Historische Belastungen des Parlamentarismus in einer asiatischen Gesellschaft
Die Frage nach der politischen Modernisierung und der Entwicklung demokratischer Herrschaftsformen in Japan nach seiner Kontaktaufnahme mit den westlichen Mächten im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts verdient schon deshalb unsere Aufmerksamkeit, weil es sich bei Japan um den bisher einzigen Fall der Verwandlung einer traditionellen asiatischen Gesellschaft in einen modernen Nationalstaat westlichen Typs und eine technologisch leistungsfähige Industriegesellschaft handelt, der als ein erfolgreicher Modernisierungsprozeß aus eigener Kraft bezeichnet werden kann.
Der Prozeß der Transformation einer auf Sippenordnung und Clientele-Verhältnis aufgebauten Feudalgesellschaft in einen modernen, dem internationalen Wettbewerb gewachsenen Staat hat sich historisch gesehen in zwei großen Etappen vollzogen: Den ersten epochalen Einschnitt stellte hier die Frühperiode der sogenannten Meiji-Zeit von der Restauration der kaiserlichen Souveränität im Jahre 1867 bis zur Verabschiedung der ersten modernen Verfassung Japans im Jahre 1889 dar. Die zweite Periode des rapiden politischen und sozialen Wandels wurde durch die Reformen eingeleitet, die nach der Kapitulation Japans im Zweiten Weltkrieg auf Drängen der amerikanischen Besatzungsmacht eingeleitet wurden und ihren Höhepunkt in der Verabschiedung der Verfassung von 1947 fanden.
Der Versuch, den komplexen Prozeß der politischen Veränderung, durch den diese beiden Perioden ihre historische Bedeutung gewannen, im Rahmen einer kurzgefaßten Darstellung nachzuzeichnen, erscheint aussichtslos. Ich will mich deshalb darauf beschränken, jene charakteristischen Züge der Neuformung aufzuzeigen, die wesentlich dazu beigetragen haben, das Experiment der sozialen Modernisierung in Japan zu einem Vorgang zu machen, der keine Parallelen in anderen Ländern des asiatischen Kulturkreises hat.
Die Meiji-Restauration
Ein entscheidendes Element der japanischen Sonderentwicklung liegt im Charakter jenes Staatsstreichs selbst, mit dem im Jahre 1867 eine Gruppe junger Samurai die dreihundert-jährige Tradition des militärischen Lehensstaats durchbrach. Dem Druck der auf Modernisierung drängenden Verschwörer weichend, mußte am 19. November dieses Jahres der letzte Shögun (Militärdiktator) aus dem Adelshaus der Tokugawa sein Amt nieder-
egen und die Regierungsgewalt in die Hände einer kaiserlichen Dynastie zurücklegen, die nach der offiziellen Staatstheorie des Reichs auf Grund ihrer göttlichen Abstammung schon seit der mythischen Urzeit den Anspruch auf die volle und ungeteilte Souveränität erheben onnte und dernoch seit dreihundert Jahren ein in der Praxis politisch bedeutungsloses Schattendasein geführt hatte.
Der Putsch der jungen Samurai aus den Westprovinzen, der die Neuzeit in Japan einleiten sollte, war gewiß keine bürgerliche Revolution, die sich etwa mit der Französischen Revolution von 1789 vergleichen ließe. Wir haben es hier nicht mit dem aus der europäischen Geschichte vertrauten Phänomen einer sozialen Revolution zu tun, die ihre Dynamik aus der Unzufriedenheit einer breiten, politisch benachteiligten und zu einem neuen Bewußtsein ihrer gesellschaftlichen Rolle erwachten Bevölkerungsschicht gewinnt und es sich zur Aufgabe macht, die soziale und politische Struktur des Landes grundlegend zu verändern. Das Motiv der jungen Angehörigen des unteren Kriegerstandes, die zur Vorhut des Staatsstreichs werden sollten, lag gewiß weniger in irgendwelchen sozialreformerischen Plänen als in dem Versuch, durch wirtschaftliche und administrative Reform die Basis zu einem militärischen Erstarken Japans aufzubauen und so den Schock zu überwinden, der aus der Erkenntnis der eigenen Schwäche nach der gewaltsamen Öffnung des Landes für den internationalen Handel durch amerikanische Kanonenboote im Jahre 1853 entstanden war. Ebensowenig wäre es aber zutreffend, wenn man die Meiji-Restauration in ihren Ursprüngen als eine Art von Palastrevolte innerhalb des sozial und juristisch privilegierten Kriegerstandes betrachten wollte, bei der es nur um das Bestreben einer neuen oligarchischen Gruppe ginge, die Herrschaft zu usurpieren und so eine personelle Auswechslung der Führungsgruppe ohne wesentliche Veränderung der politischen Struktur herbeizuführen. Dem Phänomen der Meiji-Restauration kommen wir wohl in sozial-geschichtlichen Kategorien am nächsten, wenn wir sie als eine bewußt eingeleitete und unter klaren Zielsetzungen operierende „Revolution von oben" interpretieren, deren Führungsschicht sich aus einer verhältnismäßig kleinen Gruppe von mit den bestehenden Verhältnissen Unzufriedenen rekrutierte.
Die Revolution ging von den jüngeren Samurai der Westprovinzen aus, also von einer Gruppe, die sich im wesentlichen aus der Clientele der Tözama-daimyö, der den Toku-gawa traditionell feindlich gesinnten „Äußeren Lehensherren", rekrutierte. Wenn sich die Angehörigen dieser Gruppe auch als von der Herrschaftsclique der Tokugawa und ihrer Lehensleute unterdrückt betrachtete und die Reform eines politischen Systers verlangte, von dem sie sich vernachlässigt und mit Mißtrauen betrachtet wußte, so darf doch hinter diesem Faktum die Tatsache nicht zurücktreten, daß die Führungsgruppe selbst sich vollständig aus der rechtlich privilegierten Oberschicht des Kriegerstandes rekrutierte, der ungefähr fünf Prozent der Bevölkerung umfaßte.
Erst nach dem Ausbruch der Revolte gingen die jungen Samurai jenes Bündnis mit dem vom Militäradel entmachteten Hofadel von Kyoto ein, das ihrem Aufstand durch die Berufung auf die Tradition der kaiserlichen Souveränität den Anstrich der Legitimität verlieh, und fanden die Unterstützung einer zu wirtschaftlicher Macht aufgestiegenen neuen Klasse: des Handelskapitals in den Hafenstädten, das unter der restriktiven Handelspolitik der Shögunatsregierung litt und bereit war, jede Änderung des Status quo zu unterstützen, ohne daß es selbst die politische Führungsrolle beansprucht hätte. Der Übergang zu modernen Wirtschafts-und Verwaltungsformen wurde nach dem Sieg der Aufständischen durch die personelle Geschlossenheit einer Führungsspitze erleichtert, die durch die gemeinsame Zielsetzung eines energisch voranzutreibenden technologischen und administrativen Modernisierungsprogramms ideologisch integriert war.
Wenn es sich also bei der Meiji-Restauration nicht um eine bürgerliche Revolution, sondern um einen vom Bürgertum finanzierten und unterstützten Putsch der unteren Schichten der Oligarchie gegen die Herrschaftsspitze handelte, so bedeutete der Erfolg der Restaurationsbewegung doch zweifellos eine Machtverlagerung vom höheren Feudaladel auf die unteren Gruppen der Samurai-Clientele. Die Führer des Modernisierungsprogramms besaßen wertvolle Erfahrungen in der Leitung und Organisation der alten Clan-Verwaltung, die in den späten Jahren der Shögunatsregierung durch eine sehr weitgehende Lokalautonomie ausgezeichnet war. Die Herrschaftsauffassung der jungen Samurai war diejenige eines wohlwollend paternalistischen Bürokratismus, der keine Rechte des Volkes auf Teilnahme an der Herrschaftsgewalt anerkannte, dafür aber durch einen ausgeprägten Sinn für Disziplin und ein starkes Loyalitätsgefühl gegenüber dem Clan-und Sippenverband ausgezeichnet war, das sich unter den veränderten Bedingungen des Herrschaftswechsels auf die kaiserliche Verwaltung als ganzes übertragen ließ. Der unbestreitbare Erfolg der Reformbewegung ist ebensosehr auf die Fähigkeiten der entschlossenen jungen Bürokraten aus dem Kriegerstande zurückzuführen wie auf die integrierende Wirkung des Mythensymbols der göttlichen und unaufhebbaren Souveränität des Kaisers, auf den sich die Loyalität der Bevölkerung konzentrierte.
In ihren Reformbestrebungen konnte sich die paternalistische Bürokratie der Samurai allerdings nicht auf die Unterstützung der unteren Gesellschaftsschichten, insbesondere der mit ca. 80 0/0 der Bevölkerung numerisch stärksten Sozialgruppe der Bauern, verlassen, auf denen die finanzielle Hauptlast des Modernisierungsprogramms ruhte. Da durch die restriktive Handelspolitik der Tokugawa-Regierung die Kapitalakkumulation in den Städten nur sehr gering war, mußten die Reformprogramme der neuen Regierung nahezu ausschließlich durch erhöhte Besteuerung der Landwirtschaft finanziert werden, die noch im Jahre 1890 nahezu 70% des Steueraufkommens ausmachte. Für die Bauern, die in den Krisenjahren der späten Tokugawa-Zeit zwischen 40 °/o und 50 % der Jahresernte für Steuern und Abgaben aufwenden mußten, ergab sich in den ersten Jahrzehnten der Meiji-Zeit eine Belastung, die zeitweise 75% der Jahresernte erreichte Die Lage der Bauern, für die das Reformprogramm des nationalen Wiedererstarkens ohnehin unverständlich und verwirrend war, verschlechterte sich also zunächst wesentlich.
Größere Zustimmung fanden die jungen Samurai beim Kaufmannsstand und denjenigen Grundbesitzern, die bereits zur Manufaktur-produktion übergegangen waren, in deren Interesse also die technologischen Zielsetzungen der Regierung ohnehin lagen. Insbesondere die Unterstützung der Kaufmannschaft von Osaka, wo 70% des nichtlandwirtschaftlichen Kapitals konzentriert war, ermöglichte es der Regierung, eine Polizeitruppe aufzubauen, wirtschaftliche Reformen durchzuführen und den Grundstein zum Aufbau einer eigenen Schwerindustrie zu legen. Die Koalition zwischen den Angehörigen des unteren Samurai-Standes und des aufstrebenden Bürgertums, die sich hier abzeichnete, bildete den Endpunkt einer Entwicklung, die bereits in der späten Epoche der Shögunatsregierung eingesetzt hatte. Die verarmten Daimyö und Samurai der späten Tokugawa-Zeit, die weitgehend an das städtische Handelsbürgertum verschuldet waren, waren immer häufiger gezwungen, Standesvorrechte der Samuraikasteetwa das Recht, zwei Schwerter zu tragen oder einen erblichen Familiennamen zu führen — an reichgewordene Reishändler und Geldverleiher zu verkaufen oder sogar einzelne Kaufleute und wohlhabende Bauern durch Adoption in den Samuraistand aufzu-nehmen Eine gewisse Vermischung der theoretisch streng voneinander geschiedenen Stände war also bereits vor der Abschaffung der rechtlichen Privilegien der Samurai durch die Meiji-Regierung eingetreten, so daß die Voraussetzungen für die Zusammenarbeit der Samurai-Bürokratie mit dem aufsteigenden Bürgertum als einer neuen integrierten Sozial-schicht gegeben waren.
Es bestand also mit der Machtübernahme durch die neue Oligarchie eine in sich weitgehend geschlossene Gruppe von Reformatoren, denen die anzustrebenden technologischen und administrativen Ziele weitgehend von außen her vorgegeben waren. Amerikanische Kanonenboote in der Bucht von Edo und ein russisches Geschwader im Hafen von Nagasaki hatten im Sommer 1853 gezeigt, daß die Politik der Ab-Schließung des Landes von der Außenwelt nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Die aufgezwungenen Verträge, die Japan zwischen 1854 und 1861 mit den Vereinigten Staaten, England, Rußland, Frankreich, Holland und Preußen unter Androhung militärischer Intervention hatte abschließen müssen, konnten nur revidiert werden, wenn es gelang, das Land durch ein energisches Industrialisierungsprogramm und die Reform seiner Verwaltungsstruktur zu einem starken und gleichberechtigten Partner der westlichen Mächte zu machen. Japan konnte nur Japan bleiben, wenn es bereit war, dem pragmatischen Druck westlicher Technologie nachzugeben und selbst zu einem modernen Nationalstaat westlichen Typs zu werden.
Wenn aber auch unter den Reformern notgedrungen Einigkeit über die technologischen und administrativen Ziele der Reform herrschte, so bestand doch kein vergleichbarer Konsens über die politische Struktur des neuen Japans, über die Verteilung der Macht innerhalb einer Regierungsform, über die mit dem programmatischen Schlachtruf der Reformer „Vertreibt die Barbaren, ehrt den Kaiser!“ wenig bis nichts ausgesagt war. Das alte System des zentralisierten Feudalismus, wie es die Militärdiktatoren aus dem Hause Toku-
gawa errichtet hatten, war durch den Zusammenbruch Japans klar als obsolet und ineffi-zient disqualifiziert, ohne daß bereits Klarheit über seine Ablösung durch ein neues Herrschaftssystem bestand. Bei der nun einsetzenden Diskussion stellte sich bald heraus, daß die Mehrheit der neuen Führungschicht zwar zur Übernahme technologischer und ökonomischer Prinzipien des Westens bereit war, daß aber die repräsentativ-demokratischen und parlamentarischen Theorien des Westens auf recht wenig Gegenliebe bei der herrschenden Oligarchie trafen. Gewiß gab es eine lautstarke Minderheit, die sich in ihrer Agitation für ein konstitutionelles Regierungssystem auf west-lichen Theorien wie dem Rousseauschen Gesellschaftsvertrag, der NaturreditslehrePufendorfs und den Doktrinen des britischen Utilitarismus berief; aber die Mehrheit der Führungsgruppe neigte eher einem aufgeklärten Despotismus zu und gab ihrer Überzeugung Ausdruck, die großen Modernisierungsaufgaben, die dem Land bevorständen, könnten nur durch äußerste Konzentration der Macht an der Spitze erfolgreich bewältigt werden.
Immerhin konnten die parlamentarisch-konstitutionellen Diskussionsgruppen, die sich rasch bildeten, die öffentliche Meinung soweit beeinflussen, daß sich die Regierung zu dem Versprechen gezwungen sah, sie werde eine Verfassung vorbereiten und ein Parlament einberufen. In den Jahren 1882/83 wurde eine diplomatische Mission unter der Leitung von Fürst Itö Hirobumi ins Ausland entsandt, um die westlichen Verfassungen auf ihre Adaptionsfähigkeit für japanische Verhältnisse zu überprüfen. Fürst Itö zeigte sich dabei besonders von preußischen Vorbildern beeindruckt und begann unmittelbar nach seiner Rückkehr unter Beratung von Hermann Roessler, einem Schüler von Rudolph Gneist, der seit 1878 juristische Vorlesungen an der Universität Tökyö hielt, eine am preußischen Vorbild orientierte Verfassung für Japan auszuarbeiten. Die Regierung kam dabei den konstitutio-nalistischen Kräften insoweit entgegen, als überhaupt ein schriftliches Verfassungsdokument ausgearbeitet und die Einberufung eines parlamentarischen Gremiums zugesichert wurde; aber damit waren die Zugeständnisse der Oligarchie an die progressiven Intellektuellen auch bereits erschöpft. Insbesondere hatten die Gruppen, die nicht dem engeren Kreis der Regierung angehörten, so gut wie keinen Einfluß auf die inhaltliche Ausarbeitung der Verfassung, die den konservativen Kräften vorbehalten blieb
Die Verfassung von 1889
Die Verfassung des Kaiserreichs Japan, wie sie am 11. Februar 1889 durch kaiserlichen Gnadenakt dem Volk gewährt wurde und am 29. November 1890 in Kraft trat zeichnete sich bei allen Anlehnungen an europäische, insbesondere preußische Muster durch zwei eigenständige Merkmale aus: Die juristische Bedeutung des Verfassungstextes selbst und die modifizierte Form, in der das System der Gewaltentrennung in Japan übernommen wurde. Die juristische Stellung des Dokuments ist insoweit merkwürdig, als das Gesetz zur Einführung der Verfassung von 1889 keinen Zweifel daran läßt, daß der Verfassungstext selbst nicht als eigenständiges Grundgesetz, sondern als ein Verfassungsdokument unter anderen zu verstehen sei. So behielten alle bestehenden Gesetze, Verordnungen und Erlasse ihre Gültigkeit, soweit die Verfassung selbst nicht ausdrücklich etwas anderes vorschrieb Weiterhin wurden Fragen der Thronfolge und der eventuellen Regentschaft ausdrücklich der Verfassung selbst entzogen und der Regierung durch das 1889 durch kaiserlichen Erlaß in Kraft getretene Kaiserliche Hausgesetz Vorbehalten Das Kaiserliche Hausgesetz, dessen 62 Artikel eine Art innerer Verfassung des Kaiserhauses darstellen, galt als der Verfassung gleichrangiges Dokument, dessen Änderung keiner Zustimmung der Legislative bedurfte, sondern unmittelbar dem Kaiser selbst unter beratender Mitwirkung des kaiserlichen Familienrats und des Geheimen Staatsrats Vorbehalten blieb Als dritte Quelle des Verfassungsrechts neben dem Hausgesetz und der Reichsverfassung galten die kaiserlichen Prärogativerlasse, die es den Exekutivorganen ermöglichten, eine Art von verschleierter Legislativgewalt auszuüben. Formal wurden dabei drei Arten von Erlassen unterschieden: 1. Prärogativerlasse des Kaisers, deren Diskussion im Parlament durch die Verfassung ausdrücklich untersagt war; 2. Verwaltungserlasse der Exekutive zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, die im Parlament diskutiert, aber nicht kontrolliert werden durften; 3. Notverordnungen, die der Zustimmung des Geheimen Staatsrats bedurften. Diese mußten dem Reichstag auf seiner nächsten Sitzung vorgelegt werden, wenn sie über die Parlamentsferien hinaus in Kraft bleiben sollten. Ihre Ablehnung durch den Reichstag besaß jedoch keine rückwirkende Kraft.
Was die interne Organisation der verfassungsmäßigen Gewalten angeht, war das der Meiji-Verfassung zugrunde liegende Prinzip, ähnlich wie etwa in der Verfassung des Deutschen Reichs von 1871, nicht die echte Gewaltentrennung bei gegenseitiger Kontrolle, wie in den angelsächsischen Verfassungen, sondern das Modell einer Verteilung von Amtskompetenzen durch Delegation der kaiserlichen Allgemeingewalt. Die theoretische Souveränität des Kaisers, die auf Grund göttlicher Abstammung und ununterbrochener dynastischer Erbfolge beansprucht wurde, galt als unumschränkt und nicht einschränkbar Unterhalb der Souveränitätsebene des Throns traten dann einzelne Organe auf, die bestimmte Funktionen kraft delegierter Gewalt im kaiserlichen Auftrag ausübten. Die Exekutivgewalt blieb dem Kaiser und seinen — dem Parlament nicht verantwortlichen — Beratern allein vorbehalten die Legislativgewalt übte der Kaiser mit Zustimmung des Reichstags aus die rechtsprechende Gewalt wurde von Gerichtshöfen im Namen des Kaisers ausgeübt
Eine Sonderstellung im Rahmen des Verfassungssystems nahmen Heer und Marine ein, die als gleichrangige und koordinierte Verwaltungszweige neben Exekutive, Legislative und Judikatur unter unmittelbarem Befehl des Kaisers standen und keiner zivilen Kontrolle unterlagen Die Sonderstellung des Militärs beruhte auf der Verordnungskompetenz des Kaisers und nicht auf irgendeiner verfassungsmäßigen oder gesetzlichen Grundlage und wurde dadurch verstärkt, daß der Militäretat als Teil der unter kaiserlichen Prärogativrechten entstehenden Unkosten aus der Haushaltskontrolle durch das Parlament ausgeklammert war Die Sonderstellung des Militärs, insbesondere die Tatsache, daß die Oberkommandierenden des Heeres und der Flotte das Recht des unmittelbaren Zugangs zum Kaiser besaßen und so die Zivilbehörden jederzeit umgehen konnten, bildete die praktische Grundlage für den Aufstieg des Militärs zur Macht in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Meiji-Verfassung sah keine Ministerverantwortlichkeit vor, da das Kabinett nicht dem Parlament, sondern ausschließlich dem Kaiser verantwortlich war; ebensowenig existierten institutionalisierte Kanäle für die Amtsenthebung oder Abwahl einzelner Minister. In der Praxis konnte also die Regierung nur von Organen innerhalb der Exekutive selbst kontrolliert werden: entweder durch den vom Kaiser ernannten Geheimen Staatsrat oder durch die außerverfassungsmäßige Institution des Rats der Älteren Staatsmänner oder schließlich durch die militärische Führungsspitze, die hier nicht in ihrer Funktion des Armee-und Marineministeriums als Teil des Kabinetts, sondern unmittelbar durch das Oberkommando des Heeres bzw.der Flotte auftrat
Wie wenig der Konstitutionalismus der ersten japanischen Verfassungsbewegung vom Verlangen einer zu politischem Selbstbewußtsein erwachten Bevölkerung nach Demokratisierung und Liberalisierung bestimmt war und in welchem Maße ihm der Drang nach Rationalisierung und effizienter Gestaltung der Herrschaft als treibendes Motiv zugrunde lag, läßt sich am einleuchtendsten darstellen, wenn wir die Bestimmungen des zweiten Verfassungsabschnitts über „Die Rechte und Pflichten der Untertanen" mit dem offiziösen Verfassungskommentar des Verfassungsschöpfers Fürst Itö vergleichen Der Verfassungstext wirkt auf den ersten Blick durchaus liberal im Sinne des westlichen Konstitutionalismus, wenn er in formaler Anlehnung an das Modell der französischen Verfassung von 1791 die uns vertrauten Menschen-und Bürgerrechte aüfzählt: das Recht der freien Wahl des Wohnortes, die Unverletzlichkeit der Wohnung, den Schutz des Eigentums gegen willkürliche Eingriffe der Staatsgewalt, die Freiheit des Bekenntnisses, die Rede-und Pressefreiheit, das Versammlungs-und Petitiohsrecht und den Schutz des Postgeheimnisses. Aber den Stellenwert, den diese Garantien im Herrschafts-System der Meiji-Verfassung besaßen, können wir deutlich dem Satz entnehmen, den Fürst ftö seinem Kommentar voranstellte: „Freiheit herrscht nur in einer Gemeinschaft, in der Ordnung herrscht."
Wie stark der Drang nach fester Führung, Gesetz und Ordnung hier den Vorrang vor jeglicher Freiheitsgarantie genießt, erweist sich schon am Wortlaut der Verfassungsbestimmungen selbst, wenn die Grundrechtsgarantien nicht allein durch eine generelle Notstandsklausel eingeschränkt sind, die in Kriegs-und Notstandszeiten eine uneingeschränkte Ausübung der kaiserlichen Gewalt jenseits aller verfassungsmäßigen Rechte der Untertanen gewährleisten soll, sondern zudem noch jede der einzelnen Garantien durch Formulierungen wie „im Rahmen der Gesetze", „außer in gesetzlich festgelegten Fällen" oder „sofern die öffentliche Ruhe und Ordnung nicht gestört und die Pflichten der Untertanen nicht verletzt werden“ modifiziert ist. Zu der verfassungsmäßigen Verpflichtung der gesetzlichen Steuerzahlung etwa kennt Fürst Itö in seinem Kommentar nur die lakonische Begründung: „Der Staat hat das Recht, Steuern zu erheben, und die Untertanen haben die Pflicht, sie zu bezahlen? 1 Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht sieht er durch die Tatsache legitimiert, daß „uns der Geist der Loyalität ebenso wie das Gefühl für Ehre von unseren Vorfahren vererbt wurde". Die Grundrechte der Unverletzlichkeit der Wohnung, der Religionsfreiheit, des Briefgeheimnisses sowie der Rede-, Presse-und Versammlungsfreiheit sind für Itö eine notwendige Vorbedingung der politischen Entwicklung, bei denen es jedoch selbstverständlich ist, daß sich ein Untertan gerade durch die Berufung auf diese Rechte „außerhalb des Rahmens der Gesetze des Reichs stellen" und sie so durch ihre Ausübung verwirken kann. Das Petitionsrecht des Staatsbürgers, einer der Grundpfeiler des neuzeitlichen Konstitutionalismus, ist in der Meiji-Verfassung in dem Wortlaut verankert: „Japanische Untertanen dürfen unter Wahrung angemessener Ehrerbietung und unter Einhaltung der hierfür besonders erlassenen Bestimmungen Gesuche einreichen", wozu der Kommentator ausdrücklich anmerkt, es handele sich hier nicht um ein natürliches Bürgerrecht, sondern Um ein Recht, das „dem Volk durch das höchst gnädige Und wohlwollende Mitleid des Kaisers verliehen 1'Sei. Die Verfassungs-und Staatstheorie der Meiji-Oligarchie kommt am deutlichsten zum Ausdruck, wenn Fürst Itö zur Notstandsklausel der Verfassung die knappe Erklärung abgibt: „Man darf nicht vergössen, daß das letzte Ziel eines Staates darin bestellt, seihe eigene Existenz aufrechtzuerhalten".
Das Herrschaftssystem der ersten Modernisierungswelle, wie es durch die Verfassung von 1890 formalisiert wurde, weist autokratische und antikonstitutionelle Züge auf, die dem neuzeitlich-westlichen Empfinden für politische und soziale Ordnung widerstreben. Aber das darf uns nicht blind für die Tatsache machen, daß die Meiji-Verfassung ein ungemein brauchbares Und effizientes Instrument zur Erreichung der unmittelbaren Nahziele Japans in der Frühzeit seiner Modernisierung war. Gerade die extreme Unschärfe ihrer Bestimmungen, die den Grundprinzipien des westlichen Konstitutionalismus zuwiderläuft, ermöglichte Aufbau und Funktion eines Herrschaftsapparats, der trotz seiner konstitutionellen Fassade im Rahmen der traditionellen japanischen Erfahrungen und Zielsetzungen operieren konnte. Der Mechanismus des Verfassungssystems war äußerlich so weit wester-nisiert, daß außenstehende Beobachter den Eindruck gewinnen konnten, Japan sei auch auf politischem Gebiet zu einem Nationalstaat europäischen Typs geworden; aber Prinzipien, Konzeptionen und Methoden der Politik, die dem Mechanismus seine Dynamik verliehen, blieben vollständig den traditionellen japanischen Vorstellungen verhaftet. Da die parlamentarisch-repräsentativen Bestimmungen der Verfassung nicht zur praktischen Anwendung bestimmt waren, sondern einen rechts-freien Raum schufen, innerhalb dessen pragmatische Herrschaftsausübung nach den Zielsetzungen der jeweils herrschenden Gruppe möglich war, wurde auch der Wunsch nach Verfassungsrevision nicht in stärkerem Ausmaß laut. Es ist durchaus vorstellbar, daß die Verfassung des Kaiserreichs Japan noch heute in der unveränderten Form des Dokuments von 1889 in Kraft wäre, wenn Japan den Zweiten Weltkrieg nicht verloren hätte.
Das Scheitern des Vorkriegsparlamentarismus
Die Zielsetzungen der japanischen Reformer waren in erster Linie ökonomisch bestimmt, da sie davon ausgingen, daß eine auf schneller und gründlicher Industrialisierung beruhende feste wirtschaftliche Basis die notwendige Voraussetzung für die Entwicklung und Aufrechterhaltung jener militärischen Macht bildete, durch die Japan seine Weltgeltung wiedererringen sollte. Die „Revolution von oben" der frühen Meiji-Zeit konzentrierte sich infolgedessen auf den Aufbau der technologischen und administrativen Infrastruktur. Bereits 1869 wurde die erste japanische Telegraphen-liöie eröffnet; der Eisenbahnbau setzte 1870 ein. Das Jahr 1872 sah die Einführung der allgemeinen Schulpflicht und die Gründung eines modernen Banksystems vor. 1873 wurde im Züge der Modernisierungsmaßnahmen der gregorianische, Kalender übernommen, und drei Jahre später lief das erste in Japan geballte Kriegsschiff vom Stapel. Eine besondere Rolle im Modernisierungsprozeß spielten die von der Regierung gegründeten und subventionierten Modellfabriken und landwirtschaftliehen Betriebe, die unter Beratung ausländi-
scher Fachleute errichtet wurden, um moderne Fertigungsmethoden zu demonstrieren, während zugleich japanische Beamte und Studenten mit Regierungsstipendien in den Westen geschickt wurden, um gemäß dein Eid, den der junge Kaiser bei seinem Amtsantritt im Jahre 1868 abgelegt hatte, „die Grundlagen der kaiserlichen Herrschaft ZU vergrößern und zu festigen, indem das Wissen der ganzen Welt gesucht wird Die wirtschaftlichen Erfolge des durch rigorosen Zentralismus und Dirigismus aufgebauten Modernisierungsprogramms waren Offensichtlich. Um die Jahrhundertwende hatte sich der japanische Außenhandel gegenüber dem Wert von 1872 verzwölffacht. Die Zahl der im Industriesektor tätigen Er-
werbspersonen stieg von 1500 im Jahre 1880 auf 400 000 im Jahre 1900; 1894 gelang es einem erstarkten Japan in langen Verhandlungen mit den Westmächten, die Revision der ungleichen Verträge von 1854 durchzusetzen Und als gleichberechtigter Partner auf der Bühne der Weltpolitik aufzutreten.
Der ökonomische Erfolg war jedoch um den Preis des bewußten Verzichts auf politischen Wandel erkauft, und das Herrschaftssystem der frühen Meiji-Zeit, dem die institutionalisierten Kanäle für einen Wechsel der herrschenden Gruppe fehlten, konnte nur solange funktionsfähig bleiben, wie die Gesellschaft über eine in sich geschlossene politische Führungsspitze verfügte, die aus der oligarchischen Gruppe der Führer des Staatsstreichs von 1867 bestand. Die Mitglieder der alten Oligarchie waren trotz interner Meinungsverschiedenheiten durch das gemeinsame Band der revolutionären Erfahrung und durch die gemeinsame Überzeugung miteinander verbunden, daß ein übergehen der Macht in die Hände einer breiten, unvorbereiteten Masse unter allen Umständen verhindert werden müsse. Dieser Zustand änderte sich erst in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, als die alte Garde allmählich auszusterben begann.
Die Zeit zwischen 1918 und 1931, in der infolge der allmählichen Industrialisierung und der Wachsenden Urbanisierung des Landes neue Sozialgruppen an die Macht drängten, bildete den ersten Höhepunkt des japanischen Parlamentarismus in dem Sinne, daß es ab 1918 üblich wurde, den Führer der Mehrheitspartei im Abgeordnetenhaus Züm Premierminister zu ernennen. Das parlamentarische System litt jedoch unter zahlreichen Belastungen. So erschwerten die vage gefaßten und jederzeit durch Eingriffe der Exekutive einschränkbaren Befugnisse des Parlaments die Ausbildung eines politischen Verantwortungsbewußtseins bei den Parteipolitikern, die häufig eher die Vertreter durch lose Koalition miteinander verbundener Einzelcliquen als Anführer geschlossener Parteien mit eigenem Programm waren. Die Blütezeit der japanischen Parteienherrschaft wurde zugleich zur Epoche einer nicht abreißenden Serie Von Korruptionsskandalen. Zudem stand die Verwaltungsbürokratie, die ihre Geschlossenheit daher bezog, daß sie sich nahezu vollständig aus Absolventen der juristischen Fakultät der kaiserlichen Universität in Tökyö rekrutierte, auf Grand ihrer traditionell paternalistischen Haltung der Herrschaft der Parteien ablehnend gegenüber.
In den späten zwanziger Jahren trat als neuer Machtfaktor das Militär auf den Plan. Als die japanische Armeeführung nach dem Ersten Weltkrieg versuchte, die technologische Modernisierung der Armee durch Einsparungen am Personaletat zu finanzieren, breitete sich eine Stimmung der Frustration bei den jüngeren Berufsoffizieren aus, die zudem infolge ihrer Abstammung aus Bauernkreisen ökonomisch durch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf die japanische Agrikultur betroffen waren. Die Stimmung im Offizierskorps wurde immer betonter antikapitalistisch, antiindustriell und antiparlamentarisch, was zur Gründung zahlreicher militärischer Geheim-gesellschaften wie der sich aus dem mittleren Offizierskorps rekrutierenden „Kirschblütengesellschaft" (Sakurakai) führte, die in ihren Programmschriften die Koruption der Politiker, die Ausbeutung der Arbeiter und Bauern durch den Großkapitalismus und den Verlust der geistigen Werte der Nation beklagten.
Mit dem von Feldtruppen in der Mandschurei inszenierten sogenannten mandschurischen Zwischenfall vom 18. September 1931, der Japan den Vorwand zur Besetzung der Mandschurei lieferte, begann eine Serie von Putschversuchen in der Heimat, die mit der Ermordung des letzten parlamentarischen Premierministers Inukai Tsuyoshi am 15. Mai 1932 begann und ihren Höhepunkt in dem Armeeputsch vom Februar 1936 fand, an dem 1400 jüngere Offiziere und Mannschaftsdienstgrade teilnahmen. Mit dem Beginn des chinesisch-japanischen Krieges von 1937 und Japans Eintritt in den Zweiten Weltkrieg verschärften sich die Tendenzen zu einem autoritären Militärregime, denen die konservative Zivilbürokratie machtlos gegenüberstand. Als beispielsweise im Jahre 1940 der Premierminister Yonai Mitsumasa und der Außenminister Arita versuchten, eine Beschwichtigungspolitik gegenüber den Westmächten einzuschlagen, konnte das Oberkommando des Heeres den Sturz des Kabinetts dadurch herbeiführen, daß es den Verteidigungsminister, General Hata Sunroku, durch Anordnung seines kommandierenden Offiziers aus dem Kabinett zurückzog. Yonais Nachfolger als Premierminister wurde Fürst Konoe Fumimaro, ein Erzkonservativer und Gegner der politischen Parteien, der den Versuch machte, die von den Militärs propagierte Idee der Einparteienherrschaft zu übernehmen, um seine eigene Macht auf die neue Organisation des „Bundes zur Unterstützung der Kaiserlichen Herrschaft" zu gründen, die die zur Selbstauflösung gezwungenen politi.sehen Parteien ersetzte. Wenn Konoe allerdings glaubte, hier ein Gegengewicht gegen die Militärfraktion gefunden zu haben, sollte sich bald herausteilen, daß er einer Fehlkalkulation zum Opfer gefallen war. Um die Extremisten auszusöhnen, war Konoe gezwungen, zwei Ultranationale, den Verteidigungsminister Töjö und den Außenminister Matsuoka, in das Kabinett aufzunehmen, denen es bald gelang, den Premierminister von der Macht zu verdrängen. Im Oktober 1941 übernahm General Töjö das Amt des Premierministers, das er mit den Ämtern des Verteidigungs-und des Innenministers vereinte. Damit war unter Auswechslung der Führungsclique ein innenpolitischer Zustand wieder erreicht, wie er in etwa den Vätern der Meiji-Restauration vorgeschwebt hatte.
Das japanische Militärregime der Jahre 1937 bis 1945 blieb der in der Restaurationsbewegung von 1867 erprobten Maxime des „Regierens hinter dem Vorhang" treu und nahm keinerlei Verfassungsänderungen vor. Das Parlament, wenn auch nicht mehr von politischen Parteien beschickt, bestand weiter, nahm aber keinerlei Funktionen im Herrschaftsprozeß wahr. Die Person des Kaisers, in dessen Händen die verfassungsmäßige Macht lag, diente als konstitutionelle Fassade für die Herrschaft der militärisch-industriellen Führungsclique, die sich an den Verfassungsusus hielt, daß der Kaiser nicht ohne die Zustimmung seiner Berater politisch aktiv wurde, während diese Berater selbst nur dem Kaiser, also niemandem, verantwortlich waren. Soweit sich in der Zeit des Zweiten Weltkrieges neue Führungsgruppen heranbildeten, handelte es sich jeweils nur um Cliquenbildungen innerhalb der geschlossenen, von der Industrie tatkräftig unterstützten militärischen Kaste, nicht um das Entstehen ideologisch orientierter politischer Massenbewegungen mit individueller Führung durch eine charismatische Persönlichkeit nach dem Muster der europäischen totalitären Parteien. Der japanische Faschismus, der den älteren Liberalismus als treibende Kraft der öffentlichen Meinungsbildung ablöste, blieb infolgedessen trotz seiner ultranationalistischen Zielsetzungen und seines Militarismus in seinen internen Auswirkungen weit wenige einschneidend als beispielsweise die gleichzeitigen Phänomene des Nationalsozialismus oder des Stalinismus in Europa.
Die Verfassung von 1947
Als das Kaiserreich Japan, am 2. September 1945 zur Kapitulation, gezwungen wurde, verfügte das Land trotz der schweren Schäden durch den Weltkrieg über die Infrastruktur eines modernen Industriestaates westlicher Prägung. Es bestand jedoch keine kontinuierliche Tradition eines funktionierenden Systems demokratischer Repräsentativherrschaft mit effektiven parlamentarischen Kontrollen über die Amtsführung der Regierung. Die Situation auf dem politischen Gebiet war insoweit derjenigen ähnlich, die im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts auf ökonomischem Gebiet bestanden hatte, als eine notwendige Änderung nur durch Revolution von oben herbeigeführt werden konnte, wobei das alliierte Hauptquartier unter General Mac-Arthur die Rolle der aufständischen Provinzsamurai in der ersten Modemisierungsetappe Japans übernehmen mußte. MacArthur und seine Mitarbeiter in der Political Section sahen ihre Hauptaufgabe als Besatzungsmacht in einem Prozeß der sozialen und politischen Strukturveränderung, durch den Japan in eine nach innen hin demokratische, unter der Kontrolle des Volkes stehende, und nach außen hin friedliebende, gegen das Wiedererwachen militaristischer Strömungen geschützte Nation verwandelt werden sollte. Als unmittelbares Instrumentarium dieser Strukturveränderung waren zwei große Unternehmungen gedacht: die Revision der Verfassung und die Entflechtung der großen Industriekonzerne, deren Expansionsdrang zur Militarisierung des Landes beigetragen hatte. Die Leitlinien dieses Prozesses waren in § 10 der Potsdamer Erklärung vom 25. Juli 1945 vorgezeichnet, deren Bedingungen von der japanischen Regierung in der Kapitulationsurkunde akzeptiert worden waren: „Die japanische Regierung hat alle Hindernisse zu beseitigen, die einer Wiederbelebung und Stärkung der demokratischen Tendenzen im japanischen Volk entgegenstehen. Die Freiheit der Rede, der Religion und der Gedanken sowie die Achtung der Menschenrechte sind zu sichern."
Die von den Alliierten geforderte Verfassungsrevision wurde von der japanischen Regierung immer weiter hinausgezögert oder durch Reformvorschläge minimalen Charakters beant-wortet, bis das alliierte Hauptquartier schließlieh erkannte, daß es in demonstrativer Form die Tatsache betonen mußte, daß es nicht um eine Revision einzelner Verfassungsbestimmungen, sondern um den Totalentwurf einer neuen Verfassung ging. Da die japanische Verfassungskommission an einer derartigen Total-revision der Verfassung nicht interessiert war, sondern immer wieder versuchte, soviel von der alten Verfassung zu retten, wie noch zu retten war, sah sich MacArthur schließlich gezwungen, im Februar 1946 den englisch geschriebenen Entwurf einer neuen Verfassung als Modell vorzulegen, der daraufhin in einer totalen Umwendung der bisherigen japanischen Taktik in einer nur unwesentlich überarbeiteten japanischen Form vom Kabinett dem Reichstag vorgelegt und von diesem am 7. Oktober 1946 angenommen wurde. Die neue Verfassung wurde am 3. November 1946, dem Geburtstag des Reformkaisers Meiji-Tennö, verkündet und trat sechs Monate später, am 3. Mai 1947, in Kraft.
Die Verfassung von 1947 kann ihren westlich-liberalen Ursprung, der den japanischen Traditionen nur wenig verdankt, nicht verleugnen. Rein formal sieht sie ein Mischsystem zwischen der amerikanischen auf Gewaltenteilung beruhenden Verfassung und dem britischen Kabinettssystem als Regierungsform Japans vor, wobei in der Verfassungspraxis die aus Großbritannien stammenden Züge der Vormachtstellung der Exekutive und des Premierministers überwiegen, auch wenn der Verfassungstext die Suprematie der Legislativversammlung betont. Schon im Äußerlichen unterscheidet sich die in einer leicht lesbaren Form der gehobenen Umgangssprache gehaltene Verfassung von 1947 von der legalistischen, dem normal gebildeten Bürger kaum zugänglichen Kunstsprache der Meiji-Verfas-sung. Als Verfasungsschöpfer tritt hier nicht mehr der Kaiser auf, sondern „das souveräne japanische Volk, handelnd durch seine rechtmäßig gewählten Vertreter im Parlament", bei dem die oberste Staatsgewalt liegt und das sich selbst eine Verfassung gibt, „um für uns und unsere Nachkommen die Früchte friedlicher Zusammenarbeit mit allen Nationen und die Segnungen der Freiheit in unserem ganzen Lande zu sichern und nie wieder durch Handlungen der Regierung die Greuel eines Krieges zu entfesseln" Die Funktion des Kaisers, der nach den Bestimmungen der Meiji-Verfassung als Souverän „die Herrschaftsgewalt in sich vereinigte", ist auf diejenige eines „Symbols Japans und der Einheit des japanischen Volkes" reduziert, dessen „Stellung auf dem Willen des japanischen Volkes gegründet (ist), bei dem die oberste Gewalt ruht"
Zugleich wurde der Grundrechtskatalog der Verfassung in starker Anlehnung an die Bill oi Rights der ersten zehn Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung verstärkt, geht aber in der Frage der sozialen Grundrechte noch über sein Vorbild hinaus, wenn die Verfassung vorschreibt: " Jeder Bürger hat das Recht auf das Mindestmaß an gesundem und kultiviertem Leben. Auf allen Gebieten des Lebens hat der Staat sich um die Entwicklung und Mehrung des sozialen Wohls, der sozialen Sicherheit und der allgemeinen Gesundheit zu bemühen." Im Widerspruch zur auf den Besitzindividualismus John Lockes zurückgehenden Eigentumsideologie der amerikanischen Verfassung steht der Sozialvorbehalt des Besitzrechts, den die Verfassung von Japan formuliert: „Das Recht, Vermögen zu haben, ist unverletzlich. Der Inhalt des Rechts, Vermögen zu haben, wird durch Gesetz so geregelt, daß es dem allgemeinen Wohl entspricht. Privatvermögen kann gegen eine gerechte Entschädigung für die Allgemeinheit in Gebrauch genommen werden."
Der Demokratisierung der japanischen Gesellschaft sollen auch Verfassungsbestimmungen dienen, in denen festgelegt wird, daß „alle öffentlichen Bediensteten dem ganzen Volk und nicht einer einzelnen Gruppe dienen", und daß „das Volk das unveräußerliche Recht besitzt, die öffentlichen Bediensteten durch Wahl zu bestimmen und sie aus ihrem Amt zu entlassen" Eine weitere Kontrolle über die Handlungen der Herrschenden stellt auch der Verfassungsgrundsatz dar: „Wer durch die unerlaubte Handlung eines öffentlichen Bediensteten einen Schaden erlitten hat, kann nach Maßgabe der Gesetze vom Staat oder von einer öffentlichen Gebietskörperschaft Ersatz des Schadens verlangen."
In die idealistische Periode der unmittelbaren Nachkriegszeit gehört zweifellos auch der in der öffentlichen Diskussion Japans mittlerweile stark umstrittene Kriegsverzicht, der in Artikel 9 der Verfassung folgendermaßen festgelegt ist: „In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und die Androhung oder Ausübung von militärischer Gewalt als ein Mittel zur Regelung internationaler Streitigkeiten. Zur Erreichung des Zwecks des Absatz 1 werden Land-, See-und Luft-streitkräfte sowie andere Kriegsmittel nicht unterhalten. Ein Kriegsführungsrecht des Staates wird nicht anerkannt." Dieser Artikel mußte sowohl mit der zunächst verschleierten Remilitarisierung Japans im Gefolge der weltpolitischen Lageveränderung durch den Koreakrieg als auch mit der Wiederherstellung der japanischen Souveränität bei gleichzeitiger Stationierung amerikanischer Truppen auf japanischem Boden in Konflikt mit der Verfassungswirklichkeit geraten. Der für Verfassungsfragen zuständige Oberste GerichtshofJapans hat in den an ihn herangetragenen Fällen bisher einen außergewöhnlich vorsichtigen Standpunkt in der Auslegung dieses Verfassungsartikels eingenommen. Ein Beispiel dafür kann etwa die Behandlung des sogenannten Sunakawa-Zwischenfalls im Jahre 1957 durch die japanischen Gerichte bieten.
Der Streit wurde ausgelöst, als japanische Regierungsvermessungsbeamte vorbereitende Landvermessungen vornahmen, um die Möglichkeit der Verlängerung von Landepisten des amerikanischen Luftwaffenstützpunkts Tachikawa in der Nähe des Dorfes Sunakawa zu überprüfen. Bei der Vermessung stießen die Beamten auf den Widerstand ortsansässiger Bauern, die eine Enteignung von Ackerland befürchteten. Bei dem Aufruhr, der bei dieser Gelegenheit entstand, betraten einige gegen die befürchtete Enteignung demonstrierende Bauern den amerikanischen Stützpunkt und wurden von den japanischen Polizeibehörden verhaftet und wegen illegalen Betretens von militärischem Gelände angeklagt und verurteilt. Die harte Reaktion der Behörden in diesem Fall war wohl durch die Tatsache zu erklären, daß es sich offenbar nicht um eine spontane Demonstration ortsansässiger Bauern, sondern zumindest teilweise um eine Einzelkampagne im Rahmen einer gezielten Aktion handelte, durch die der Rückzug der amerikanischen Streitkräfte angestrebt v arde. Der Fall wuchs sich zum Verfassungsstreit aus, als das Distriktgericht Tökyö als Beru-B fungsinstanz entschied, das Gesetz, unter dem die Demonstranten verurteilt worden waren, sei verfassungswidrig. Das Gesetz selbst war nämlich in Ausführung einer Klausel des amerikanisch-japanischen Sicherheitsvertrags von 1951 verabschiedet worden, den das Gericht für verfassungswidrig hielt, da Artikel 9 der Verfassung die Unterhaltung von Rüstungspotential auf japanischem Boden nicht gestatte. Die Angeklagten seien demgemäß freizusprechen, da sie unter einem von vornherein nichtigen Gesetz angeklagt worden seien und nach Artikel 31 der Verfassung niemand anders als durch ein gesetzlich bestimmtes Verfahren einer kriminellen Strafe unterworfen werden dürfe.
Die Entscheidung wurde vom Obersten Gerichtshof aufgehoben und der Fall an das Distriktgericht zurückverwiesen, da das fragliche Gesetz nach Meinung des Obersten Gerichtshofs nicht im Widerspruch zur Verfassung stand. Allerdings ging der Oberste Gerichtshof in seiner Urteilsbegründung ausschließlich auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Stationierung ausländischer Truppen auf japanischem Boden ein, die ihm mit Artikel 9 der Verfassung vereinbar schien, und klammerte die Frage nach der verfassungsrechtlichen Stellung der paramilitärischen Organisation der japanischen sogenannten Selbstverteidigungskräfte aus seinen Überlegungen aus
Die Frage nach der Wirksamkeit des Kriegsverzichtsartikels der japanischen Verfassung hatte dem Obersten Gerichtshof bereits 1952 einmal vorgelegen, als der Generalsekretär der Sozialistischen Partei, Suzuki Mosaburö, einen Prozeß in der Absicht anstrengte, die im Juli 1950 mit Genehmigung der Besatzungsbehörde gegründete „Nationale Polizeireserve“, eine Vorläuferorganisation der heuti-gen »Selbstverteidigungstruppe", als Kriegs-potential im Sinne der Verfassung verbieten zu lassen. In diesem Falle hatte der Oberste Gerichtshof eine Entscheidung dadurch umgehen können, daß er seine eigene Kompetenz verneinte. Im Gegensatz zum deutschen Rechtssystem und in enger Anlehnung an das amerikanische besitzt nämlich der Oberste Gerichtshof keine Kompetenz der abstrakten Normenkontrolle, sondern nur das Recht der richterlichen Überprüfung vollzogener Rechtsakte. Der Gerichtshof führte damals aus, zwar besitze er die letzte Entscheidungsgewalt über Fragen der Verfassungsinterpretation, in diesem Fall liege aber kein konkreter Rechtsstreit vor, und die Normenkontrolle sei nicht möglich Eine abschließende höchstrichterliche Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Nationalen Selbstverteidigungstruppe liegt bis heute nicht vor.
Dennoch hat das Gericht den Weg für eine zukünftige Entscheidung über die Interpretation des Kriegsverzichtsartikels im Sunakawa-Ur-teil insoweit vorgezeichnet, als es in seiner Urteilsbegründung darauf hinwies, die Verfassung verleugne in keiner Weise das Recht auf Selbstverteidigung. Auch habe Japan als souveräne Nation das Recht, zum Schutz seiner Sicherheit den Beistand anderer friedliebender Nationen anzurufen, um eine unzureichende Verteidigungskapazität auf Grund verfassungsrechtlicher Hemmnisse auszugleichen. Wenn aber die angerufenen Instanzen, wie etwa der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, nicht imstande seien, die Sicherheit Japans zu garantieren, so müsse Japan das Recht zustehen, sich um andere Garantien zu bemühen. Nach dieser Auffassung verbietet also Artikel 9 der Verfassung weder die Hilfe anderer Nationen bei der Aufrechterhaltung der japanischen Sicherheit noch den Import und die Lagerung von ausländischem Rüstungspotential auf japanischem Boden. Weiterhin drückte der Gerichtshof zugleich die Meinung aus, daß der Sinn des Verfassungsartikels nicht im Ausschluß der Selbstverteidigung, sondern lediglich im Verbot des Angriffskrieges und seiner Vorbereitung oder Androhung liege.
Die unvollständige Demokratisierung
Die Schwierigkeiten, die sich der vollen Demokratisierung des öffentlichen Lebens in Japan und der Etablierung eines wirksamen parlamentarischen Systems in den Weg stellen, werden an drei eng miteinander verknüpften Problemkreisen sichtbar: der Aufnahme der neuen Verfassung im öffentlichen Bewußtsein, der sozialen Umschichtung als Grundlage des politischen Wandels und der Rolle der Büro-kratie im politischen Prozeß. Ein wesentlicher Hemmschuh für die Sozialwirksamkeit der von der Verfassung intendierten politischen Demokratisierung liegt in der Entwicklung der ökonomischen Struktur Japans nach dem Zweiten Weltkrieg. Japan ist zugleich ein Land, dessen Wirtschaftvon einer zunehmenden Tendenz zur Kapitalkonzentration beherrscht wird, sowie ein Staat, der soziologisch von der Existenz einer ungewöhnlich breiten Schicht von soge-nannten „Kleinstkapitalisten", das heißt hart an der Subsistenzgrenze operierenden selbständigen Unternehmen, geprägt ist. Bereits im Jahre 1961, acht Jahre nach der Aufhebung der alliierten Kartellverbote, hatten 0, 1 Prozent aller japanischen Industriebetriebe mit mehr als 1000 Angestellten einen Marktanteil von über 30 Prozent, während 57, 8 Prozent aller Betriebe eine Beschäftigtenzahl von weniger als drei Angestellten aufwiesen und sich einen Marktanteil von knapp 3 Prozent teilten. Von den 31 Millionen in der nicht-agrikul-turellen Produktion beschäftigten Personen fielen zum gleichen Zeitpunkt über 5 Millionen in die Gruppe der Selbständigen und weitere 3 Millionen in die Gruppe der unbezahlten Mithelfenden im Familienbetrieb Diese Entwicklung wird aus dem wechselvollen Verlauf der Wirtschaftspolitik der amerikanischen Besatzungsbehörden in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg verständlich.
Zu den erklärten Zielen des amerikanischen Hauptquartiers in Japan gehörte als Teil des Demokratisierungsprogramms die Zerschlagung der Herrschaft der Großkonzerne, der sogenannten Zaibatsu, und die breitere Steu-ung des Eigentums an Handels-und Industrie-besitz. An diesem Punkt gerieten die Reformer jedoch in ausgeprägten Widerspruch zu den kulturellen und historischen Traditionen der zu reformierenden Gesellschaft. Die japanische Industrialisierung, die ja in der frühen Meiji-Zeit im Wege einer Revolution von oben zustande gekommen war, unterlag historisch nicht den Spielregeln des westlichen kapitalistischen Liberalismus und hatte infolgedessen auch nie den uns in Europa vertrauten revolutionären Druck auf die Sozialordnung ausgeübt. Die Manager der Zaibatsu-Konzeme benahmen sich nicht wie Industriebarone des Frühkapitalismus, sondern hielten sich an den traditionsbestimmten Verhaltenskodex der politischen Führung der Meiji-Restauration, der von dem Ideal der Herrschaft einer privilegier-ten Oligarchie bestimmt war, die zur konzertierten Handlung innerhalb einer quasifeudal strukturierten Gesellschaft befähigt sein sollte.
Die japanischen Großkonzerne waren nach dem Muster einer paternalistischen Statushierarchie aufgebaut, die sich von der Führungsspitze bis hinunter zum einfachen Arbeiter erstreckte. Der Mitsui-Konzern beispielsweise, für den die Hausgesetze der Familie Mitsui gültig waren, wurde in Personal-wie in Geschäftsfragen von einem Familienrat regiert, der unter Führung des ältesten männlichen Mitglieds des Hauptzweigs der Familie Mitsui stand — die Mitsui-Familie umfaßte als Clan elf Familienzweige, die alle im Familienrat vertreten waren. Die Manager, Techniker und Verkaufsdirektoren des Konzerns empfanden ihre eigene Rolle als diejenige einer persönlichen Clientele der Familie Mitsui und hätten es z. B. als eine schwere moralische Verfehlung betrachtet, zu einem rivalisierenden Konzern zu wechseln. Als Gegenleistung innerhalb dieses von den Zügen der mittelalterlichen Feudalherrschaft bestimmten Systems gegenseitiger Verpflichtungen war die Familie dazu verpflichtet, für die Ausbildung und Beschäftigung tüchtiger Nachwuchskräfte aus dem Reservoir ihrer Hausmacht zu sorgen. Audi die Arbeiter waren in dieses paternalistische System integriert, in dem ihnen zwar einerseits extrem niedrige Löhne gezahlt wurden, das sie aber andererseits durch Sonderzulagen, Pensionskassen, Krankengelder und Arbeitsplatzschutz in Depressionszeiten vor den Unbilden und Gefahren des freien Arbeitsmarktes schützte.
Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das japanische Wirtschaftsleben praktisch vollständig von vierzehn miteinander durch Kartellabmachungen verbundenen Großkonzernen beherrscht, von denen beispielsweise im Jahre 1945 der Mitsui-Konzern 2 Millionen Beschäftigte, der Mitsubishi-Konzern als der zweitgrößte über 1 Million Beschäftigte aufwies. Mit ihrer Anti-Zaibatsu-Politik in den Nadikriegsjahren wollten die Amerikaner zunächst ein wirtschaftliches Machtmonopol durchbrechen, das als mitverantwortlich für den japanischen Militarismus und seine Expansionspolitik galt. Zugleich wurde die Hoffnung geäußert, das neu zu errichtende Klima des freien wirtschaftlichen Wettbewerbs könne das parlamentarische System Japans wiederbeleben, wenn den unterprivilegierten Schichten der Industrie-und Landarbeiter zugleich mit einer größeren wirtschaftlichen Macht auch politische Macht zufalle. Bei der Durchführung des Entflechtungsprogramms der Besatzungsbehörden wurden unmittelbar nach Kriegsende eine große Zahl der alten Konzernführer abgesetzt und mit einem befristeten Berufsverbot belegt. Zugleich versuchte man eine Anti-Kartellgesetzgebung nach amerikanischem Muster durchzusetzen. Die Auflösung der Großkonzerne erwies sich jedoch als nicht voll durchführbar und zeitigte auch da, wo sie durchgeführt wurde, nicht die erhoffte Wirkung. Zunächst einmal erwiesen sich die traditionellen Loyalitätsbeziehungen der japanischen Industrie als außerordentlich beständig, so daß nach Absetzung der alten Wirtschaftsführer ihre bisherigen Untergebenen, die sich weitgehend als Treuhänder ihrer alten Herren fühlten, nach den alten Methoden weiterarbeiteten. Sodann hätte eine vollständige Durchführung des Programms eine strikte Wirtschaftskontrolle über einen Zeitraum von mindestens zehn Jahren erforderlich gemacht, was rein verwaltungstechnisch nicht durchführbar war. überdies scheiterte die Konzernentflechtung an dem Mangel an freiem Kapital, das zum Aufkauf des entflochtenen Besitzes notwendig gewesen wäre. In einigen wichtigen Industriesektoren scheiterte so die Entflechtung mangels freien und zahlungskräftigen Kapitalbesitzes in Japan. Bereits 1950 erwies es sich als notwendig, die Kontrolle über den Aktienmarkt großzügiger als bisher zu handhaben, was zur Folge hatte, daß 66 Prozent aller neu aufgelegten Aktien in den Händen von 10 Prozent der Aktionäre konzentriert wurden. Im ganzen gesehen war die Wirtschaftsentflechtung wohl nur auf dem Handelssektor erfolgreich, hatte im industriellen Fertigungsbereich nur geringe Folgen und blieb auf dem bereits 1948 wieder freigegebenen Bank-und Finanzsektor praktisch wirkungslos.
Die japanische Wirtschaftswelt stand ohnehin als geschlossene Front einem Programm feindlich gegenüber, das weniger als Teil einer Demokratisierungskampagne gesehenwurde, sondern als ein Aufzwingen ungerechtfertigter Wettbewerbserschwerungen auf ein im Wiederaufbau befindliches Land. Man wies auf die Effizienz, insbesonders die hohe Investitions-
uote des alten Systems hin, das Japan immerhin den höchsten Lebensstandard in Asien yerschafft hatte, und strebte staatliche Unterstützung zur Wiederherstellung des Status quo ante an. Als die japanische Wirtschaftsent-widklung 1949 in eine schwere Krise geriet, waren die Amerikaner dazu gezwungen, ihr ekonzentrationsprogramm, das noch sehr unvollständig durchgeführt war, wieder einzustellen. Der rückläufige Prozeß begann mit einer Lockerung der Bestimmungen gegen Preisabsprachen und führte 1953 zur Zulassung von Handelskartellen in Depressionszeiten und zum Zwecke industrieller Mechanisierung. Inzwischen waren 1951 die gegen die Zaibatsu-Führer ausgesprochenen Berufsverbote aufgehoben worden, so daß diese in ihre alten Stellungen zurückkehren konnten. Zugleich wurden zunächst 250 der für die Entflechtung vorgesehenen Gesellschaften von der offiziellen, 325 Namen umfassenden Liste gestrichen und anschließend das ganze Projekt aufgegeben. Die von den Besatzungsmächten beschlagnahmten alten Firmennamen und Markenzeichen der Großkonzerne tauchten nach der Wiederherstellung der japanischen Unabhängigkeit im Jahre 1952 wieder auf dem Markt auf, und die Zeit nach 1953 ist vom Trend zur Fusion und Wirtschaftskonzentration bestimmt. Heute wird das japanische Wirtschaftsleben strukturell von einem System beherrscht, in dem wenigen Großkonzernen mit enormer ökonomischer Macht eine ungewöhnlich große Anzahl von Klein-und Kleinstbetrieben gegenübersteht, die hart am Rande der wirtschaftlichen Subsistenzgrenze operieren.
Aus dieser Entwicklung ergibt sich ein Bild der starken Diskrepanz zwischen einer progressiven Verfassungsstruktur, die als Symbol einer politischen Absichtserklärung interpretiert werden kann, und einer weitgehend von traditionellen Zügen bestimmten paternalistischen Sozialstruktur, die als Hemmnis bei der Realisierung der politischen Absichten wirksam wird. Die progressiven und liberalen Bestimmungen und Rechtsgarantien der Verfassung stellen ein eindrucksvolles Zeugnis sowohl des Idealismus der Besatzungsmächte wie des ernsthaften Willens der japanischen Verwaltungsorgane in der unmittelbaren Nachkriegszeit dar, einen Neubeginn im Zeichen der Freiheit und Demokratie zu wagen. Aber die Frage danach, inwieweit sich die der Verfassung zugrunde liegenden Gedankengänge in der politischen Tagespraxis Japans realisiert haben oder auch nur realisierbar sind, steht auf einem anderen Blatt. Der japanische Politikwissenschaftler Chitoshi Yanaga hat in einer 1956 erschienenen Studie zur Herrschaftsstruktur Japans die Verfassung von 1947 als „ein Modell des Erhofften, nicht eine Dokumentation dessen, was in Japan existiert", bezeichnet Die Analyse der politischen Realität bestätigt die Skepsis des Politikwissenschaftlers gegenüber dem Versuch, die soziale Realität durch den gesetzgeberischen Akt der Verfassungsrevision zu verändern: In Japan ist das Volk souverän, aber der Premierminister herrscht mit einer Machtfülle, die er in kaum einem anderen Land besitzt, und genießt eine absolute Vorrangstellung vor dem Parlament, der Versammlung der gewählten Vertreter des Volkes. Japan hat feierlich für alle Zeiten auf den Krieg als Mittel der Politik und die Aufrechterhaltung von Rüstungspotential verzichtet, aber die gegenwärtige Stärke der unter dem euphemistischen Titel „Nationale Selbstverteidigungstruppe" operierenden japanischen Streitkräfte beträgt 200 000 Mann sowie eine mit modernen Düsenflugzeugen ausgerüstete etwa 40 000 Mann starke Luftwaffe und eine Flotte mit einer Sollstärke von 35 000 Mann. Japan hat den Versuch gemacht, seine Beamtenschaft dem Volk verantwortlich zu machen, sie ihrer unkontrollierten Macht und ihres Obrigkeitscharakters zu berauben, aber dennoch wird Japan nicht zu Unrecht als das Paradies der Bürokraten bezeichnet, als dasjenige Land, in dem die politisch verantwortlichen Spitzen der Exekutive und der Legislative auf Gedeih und Verderb dem technischen Sachverstand einer Kaste von subalternen Beamten ausgeliefert sind, die sich selbst weniger als Diener des Volkes denn als Experten der Herrschaft versteht.
Hemmnisse, die der vollständigen Demokratisierung der Gesellschaft entgegenstehen, ergeben sich — wie unser notwendigerweise lückenhafter Überblick gezeigt hat — einmal aus der Entstehungsgeschichte der Verfassung selbst, die keine historischen Wurzeln im eigenen Kulturkreis besitzt und deren Rezeption im öffentlichen Bewußtsein die — von ihren Gegnern weidlich ausgenützte — Möglichkeit entgegensteht, sie als eine von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs oktroyierte Zwangsordnung zu interpretieren, die den japanischen Gegebenheiten zu wenig Rechnung trägt. Neben der mangelnden Verankerung der Verfassung im öffentlichen Bewußtsein Japans ergaben sich aber eine Reihe historischer Umstände, die nicht alle in ihren vollen Auswirkungen voraussehbar waren. Einmal waren die alliierten Siegermächte, die die gesamte Verwaltung des Landes nicht in eigener Regie übernehmen wollten, nach 1945 gezwungen, sich bei der Durchführung ihres Reedukationsprogramms weitgehend auf die noch bestehenden und funktionsfähigen japanischen Institutionen zu stützen, und das bedeutete nach den Rücktritt der Kapitulationsregierung und der Entmachtung des Vorkriegsparlaments in erster Linie auf den relativ intakt erhaltenen Apparat der Verwaltungsbürokratie. Hier ha-ben der Zusammenbruch Japans und die Be, Satzungszeit nicht zur Schwächung des Prestiges und der realen Macht der japanischen Bürokratie beitragen können. Sodann ergab sich mit dem Ausbruch des Koreakrieges die Notwendigkeit einer zunächst verschleierten Remilitarisierung des Landes. Als im Jahre 1952 die japanische Wirtschaft vor dem Zusammenbruch stand, mußte das ursprüngliche Programm der Entflechtung der Großkonzerne zunächst gebremst und schließlich sogar rückgängig gemacht werden. Konservative, dem Leitbild des alten Japan verhaftete Gruppen gelangten schließlich wieder in Entscheidungs-Positionen, als nach Ablauf des Besatzungsstatuts und mit der Wiedererlangung der japanischen Unabhängigkeit als erster Akt der neugewonnenen Souveränität die von den Alliierten erlassenen Säuberungsgesetze außer Kraft gesetzt wurden und zahlreiche Politiker der Kriegszeit in die aktive Politik zurückkehrten und die Ämter wieder einnahmen, aus denen die Besatzungsmächte sie entfernt hatten. Das politische Kräftespiel wurde endgültig stabilisiert und nahm Tendenzen der Versteinerung an, als sich im November 1956 nach langen Verhandlungen die Liberale Partei und die Demokratische Partei Japans zur Liberaldemokratischen Partei Japans zusammenschlossen und damit zur Herausbildung jenes „Anderthalb-Parteien-System" beitrugen, das nach der Formulierung des Parteienspezialisten Warren Tsuneishi dadurch gekennzeichnet ist, daß „eine herrschende Partei die Macht monopolisiert und als einzige weiß, wie man regiert, während ihr als Opposition eine permanente Minoritätsgruppe gegenübersteht, die zeitweise echte Angst vor der Macht zu haben scheint"
Bis heute ist die Frage nicht entschieden, wie groß die Möglichkeiten der Verankerung demokratischer Herrschaftsprinzipien im öffent liehen Bewußtsein und damit in der politischen Realität des japanischen Lebens sind, Wo 65 um die reale Machtverteilung zwischen Einzelgruppen der pluralistischen Gesellschaft geht hat die neue Verfassung keine einschneidenden Veränderungen bewirkt. Formell wird die Macht von den drei bestimmenden Gruppen der Regierung und ihrer Bürokratie, des Parlaments und der in Parteien organisierten Wählerschaft ausgeübt. Indirekt und informell haben zahlreiche, eng miteinander verflochtene Gruppen an der Macht teil, die in ihrer Zusammensetzung weitgehend den traditionellen Gruppierungen des nach-feudalistischen Japan entsprechen: Industriemanager, Bankkapital und Verwaltungsbürokratie. Die Widersprüchlichkeit der heutigen japanischen Gesellschaft ergibt sich letzten Endes aus der unbestreitbaren Tatsache, daß Japan die Stabilität seines ökonomischen Wachstums bis zu einem gewissen Grade durch den Verzicht auf einen radikalen Wandel der Gesellschaft erkauft hat. Damit aber mußte das Land in einen Konflikt zwischen sozialem Traditionalismus und politischem Anspruch auf grundlegende Reform geraten, der sich als Diskrepanz zwischen einem demokratischen Formalismus der Verfassung und einem traditionalistisch orientierten Real-system der Herrschaft manifestiert und eine schwerwiegende Belastung für die Verwurzelung demokratischer Gesellschaftsformen in der 'Öffentlichkeit darstellt. Der Konflikt zwischen Verfassungsanspruch und politischer Realität hat zu einer tiefgehenden Demokratieverdrossenheit in der Bevölkerung, besonders unter der Jugend und den Intellektuellen, geführt, von deren Überwindung das zukünftige Schicksal des Parlamentarismus in Japan abhängig sein dürfte.