraum, rüstungspolitische Entscheidungen als Mittel der Außenpolitik einzusetzen

Die Bundesrepublik ist nicht Träger einer Strategie der stabilen Abschreckung. Sie ist auch nicht in ein optimal funktionierendes Sicherheitssystem derart eingebunden, daß sich jede Einzelentscheidung zwingend aus dem System ergäbe. In der Tat, hätten wir eine Streitmacht, die uns gegen einen Angriff mit Eroberungsabsicht effektiv schützen könnte, so wäre die Forderung natürlich, sie solle nicht unter das Maß reduziert werden, unterhalb dessen sie diese Verteidigungskraft verlöre. Hätten wir wenigstens eine Abschreckungsmacht, deren Einsatz dem Gegner einen sicheren, kalkulierbaren Schaden androhte, von dem wir wissen, daß er ihm zu hoch sein wird, so müßte es wiederum leichtfertig erscheinen, diese Abschrek-kungsmacht so zu reduzieren, daß das Risiko inkalkulabel würde. So ist unsere Lage aber nicht. Wer nun sicherheitspolitische Debatten in unserem Lande, zumal in Expertenkreisen, in den vergangenen zehn Jahren verfolgt hat, ist in ihnen immer wieder dem Argument begegnet: „Dieser oder jener, vielleicht politisch erwünschte Schritt ist nicht möglich, weil er unsere militärische Sicherheit vermindert." Dieses Argument beruht wesentlich darauf, daß man in der Analyse unserer militärischen Situation auf halbem Wege stehenzubleiben pflegt. Man erkennt, daß unser militärischer Schutz, rein militärisch betrachtet, unzureichend ist. Ohne der Ursache auf den Grund zu gehen, fürchtet man, er werde weiter vermindert, wenn gewisse Elemente unserer Rüstung reduziert werden. In Wahrheit konserviert man dadurch nichts von einer Sicherheit, deren militärischer Grund, wie weiter oben erörtert, nur in der Ungewißheit des Risikos für den Gegner liegt, begibt sich aber der politischen Beweglichkeit, Rüstungsreduktionen als Angebote in Verhandlungen einzubringen. Akzeptiert man als Kriterium für die Wirkung von Rüstungsmaßnahmen die oben dargelegte politisch-militärische Realität, so eröffnet sich ein Spielraum, rüstungspolitische Entscheidungen als Mittel der politischen Friedenssicherung einzusetzen.

Die politische Tragweite dieses Prinzips kann nicht abstrakt vollständig beschrieben werden.

Sie sei deshalb im folgenden an einer Reihe von tagespolitischen Problemen exemplifiziert. Diese Probleme sind:

1. Aufrechterhaltung der Präsenzstärke der amerikanischen Truppen in Europa.

2. Aufrechterhaltung der Formalstärke der Bundeswehr gegliedert in 12 Divisionen.

3.

Vereinbarungen über wechselseitige gleich-gewichtige Truppenreduktionen in Europa (mutual balanced force reduction).

4. Die Wehrpflicht in der Bundesrepublik, insbesondere nach der Aufhebung der Wehrpflicht in Großbritannien und später den Vereinigten Staaten.

Die vier Probleme hängen eng zusammen. Die Forderung, die derzeitigen Präsenzstärken der Bundeswehr und der amerikanischen Streitkräfte in Europa aufrechtzuerhalten bzw. nur durch wechselseitige Vereinbarungen gleichzeitig mit denen der Sowjetunion zu reduzieren, wird einmal mit militärsch-strate-gischen Argumenten, die auf den offiziellen Annahmen über die Voraussetzungen und Wirkungen der derzeitigen Verteidigungsdoktrin beruhen, begründet.

So schreibt das „Weißbuch 1970":

„Es kommt entscheidend darauf an, daß in Westeuropa konventionelle Streitkräfte in einem Umfang aufrechterhalten werden, die der NATO die Möglichkeit belassen, auf alles außer einem vorsätzlichen Großangriff anders als nuklear zu reagieren: und die, wenn ein Angriff dieses Maßstabes erfolgen sollte, Zeit lassen für Verhandlungen über eine Beendigung des Konflikts und für Konsultationen unter den Verbündeten über den Ersteinsatz von Kernwaffen, falls die Verhandlungen fehl-schlagen sollten. Im Augenblick reicht der Umfang der konventionellen Streitkräfte für diesen Zweck gerade aus."

Die Forderungen beruhen also insoweit auf denjenigen Annahmen, die wir in unserer Studie unseres Erachtens falsifiziert haben.

Die Aufrechterhaltung der Papierstärke und Gliederung der westdeutschen Streitkräfte wird außerdem aber auch mit außenpolitischen Argumenten, in erster Linie mit dem Ziel der Aufrechterhaltung der amerikanischen Präsenzstärken begründet. Die amerikanischen Präsenzstärken werden wiederum in den Vereinigten Staaten mit einer Reihe von Gründen angegriffen. Ihren vorläufigen Höhepunkt fand die Auseinandersetzung in der Senatsberatung über den Mansfield-Antrag. Der Antrag sah vor, die Regierung der Vereinigten Staaten zu zwingen, die amerikanischen Kontingente in Europa bis 1972 um 50 0/o auf 150 000 Mann zu reduzieren Hauptargument der Verteidiger der derzeitigen Präsenzstärken in dieser Debatte war, daß eine amerikanische Reduktion eine europäische Reduktion nach sich ziehen würde. Die Hauptfunktion der amerikanischen Präsenzstärke ist es, die Bundesrepublik zur Aufrechterhaltung ihrer Präsenzstärke zu veranlassen. Die Hauptfunktion der Aufrechterhaltung der Präsenzstärke der Bundeswehr ist die Erhaltung der amerikanischen Präsenzstärke Die Funktion der Wehrpflicht in diesem Zusammenhang ist, die Präsenzstärke der Bundeswehr zu ermöglichen. Da die NATO-Partner sich wechselseitig die Aufrechterhaltung von Präsenzstärken zugesichert haben, können diese wechselseitigen Forderungen auch in der Form vorgebracht werden, sie seien zur Erfüllung der Bündnisverpflichtungen notwendig. Neben diesen Zweck tritt sowohl bei den Vereinigten Staaten als auch bei der Bundesrepublik die Absicht, die Sowjetunion zu Vereinbarungen über „gegenseitige ausgewogene Truppenreduzierungen in Europa“ zu veranlassen

Abwehren sollen die Forderungen also eine Truppenreduktion um 50 °/o bei den amerikanischen Streitkräften in Europa und nicht genau bezifferte Reduktionen der Formalstärke der Bundeswehr, die maximal wohl in der gleichen Dimension liegen würden.

Die Besorgnis, derartige Reduktionen würden unsere Sicherheit entscheidend gefährden, stützt sich unserer Ansicht nach nur auf das dumpfe, schwer analysierbare Gefühl, „mehr wäre besser", findet aber in der realen Begründung unserer Abschreckungsstrategie auf dem für Freund und Feind gleichermaßen inkalkulablen Risiko keine Rechtfertigung. Der Schein einer solchen Rechtfertigung entsteht nur, wenn man aus dem Arsenal der gegnerischen Möglichkeiten („capabilities") einen bestimmten Ausschnitt herausblendet, dessen Einsatz man für „am wahrscheinlichsten" deklariert und diesen Prozentsatz so definiert, daß die derzeit vorhandenen NATO-Truppen gerade ausreichen, diesem Einsatz zu begegnen. In diesem Fall sind weniger NATO-Truppen per definitionem zu wenig. Doch ist ein solches Vorgehen kein Beweis, sondern eine petitio principii.

Genau die dem Gegner bekannte Größe un-serer Streitkräfte wird ihn davon abhalten, einen Angriff, falls er ihn überhaupt führen will, mit einem Einsatz zu führen, der zur Überwindung dieser Streitkraft zu klein ist. Der Wahrscheinlichkeitsansatz, der gerade die bisherige Bemessung unserer Streitkräfte rechtfertigen soll, ist also eo ipso falsch.

Auch für das zweite Ziel, auf die Präsenzstärke der sowjetischen Truppen durch Verhandlungen Einfluß zu nehmen, ergibt sich kein militärisches Argument. Mutual balanced force reductions (MBFR), d. h. wechselseitige ausgewogene Reduktionen, die von einem Ausgangspunkt gezeichnet werden, der selbst gar kein Gleichgewichtspunkt ist, sind einmal äußerst schwer zu definieren. Zum anderen ergibt sich ein militärisch relevanter, qualitativer Unterschied nur, wenn man eine so starke Reduktion der sowjetischen Truppen aushandeln könnte, daß das bestehende Ungleichgewicht abgebaut und in ein Gleichgewicht überführt würde. Das aber wäre keine „balanced reduction", sondern eine Verschiebung der Machtbalance. Und um eine solche Verschiebung der Balance zuungunsten der Sowjetunion auf dem Verhandlungswege für extrem unwahrscheinlich zu erklären, braucht man nicht einmal von einem potentiellen Ausdehnungswillen der Sowjetunion auszugehen (imperialistische Politik). Es genügt vielmehr, die Annahme einzuführen, daß die Sowjetunion eine konservative Status-quo-Politik verfolgt.

Ergibt sich so weder für die Aufrechterhaltung der exakten Präsenzstärken der NATO noch für MBFR ein verteidigungspolitischer Zwang, ist zu fragen, welchen Stellenwert diese Größen haben, wenn man die reale Sicherheitssituation zugrunde legt. Diese Situation haben wir skizziert:

Für kleine Grenzübergriffe sind Abwehrmittel vorhanden. Für den „großen Krieg“ zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten mit oder ohne Angriff in Europa scheint die Abschreckungssituation zwischen den Großmächten noch stabil.

Für den Bereich „dazwischen" gibt es keine Abschreckungsstrategie ohne innere Widersprüche. Es bleibt aber die abschreckende Wirkung eines für Freund und Feind un-kalkulierbaren Risikos.

Das richtige Kriterium, das allen drei Fragen zugrunde gelegt werden muß, ist also: Inwieweit reduziert eine solche Herabsetzung der Präsenz bzw. Formalstärke konventioneller Truppen dieses für Freund und Feind un-kalkulierbare Risiko?

Ein unkalkulierbares Risiko „wissenschaftlich" zu kalkulieren und einem „neuen unkalkulierbaren Risiko" gegenüberzustellen, ist offensichtlich nicht möglich. Das heißt aber, es läßt sich nicht beweisen, daß eine bestimmte Reduktion der NATO-Truppen, z. B. um 50 Prozent, dieses für beide Seiten unkalkulierbare Risiko mindert. Es läßt sich aber ebensowenig beweisen, daß eine solche Reduktion das Risiko für beide Seiten erhöht. Es lassen sich allenfalls Gründe finden, die in einem nicht näher quantifizierbaren Maß für die eine oder die andere Auffassung sprechen.

Denn, daß so reduzierte NATO-Kontingente schneller gezwungen wären, die „nukleare Komponente" ins Spiel zu bringen, kann man einmal dahin gehend interpretieren, daß das Risiko für beide Seiten wächst — und beide Seiten daher stärker abgeschreckt werden, sich auf ein gefährliches Spiel einzulassen. Zu dieser Interpretation kommt man dann, wenn man in erster Linie den Effekt sieht, den ein für beide Seiten unkalkulierbares Risiko beim Gegner erzielt.

Man kann aber auch annehmen, daß das für beide Seiten unkalkulierbare Resiko gemindert wird. Zu diesem Schluß kommt man, wenn man sich vorstellt, daß der Gegner gegen geschwächte eigene Truppenkontingente leichter und schneller Erfolge erzielen kann, und wenn man bezweifelt, daß es glaubhaft ist, daß die NATO in solchen Fällen bereit sein würde, Kernwaffen einzusetzen. Diese Annahmen lassen sich begründen, wenn man in erster Linie die Abschreckungswirkung sieht, die das unkalkulierbare Risiko für uns selbst, für den mit der Eskalation Drohenden also hat. ;.

So wird klar, daß nicht einmal genau gesagt werden kann, ob eine Erhöhung oder eine Verminderung des für beide Seiten unkalkulierbaren Risikos „besser" oder „schlechter" ist. Natürlich findet eine solche Unkalkulier-barkeit des unkalkulierbaren Risikos dort ihre Grenze, wo die Truppenreduktion so weit geht, daß das Risiko als extrem gering kalkuliert werden kann. Ein Beispiel hierfür wäre eine Reduktion der amerikanischen Streitkräfte in Europa auf ein symbolisches Kontingent. Aber auch bei nicht ganz so extremen Reduktionen wäre zu berücksichtigen, daß sehr weitgehende Reduktionen (z. B. auf eine amerikanische Division) von der Gegenseite zu Recht oder Unrecht als Zeichen dafür gewertet werden könnten, daß die Erhaltung des Status quo in Europa von den Vereinigten Staaten nicht mehr als lebenswichtiges Interesse betrachtet wird. Schwieriger ist schon die Frage zu beantworten, inwieweit sehr drastische Reduktionen der Streitkräfte der europäischen NATO-Partner die unkalkulierbare Abschrek-kungsdrohung aushöhlen würden.

Hält man Abschreckungsdrohungen in Europa überhaupt für glaubhaft, so wird man als Resultat daher nur feststellen können, daß Truppen-Reduktionen die Strategie auf der Skala zwischen rein konventioneller Verteidigung und rein nuklearer Abschreckung ein wenig verschieben. Sie arbeiten also auf einer Skala, auf der es keine in sich widerspruchsfreien Lösungen für das Sicherheitsproblem der Bundesrepublik gibt. So gibt es auch keine eindeutige Bewertung, nach der einer der beiden Situationen für alle denkbaren Fälle der Vorzug eingeräumt werden müßte.

Neben militärisch demnach nicht zu verifizierende Vor-und Nachteile einer „einseitigen" oder „wechselseitigen" Truppenreduktion in Europa treten aber nun politische Effekte, die zu wägen wären und von denen die Entscheidung allein abhängig gemacht werden muß, wenn militärische Kriterien für eine Entscheidung u. E. nachweisbar nicht vorhanden sind. Solche politische Wirkungen sind u. a.:

Die Forderung nach der Aufrechterhaltung der amerikanischen Präsenzstärke in Europa strapaziert die amerikanische Finanzkraft. Die Überforderung der amerikanischen Finanzkraft wiederum schwächt den US-Dollar, trägt dazu bei, notwendige Reformen in der amerikanischen Gesellschaft zu verhindern (z. B. Slum-Sanierungen) und unterminiert so die Stabilität der amerikanischen Gesellschaft. Stabilität dieser Gesellschaft aber ist erste Voraussetzung für jede längerfristige Abschreckung, die sich auf die militärischen Mit-tel der Gesellschaft der Vereinigten Staaten stützt.

Die natürliche Reaktion der Vereinigten Staaten ist der Versuch, die Kosten auf die Bundesrepublik zurückzuwälzen. Dieser Versuch ist in der Vergangenheit stets bis zu einem gewissen Grad erfolgreich gewesen. Neben reinen Unterhaltsleistungen und Devisenausgleichszahlungen mußte die Bundesrepublik Lasten übernehmen, die über den Zahlungsbereich hinausgehen: Solche Lasten waren u. a.: die Verpflichtung zum Kauf amerikanischen Kriegsmaterials über den eigenen Bedarf hinaus und — am schwerwiegendsten — die Stützung des Dollars und damit verbunden die Finanzierung des amerikanischen Defizits, entstanden aus Vietnam-Krieg, Aufkauf europäischer Industrien und NATO-Verpflichtungen, die wiederum — zum Teil auf deutschen Wunsch — nicht reduziert werden konnten

Der damit verbundene Import der Inflation brachte die Bundesrepublik an den Rand der Krise Eine Krise schwächt aber gerade das Element, auf das sich ein psychologisches Faktum wie die Abschreckung mit stützen muß: die Stabilität unserer eigenen Gesellschaft.

Hinzu tritt die Unfähigkeit der sozial-liberalen Regierung, als notwendig erkannte Reformen durchzuführen und zu finanzieren. Nun soll keineswegs das billige Argument angeführt werden, daß allein die Wehrkosten dieses Dilemma verursachen. Neben einen Verteidigungsetat, der einschließlich Wehrforschung etwa 26 Milliarden DM umfaßt, treten jährliche Subventionen und Steuerverzichte in Höhe von etwa 30 Milliarden DM Jede dieser Summen und Subventionen dient mehr oder weniger effektiv einem politischen Ziel. Sie dienen darüber hinaus aber auch Gruppen von Interessenten. Die Nicht-Verlagerung sol-cher Steuerungsmittel auf angeblich als vordringlich erkannte Ziele: Umweltschutz, Erziehung, Bildung, Städtesanierung, städtischen Verkehr usw., bedeutet daher nicht, daß Mittel fehlen, sondern daß wegen des Drucks der Interessenten die verbal proklamierten Ziele in der politischen Realität nicht die Priorität erhalten. Ein endgültiges Versagen der Reformpolitik aber wiederum würde die Chancen gefährden, eine „Ostpolitik" treiben zu können, von der dieselbe Regierung nicht ohne Grund annimmt, daß sie die Kriegswahrscheinlichkeit in Europa herabsetzen würde.

Die politischen Kosten werden sich extrem steigern, wenn darüber hinaus das Wehrpflichtprinzip selbst in die Schußlinie kommt, wie Bundesverteidigungsminister H. Schmidt mehrfach betonte.

Was schließlich den politischen Wert einer mit der Sowjetunion ausgehandelten „ausgewogenen" gegenseitigen Truppenreduktion der NATO und des Warschauer Pakts betrifft, so hängt dieser Wert vor allem von den Prämissen ab, unter denen man diesen Faktor bewertet:

Zunächst sei der Effekt der „Mittelfreisetzung betrachtet:

Auch die Sowjetunion braucht dringend Mittel für zivile Zwecke: Aufbau der Industrie, der Infrastruktur, des Wohnungsbaues usw. Sie benötigt aber auch Mittel für: ABM-Systeme, Unterseebootflotten für Fernraketen, Angriffsmittel wie MIRVs, U-Boot-Abwehr, für kon-ventionelle Flottenstreitkräfte im Mittelmeer usf. Die Freisetzung von Mitteln durch Truppenreduktion in Europa kann jedem dieser Faktoren zugute kommen. Es steht weder fest, ob diese Mittel in den zivilen Bereich gehen oder in den militärischen, noch gibt es verläß-liche Kriterien, ob ein bestimmter Übergang den Interessen der Bundesrepublik dient oder konträr ist. Steigerung der zivilen Produktion kann die Sicherheit in Europa durch Konsolidierung erhöhen oder die Sowjetunion zu dominierenderem Auftreten verleiten. Argumente dieser Art waren z. B. maßgeblich an der Begründung des „Röhrenembargos" beteiligt. Verwendung der freiwerdenden Mittel im militärischen Bereich mag der Aufrechterhaltung stabiler strategischer Lagen dienen — und damit auch im Interesse der Bundesrepublik sein —, mag aber auch zum Aufbau von Potentialen dienen, die gewollt oder auch ungewollt zur Instabilität führen. Keines dieser Ergebnisse ist also beweisbar; ein belegbares Interesse an der Wechselseitigkeit von Streitkraftreduzierungen, das dem belegbaren Interesse der Bundesrepublik Deutschland an Stabilität und Reform in unserer Gesellschaft entgegengesetzt werden könnte, existiert also nicht.

Weder aus der militärischen Lage noch aus dem Argument, durch wechselseitige Truppen-reduzierungen sei die Sowjetunion zu einer friedlichen Verwendung ihrer Mittel zu veranlassen, läßt sich also die Forderung, Truppen-reduzierungen nur wechselseitig zuzulassen, begründen. Insoweit ergibt sich bisher also, daß einseitige Reduktionen so weit politisch verfügbar sein sollten, wie sie eine NATO-

Struktur aufrechterhalten, die für Übergriffe durch die Sowjetunion ein unkalkulierbares Risiko darstellt.

Es bliebe dann der Sowjetunion überlassen, von ihren Interessen aus selbst zu kalkulieren, ob sie ebenfalls reduzieren will oder nicht. Der Ausgang dieser Kalkulation mag Aufschlüsse über die Interessenauffassungen der sowjetischen Führung geben (nicht einmal das ist aber sicher).

Um bei dieser Interessenlage der Bundesrepublik eine Entscheidung über die vier aufgeführten Probleme zu begründen, müssen daher zusätzliche Annahmen eingeführt werden:

1 Man kann die wechselseitige Selbstfesselung 5 USA und der Bundesrepublik zur Auf-

Techterhaltung der gegenwärtigen Präsenzstärken selbst als einen Zweck ansehen. Das damit angestrebte Ziel wäre die Aufrechterhaltung einer klaren Konfrontation der Blöcke in Europa. In der Fortdauer dieser Konfrontation haben in den vergangenen 20 Jahren manche westliche Politiker die sicherste Garantie für die Fortdauer der inneren Einigkeit im eigenen Lager, damit für die eigene Stärke und damit für die Kriegsvermeidung gesehen. Ähnliche politische Ziele sind natürlich auch im Lager des Warschauer Pakts bekannt; sie werden dort u. a. als Forderung nach „ideologischer Wachsamkeit" vorgebracht. Im Rahmen dieser Denkweise wird die Forderung, Truppenreduktionen dürften nur gegenseitig und ausgewogen sein, geradezu zum Instrument einer Verhinderung eigener Truppenreduktionen. Sie übernimmt damit die Rolle, die vor etwa fünf Jahren die Argumente spielten, die gegen jede, auch wechselseitige Truppenreduktion in Europa gerichtet waren (vgl. die Diskussion über einige Rapacki-Vorschläge). Es ist leicht, die durch rein militärische Erwägungen nicht objektiv entscheidbaren Anforderungen an die „balanced reduction" dann so zu formulieren, daß sie für die Gegenseite unannehmbar werden. 2 . Eine (fast) konträre Zielsetzung liegt vor, wenn man als primäres Ziel das politische Faktum einer Vereinbarung über „MBFR" ansieht. In einer solchen Politik liegt der Akzent also weder auf der Aufrechterhaltung der Truppenstärke noch auf deren gleichmäßiger Reduktion, sondern auf dem Wert der Vereinbarung mit der Sowjetunion. Ein solcher Wert ergibt sich, wenn man die Annahme einführt, eine Sicherung des Friedens lasse sich durch eine Vielzahl von Vereinbarungen schrittweise durchführen (Gradualistisches Konzept)

Der Abschluß jedes einzelnen Vertrages hat dabei einerseits den Zweck, beiden Seiten wechselseitig die Kooperationsbereitschaft deutlich zu machen. Die Entwicklung eines solchen Netzes kooperativer Verträge soll andererseits zu einer langsamen Umwandlung des Verständnisses von eigenen Interessen in Richtung auf kooperative Interpretationen dienen. Dabei ist nicht überraschend, daß solche Vereinbarungen in den Anfangsstadien zunächst nur dort zustande kommen, wo die unmittelbare — z. B. militärische — Relevanz der Substanz des Übereinkommens gering oder null ist. Beispiele solcher Verträge sind: — Der Teststop-Vertrag — Der Non-Prolifertion-Vertrag (militärisch kein konträres Intresse zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion)

— Der Vertrag über das Verbot der Stationierung von Kernwaffen im Weltraum — Der Vertrag über das Verbot einiger militärischer Nutzungen des Meeresbodens — Der Vertrag über die Entmilitarisierung der Antarktis.

Unter diesem Aspekt würde gerade die militärische Irrelevanz einseitiger Truppenreduktionen und die weitgehende Unkalkulierbar-keit des politischen Nutzens einer Reduktion auch auf Seiten der Sowjetunion einen Vertrag über „MBFR" für den hier diskutierten Zweck attraktiv machen.

Stellen wir nun die beiden Positionen 1. und 2. nebeneinander, so ist nicht gewiß, ob eine von beiden ihr Ziel erreicht.

Zu 1. Es ist wahr, daß die präzise Konfrontation der Blöcke in Europa, die ein Merkmal der Ära des kalten Krieges war, nicht in den heißen Krieg umgeschlagen ist. Es ist aber zweifelhaft, ob das Interesse der USA, eine hohe Präsenz in Europa aufrechtzuerhalten, die gegenwärtige Erosion älterer Positionen in der kritischen Selbstprüfung viel länger überleben wird als Z; B, die Abwehr der Mitgliedschaft Pekings in den Vereinten Nationen. Es ist daher für die Bundesrepublik eine Politik von fragwürdigem Nutzen, die Basis des heutigen militärischen Systems in Europa, nämlich die Abschreckung durch beiderseits inkalkulierbares Risiko, mit der logisch nicht darauf folgenden, vielleicht nicht mehr lange aufrechterhaltbaren Forderung, die weitgehend zufälligen derzeitigen Präsenzstärken aufrechtzuerhalten, zu koppeln.

Zu 2.: Die Entspannungsund Normalisie-rungswirkung politischer Vereinbarungen über materiell nicht entscheidende'Sachfragen ist sicherlich oft ein wertvolles politisches Mittel, aber kein Selbstzweck. Insbesondere ist die Dauer der Normalisierungswirkung selbst wieder davon abhängig, Welche politischen Schritte folgen. Entscheidend ist schließlich, ob es gelingt, in Europa von einer Konfrontation zwischen Ost und West zu einer Kooperation überzugehen oder nicht. Es ist leicht, das thebretische Interesse aller europäischen Völker an der Kooperation herauszustellen. Wieviel schwerer es ist, von der theoretischen Erkenntnis zur praktischen Realisierung überzugehen, zeigen die langwierigen Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik, der Sowjetunion, Polen und der DDR, sowie die Berlin-Verhandlungen der vier Siegermächte. Haupthindernis dieser Kooperationsbemühungen ist die unterschiedliche sozioökonomische Struktur in Ost-und Westeuropa, die wechselseitige Organisation in antagonistischen Blöcken zur Bewahrung dieser Struktur, die wechselseitige Furcht vor Versuchen der Gegenseite, „Revolution oder Gegenrevolution" zu exportieren, und — lest but not least — die Furcht vieler Staaten in West-und Osteuropa, die Sowjetunion als weitaus stärkster europäischer Staat könnte sich in die inneren Angelegenheiten anderer Länder mischen, sei es in der nicht unbekannten Form indirekten Drucks, sei es gar — wie 1968 in der CSSR — durch militärische Intervention („Brüderliche Hilfe").

Optimierungskriterium für alle — militärisch offenen 1 —-Maßnahmen auf dem Rüstungssektor muß daher sein: Inwieweit baut eine Maßnahme die Gründe der Konfrontation ab, das Interesse an'der Kooperation auf? Las, sen sich durch Vereinbarungen über Truppen-reduktion, über Truppenstationierungen und über Informationsaustausch die wechselseitigen Befürchtungen abbauen? Welche eigene Maßnahme kann welche — begründete oder unbegründete — Befürchtung reduzieren? Welche gegnerischen Maßnahmen würde man als Indiz für kooperative gegnerische Absich-ten besonders begrüßen?

Der Aufbau eines gemeinsamen Gremiums aller beteiligten Staaten (einschließlich der USA) zur ständigen Diskussion dieser Fragen kann ein wertvoller erster Schritt zum wechselseitigen Aufbau von Vertrauen sein-Aber ehe ein Netz von wechselseitig vorteilhaften Verflechtungen geknüpft ist, das einen hohe!) Wert für alle Beteiligten besitzt und dessen Wert so die beste Abschreckung gegen Verletzungen der Kooperation durch einen Übermächtigen Partner wäre, werden Jahre vergehen. Jedes Durchsetzen der eigenen natio nalen Interessen gegenüber kleineren Nationen kann das gesamte aufgebaute Vertrauen über Nacht zerstören. Nur die Anerkennung der derzeitigen stabilisierenden Funktion der Blöcke und Schritte zum langsamen Abbau der Konfrontationsmittel, verbunden mit des Abbau der Konfrontation selbst, können schließlich zum Vertrauen in die gegenseitige Kooperätionswilligkeit und -fähigkeit führen Erst am Ende dieser Entwicklung kann dann die Auflösung der zur Sicherheit der konfrontierten Blöcke gebildeten Instrumente in Be-tracht gezogen werden. Verhandlungen über Truppenreduzierungen und -begrenzungen in Europa sind in diesem Licht zu sehen, zu bewerten und zu nutzen.

Wir weisen schließlich auf eine Frage hin, die jenseits der aktuellen Entscheidungen der Rüstungspolitik liegt. Wir haben im bisherigen Text die Freiheit und Unabhängigkeit der Bundesrepublik, in Übereinstimmung mit den Weißbüchern, als das Verteidigungsziel angesprochen. Nun schränken die Realitäten der modernen Welt den Sinn des Begriffs der nationalen Unabhängigkeit in wachsendem Maße ein. Die Abhängigkeit der kleineren Partner eines Bündnisses von der Hegemonialmacht ist im Warschauer Pakt manifest, aber auch in der NATO eine Realität. Das langsam zusammenwachsende westliche und zentrale Europa macht die Überwindung gewisser wesentlicher Züge nationaler Unabhängigkeit geradezu zum angestrebten Ziel. Was wir eigentlich zu verteidigen wünschen, ist eine freiheitliche Gesellschaftsordnung und — wenn wir ehrlich sind — den angewachsenen Wohlstand. Ob diese Werte dieselbe Sicherheitspolitik erfordern wie das klassische Ideal nationaler Unabhängigkeit, ist, wenn wir richtig sehen, in der offiziellen Verteidigungsplanung bisher nicht gefragt worden.

Diese Frage, zusammen mit den Widersprüchen im bestehenden Abschreckungssystem, hat sowohl militärische wie nicht-militärische Denker veranlaßt, Weisen der Selbstbehauptung ernsthaft zu prüfen, die außerhalb unserer offiziellen militärischen Tradition liegen.

Ohne Identifikationen mit irgendeiner solchen Form seien in diesem Zusammenhang als Untersuchungsbeispiele zwei Verteidigungsformen genannt, die wir in unserer Studie nicht untersucht haben:

I die Guerilla-Verteidigung (als Beispiel für eine neue militärische Verteidigung),

I

die soziale Verteidigung (als Beispiel für gänzlich neuartige Verteidigungsstragien).

Die Guerilla-Verteidigung kennt eine Reihe teils erfolgreicher historischer Vorbilder. Das ekannteste ältere Beispiel ist wohl der ampf der spanischen Guerilla gegen Napoeon (1809 bis 1813), von dem auch der Name ieser Verteidigungsform abgeleitet wird. Der Kampf der russischen und der jugoslawischen Partisanen im Zweiten Weltkrieg, der chinesische Bürgerkrieg und der Krieg in Vietnam sind hervorragende Beispiele aus der jüngsten Zeit

Der Begriff „soziale Verteidigung" scheint sich für alle Widerstandsformen durchzusetzen, die nicht auf dem Einsatz militärischer oder halbmilitärischer Gewalt beruhen

Beispiele einer solchen Verteidigung bieten Teile des indischen Unabhängigkeitskampfes, Widerstandshandlungen in Norwegen während des Zweiten Weltkrieges und der Widerstand in der CSSR gegen die sowjetische Okkupation 1968.

Es ist offensichtlich, daß weder die Guerilla-Verteidigung noch die soziale Verteidigung die Integrität des Staatsgebietes gewährleisten können. Legt man die im Verteidigungsweißbuch 1970 postulierten Ziele zugrunde, müßten beide Verteidigungsformen daher aus dem Kreis der zu betrachtenden Mittel ausscheiden. Doch verliert dieser Einwand sofort an Gewicht, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Unversehrtheit der Bundesrepublik auch mit den bisher behandelten militärischen Verteidigungsmittel nicht gesichert werden kann. An die Stelle des Territoriums als Schutzobjekt tritt bei beiden hier behandelten Widerstandsformen primär die soziale Ordnung, die vom Okkupanten unabhängige Gestaltung der Lebensbedingungen, die Selbstregierung, Das schließt nicht aus, daß beiden Widerstandsformen als Fernziel vorschwebt, dem Okkupanten die Okkupation so zu verleiden, daß er sich eines Tages wieder zurückzieht. Beide Widerstandsformen unterscheiden sich untereinander durch die Mittel, die im Kampf gegen die Invasoren angewandt werden. Gemeinsam ist ihnen dabei, daß der Widerstand kaum befohlen und kaum erzwungen werden kann. Die Folge ist, daß beide Widerstands-formen — wenn auch in unterschiedlichen Graden — vom Willen der Bevölkerung getragen werden müssen. Sie stellen damit im Gegensatz zum modernen nuklearen Krieg, bei dem der Wille der Bevölkerung keine Rolle mehr spielt wahrhaft „demokratische" Widerstandsformen dar (Plebiscite de tous les jours)

Doch in dem Maße, in dem sich diese Widerstandsformen dem Idealbild der „täglichen Volksabstimmung" nähern, d. h. auf Terror physischer oder psychischer Art gegenüber Kollaborateuren verzichten, entwickeln sie ein Element der Schwäche: Während die militärische Verteidigung zumindest die Produkte der zivilen Arbeit auch der kriegsunwilligsten Bürger zur Verstärkung des eigenen Kriegs-potentials nutzt, zählen besonders für die soziale Verteidigung nur die zum Widerstand noch Entschlossenen. Es ist eine offene Frage, unter welchen Bedingungen überwiegende Teile einer Bevölkerung in hochzivilisierten Gesellschaften ohne Hilfe von außen ihren Widerstandsgeist über lange Zeiten im täglichen Leben bewahren können.

Weiter stellt die Empfindlichkeit der modernen Industriegesellschaft gegen Störungen die Tauglichkeit beider Verteidigungsformen für hochentwickelte Nationen in Frage. Haffner, der im Volkskrieg (Guerilla-Krieg) ein taugliches Mittel wenig entwickelter Gesellschaften gegen Weltherrschaftsansprüche entwickelter Nationen sieht, schreibt hierzu:

„Die Zivilbevölkerung, die den Volkskrieg tragen soll, hält den Zivilisationsstreik, den er voraussetzt, erst recht nicht durch. Sollte aber, was fast unvorstellbar ist, eine zum äußersten entschlossene und mit extremen Machtmitteln ausgestattete revolutionäre Führung doch einen solchen Zivilisationsstreik und eine solche Selbstzerstörung eine Zeitlang erzwingen, so käme die Wirkung voraussehbarerweise fast der eines Atom-krieges gleich: Für eine von der Technik völlig abhängig gewordene Bevölkerung bedeutet die plötzliche nachhaltige Lahmlegung des technischen Apparates, ohne den sie nicht mehr leben kann, so etwas wie Genozid; Hunger, Seuchen und Massentod wären die unvermeidlichen Folgen

Vieles spricht für die Richtigkeit dieser Annahme. Offen bleiben muß aber insbesondere, inwieweit diese Thesen auch gegenüber der Widerstandsform der sozialen Verteidigung gelten, zu deren Grundlagen ein partieller Zivilisationsstreik gehört (Verweigerung bestimmter Kooperationsformen

Ein weiterer, unseres Erachtens gewichtiger Einwand gründet sich auf die Verlagerung des Widerstandes vom Soldaten auf die Zivilbevölkerung: Selbst diejenigen Völkerrechtsregeln zur Zähmung des Krieges, die den „technischen Fortschritt" überlebt haben, werden beiseite gedrängt. Doch muß gegenüber diesem Einwand anderseits gefragt werden, inwieweit angesichts der durch Massenvernichtungsmittel, wie Kernwaffen, in ihrer Existenz bedrohten Zivilbevölkerung die Regeln zur „Harmonisierung des Krieges" der Zivilbevölkerung wirklich noch dienen

B. Bei der Beurteilung jeder Politik hat der Beitrag zur Schaffung eines politisch gesicherten Weltfriedens die erste Priorität

Der Sinn dieser These ist — leider — weniger einfach als sie klingt:

Es sei zunächst hervorgehoben, daß wir von ihr in den vorangegangenen Betrachtungen über den Handlungsspielraum der Bundesrepublik keinerlei Gebrauch gemacht haben. Wir haben dort die Interpretation unserer nationalen Interessen, so wie sie heute herrschend ist, ungeprüft übernommen und nur gefragt, welchen Spielraum eine realistische Außen-und Rüstungspolitik hat, wenn man die innere Problematik des heutigen Sicherheitssystems berücksichtigt. Unser Ergebnis war, daß dieser Spielraum größer ist, als man meist denkt. Gleichwohl ist er beschränkt, denn er reicht nicht aus, das Weltsystem zu ändern. Daß eine solche Änderung aber notwendig ist, folgt aus dem Teil unserer Überlegungen, der sich auf die Welt als ganze, vor allem auf die Konfrontation der Supermächte bezog (4. bis 7. These).

Was also ist der pragmatische Sinn der Behauptung von der Priorität des politisch gesicherten Weltfriedens vor allen anderen Beurteilungskriterien einer Politik? Ihr Sinn ist nicht die Aufforderung, dem jeweiligen politischen Gegner in der Absicht der Entspannung möglichst weit entgegenzukommen. Wir sind freilich der Meinung, daß Entspannungspolitik notwendig und in gewissen Grenzen auch heute möglich ist, Aber die bloße Aufforderung zur Entspannungspolitik ruft den Einwand wach, man möchte doch diese Aufforderungen nicht an die eigene Seite, sondern an den Gegner richten. In der Ebene dieses Meinungsaustausches läßt sich das Problem des Weltfriedens nicht wirklich diskutieren. Um es etwas verschärft zu sagen: Die Haltung des kalten Krieges führt direkt, wenn auch langsam, zu einer Situation, in der mit dem Über-gang in den atomaren Weltkrieg gerechnet werden muß; aber bloß Entspannungsversuche durch gegenseitige Konzessionen zwischen den Weltmächten könnten sich sehr leicht als eine Kur am Symptom erweisen, die indirekt genau dieselbe kriegsschwangere Situation entstehen läßt.

Das heutige System der Großmächte ist nicht fundamental anders beschaffen, als es Großmachtsysteme in der Vergangenheit waren. In solchen Systemen besteht stets ein harter Kampf ums Dasein. Mit starken historischen Argumenten wird die Auffassung vertreten, ein Staat, der nicht das ihm mögliche tue, seine Macht zu steigern, sinke auf der Skala relativer Macht zurück und werde nach einiger Zeit durch einen machtbewußteren Konkurrenten ersetzt. Macht man diese Auffassung zur Richtschnur der Politik (imperialistische Politik im Gegensatz zur Status-quo-Politik dann ist der Konflikt im System perpetuiert. Nun haben in der Geschichte Staaten sehr oft eine solche Auffassung von Politik demonstriert. So entstand und entsteht ein latent oder offener Konflikt um die Hegemonieposition. Es kommt vor, daß ein Mächtesystem lange Zeit (im neuzeitlichen Europa jahrhundertelang) ein gewisses Gleichgewicht bewahrt. Es ist bisher in der Geschichte nicht vorgekommen, daß dieser Erfolg ohne immer wiederkehrende Kriege zwischen den Mächten erzielt worden ist (lokale Gleichgewichte, wie das zwischen den skandinavischen Nationen, sind ohne Krieg stabilisiert, weil ihre Teilhaber selbst keine Großmächte, aber von Großmächten umgeben sind). Die Gründe, welche einst die Staaten in den Krieg trieben, bestehen auch heute; sie liegen im Wesen eines Mächte-systems. Die Hoffnung, ein solcher Krieg werde vermieden werden, kann sich heute nur auf ein Zusammenwirken mehrerer Faktoren stützen: die Übergröße der Gefährdung durch die modernen Waffen, das wachsende Bewußtsein der Menschheit von der Notwendigkeit eines Weltfriedens und damit eine neue Bewertung der eigenen Interessen eines Volkes. Eine Bewertung, die die Machtexpansion auch des eigenen Staates als auf die Dauer schädlich betrachtet.

Daß die Übergröße der Waffen allein eine dauerhafte Friedensgarantie nicht gibt und nicht geben kann, zeigen unsere Thesen. Das wachsende Friedensbewußtsein ist ein höchst wertvoller Faktor; aber er allein kann den Frieden ebenfalls nicht garantieren, wenn er nicht umgesetzt wird in konkrete Strukturen der Lösung und Begrenzung von Konflikten, also eben in einen politisch garantierten Weltfrieden. Das ist etwas völlig anderes als zeitweilig gute Beziehungen zwischen hochgerü-steten Mächten, die jeden Augenblick die politische Freiheit haben, einen Krieg zu beginnen, wenn er ihnen nötig oder opportun erscheint.

Suchen wir eine Garantie des Weltfriedens, so müssen wir uns Gedanken zuwenden, die in der heutigen Weltlage schlechthin utopisch sind, wie dem einer föderativen Weltregierung mit einem Kernwaffenmonopol, oder der noch viel radikaleren Hoffnung einer Überwindung des Prinzips des zur Kriegführung berechtigten, nach momentaner Macht optimierenden souveränen Staates ohne die Garantie durch eine Weltregierung. Es ist nicht das Ziel der gegenwärtigen Studie, solche Möglichkeiten zu analysieren. Wir müssen es aber als unsere Überzeugung aussprechen, daß keine Regelung, die bescheidener ist, den Weltfrieden zu garantieren vermag. Die Hoffnung, mit einer geringeren Strukturänderung des Welt-systems auf die Dauer auszukommen, ist unserer Überzeugung nach eine Selbsttäuschung.

Wissen wir aber, daß wir diese große Strukturänderung heute nicht herbeiführen können, ja daß die politische Entwicklung des gegenwärtigen Jahrzehnts uns ihr nicht einmal näher-bringt, so beginnen wir zum erstenmal das wahre Gesicht des Friedensproblems zu sehen. Unsere Analyse zeigt nämlich auf der anderen Seite, daß die Forderung eines politisch garantierten Weltfriedens keineswegs ein übertriebener Perfektionismus ist. Der heutige Zustand hat eine strukturell eingebaute Tendenz, instabiler zu werden. Kurzfristig bietet er einen gewissen Schutz, langfristig treibt er zum Krieg. Was wir mit den verfügbaren Mitteln der heutigen Politik erreichen können, ist Zeitgewinn. Zeitgewinn ist aber letzten Endes vergeblich, wenn die gewonnene Zeit nicht genutzt wird, um die heute unmögliche Strukturänderung jedenfalls vorzubereiten und in Gang zu setzen.

Damit kehren wir zur Formulierung der gegenwärtigen These zurück. Eine Politik, die auf die automatische Fortdauer des heutigen Welt-friedens — wenn man ihn so nennen darf — vertraut und unter diesem Schutz die Partikularinteressen der eigenen Nation, des eigenen Kontinents, der eigenen sozialen Klasse durchzusetzen sucht, ist ebenso üblich und natürlich wie heute unverantwortbar. Sie ist auf lange Sicht der schwerste Schaden, der den eigenen Interessen angetan werden kann, sie ist das fortgesetzte „russische Roulett".

Was aber muß von einer Politik verlangt werden, die diese Kritik nicht verdienen soll?

Sie muß offenbar zweierlei leisten:

1. Sie muß zum Zeitgewinn beitragen.

2. Sie muß eine künftige grundsätzliche Änderung des weltpolitischen Systems erleichtern.

Diese beiden Forderungen sind bescheiden formuliert, vielleicht zu bescheiden. Um so entschiedener gilt, daß die Erfüllung wenigstens dieser Forderungen das erste Kriterium sein muß, das wir zur Beurteilung einer Politik benutzen. Welche Politik erfüllt diese Kriterien? Man wird von einer Studie wie der unseren nicht verlangen, daß sie den großen konstruktiven Entwurf einer solchen Weltpolitik vorlegt. Wir besprechen nur ein fundamentales Problem. Es ist sicher korrekt zu sagen, eine Weltfriedenspolitik müsse mögliche Konfliktherde ausräumen. So ist es natürlich, daß sie sich die Bekämpfung der Armut, der Ungerechtigkeiten der Güterverteilung bei Förderung der Produktivität, die Lösung von nationalen Konflikten, die aus der Vergangenheit übrig geblieben sind, die Förderung der Bildung und Verständigung, das Wachstum einer bewußten Weltkultur und viele andere evident nützliche und nötige Entwicklungen zum Ziel setzt. Wer aus Partikularinteresse diese Entwicklungen hindert, begeht einen offensichtlichen Fehler. Obwohl dieser Fehler die faktische Politik fast aller Staaten und noch mehr der privaten Machtgruppen charakterisiert, wollen wir auf ihn jetzt nicht näher eingehen; das wäre das Thema einer neuen Abhandlung.

Das Problem, dem wir uns hier nicht entziehen dürfen, betrifft vielmehr die militärische Absicherung der Staaten, die eine Friedenspolitik anstreben. Das Problem hat selbst einen militärischen und einen politischen Aspekt, und der politische Aspekt läßt sich in einen außen-und einen innenpolitischen Aspekt aufgliedern. Der militärische Aspekt kann als die Frage des minimal nötigen militärischen Schutzes bezeichnet werden. Die Antwort hierauf hängt nicht nur von der Beurteilung der technischen Mittel und der Strategien ab, sondern wesentlich auch von der außenpolitischen Konstellation. Für eine Weltmacht wie Amerika hängt sie von zwei Faktoren ab:

1. ob das Land nur sich selbst oder auch ein ausgedehntes Bündnissystem zu schützen hat, 2. ob das Land zu effektiven Absprachen der Rüstungsbegrenzung mit seinen virtuellen Gegnern kommen kann. Die mit 1. verbundene Problematik haben wir unter der 7. These ausführlich besprochen. Sie ist wohl am deutlichsten im Vietnam-Krieg geworden. Der Versuch, zur Einhaltung der übernommenen Verpflichtungen stark genug zu sein, hat sich hier de facto ad absurdum geführt und zwingt die heutige Regierung der USA, eine Lösung zu suchen, die auf diesen Aufwand verzichtet. Die innere Logik des militärischen Engagements ist hier in einen nicht mehr auflösbaren Konflikt mit dem gekommen, was die amerikanische Nation noch zu wollen vermag. Man kann also heute sagen: Diejenige militärische Anstrengung, die den übernommenen Verpflichtungen militärisch gerecht würde, ist aus politischen Gründen unmöglich. Eine Politik, die das Land aus diesem unlösbaren Widerspruch befreit, ist nicht etwa, wie viele „Falken" noch vor nicht langer Zeit meinten, Friedensromantik, sondern auch militärisch eine Notwendigkeit.

Die Sowjetunion ist prinzipiell nicht in einer anderen Lage als die USA; sie hat dasselbe Interesse, von unerfüllbaren Forderungen an sich selbst loszukommen. Zwar hat sie das vielleicht größte mit Vietnam vergleichbare Teil-problem außerhalb ihrer Grenzen in den letzten Jahren, das der Tschechoslowakei, für den äußeren Anschein „glatter" gelöst. Aber man geht wohl nicht fehl, wenn man die Nötigung für die UdSSR, diese Bewegung für Freiheit in einem kleinen Lande gewaltsam zu unterdrücken, als Schwächesymptom deutet. In dreifacher Hinsicht ist die Sowjetunion dazu verdammt, einen zweiten Platz einzunehmen: an industrieller Kapazität gegenüber Amerika und vielleicht auf die Dauer selbst gegenüber Westeuropa und Japan, an Bevölkerungszahl und vielleicht an Überzeugungskraft bei der nicht-weißen Majorität der Erdbevölkerung gegenüber China, an politischer Glaubwürdig-keit gegenüber der Freiheit verlangenden Jugend der Welt, zumal im eigenen Lager, ja im eigenen Land.

Diese Lage nötigt die beiden Supermächte, deren beider Ideologien theoretisch auf Fortschritt gestimmt sind, praktisch zu einer konservativen Politik, in der Kooperation untereinander sich als vernünftig nahegelegt. So unbefriedigend und daher letzten Endes auch instabil diese Politik angesichts der drängenden, objektiv begründeten Fortschrittsfor-SChung in der ganzen Welt ist, sie bietet uns wenigstens die Chance einer militärischen Absprache der beiden Mächte. Sie bietet uns, gemessen an den beiden Kriterien einer konstruktiven Weltfriedenspolitik, die Chance des Zeitgewinns, wenn auch ohne einen hinreichenden Fortschritt in der Richtung auf eine Lösung der Aufgabe einer Umstrukturierung des Mächtesystems. So unzureichend das ist, uns bleibt nichts übrig, als diese gegenwärtige Entwicklung zu Absprachen der Weltmächte zu unterstützen. Ein Scheitern dieses Kurses würde den Zeitgewinn gefährden, ohne uns der nötigen Umstrukturierung anders zu nähern als durch einen Krieg.

Schließlich ein Wort zum innenpolitischen Aspekt. In jedem Lande steht die Rüstungspolitik unter einem starken innenpolitischen Druck von zwei Seiten. Rüstungsausgaben sind unpopulär, eine — echte oder vermeintliche — Gefährdung der nationalen Sicherheit ist ebenfalls unpopulär. Dazu kommt das Problem, daß sowohl die Größe der militärischen Ausgaben wie die Schwierigkeit der Sachfragen und die Decke der Geheimhaltung eine demokratische Kontrolle dieser Ausgaben erschweren. Man wird das durchschnittlich finanzielle Gebaren des Großausgebers, den jede Wehrmacht darstellt, wohl nicht falsch wiedergeben, wenn man sagt: Das Militärressort eines Landes ist fast immer der Überzeugung, für seine Zwecke würde nicht genug Geld bewilligt, und es fordert gleichzeitig mit einer Großzügigkeit Geld an bzw. gibt das bewilligte Geld aus, die in vielen konkreten Fällen nicht gerechtfertigt werden kann. Die gesamte Entwicklung destablisierender Waffensysteme gehört im Ergebnis zu diesen ressortbestimmten Fehlentscheidungen. Hier liegt wieder einmal ein „Systemzwang" vor, akzentuiert dadurch, daß diese Waffenentwicklung meist durch die nicht unbegründete Vermutung veranlaßt ist, der Gegner folge denselben Systemprinzipien (vgl. oben das McNamara-Zitat). Die Militärexperten aller Länder, die kurzfristig effizient den Schutz des eigenen Landes anstreben, wirken de facto und wider Willen wie eine internationale Verschwörung zur tödlichen Gefährdung aller Länder.

Die Erkenntnis dieses Sachverhalts zwingt zu einer harten Betonung des unbedingten Primats der Politik. Das Argument: „Dieser Schritt mag politisch wünschenswert sein, ist aber aus Gründen militärischer Sicherheit nicht möglich", muß mit grundsätzlichem Mißtrauen betrachtet werden; wer es vorbringt, muß einer strikten Beweispflicht dafür unterworfen werden, daß gründlich geprüft worden ist, ob keine andere Alternative besteht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. H. Afheldt, A. Künkel, A. Pfau, E. Rahner, K. Rajewski. U. -P. Reich, H. Roth, Ph. Sonntag, C. F. v. Weizsäcker, Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, hrsg. von Carl Friedrich v. Weizsäcker, München 197131, *S. 290.

  2. Weißbuch 1970. Zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage der Bundeswehr, S. 17— 20 ff., 20— 26.

  3. Weißbuch 1970, S. 20 ff., 27— 28.

  4. Weißbuch 1970, S. 21 ff., 29.

  5. So auch Rudolf Woller, Der unwahrscheinliche Krieg, Stuttgart 1971, S. 129/130. — Das Streben nach dem konventionellen Gleichgewicht — also der Versuch, so viele, mit herkömmlichen Waffen ausgerüstete Streitkräfte bereitzustellen, daß man einen feindlichen Angriff auf breiter Front aufhalten und zurückwerfen könnte — wäre der törichteste Verstoß gegen die Regeln der Sicherheitspolitik unter den gegenwärtigen historischen Bedingungen Europas. Erstens kann der Versuch nicht gelingen, weil eine gleichwertige und gleichstarke westliche Streitmacht von hoher Präsenz auf jeden Fall die wirtschaftlichen Möglichkeiten unserer Länder übersteigen müßte. Es hieße unsere Volkswirtschaft als Existenzbasen unserer Völker, die im Kriege vor Vernichtung bewahrt werden sollen, bereits im Frieden zu ruinieren.

  6. Weißbuch 1970, S. 27— 29, Ziff. 42— 46.

  7. Weißbuch 1970, S. 20.

  8. Vgl. Woller, S. 124.

  9. Vgl. unten S. 12 ff.

  10. Vgl. z. B. Eine Strategie für Europa, Frankfurt 1963, bes. S. 73 ff., 141 ff.

  11. Vgl. Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, S. 65. 14) Vgl. Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, S. 66, S. 294 ff.

  12. R. Wohlstetter, The Precarious Balance of Power, 1958.

  13. Eine umgekehrte Tendenz läßt sich in der deut schen Verteidigungsplanung beobachten. Hier wird gerne mit wahrscheinlichen Fällen operiert. Dieser Sachverhalt und die Kritik daran, daß insbesondere ineffektive gegnerische Strategien für wahrscheinlich erklärt werden, findet sich in: Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, S. 299.

  14. Robert S. McNamara, Die Sicherheit des Westens, Wien-München-Zürich 1969; S. 69— 71.

  15. So noch im Military Budget 1967. — Hier liegt also ein Widerspruch zu der These McNamaras, die US-Kapazitäten seien stärker gewachsen, als die militärischen Bedürfnisse der USA dies erfordert hätten. Vgl. oben S. 13.

  16. Die Fragwürdigkeit dieses Konzeptes klingt bereits in frühen Studien an. Vgl. z. B.: Eine Strategie für Europa, Frankfurt/M. 1963, S. 75 ff. — Eine der jüngsten Beschreibungen der Probleme einer solchen Strategie findet sich bei W. Slocombe, The Political Implications of Strategie Pa-rity, Adelphi Paper 77, London ISS 1971, S. 9 ff. Slocombe untersucht insbesondere den Einfluß, den der Übergang von „assured destruction Positionen" mit Überlegenheit einer Seite zu assured destruction bei „Parity" hat.

  17. So gaben die Vereinigten Staaten im Fiscal-Jahr 1971 rund 8 Milliarden Dollar (von insgesamt 73 Milliarden Dollar Rüstungsausgaben) für strategische Streitkräfte, rd. 25 Milliarden für „General purpose forces" und 28 Milliarden für militärische Unterstützung anderer Nationen, „guard and reserve forces" usw., aus. Das Verhältnis war 1968 noch sehr viel stärker zuungunsten der strategischen Streitkräfte verschoben (SIPRI Yearbook of World Armaments and Dis armament, 1969/70. S. 7). Die französischen und britischen Ausgaben für die strategische Nuklearstreitmacht liegen verständlicherweise prozentual höher. Doch auch hier liegen die Schätzungen unter 30— 35 °/o des Gesamtverteidigungsetats. (Vgl-z. B Jan Smart, Future conditional. The Prospec for Anglo-French Nuclear Cooperation, Adelphi-Paper 78, ISS London 1971, S. 18/19.)

  18. Vgl. z. B. das emotionell aufgeladene, aber sehr informationsreiche Buch von R. Z, Barnet, The Economy of Death, New York 1969, deutsch: Der amerikanische Rüstungswahn oder Okonomie des Todes, ro-ro-ro f 97f. _ „

  19. Vgl. etwa J. Galbraith, Die industrielle Geseli schäft.

  20. Vgl. W. Albrecht, Der Handel mit Waffen, München 1971.

  21. Weißbuch 1970, S. 8 Ziff. 8.

  22. ABM: Anti-Ballistic Missile, Raketenabwehrrakete.

  23. MIRV: Multiple Independently-Targeted Reentry Vehicle. Rakete mit mehreren, unabhängig voneinander in verschiedene Ziele gesteuerten Sprengköpfen.

  24. Weißbuch 1970, S. 8.

  25. Vgl. z. B. Strategie Survey 1970, herausgegeben vom Inst, for Strategie Studies, London 1971.

  26. H. Afheldt und Ph. Sonntag, in: Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, S. 303— 416, jetzt auch englisch als Separatdruck: Stability and Strategie Nu-clear Arms, World Law Fund Occasional Papers, World Law Fund, New York 1971.

  27. Formal ergeben sich zunächst neun Kombinationen. Zwei von diesen Kombinationen sind unmöglich. Hinzu tritt dann der Fall der Unkalkulierbarkeit. Vgl. hierzu: Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, S. 313. Anm. 14.

  28. Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, S. 303 ff.

  29. Hierauf hat insbesondere Dieter Senghaas in einer Reihe von Aufsätzen immer wieder hingewiesen.

  30. Vgl. hierüber: Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, S. 425 ff.

  31. Weißbuch 1970, S. 28. Vgl. die Kritik an einer solchen Strategie, die dem Gegner unterstellt, Angriffe des Maßstabes führen zu wollen, für die die eigenen Streitkräfte gerade ausreichen, in der Studie: Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, S. 299 ff.

  32. Vgl. z. B. Minister H. Schmidt, Bundestagsdebatte vom 12. 5. 1971, Bundestagsprotokoll 122. Sitzung, S. 7095/96.

  33. Vgl. Die Welt vom 21. 5. 1971, S. 1/2. Der Spiegel, Heft 22/71 S. 18, schreibt über das Ergebnis der Abstimmung: „Pyrrhus-Sieg. Nixons Erfolg bei der Abstimmung über den Rückzug von US-Truppen aus Europa ist im Grunde eine Niederlage. Zwar blieb der demokratische Fraktionschef im Senat, Mike Mansfield, mit seiner Forderung, die Truppen bis zum Jahresende von 300 000 auf 150 000 zu verringern, bei 36 Ja-und 61 Nein-stimmen klar in der Minderheit. Aber: 24 andere Senatoren stimmten in fünf abgemilderten Anträgen gleichfalls für eine Verringerung der Truppenpräsenz auf dem alten Kontinent - somit votierten 60 der 100 US-Senatoren grundsätzlich für den Abzug."

  34. Uber die Standpunkte auch innerhalb der US-Administration vgl. z. B. Helga Haftendorn in: Europäische Sicherheitskonferenz, Opladen 1970, S. 30 und 34 ff.

  35. Die Sowjetunion hat ihr Interesse an solchen Reduktionen bekundet.

  36. Vgl. z. B. Südd. Zeitung vom 19. /20. 5. 1971, S. 1.

  37. Vgl. Verteidigungsweißbuch 1969, S. 17/18.

  38. So in letzter Zeit der Kauf von 200 Phantom-Flugzeugen anstelle der zunächst beabsichtigten 80.

  39. Vgl. das Blessing-Interview im Spiegel Nr. 19, S. 82, 1971. — Blessing: ... Da kam der Vietnamkrieg, dann kam der Präsident Johnson mit seiner Finanzpolitik, mit einem 25-Milliarden-DollarBudget-Defizit damals in einem Jahr. All das war ren die Gründe für die Inflation. Ich habe zu meinem amerikanischen Kollegen oft gesagt: Es geht ja immer weiter bei euch. Dann kam die Geschichte mit den Truppen. — Frage: Sie meinen die Drohung der Amerikaner: Wenn ihr den Dollar nicht auf diese Weise stützt, ziehen wir die Truppen aus der Bundesrepublik zurück? — Blessing: Es war nie eine ausgesprochene Drohung, aber die Drohung war immer im Hintergrund da. Der frühere Hochkommissar McCloy war einmal bei der deutschen Regierung und sagte: „Hören Sie mal, wir haben jetzt eine Senatsentscheidung gehabt; da kommt demnächst eine Mehrheit, daß wir unsere Boys zurückziehen. Wir müssen was tun." — Blessing antwortete darauf: „Sie haben gesehen, daß wir vernünftig sind und nicht un-sere Dollar in Gold konvertieren. Ich bin bereit, Ihnen das sogar schriftlich zu geben für eine gewisse Zeit." Der Brief gilt leider heute noch, den ich damals geschrieben habe.

  40. Der Rücktritt des Finanzministers Möller im Frühsommer 1971 macht diesen Punkt deutlich. Er wurde u. a. auch mit den Forderungen des Verteidigungsressorts begründet. — Die überproportionale Steigerung der Verteidigungsausgaben im Haushalt 1972 fällt zusammen mit der Unfähigkeit, ein Finanzprogramm für die wichtigsten Reformen aufzustellen. (Vgl. hierzu die CDU-Anfrage vom 22. 9. 1971 — vgl. dazu auch Südd. Zeitung vom 23. 9. 1971, S. 6.)

  41. Vgl. Subventionsbericht der BRD.

  42. Vgl. A. Etzioni, Der harte Weg zum Frieden.

  43. Vgl. Joachim Schickel (Hrsg.), Guerilleros, Partisanen. Theorie und Praxis, Reihe Hanser 42, München 1970.

  44. Theodor Ebert, Soziale Verteidigung — eine Alternative zur Vorwärtsverteidigung? Ein Forschungsbericht, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 18. Jg., Heft 2, Februar 1967, S. 75— 88; Adam Roberts (Ed.), The strategy of civilian defense. Non violent resistance to agression, London 1967; Gene Sharp, Das politische Äquivalent des Krieges — die gewaltlose Aktion, in: Ekkehard Krippendorff (Hrsg.), Friedensforschung, Köln 1969, S. 477— 413; Wolfgang Sternstein, Die Lehren von Prag. Der gewaltlose Widerstand in der Tschechoslowakei als Modell, Gewerkschaftliche Monats-hefte, 19. Jg., Heft 11, November 1968, S. 641— 648; Vereinigung Deutscher Wissenschaftler, Civilian Defense. Gewaltloser Widerstand als Form der Wehrpolitik, Tagungsbericht, Gütersloh, 1969; Soziale Verteidigung (Tagungsbericht), in: Gewalt-freie Aktion, H. 9/10, 1971.

  45. P. Gallois, Der paradoxe Frieden.

  46. So für die Guerilla-Verteidigung S. Haffner in: Mao tse-Tung, Theorie des Guerilla-Krieges, Rowohlt-Taschenbuch 1966, S. 22.

  47. Haffner, a. a. O., S. 31.

  48. Vgl. hierzu Theodor Ebert in: Die gewaltlose Aktion, Heft 1, 1970.

  49. Der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, W. Bargatzky, wies in seiner Rede zur 100. Wiederkehr der II. Internationalen Rotkreuzkonferenz auf die Inkongruenz der Nonnen und der Realitäten hin. Er zitierte ein Beispiel des Generaldirektors des Internationalen Komitees: „Wenn ein Soldat ... von einem Flugzeug aus, wie es heute so oft geschieht, seine Bombenlast auf bewohnte Städte (wirft) und tötet dabei Tausende von Müttern und Kindern, so bleibt er ... straflos, weil es keine Völkerrechtsnorm gibt, die dieses verbietet. Wird dieses Flugzeug dann abgeschossen und springt er mit dem Fallschirm ab und landet in derselben Stadt, so kann er für seine Person sogleich den Schutz der Genfer Kon-vention in Anspruch nehmen." Bargatzky fährt fort: „Sie müssen bedenken, daß wir, was die Schonung der Bürger in militärischen Konflikten angeht, noch ein völlig veraltetes und lückenhaftes Völkerrecht haben ...“ Zitiert nach: Sonderdruck aus dem DRK-Zentralorgan, H. 6, 1969, S. '

  50. Vgl. Morgenthau, Macht und Frieden, S. 81.

Weitere Inhalte

Hartmut Lüdtke, Dr. phil., Jahrgang 1938, Referent für Empirische Sozialforschung an der Forschungsstelle der Hochschule für Wirtschaft und Politik, Hamburg, und Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg; Studium der Soziologie, Politischen Wissenschaft, Psychologie und Erziehungswissenschaft in Berlin und Hamburg. Veröffentlichungen auf den Gebieten Bildungsplanung und Lehrerbildung, Jugend und Sozialisation, Freizeit, Forschungsmethoden. Bücher in Vorbereitung: Jugendliche in organisierter Freizeit, Weinheim-Berlin-Basel 1972; Freizeit in der Industriegesellschaft, Opladen 19721 Herausgeber von: Freizeit und soziale Orientierung, Weinheim-Berlin-Basel 1972; Erzieher ohne Status?, Heidelberg 1972.