Bevor zu der eigentlichen Problematik des Themas: autiautoritäre oder freiheitliche Erziehung etwas gesagt werden kann, sind einige Vorbemerkungen zu machen:
1. Das Wort von der antiautoritären Erziehung ist zu einem Schlagwort geworden, das verschiedene Erziehungsstile meint: Summerhill, Kinderläden und proletarische Erziehung der zwanziger Jahre. Unterscheidend ist deshalb festzuhalten: Alexander Neills Erziehung in Summerhill ist keine „antiautoritäre", sondern höchstens eine „nichtautoritäre" Erziehung. Sie fördert wohl Entscheidungsfähigkeit und Kreativität, vernachlässigt aber Intelligenzschulung und jegliche politische Bildung. Aus diesen Gründen wurde Neill auch -nach anfänglicher Begeisterung für ihn -bald von der Neuen Linken abgelehnt. Neill scheint mir in seiner Pädagogik ebenso originell wie Wyneken, Lietz und Hahn — andere „geborene Erzieher" der zwanziger Jahre -zu sein; nachahmenswert insgesamt erscheint mir sein Erziehungsstil für heute jedoch nicht.
I. Der Anspruch einer antiautoritären Erziehung
Sieht man einmal von den Implikationen einer proletarischen Ideologie ab, dann erhebt die antiautoritäre Erziehung den Anspruch, einen Menschen hervorzubringen, der auf Grund seines gestärkten Ichs von den „irrationalen" Zwängen und Ansprüchen einer Gruppe, einer Produktionsgemeinschaft, eines Staatswesens oder einer Religion befreit ist und, nicht zuletzt auch auf Grund der Kontrolle über seine Triebansprüche, jederzeit zu einer unabhängigen Entscheidung in der Lage ist. Die jeweilige Entscheidung beruht auf der Einsicht in die Autorität der Sache und auf dem Respekt vor der Freiheit, die in der Einmaligkeit der Person gründet. Sie ist nicht das zweifelhafte Ergebnis eines durch die politischen oder Vortrag vom 16. Oktober 1971 auf dem 3. Deutschen Katholischen Akademikertag in der Katholischen Akademie Freiburg.
Die Pädagogik der Kinderläden ist teils von humanistischen, teils von sozialistischen Idealen bestimmt. Im Laufe der Entwicklung setzte sich im Rückgriff auf W. Reich, S, Freud und proletarische Pädagogen der dreißiger Jahre eine sozialistische Erziehungslehre durch. Die Kinderläden wurden Indoktrinationsstätten des Klassenkampfes. Gemeinsam ist diesen Erziehungsversuchen das Pathos der Freiheit -unter dem psychologischen Begriff: Selbstregulierung -, die politische Zielsetzung und die enge Verbindung von Kindergarten und Elternhaus. Inwieweit diese Erziehungsziele und Methoden abzulehnen oder zu begrüßen sind, wird im folgenden zu diskutieren sein.
2. Die großen sozio-kulturellen Fragen, die im Hintergrund der Erziehungsprobleme stehen, lassen sich hier weder andeuten noch durch gesellschaftspolitische Programme bewältigen. Daß zwischen Erziehung und Gesellschaftssystem eine Interdependenz besteht, kann aber nicht bestritten werden. ökonomischen Zustände manipulierten Individuums; sie ist nicht das trieberfüllende Resultat eines durch den Konsum Verführten. Wollte man es in einer plakathaften Chiffre sagen: Produkt der antiautoritären Erziehung ist der system-nonkonforme Outsider, der potentielle und glückliche Rebell.
Das „starke" Ich -in Abgrenzung vom triebhaften und unpersönlichen Es und im Widerstand gegen das Uber-Ich, in dem die Gesellschaft ihre Ansprüche durchsetzt -besitzt also die Fähigkeit, den Teufelskreis zu durchbrechen, in dem die Gesellschaft die Charakterstruktur produziert und die Charakterstruktur wieder die Gesellschaft beeinflußt. Eine solche Erziehung brächte also -wenn man sie in ihrer idealistischen Projektierung ernst nimmt -wieder freie Personen in diese Welt seit der Mensch aus dem Paradies seiner inneren und äußeren Harmonie vertrieben wurde. Die frühkindliche Abhängigkeit bringt es mit sich, daß auch dieses Ich nicht ohne Identifikation und Ich-Ideal auskommt, nicht ohne Autorität überlebt; doch wird nicht eine „irrationale Autorität", sondern nur eine „legitimierte“ Autorität bejaht. So heißt es im Bericht des APO-Kinderladens Nürnberg: „Wir verstanden unter . antiautoritär'lediglich antiautoritär gegenüber irrationaler, nicht legitimierter Autorität; z. B. irrationale Autorität wie Gott, Vaterfigur, Eltern, Großeltern, Lehrer an sich (kraft Amtes), Polizisten (kraft Uniform), Oligarchien, Tradition, Gesetz (an sich, ohne die Frage, ob Recht oder Unrecht), Staat (an sich), Gedrucktem usw. Wir lehnten jedoch keinesfalls Autorität an sich ab, z. B. nicht die Autorität wissenschaftlich gesicherterErgebnisse." Wenn die angeführten Beispiele auch keineswegs überzeugen, kann man die Unterscheidung, die hier vorgenommen wird, doch begrüßen. In die gleiche Richtung scheint die Definition Max Horkheimers von Autorität als „bejahter Abhängigkeit" zu gehen, die dann allerdings noch einer weiteren Distinktion bedarf. Horkheimer fügt nämlich hinzu: „Autorität als bejahte Abhängigkeit kann daher sowohl fortschrittliche, den Interessen der Beteiligten entsprechende, der Entfaltung menschlicher Kräfte günstige Verhältnisse bedeuten als auch einen Inbegriff künstlich auf-
rechterhaltener, längst unwahr gewordener gesellschaftlicher Verhältnisse und Vorstellungen, die den wirklichen Interessen der Allgemeinheit zuwiderlaufen.
Ob entsprechend dieser Unterscheidung letzteres oder ersteres gegeben ist, „vermag allein die Analyse der jeweiligen gesellschaftlichen Situation in ihrer Totalität zu beantworten" (M. Horkheimer). Bei der Beurteilung einer derartigen Totalität liegt der Einfluß von Ideologien nahe, denn die umfassende Analyse einer Situation gelingt nicht ohne die Ingredienz einer gesellschaftlichen Utopie, die bewußt oder unbewußt als Kriterium des Möglichen und als Kritik des Wirklichen fungiert. En Zusammenhang von antiautoritärer Erziehung und ideologischen Positionen liegt demnach nahe, was im übrigen ebenso eine Konsequenz aus der Unmöglichkeit einer wertfreien Pädagogik ist.
Einer von sozialistischen Aprioris befreiten antiautoritären Erziehung geht es darum -und 2 darin trifft sie sich mit dem Bemühen um Intelligenzförderung, „Begabung", dem Abbau der Sprachbarriere, dem Erwecken einer großen Sensibilität und einer kreativen Emotionalität, mit der Unbefangenheit gegenüber der Sexualität -, jene Rationalität zu ermöglichen, die in der Kenntnis der Tatsachen einer industriellen Gesellschaft das Optimum eines gemeinschaftlichen Glücks zu verwirklichen sucht. Einer solchen Erziehung geht es nicht um die utopischen Zielvorstellungen einer klassenlosen Gesellschaft nach der Diktatur des Proletariats, sondern eben im Maß der möglichen Umstrukturierung um diese Gesellschaft, die fortschrei,, tend die Effizienz der leistungsorientierten Gesellschaft bewahrt und das mögliche Glück der möglichst vielen erzielt. Nur in der Synthese beider Ziele kann eine solche antiautoritäre Erziehung gelingen.
Dieser positiv formulierte Anspruch einer antiautoritären Erziehung, der negativ formuliert lautet: „verhindern, daß die Autoritätshörigkeit in der Charakterstruktur verankert wird" (Kommune 2), ist zu begrüßen und in entsprechenden Methoden der Erziehung umzusetzen. Denn nur eine antiautoritäre, das heißt treffender, weil weniger mißverständlich: eine freiheitliche Erziehung befreit den heutigen jungen Menschen zu jener Einsicht in die Situation, schenkt jene „Vernunft", die die bessere Gesellschaft heraufführt (mit weniger Repression, Entfremdung und Konformitätsdruck) und die das Individuum in seinem personalen, möglichen und nötigen Glücksstreben nicht dem Moloch Lei-stung opfert.
Dieses neue pädagogische Ziel liegt im Sinne einer christlichen Erziehung, die sich als Erziehung zur Freiheit begreift. Das paulinische Pathos der Freiheit, das in der Erlösung vom jüdischen Gesetz und allen entpersonalisierenden Mächten gründet, war sicher zu oft bei der unaufgebbaren Polarität von Freiheit und Gehorsam, Freiheit und Institution, Freiheit und Autorität zugunsten des Institutioneilen vernachlässigt worden. Der Geschichtskundige weiß, daß der Gehorsam gegenüber jeder Autorität paradoxerweise mehr zum asketischen Instrumentarium des Protestantismus zählte, der Gehorsam im Katholizismus aber mehr der Kirche galt. Wenn heute diese freiheitliche Erziehung zur Freiheit befreit, dann entspricht diese Absicht der christlichen Offenbarung und einem christlichen Menschenbild; dann ermöglicht diese Pädagogik erst den christlichen Glauben, der aus personaler, unab-wälzbarer Entscheidung erwächst und keine irrationale Unterwerfung unter eine inappellable Instanz darstellt. Gott ist nicht deshalb eine Autorität, weil wir ihm und seinen Geboten zu gehorchen hätten, sondern weil er -nach der Aussage des Evangeliums -gütig ist und das ganze Heil aller will.
Der erste Imperativ eines genuinen Christentums heißt demnach nicht Gehorsam im autoritären Sinne, er heißt Liebe. Daß diese Liebe dann notwendigerweise in den Glauben integriert zum Glaubensgehorsam werden kann, im Sinne des stetigen Exodus, der dem Gläubigen seit Abraham aufgetragen ist, daß sie zum Liebesgehorsam werden kann, der auch in die absurde Situation des Kreuzes führt, die durch die Auferstehung Jesu von ihrer Absurdität befreit wird, liegt an der eschatologischen Existenz des Christen. Diese „Liebe" aber weckt gerade ihrer Selbstlosigkeit wegen „Phantasie", Entscheidungsfreude, Einsatzbereitschaft, aber auch den Widerspruch, der die etablierte Ordnung hinterfragt und sich nicht mit der banalen Devise abfindet: Gut ist, was alt, ehrwürdig, überkommen ist. Eine solche in Liebe begründete, durch vernünftige Freiheit und freiheitliche Vernunft erfüllte „antiautoritäre" Erziehung ermuntert dazu, innerhalb der Kirche jenen Freiraum zu fixieren und zu verteidigen, den das Experiment des Christentums und der Kirche immer wieder erfordert. Daß es in der Kirche immer wieder den Unbequemen, den Revolutionär gegeben hat (gewiß, die Amtskirche hat dieses Charisma oft nicht verstanden!), beweisen nicht zuletzt die Heiligen und Großen in der Geschichte des Christentums, die in barer Antiautorität gegen jede kirchliche und weltliche Gewalt angetreten sind, etwa nach dem Motto des Kardinals von Galen: Nec laudibus nec timore.
Ist man sich als Christ in der Zielvorstellung einer „antiautoritären", das heißt weniger mißverständlich: einer „freiheitlichen" Erziehung mit anderen einig, so wird man in der Methode und in der konkreten Praxis dieser modernen Erziehungsart doch anderer Meinung sein können und müssen.
II. Die Methoden der antiautoritären Erziehung
Die antiautoritäre Erziehung geht -von Einsichten der Psychoanalyse und der Psychologie des Kindes bestimmt -davon aus, daß sie sich im Gegensatz zur üblichen Erziehung zu vollziehen hat, die einen „autoritären Charakter" (Th. W. Adorno) hervorbrachte. Wie differenziert man die Aufgabe sieht, zeigt der folgende Text des APO-Kinderladens Nürnberg:
„Unter diesem B. egriff ist allerdings keine Umkehrung der bisherigen Herrschaftsverhältnisse zu verstehen. Wenn Erwachsene sich nämlich bedingungslos den Wünschen der Kinder unterwerfen, dann erfolgt nicht antiautoritäre, sondern laissez-faire-Erziehung; diese würde nur so lange funktionieren, solange Kind und Eltern allein zusammenleben; schon in der Kindergruppe würde sie zum nackten Terror von Kindern über Kinder ausarten. Antiautoritäre Erziehung gewährt also nicht Triebbefriedigung in jedem Fall, aber ein Optimum. Sie muß den Weg finden zwischen größtmöglichem Gewährenlassen und minimalem Versagen."
Die antiautoritäre Erziehung wird demnach von jeder verwildernden, das Kind keinesfalls fördernden Laissez-faire-Erziehung abgehoben.
Als entscheidende Methoden dieser neuartigen Sozialisation werden genannt: 1. die Selbstbestimmung der Kinder, 2. die Selbstregulierung im Bereich des Sexuellen. 1. Die Selbstbestimmung Sie wird im Hinblick auf Autonomie und Ich-Stärkung des jungen Menschen dadurch gefördert, daß dem Kind möglichst wenig Dressuren und Entwicklungshemmungen auferlegt werden. Es besitzt größere Spielräume, muß weniger Direktiven in Kauf nehmen, muß bei einem Versagen nicht sofort mit einer Strafe oder einem Liebesentzug, also mit Androhung von Angst, rechnen, kann im spielerischen Umgang mit sich, seinen Spielgefährten und seiner Welt mehr Erfahrungen als das autoritär dressierte Kind sammeln, das sich nach den Geboten und nach den bewußten und unbewußten Normen seiner Eltern zu richten hat. In diesen Zielsetzungen stellt man eine gewisse Nähe zu der um die Jahrhundertwende als Reform-pädagogik propagierten „Erziehung vom Kinde aus“ fest.
Nun bedeutet dieses Erziehungsprogramm keineswegs das Ende aller Verbote und den Verzicht auf alle Versagungen. Doch damit diese Verbote nicht als „irrationaler Zwang" empfunden werden, „müssen (sie) ihre Begründung vielmehr in den objektiven Inter-essen der anderen haben, die das Kind mit seinen Handlungen eventuell daran hindert, diese Interessen durchzusetzen. Begründet sind 1. Verbote und Einschränkungen für Betätigungen, die die anderen Kinder im Kollektiv in ihrer Triebbefriedigung hindern. Diese werden sehr bald von den Kindern selbst ausgesprochen und einander vermittelt; 2. Versagungen der freien Betätigung der Kinder, wenn sie die zur Reproduktion und für die politische Widerstandspraxis notwendige Arbeit der Eltern einschränkt und unmöglich macht; 3. Verbote, die im Gesamtzusammenhang der gesellschaftlichen Disziplinierungen und Einschränkungen, denen die Eltern ebenso unterliegen, zu interpretieren sind. Die letzten beiden Arten von Versagungen sind dem Kind sehr wohl rational und politisch einsichtig zu machen, insbesondere, wenn ihm die gesellschaftliche Realität des Klassenkampfes als Erfahrung nicht verweigert wird."
Konkrete Beispiele zu diesen programmatischen Sätzen finden sich im Bericht der Kommune 2, in der man es vorzog, Verbote auszusprechen und zu begründen, „als die Kinder mit Tricks davon abzuhalten, bestimmte Dinge zu tun: den Plattenspieler zu bedienen, im Arbeitszimmer zu spielen", und ebenso im Bericht des Kinderladens Schöneberg vom 4. 9. 1968, in dem von einem Lernprozeß der Kinder berichtet wird, „der von aggressiver Unterdrückung zu sozialem Verhalten gegenüber den anderen führen kann"
Gegen den Mythos von der heilen Welt, in 1968, in dem von einem Lernprozeß der Kinder berichtet wird, „der von aggressiver Unterdrückung zu sozialem Verhalten gegenüber den anderen führen kann" 5).
Gegen den Mythos von der heilen Welt, in der das „unschuldige" Kind erzogen wird, richtet sich die prophylaktische Praxis, den Kindern den Umgang mit „gefährlichen Dingen" zu gestatten. Sie gehen mit Schere, Hammer, Nägeln, mit Apparaten des Haushalts und der Werkstatt um. Die Praxis baut wohl das aus der Romantik stammende Klischee vom „Kinde" ab, bringt dafür aber eine nicht zu unterschätzende Konfrontation mit der Realität einer Industriegesellschaft. Vom Stuttgarter Kinderladen wird berichtet: „Durch den Um-gang mit diesen Werkzeugen begibt sich das Kind anscheinend in eine Gefahrenzone. Bei uns überwiegt die Funktionslust bei weitem die Gefahrenmomente, letztere werden durch Selbsterfahrungen schnell reguliert.“ 6) An diese Forderung schließt sich ohne Mühe die uneingeschränkte Förderung der Kinder beim Spielen, beim Malen mit Fingerfarben, bei kreativen Tätigkeiten mit Kisten, Kästen, Far-ben, Stoffen usw. an. Wenn gerade in Presseberichten der dabei entstehende größere Schmutz und eine gewisse Zwanglosigkeit der Kinder bemängelt wird, dann treffen diese Bemerkungen entweder nur typische Einzelfälle, oder diese neuartigen Sozialisationsformen werden mit den bisherigen Begriffen von Reinlichkeit, Sauberkeit, adretten und gehorsamen Kindern gemessen -Begriffen, die schon in ihrer hintergründigen Theorie ein unzureichendes Instrumentarium für diese Erziehungsart bieten. Gefahrenmomente werden neuerdings auch von den Leitern der Kinderläden eher zugegeben als früher 7).
Der Wert des spielorientierten Kollektivs, der schon im „Moskauer Kinderlaboratorium“ (W. Schmidt) sichtbar wurde, wirkt sich gerade in der größeren Solidarität unter den Kindern aus, wobei allerdings die verschärften Aggressionen nicht ohne Eingriffe der Erzieher gezügelt werden konnten 8). Die Kinder besitzen eine gewisse Distanz zu ihren Eltern, wie W. Schmidt berichtet: „Die Kinder kennen keine elterliche Autorität, elterliche Gewalt und dergleichen. Für sie sind Vater und Mutter schöne, geliebte Idealwesen." 9) In solcher Entfremdung offenbart sich auch ein Hauptanliegen dieser Sozialisation: nach Möglichkeit die Identifikation der Kinder mit ihren Eltern abzubauen. In dieser Frage, die gerade für die Familie als „psychologische Agentur der Gesellschaft" von großer Bedeutung ist, findet sich bei den einzelnen Elternkollektiven weder eine einheitliche Theorie noch eine einheitliche Praxis. Der Trend geht auf jeden Fall in diese Richtung: „Im Gegensatz zur herrschenden Pädagogik ist die antiautoritäre Erziehung: Ich-Pädagogik, die mit der ErwachsenenÜbermacht, nicht mit den Erwachsenen aufräumt und dem Kind Befriedigung seiner Bedürfnisse und realitätsgerechte Abwehrformen gegen Triebe und Umwelt zugleich versucht zu vermitteln." Neueste Untersuchungen über die Erziehung im israelischen Kibbuz heben ähnliche Erfolge und Probleme hervor
2. Die Selbstregulierung Vor allem im Bereich des Sexuellen stellt die Selbstregulierung die zweite entscheidende Forderung einer antiautoritären Erziehung dar. Im sexuellen Leben wird nämlich eine Gegenposition zur Leistungsgesellschaft mit ihren Verzichten und ihrer autoritären Repression bezogen. Nun breitet sich heute gewiß eine große Liberalität in diesen Fragen aus: In jungen Familien ist die Sexualität nicht nur enttabuisiert, sondern man versteht es, ihr die mögliche Lust und Freude abzugewinnen. Ausgehend von W. Reichs Sexualökonomie fordert nun die antiautoritäre Erziehung -alle bisherigen Entwicklungen hinter sich lassend -nicht nur die Duldung von sexuellen Spielen der Kinder, sondern verlangt ihre ausdrückliche Bejahung. Was diese Forderung bedeutet, wird im Bericht der Kommune 2 an zwei höchst „prekären“ Beispielen deutlich: „ 1. Die ausdrückliche Aufforderung des Erziehers an die beiden Kommunekinder, nachdem diese sexuelle Regungen gezeigt hatten, auch gegenseitig ihre Geschlechtsorgane zu streicheln, was schließlich mit dem Versuch eines Koitus endet; 2. die verbale Aufforderung des Erziehers an das Kind, das die unbewußte Neigung zeigt, mit dem Erwachsenen zu koitieren, dies doch zu versuchen“
K. Beutler, der dem Experiment einer antiautoritären Erziehung im wesentlichen zustimmt, bemerkt zu diesen beiden Beispielen, es dürfe kaum einen liberalen Pädagogen geben, der zu solch praktischer Konsequenz bereit wäre. Liberale Pädagogen seien nämlich trotz aller psychoanalytischen Kenntnisse nicht bereit, über ein bloßes Dulden von freien Sexual-betätigungen des Kindes hinauszugehen. So wird an diesen Beispielen greifbar, wie sehr antiautoritäre Erziehung heißt, „dem Kind eine Sozialisation gewähren, die seiner Triebstruktur adäquat ist“ Die Berichte unterstellen, daß derart erzogene Kinder nicht nur eine freiere Sexualbetätigung suchen, sondern auch ein viel größeres Glück in der Sexualität finden, die sich selbst nach Maßgabe der je möglichen Lust -eben aufgrund der Reichschen Sexualökonomie -reguliert.
Spezifische Forderungen für die einzelnen Entwicklungsphasen des Kindes und Jugendlichen lauten: In der oralen Phase Erfüllung aller oralen Bedürfnisse, in der analen Phase keine penible Sauberkeitserziehung, in der genitalen Phase die bejahende Einstellung zu Sexspielen der Kinder, so daß dann die Latenzperiode gänzlich ausbleibt, und zumal in der Zeit des sich anbahnenden Ödipuskomplexes geringe Identifikationen sich ergeben. Die Binnen-struktur der Familie wird erotisiert, der Mensch von repressiven Zwängen der Gesellschaft befreit, und es wird im Hinblick auf „monogame Verhältnisse", nicht aber auf Monogamie erzogen.
Festzuhalten ist: Die Selbstregulierung der Sexualität in Kindergarten und Kommune dient, neben der Befreiung aus dem Zwang einer repressiven Moral, vor allem dem Abbau der traditionellen Familienstruktur; denn die Familie ist „die Institution, die mit der Erzeugung autoritärer Menschen als eine Agentur der Herrschenden'wirkt. Durch sie wird gewährleistet, daß Normen und Tugenden in die nachwachsende Generation eingepflanzt werden: Ordnungsliebe, Fleiß, Pünktlichkeit, Sauberkeit, kanalisiertes Triebleben, Arbeitsethos, Lenkbarkeit, Pflichterfüllung, Leistungsstreben, Konsumhaltung, Vereinzelung des Individuums und dadurch Konkurrenz-haltung."
Bei einer solchen Sicht der Dinge entspricht es nur der immanenten Logik der antiautoritären Erziehung, die Familie zu verändern und neben dem Kinderkollektiv das Kollektiv der Eltern als Kommune und Wohngemeinschaft zu etablieren.
Der psychoanalytische Ansatz der antiautoritären Erziehung einerseits und die sozialpsychologischen bzw. sozialpolitischen Implikationen im Hinblick auf die Umstrukturierung der Familie andererseits helfen, die Zielvorstellungen: antiautoritäre Menschen, genitaler Charakter (W. Reich), Revolutionäre für die Diktatur des Proletariats, zu verwirklichen.
III. Kritik der antiautoritären Erziehung
1. Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft Der Protest, der sich in der antiautoritären Erziehung gegen die heutige Gesellschaftsordnung richtet, wird ausgerechnet in einer Zeit wach, in der wir auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft sind, in der die Mutter zusehends ihre emanzipierte, bestimmende Rolle in der Familie übernimmt, in der der Vater -nach den Ergebnissen jugendsoziologischer Untersuchungen -zunehmend eine Vertrauensperson wird, eben deshalb, weil seine patriarchalische Position geschwächt wird. In der Anknüpfung an Ideen, die Bachofen über das Matriarchat geäußert hat, könnte man mit E. Fromm von einem progressiven Matrizentrismus sprechen, der sich gerade in Amerika bereits deutlicher als bei uns zeigt Der Mangel an Väterlichkeit scheint einem amerikanischen Psychiater schon so gravierend, daß er den Grund für die Studentenrevolte im sogenannten „heißen Vietnamsommer'1 in der Provokation einer adäquaten Autorität erblickt. Erhebt sich also nicht der Verdacht, daß man -aus sozialistischer Agitation, im Rückgriff auf die proletarische Erziehung der zwanziger Jahre -scheinbar einen Verantwortlichen für die Unerquicklichkeiten der heutigen Leistungsgesellschaft sucht, in Wirklichkeit aber einen hinreichenden Grund für die Proklamation des sozialistischen Paradieses produzieren will?
In den gleichen Zusammenhang gehört die folgende Einschränkung des gesellschaftskriti-schen Ansatzpunktes: Wie Sigmund Freud bereits dargelegt hat, liegt längst vor der Begegnung mit der väterlichen Autorität die Begegnung mit der Mutter in all ihrer Liebe und Zuneigung. Gilt aber der Satz, daß eine Erfahrung um so tiefer sich einprägt, je früher sie in der Kindheit gemacht wird, so müßte diese Tatsache auf nichtautoritäre Strukturen hindeuten, zumal es heute ja gar nicht um eine ausschließliche Bevorzugung des Patriarchats gehen kann, sondern nur um ein fließendes Gleichgewicht von beiden, denn „das mütter-iche Prinzip (ist) das der uneingeschränkten Liebe, natürlicher Gleichheit, des Mitleids und der Barmherzigkeit. Das väterliche Prinzip ist das der bedingten Liebe, der hierarchischen Strukturen, des abstrakten Denkens, der von Menschen gemachten Gesetze, des Staates" Deshalb folgert E. Fromm: „Der gegenwärtige Kampf gegen die väterliche Autorität scheint das patriarchalische Prinzip zu zerstören und eine Rückkehr zum matriarchalischen Prinzip in regressiver und undialektischer Weise anzudeuten. Eine lebensfähige, progressive Lösung liegt einzig in einer neuen Synthese der Gegensätze, in der der Widerstreit zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit durch eine Vereinigung beider auf einer höheren Ebene ersetzt wird."
Mit dieser ersten Kritik soll dem sozialistischen, antikapitalistischen Pathos seine sozialkritische Basis entzogen werden, ohne damit die berechtigten Querelen über die heutige Leistungsgesellschaft bestreiten zu wollen. 2. Die Überschätzung der Sexualität Die zweite Kritik hat anzusetzen bei der Bewertung der Sexualität innerhalb der Struktur des Menschen und in der Erziehung überhaupt. Mag eine Reaktion auf die frühere Prüderie, Triebbeschränkung und Verteufelung der Sexualität mehr als verständlich sein, so wirkt vermutlich eine einseitige Akzentuierung der Sexualität ebenso neurotisierend wie die repressive Sexualerziehung. Der modische Appell für eine normenfreie Sexualität beruft sich auf die Sexualökonomie Wilhelm Reichs, die unter dem Motto steht: „Der Kern des Lebens-glücks ist das sexuelle Glück."
Die Diskussion dieser Hypothese wird deshalb erschwert, weil eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit W. Reich innerhalb der Psychoanalyse noch aussteht. Nur Siegfried Bern-feld setzte sich mit ihm in den zwanziger Jahren kritisch auseinander, indem er schrieb, Reichs Ideal sei bekanntlich eine Menschheit ganz ohne Sexualtriebeinschränkung. Die Psychoanalyse scheine ihm das Mittel, diese Erlösung herbeizuführen, wenn vorher die ökonomischen Umwälzungen durchgeführt seien, als deren Mittel er den Kommunismus ansehe. Er wird dann polemisch, indem er W. 17 Reich angreift: „Reich hat das Ideal der vollen uneingeschränkten Sexualbefriedigung. Wie alle Romantiker sucht er sein Ideal bei den primitiven Völkern als verwirklicht darzustellen und malt eine nahe Zukunft, in der es wieder erfüllt sein wird. Dieses Ideal ist recht unklar, aber immerhin erfordert es: keinerlei Onanieverbot, keine eigentliche Reinlichkeitserziehung, keinerlei Strafe, keinerlei Einschränkung der Schauwünsche des Kindes, keinen pädagogischen Druck zur Sublimierung, keine Verhinderung des Koitusspieles der Kinder, auch dann nicht, wenn die Eltern die Spiel-partner sein sollten. Er setzt voraus, daß auch dann, ja sogar nur dann sozialistische Kultur möglich sein wird und daß es dann in ihr kein Leid geben wird. Reich hatte alle die Unwahrscheinlichkeiten nicht systematisch hintereinander gefordert, aber sie finden sich in seinen Aufsätzen verstreut samt und sonders. Reich ist ein Philosoph, er wäre als anarchistischer Sexualethiker zu charakterisieren."
Die zentrale Aussage bei W. Reich beruht in der Hypothese der Selbstregulierung, nämlich darin, daß der freie, freiheitlich erzogene Mensch nur ein Prinzip kenne: die sexualökonomische Selbstregulierung. Die neue Moral, die darin anhebt, begründet er in „Die sexuelle Revolution" auf diese Weise: „Wenn wir von . neuer revolutionärer Moral'sprechen, sagen wir gar nichts; ihren konkreten Gehalt erhält diese Moral erst durch den Inhalt der geordneten Bedürfnisbefriedigung, und dies nicht nur auf dem Gebiet der Sexualität .. . Die neue Moral ist eben, die moralische Regulierung überflüssig zu machen und die Selbstregulierung des gesellschaftlichen Lebens herzustellen. Beim Stehlen bzw. bei der Moral gegen den Diebstahl ist das eindeutig sichtbar und auch in die Praxis umgesetzt: Wer nicht hungert, hat kein Bedürfnis zu stehlen und braucht daher auch keine Moral, die ihn daran hindert. Der gleiche Grundsatz gilt auch in der Sexualität: Wer befriedigt lebt, vergewaltigt nicht und braucht auch keine Moral dagegen. Die . Sexualökonomische Regulierung'des Geschlechtslebens tritt an die Stelle der normativen Regelung."
Diesen Aussagen muß man einen großen pädagogischen und ethischen Idealismus zuerkennen. Dagegen scheint der Mensch anders zu sein, als W. Reich ihn sich dachte, und die spätere Abkehr Reichs vom Kommunismus, der ihn enttäuschte, würde zumindest seinen Hinweis auf den Kommunismus als die gültige Verwirklichung seiner Theorien fragwürdig machen Uber diesen Idealismus hinaus aber muß man der These der sexualökonomisehen Selbstregulierung gegenüber Zweifel hegen, weil statt der bisherigen Moral, die sich an der Natur, der Vernunft, der Freiheit, dem Nächsten überhaupt orientierte, Reich das biologische, physiologische „Empfinden" zum entscheidenden, quasimoralischen Maßstab erhebt. Abgesehen davon, daß eine Lustempfindung einen höchst unsicheren, weil zu subjektiven Maßstab darstellt, wird einem biologischen Prinzip (nach einem hedonistischen Muster) die Funktion des „Gewissens" übertragen. Kann der Orgasmus den Eros ablösen? Kann die sexuelle Funktion den Gewissensspruch ersetzen? Trifft der Vorwurf von E. Fromm zu, der Reich eine „für seine Arbeiten charakteristische physiologistische Überbewertung des sexuellen Faktors" bescheinigt? Das sind die entscheidenden Fragen an Reichs sexualökonomische Utopie.
Bei der Antwort auf diese Fragen wird weithin das Problem verdrängt, ob das Realitätsprinzip, in dem die konkrete Gesellschaft und die konkrete Existenz aufscheint, bei der Regulierung des Lustprinzips überflüssig wird. Psychoanalytiker wie etwa A. Freud, R. Spitz u. a., die an dieser These Sigmund Freuds festhalten, einfach als orthodoxe Freuddogmatiker zu disqualifizieren, heißt doch eine pädagogisch zentrale Frage unwissenschaftlich zu simplifizieren. Im Zusammenhang damit stellt sich natürlich die Frage nach der Möglichkeit und der Funktion der Sublimierung, ohne die keine Unterordnung unter das Realitätsprinzip gelingt.
Wenn die antiautoritären Kinderläden auch in der Reichschen Theorie übereinstimmen, zeigen sich doch Differenzen in der Praxis, z-B. ob Kinder am Intimleben ihrer Eltern teilnehmen sollen oder nicht Das ist vielleicht eine Randfrage, aber in ihr stellt sich das grundsätzliche Problem in aller Schärfe. 3. Ideologischer Radikalismus Der dritte Punkt der Kritik muß sich der ideologischen Fixierung der antiautoritären Erziehung zuwenden. Was sich anfangs als humanistische Attitüde gegen die Leistungsgesell-schaft und als Ausgleich des Unrechts einer keineswegs nivellierten Mittelstandsgesellschaft ausgab, radikalisierte sich zu einer sozialistisch-proletarischen Erziehung, die es nicht nur auf den Umsturz der heutigen Gesellschaft, sondern ganz präzise auf Klassenkampf abgesehen hat. Die entsprechenden Berichte aus dem Schülerladen „Rote Freiheit" in Berlin räumen über die wahren Absichten jeden Zweifel aus 25). Alle vorgeschobenen humanitären Absichten erweisen sich bei Würdigung dieser Ziele und Methoden als pure Mäusefängerei.
Die anfänglich an Herbert Marcuse orientierte Parole von der „großen Weigerung" wird zusehends von einem kämpferischen Marxismus und Leninismus verdrängt. Die in dem Kollektiv ROTKOL arbeitenden Jugendlichen sollen sich auf ihre Aufgaben vorbereiten, indem sie die Erfahrungen und Prinzipien der kommunistischen Kinderbewegung der zwanziger Jahre sammeln, das Verhältnis von Theorie und Praxis bei den Klassikern des Marxismus-Leninismus studieren und sich die Ideen von Mao-Tse-tung aneignen. Die politische Linie des PROZ-ML ist nicht weniger deutlich; sie sind der Meinung, „daß der Kampf gegen die autoritäre Erziehung nur erfolgreich sein kann, wenn es gelingt, den kapitalistischen Staatsapparat mitsamt seinen Erziehungsinstanzen zu beseitigen." Dieses Ziel setzt den Aufbau einer proletarischen Organisation auf nationaler Ebene voraus, die den Kampf für die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Interessen des Volkes siegreich führen kann. Man kann die anspruchsvolle Ideologie dieser Kinderladenbewegung in einem Imperativ zusammenfassen: „Wer eine menschenwürdige Erziehung ernsthaft will, in der die Bedürfnisse, Fähigkeiten und Interessen aller Kinder unserer Gesellschaft ausgebildet werden, der muß sich in den Dienst dieser Aufgabe stellen."
Keiner wird übersehen, daß durch diese ideologische Radikalisierung sich entsprechende Ideologien, Menschenbilder, soziale Vorstellungen und Ziele, Bildungskonzeptionen polarisieren. Und sollte man dies nicht merken, so hat es R. Wolff auf dem 4. Deutschen Jugendhilfetag 1970 in Nürnberg deutlich gesagt: „Den Erziehern ist zu raten . . . Verweigert euch, für die herrschende Klasse zu erziehen. Arbeitet in der proletarischen Stadtteilarbeit, in den Reihen der proletarischen Kinder und Jugendlichen. Zerschlagt die bürgerliche Klassenschule, schickt die Pfaffen dahin, wohin sie gehören, in die Kirche, über zwei Drittel aller Vorschulerziehungseinrichtungen sind konfessionell. Das ist ein Skandal." 26) Dieser Jargon ist aus „braunen" Tagen sattsam bekannt.
IV. Pädagogische Impulse -für eine freiheitliche Erziehung
Allem voraus muß man zugeben, daß seit Fröbels und Montessoris Zeiten in der Vorschulerziehung nie mehr so angestrengt nachgedacht und so phantasievoll „experimentiert" wurde wie in unseren Tagen. Daß Eltern abendelang beisammensitzen und engagiert Erziehungsfragen diskutieren, ist doch wesentlich erfreulicher als jene unengagierte Distanz, die bislang den Kindergarten als Abstellraum für Kinder mißverstand. Die Einheitlichkeit der Erziehung in Kindergarten, Schule und Elternhaus kann dem Kinde nur nützen. 1 Sozialisation des Kindes Uber die grundlegende Revision der Vorschulerziehung hinaus rückt diese moderne Weise der Sozialisation das Kind in die Mitte der erzieherischen Bemühung. Sinn der Erziehung ist nicht der bestangepaßte Mensch in einer an der Profitmaximierung orientierten Leistungsgesellschaft, sondern die Vermittlung der sinngebenden und wertvollen Lebenstechniken, die gemäß den Fähigkeiten und Bedürfnissen des Kindes, im Hinblick auf seine zeit-und gesellschaftsbedingte Lebensgestalt, das soziale und personale Glück des Menschen ermöglichen. Je weniger der Imperativ „Alles für das Kind" unter die Parole „Gegen die kapitalistische Gesellschaft" gerät, um so besser. Diese Erziehung versteht sich als Erziehung zu einer selbstbewußten, zur Selbst-verfügung und Selbstannahme befreiten Frei-28 heit. Nicht Gehorsam ist des Bürgers Pflicht, sondern kritisch verantwortetes Engagement.
Die Erziehung zur Freiheit setzt sich in pädagogische Imperative um: Gewährenlassen, Spielraum der Freiheit, Ermutigung des Kin-des zum Entdecken, zum Gestalten, zur Selbsterfahrung, zur Kooperation, zur Kommunikation, zur Entscheidungsfreude, zur Ichstärkung. Der emanzipatorische Sinn solcher Pädagogik leuchtet erst ein, wenn man zum Vergleich die Pädagogik der Jahrhundertwende mit ihrem Drill, ihrer Dressur, ihrer Intoleranz dem Freiheitsverlangen gegenüber heranzieht.
Wie R. und A. M. Tausch in ihrer „Erziehungspsychologie" berichten, erhalten Kleinkinder etwa 200 bis 400 Befehle täglich von ihren Müttern. Für diese Dimension der Lenkung und Dirigierung hat man folgendes festgestellt: Strenge Disziplin und Kontrolle bei Kindern stehen in merklichem Zusammenhang mit geringen Konflikten und geringer Aggressivität, zugleich aber auch mit geringen originellem, schöpferischem und sozialem Verhalten. Strafe in der Erziehung korreliert mit Trotzverhalten und emotionaler Instabilität; Dirigismus, Einmischung und Stimulierung korrelieren mit Nicht-Kooperation und kritisierend-kooperativem Verhalten der Kinder; Machtpraktiken der Mütter korrelieren mit dem Ausmaß an Feindseligkeit und Machtpraktiken der Kinder gegen Kinder und mit dem Widerstand gegen die Beeinflussung anderer Kinder wie der Kindergärtnerin. Dagegen führt die Gewährung von Selbständigkeit der Handels-und Entscheidungsfreiheit zu größerer seelischsozialer Schulreife der Kinder
Die beiden Gelehrten ziehen die Konsequenz, daß die wenig befriedigenden Zustände in den Kindergärten im Zusammenhang stehen mit der fehlenden Erforschung des psychologischen Geschehens im Kindergarten, mit den zunächst hohen Idealen vieler Kindergärtnerinnen, andere Menschen zu formen, sowie „dem Mangel an geeigneten Verhaltensmodellen oder am Wissen hinsichtlich eines adäquaten Umgangs mit Kindern". Sie sagen ausdrücklich: „Schlagworte wie antiautoritäre Kindergarten-Erziehung oder gute Vorsätze scheinen nicht zu genügen, um ein entsprechendes Erzieherinnenverhalten und entsprechende Bedingungen für Kinder im Alltag fortlaufend zu realisieren."
jß Allerdings zeigt sich -nach dem Urteil von R. und A. M. Tausch -in der Bundesrepublik eine Tendenz, daß Eltern das Ausmaß ihrer Lenkung reduzieren. „Diese Reduzierung mag manchmal einhergehen oder ist die Folge einer gewissen emotionalen Distanzierung-Gleidigültigkeit der Eltern gegenüber ihren Kindern, was des öfteren nicht zu günstigen Auswirkungen führen mag." Es kann sich demnach nur darum handeln, einerseits Lenkung und Dirigismus herabzusetzen, aber gleichzeitig den emotionalen Raum mit Wertschätzung, Wärme und Zuneigung anzureichern.
In einem Zeitalter nach Sigmund Freud ist es selbstverständlich, auch der kindlichen Sexualität mit großer Unbefangenheit zu begegnen. Die Zielvorstellungen des Gewährenlassens, naiver Unbefangenheit und wahrhafter Unterrichtung zählen inzwischen zum pädagogischen Fundus aller Eltern. Inwieweit sich diese Imperative in einer Kindergartenerziehung auswirken können, hängt nicht nur von der Souveränität der Erzieher ab, von der Respektierung der sehr unterschiedlichen Erziehungsatmosphäre, die -zumindest beim primären Erziehungsrecht der Eltern — diese Respektierung verdient, sondern vor allem auch von der Freiheit von jenen ideologischen Fixierungen, die Lebensglück auf sexuelles Glück reduzieren. Wo Sexualität als eine ins Lebensganze integrierte Wirklichkeit verständlich ist, werden die Kategorien des Verständnisses wie die Imperative der Erziehung anders lauten als die neomarxistischen, von W. Reich herkommenden. Ausdrücklich sei aber gesagt, daß die von der Kommune 2 berichteten Sexspiele der Kinder (von H. Kentler gelobt) nur als fragwürdig und pädagogisch unverantwortbar bezeichnet werden können, wie Chr. Mevens es nach-weist
Die moderne Vorschulerziehung mit ihren Lernprogrammen, Lesespielen, mit ihrer Auf-merksamkeit für gruppendynamische Prozesse, ihrem Akzent auf Kreativität wird durch die freiheitliche Erziehung in die Mitte der Aufmerksamkeit gerückt. Die Forderung nach kleinen Spielgruppen, nach Vermehrung der Zahl der Erzieher, nach spezifischen Kenntnissen der Kindergärtnerinnen sind nur zu begrüßen, wenngleich die — unter dem Titel „Leistungsmaximierung" erfolgende — frühzeitige Wegnahme des Kindes aus der Familie mit Wachsamkeit verfolgt werden muß. 2 . Erziehung im Jugendalter Die antiautoritäre Einstellung ist, solange sie nicht zu einer neomarxistischen „Marotte“ wird, auch in diesem Erziehungsfeld von Bedeutung. Freiheitlichkeit, Entscheidungsfreude, Selbstverantwortung und Ichstärke zählen zu den gültigen Zielvorstellungen auch in diesem Alter. Man spricht heute gern von partnerschaftlicher Erziehung -und dieses Wort meint etwas Richtiges, solange man unter Partnern nicht notwendig Gleiche versteht. Partnerschaft kommt ohne die Teilhabe an der je individuellen Ungleichheit nicht aus, in ihr mag es immer noch so etwas wie Autorität geben, eben in dem Sinne, daß der Jugendliche in den modernen Fragen der Technik, des Sports der Popmusik „Autorität" ist, während der Erwachsene in Fragen beispielsweise seines Berufs oder der Lebensbewertung Autorität darstellt. Entscheidungsnotwendigkeiten wird es auch dann immer noch geben, aber die Entscheidungen werden gewiß leichter gefunden, wenn alte Klischees der Abhängigkeit abgebaut sind. Die Autorität der Eltern beruht auf dem Vorsprung des Alters, der Lebensreife und des Wissens, der zuerst einmal eine Pflicht der Eltern ausdrückt und erst dann ein Recht den Kindern gegenüber impliziert.
Diese freiheitliche Erziehung fordert den Spielraum als Experimentierfeld, als Raum der Lebensreifung, als mit dem Erzieher gemeinsam zu bestehende pädagogische Situation. Gespräch, Mitverantwortung, Mitbestimmung lauten die pädagogischen Maximen, die hier gelten. Erziehungsziel heißt nicht: bestmögliche Anpassung, sondern kritische Distanz, Phantasie, Initiative, Courage, Überwindung eines bürgerlichen Disengagements wie eines ideologisch fixierten Anarchismus. Derartige Zielvorstellungen bedingen Lernprozesse, in denen Eltern wie Jugendliche genötigt sind, miteinander den neuen, zeitgemäßen Umgang einzuüben.
Freiheitliche Erziehung wird vor allem für den Bereich der Sexualerziehung gefordert. Nun verlangt diese Frage eine ausführlichere Antwort, als dies hier möglich ist Dort, wo insgesamt zur Partnerschaftlichkeit erzogen wurde, wird sich diese Partnerschaftlichkeit auch im Bereich des Sexuellen durchsetzen, so daß Liebe nicht mit willkürlicher Beliebigkeit, personale Verantwortung nicht mit Egoismus zu zweien, ein Partner nicht mit einem „sexuellen Funktionär“ (H. Thielecke) verwechselt wird. Es wäre weitaus leichter, sich mit den Zielvorstellungen der modernen Sexualpädagogik auseinanderzusetzen, wenn jede Sexualerziehung ihre „ideologischen Aprioris“ eingestünde. Christen sollten zugeben, daß sie von einem an der Offenbarung und einem an der personalistischen Anthropologie orientierten Menschenbild ausgehen; andere sollten eingestehen, daß die angeblich allein auf wissenschaftlichen Ergebnissen beruhende Sexualerziehung in Wirklichkeit auf dem Glauben an die Sexualstatistik, auf einer Konstitutionsbiologie, auf einer neomarxistischen Sozialutopie, auf einer sexualökonomischen Synthese von Psychoanalyse und Marxismus beruht. Kontroversen sollten nicht über die Symptome, sondern über die ideologischen, systemimmanenten Aprioris ausgetragen werden.
Zum Schluß wäre zu sagen: Autorität wird es immer geben, zumindest die Autorität der Freiheit. Wo eine antiautoritäre Erziehung unfähig macht, die Wirklichkeit -auch die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Totalität -wahrzunehmen, wo sie aufgrund überlebter proletarischer Parolen die Freiheit untergräbt, erweist sich die antiautoritäre Attitüde als Einübung eines Totalitarismus, mit allen Konsequenzen an Intoleranz und Klassenhaß. Eine christliche, freiheitliche Erziehung steht und wird immer stehen unter der Devise: Freiheit der Kinder Gottes. In dieser zu verantwortenden Freiheit beruhen gestern wie heute Differenz und kritische Instanz des Christlichen.