Die gewohnte und gängige Alternative „freie westliche Welt" und „totalitärer Ostblock", von den abendländischen Protagonisten des Kalten Krieges immer wieder rechtfertigend ins Feld geführt, konnte von Anfang an eine nur eingeschränkte Aussagekraft für sich in Anspruch nehmen. Titos Bruch mit Stalin und der darauffolgende Ausschluß Jugoslawiens aus dem Kominform im Jahre 1948 bildeten den Anfang polyzentrischer Bewegungen im kommunistischen Herrschaftsbereich, welche bis heute andauern. Die innere Entwicklung unserer östlichen Nachbarstaaten läuft zunehmend dem ausschließlich moskautreuen Monolithismus zuwider. Die Konvergenztheoretiker zogen daraus ihr (optimistisches) Fazit. Ihre Hoffnung auf eine Annäherung der Systeme hat allerdings nur solange Berechtigung, als sich die entsprechenden „pluralistischen" Kräfte in den Volksdemokratien trotz mannigfacher Rückschläge (1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und Polen, 1968 in der CSSR, 1970 in Polen) in ihrem Versuch nicht entmutigen lassen, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu realisieren.
Die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien (SFRJ) bildet in dieser Bilanz vielfacher Rückschläge eine frühe und bisher einzige Ausnahme. Ihre Bemühungen um Demokratisierung des in einem ersten Anlauf erreichten Sozialismus — der Vergesellschaftung der Produktionsmittel und deren Steuerung durch die Werktätigen — sind bislang am weitesten gediehen. Dieser Sozialismus wurde erkämpft durch eine Gesellschaft, die überwiegend agrarisch bestimmt war. Eher nationale als sozialistische Gründe veranlaßten viele jugoslawische Bauern zum Widerstand gegen die faschistische Okkupation. Dieser führte schließlich ohne sowjetische Truppenhilfe zum Erfolg. Solchen Fakten mußte man auch in der Folgezeit politische Rechnung tragen.
Die im Titel dieses Aufsatzes angedeutete Prognose des jugoslawischen Sonderweges bedarf
Vorbemerkung
der Begründung im einzelnen. Läßt sich in dem auch bei uns (von einer interessierten Linken ebenso wie einer ängstlich abwehrenden Rechten) zunehmend diskutierten Selbstverwaltungsmodell der SFRJ bereits so etwas wie ein „sozialistischer Pluralismus" erkennen, der diesen Namen einigermaßen zu Recht trüge? Zeigt sich in Jugoslawien vielleicht ein Ausweg zwischen der Skylla Stalinismus und der Charybdis Spätkapitalismus an?
Der Begriff „sozialistischer Pluralismus" mag auf den ersten Augenschein einen Widerspruch in sich selbst darstellen, ähnlich dem der „sozalistischen Marktwirtschaft", welche in dem gleichen Land mit noch näher zu umschreibenden Erfolgen erprobt wird. Der Pluralismus als Konkurrenzmodell autonomer Zusammenschlüsse wie der Verbände und Parteien scheint in der Politologie, wie die Rede von der „freiheitlich-sozial-rechtsstaatlidi-plu-ralistischen Demokratie" (so Ernst Fraenkel, der Nestor des Neopluralismus) beweisen mag, eindeutig der westlichen wissenschaftlichen Nomenklatur zugeordnet. Gleichwohl bildete sich in der Ideologie der KP Italiens, vorbereitet durch wissenschaftstheoretische Überlegungen des marxistischen Philosophen Lucio Lom-bardo-Radices schon zu Beginn der sechziger Jahre eine pluralistische Theorie unter sozialistischen Vorzeichen heraus. Luigi Longo, der Vorsitzende der KPI, erklärt heute als Ziel des spezifisch italienischen Weges zum Sozialismus die „pluralistische sozialistische Gesellschaft". Longos Volksfrontprogramm läuft in der Tendenz wohl auf das gleiche hinaus, was während der Reformdebatte des tschechoslowakischen Frühlings von verschiedenen (parteioffiziellen und anderen) Seiten als sozialistischer Pluralismus bezeichnet wurde.
Ist nämlich politischer Pluralismus stets nur auf der Basis allgemein anerkannter Grund-werte im Widerstreit der Interessen realisierbar — im kapitalistischen System also auf der Basis des privaten Eigentums an Produktionsmitteln durch die Sozialpartner und die sie übergreifenden, lediglich verschieden akzentuierten Volksparteien —, so umschreibt sozialistischer Pluralismus das Maß der zu den demokratischen Freiheiten hinzutretenden sozialen Freiheiten auf der Basis des gesellschaftlichen Eigentums.
Das KPC-Organ Rude Pravo'vom 14. Juni 1968 präzisierte dies während des Dubek-Ex-periments so: „Man braucht den Übergang zu einer pluralistischen Demokratie nicht mit der Bildung weiterer politischer Parteien verbinden. Wir müssen sowohl einen Mechanismus schaffen, der die demokratische Kontrolle der Macht in der Industrie sichert, wie die Voraussetzungen dafür, daß innerhalb der Kommunistischen Partei eine Opposition existieren kann". Ein erster Schritt auf diesem Wege seien „freie, vom Staat unabhängige Gewerkschaften mit der eindeutigen Aufgabe, die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten, einschließlich des Rechts auf Streik". Andererseits sollten sich auch die leitenden Industriemanager und Direktoren zusammenschließen, um ihre Vorstellungen zu formulieren. Das Ziel der tschechoslowakischen Reformer war somit ein „demokratischer pluralistischer Sozialismus" auf der Basis unumstrittener, nichtantagonistischer Werte.
Der Unterschied zwischen kapitalistischem und sozialistischem Pluralismusbegriff besteht nicht in der Zielsetzung der Demokratisierung, die beiden immanent ist — oder zumindest sein kann —, vielmehr in sondern dessen politischer und rechtlicher Spannbreite. Das Grundgesetz der Bundesrepublik, das im übrigen von dem individuellen Eigentum an Produktionsmitteln als gegebener Tatsache ausgeht, schließt Formen des Gemeineigentums (Art. 14 und 15 GG) keineswegs aus, sondern stellt sie zur parlamentarischen Disposition. Dadurch wird eine fundamentale Parteien-konkurrenz prinzipiell ermöglicht. Im Gefolge der allerseits begrüßten politischen Entideologisierung hat sich allerdings in der Praxis die politische Auseinandersetzung — Beispiel wirtschaftliche Mitbestimmung — mehr in die Flügelkämpfe innerhalb der einzelnen Parteien verlagert. Die bestehende Vermögensverteilung, alles andere als mit den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft vereinbar, blieb bislang parlamentarisch relativ unangetastet; geringfügige Korrekturen erfordern bereits, nicht zuletzt im Hinblick auf die durch solche Maßnahmen stets bedrohte Konjunktur, äußerste Anstrengung.
Durch die Beschränkung der Demokratie als Strukturprinzip auf die politische Sphäre hängt diese in gewissem Sinn in der Luft. Gesellschaftliche Konflikte an der Basis werden tendenziell als Führungskonflikte zwischen Personen auf jene Ebene delegiert. Der Pluralismus der Verbände wiederum zeigt sich als unverbundenes Nebeneinander nicht notwendigerweise demokratisch strukturierter (Veto-) Gruppen mit vielfach einander ausschließender Zielsetzung. Käme in der entscheidenden Polarität zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern ein Kompromiß zustande (wie z. B. eine reale Mitbestimmung), wäre damit der Anfang eines innerorganisatorischen Pluralismus geschaffen, der schließlich, nimmt man Demokratie auch als Lebensprinzip ernst, zu einer weiteren Demokratisierung im Sinne der Selbstverwaltung führen müßte. (Im übrigen liegt ein eklatanter Widerspruch in jener antikritischen Auffassung, der Bürger könne aus mangelnder Qualifikation etc. in den öffentlichen gesellschaftlichen Organisationsbereichen Wirtschaft, Bildung, Kultur, Religion nicht mitreden, wenn man ihm gleichzeitig bei den weitreichendsten Planungen und Entscheidungen -— den politischen nämlich — eine Mitentscheidungspflicht oder, auf kommunaler Ebene, die „Selbstverwaltung" zumutet!)
Die Grundentscheidung für gesellschaftliches Eigentum in den sozialistschen Ländern bringt demgegenüber noch nicht die klassenlose Gesellschaft und das Ende aller Konflikte. Nadi der Beseitigung des mit der Eigentumsfrage gekoppelten hauptsächlichen Klassenwiderspruches bleiben dennoch Widersprüche innerund zwischenbetrieblicher, föderaler, kultureller und schließlich auch neuer gruppenspezifischer Natur („neue Klasse") bestehen, deren Regelung entweder zentralistisch-autoritär oder aber durch demokratische Selbstverwaltung an der Basis erfolgen kann. Dies jedenfalls ist der Punkt, an dem die jugoslawische Alternative wirksam wird. Freilich ist damit noch nicht gesagt, daß auch die politischen Entscheidungen an der Spitze notwendigerweise demokratisch erfolgen. Um aber überhaupt von Pluralismus sprechen zu kön nen, darf im Konfliktfall nicht eine einzige Instanz, etwa die Regierung oder die Partei allein, das Monopol der Entscheidung innehaben (wie es das dezisionistische Modell erfordert), sondern die organisierten Interessengruppen und Selbstverwaltungseinheiten sind aufgrund demokratischer Willensbildung an der Konfliktregelung zu beteiligen. Das gleiche Prinzip gilt auch für innerorganisatorische Konflikte.
Die politische Theore in Jugoslawien hat sich, gezwungen durch ihre Grundentscheidung zu einem Sozialismus der Selbstverwaltung in allen öffentlichen Bereichen, dieser Fragestellung neuerdings verstärkt angenommen. Zweifellos ist der Pluralismus „die Staatstheorie des Reformismus" — und des Revisionismus. Der Belgrader Philosoph und Mitarbeiter der Zeitschrift , Praxis', Svetozar Stojanovic erblickt in dem Vorhandensein der Interessen, einschließlich der materiellen, eine unaufgebbare Stütze auch einer sozialistischen Gesellschaft. Die unterschiedlichen Impulse etwa des . armen Teiles der Arbeiterklasse" und der politischen Avantgarde gelten ihm als jeweils notwendiges Korrektiv auf dem Weg der Realisierung der „höchsten kommunistischen Ziele“. Freilich erfordert dies auch einen politischen überbau, der diese Impulse direkt weiterzugeben und zu vermitteln in der Lage ist (vgl. unten . Rätekonzeption'). Dies bedingt einen innerorganisatorischen Pluralismus, der den verschiedenen Interessen zur Artikulation verhilft und diese gleichzeitig angesichts eines gemeinsam zu definierenden Zieles (Planes) objektiviert — wenn nicht relativiert.
Die Ideen-und Interessenkonkurrenz liegt hier also nicht in dem Wettstreit zwischen verschiedenen Organisationen um eine möglichst hohe Gefolgschaft und damit mehr politische Macht und Repräsentanz begründet, sondern in der Repräsentanz dieser Interessen innerhalb der Organisationen der Selbstverwaltung. Der aus dieser politischen Grundentscheidung notwendigerweise resultierende Trend ist die „integral-selbstverwaltete Gesellschaft“ (Stojanovic) aus dem vertikalen Zusammenschluß der Räte jener Organisationen, welche die gesamtgesellschaftliche Entwicklung einschließlich des Marktes überlegt planen und kontrollieren. Wenn Stojanovic allerdings das augenblickliche Dilemma seines Landes in pointierter Diktion als den Widerspruch zwischen überkommenem stalinistisch-bürokratischem „Etatismus" einerseits und der Gefahr eines „sozialistischen Anarcholiberalismus" der verschiedenen Selbstverwaltungseinheiten andererseits definiert, so gibt er wohl genau die Position an, in der sich die SFRJ mit ihrem Versuch der Vereinbarung des anscheinend Unvereinbaren — Arbeiterselbstverwaltung und Vergesellschaftung der Produktionsmittel, sozialistische Marktwirtschaft und Wirtschaftsplanung, relativ freie Meinungsäußerung und Einparteiensystem — kurz: von Demokratie und Sozialismus heute befindet.
Jugoslawien ist jedenfalls an einem Punkt seiner Entwicklung angelangt, an dem die Begehung strukturellen Neulandes kein Zurück mehr in das vertrautere Gelände des demokratischen Zentralismus ohne schwerste Gefährdungen der inneren Freiheiten und damit der Stabilität erlaubt. Die Stärkung der integrativen, an der Gesamtgesellschaft orientierten Kräfte andererseits zugleich mit dem Ausbau der dezentralisierenden und föderalisierenden Tendenzen ist jene dialektische Aufgabe, die sich dem jugoslawischen Selbstverwaltungssystem im Blick auf die Zukunft stellt.
Die bereits bestehenden und potentiell ausbaufähigen pluralen Elemente im jugoslawischen Gesellschafts-und Staatsgefüge werden im Verlauf der folgenden Darlegungen einer genaueren Beschreibung bedürfen. Ihre Bedeutung im Prozeß der politischen Willensbildung im einzelnen muß schließlich im Blick auf eine Gesamtinterpretation des Systems betrachtet werden.
1. Föderalismus
Die Hauptzentrifugalkraft im jugoslawischen Modell ist der unzweifelhaft ausgeprägte Föderalismus. Nicht nur, daß in den sechs Republiken (Serbien, Kroatien, Slowenien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Mazedonien) drei verschiedene Staatssprachen (serbokroatisch, slowenisch, mazedonisch sowie darüber hinaus ungarisch und albanisch) existieren, auch die sozial-kulturellen Unterschiede erbringen neben folkloristischer Anmut eine schwer zu bewältigende politische Hypothek. Die historisch und religionssoziologisch bedeutsamen Trennungslinien zwischen Okzident und muslimisch geprägtem — man darf es getrost sagen -— Orient äußern sich unter anderem darin, daß von dem durchschnittlichen Fünftel der Analphabeten im Gesamtstaat nahezu ein Drittel in der ehemals türkischen Region Bosnien-Herzegowina beheimatet sind, während dieses Problem in Slowenien, der „Schweiz Jugoslawiens", mit über einem Jahrhundert theresianischer skolarer Tradition so gut wie nicht existiert.
Dies hat konkrete Folgen: Die hohe Rate der im Sektor Landwirtschaft Beschäftigten von immer noch 50 Prozent (zum Vergleich: USA 5 °/o) bringt gravierende saisonale Arbeitslosigkeit mit sich. Scharen von ungelernten Arbeitskräften wandern in den industrialisierten Norden ab. Facharbeiter und andere — insgesamt mehr als eine Million — weichen, angezogen durch höhere Verdienstchancen, über die Alpen auf den westlichen Arbeitsmarkt aus. Die Ressourcen verschieben sich somit. Dieser Aderlaß von etwa 80 °/o in Jugoslawien ausgebildeten oder angelernten Facharbeitskräften kann natürlich von dem 20-Millionen-Volk mit seinem großen Nachholbedarf industrieller Entwicklung nur unter größten Schwierigkeiten verkraftet werden, wäre andererseits aber nur durch unpopuläre dirigistische Maßnahmen zu unterbinden.
Die entwickelteren Republiken Serbien, Kroatien und Slowenien geben im Wege des horizontalen Finanzausgleichs bislang zwei Prozent ihres jährlichen Haushaltsvolumens an die unterentwickelten Regionen ab. Ob diese „Entwicklungshilfe" ausreichen wird, das industrielle sowie das Bildungsdefizit in Mazedonien, Montenegro und Bosnien-Herzegowina — den teilweise bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts türkischen Gebieten — in der gebotenen Eile und mit dem gebotenen Nachdruck aufzuholen, dürfte mehr als fraglich sein. Einige Ziffern vermögen die unterschiedliche Situation in den Einzelstaaten in ihrer individuellen Konsequenz zu beleuchten: Setzt man das im Statistischen Jahrbuch Jugoslawiens 1970 für das Jahr 1969 ausgewiesene durchschnittliche Netto-Pro-Kopf-Einkommen von umgerechnet 330 DM monatlich (identisch mit dem serbischen Pro-Kopf-Einkommen) gleich 100 Prozent, so wird dieses von dem Sloweniens um 80 % überstiegen, während die genannten ärmeren Republiken mit 65 bis 75 Prozent sehr fühlbar darunter liegen.
Politisch bringt dieses Nord-Süd-Gefälle fast unlösbare strukturelle Probleme mit sich. Man könnte diese belastenden Unterschiede durch verstärkte zentrale Planung und Mittelverteilung zu überwinden versuchen. Die am 30. Juni 1971 in Kraft getretene Verfassungsreform wählte einen anderen Ausweg. Das Eigenleben der Teilrepubliken wurde noch mehr betont, die Föderalisierung noch weiter vorangetrieben, aus dem Bundesstaat wurde tendenziell ein Staatenbund. Mit Ausnahme der Außen-und Verteidigungspolitik sowie der gesamtwirtschaftlichen Koordination wurden alle Staatsfunktionen der verantwortlichen Gestaltung durch die Republiken übereignet. Bundesbehörden und Bundesregierung werden in Zukunft nur noch durch Beiträge der Republiken finanziert.
Durch diese Konzessionen an das Autonomie-streben der Einzelstaaten wollte man zugleich der Gefahr eines Zerfalls der Staatseinheit nach dem Tod von Josip Broz Tito, dem Erbauer und Integrator des Staatswesens, vorbeugen. Gerade aus diesem Grunde tritt nun an die Spitze des Bundes anstelle des Bundespräsidenten ein kollektives Staatspräsidium aus 22 vom Bundesparlament gewählten Vertretern der Republiken und der autonomen Gebiete (Vojvodina und Kosovo), darunter sämtliche Parlamentspräsidenten. Marschall Tito wird ihm auf Lebenszeit angehören und vorerst für die nächsten fünf Jahre präsidieren. Nach der Verfassung hat dieses Gremium eine Art Richtlinienkompetenz. Es soll dem Parla ment die „Grundzüge seiner Politik, Gesetze und Verfassungsreformen Vorschlägen".
2. Das Prinzip der Selbstverwaltung
„Das Recht des Bürgers auf Selbstverwaltung ist unverletzlich“ heißt es in konstitutionellem Pathos in der Bundesverfassung von 1963 (Art. 34 Abs. 1). Dieses unveräußerliche Grundrecht der Jugoslawen, zunächst auf Betriebsebene gemäß dem Marxschen Postulat der „freien Assoziation der Produzenten" realisiert, materialisierte sich als durchgängiges Strukturprinzip aller Institutionen der Gesell-schaft und des Staates.
Die Arbeiterselbstverwaltung wurde nach dem Scheitern des ersten Fünfjahresplans (1945— 1949) im Kielwasser stalinistischer wirtschaftlicher Zentralverwaltung im Jahre 1950 eingeführt. Ideologisch begründet wurde sie durch die auf dem Boden der jugoslawischen Tatsachen erwachsene kommunistische Theorie, wonach die im Namen der Werktätigen ausgeübte politische Macht allmählich in die Macht der Werktätigen selbst umzuwandeln sei. Unübersehbare Deformationen hatten sich zuvor in den gesellschaftlichen und politischen Institutionen durch die sich immer stärker ausdehnende Bürokratie bemerkbar gemacht. Diese drohte sich als allein herrschende ge-
sellschaftliche Gruppe zu verselbständigen. Antibürokratische Tendenzen machten sich daraufhin auch im Bund der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ), dessen Kontakt mit den Massen der Bevölkerung nach dem vierjährigen Befreiungskampf relativ eng war, nicht ohne Konflikte Luft. Zudem war Jugoslawien nach der wirtschaftlichen Blockade durch die Sowjetunion im Jahre 1948 in eine außerordentlich prekäre Lage geraten. In dieser Situation blieb als einziger Ausweg, sich auf die inneren Kräfte zu stützen und diese zur Über-windung der wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten zu mobilsieren. Dazu bedurfte es aber eines überzeugenden und alle mobilisierenden Programms. Dieses Programm hieß >Selbstverwaltung".
Nach den Prinzipien der Selbstverwaltung stellt das Arbeitskollektiv die höchste Macht, die oberste Autorität im Betrieb dar. Dies be-sagt, daß diejenigen, die in einer ökonomischen Einheit gemeinsam produzieren, auch über die Ziele dieser Produktion, ihre Realisierung sowie die Verteilung der Produktionserlöse (Gewinne) demokratisch entscheiden. Dabei haben alle Beschäftigte, gleich ob Manager oder angelernter Arbeiter, das Recht und die Verpflichtung, bei der Selbstverwaltung des Unternehmens mitzuwirken, sie alle sind gleichermaßen für den Erfolg oder Mißerfolg verantwortlich. Auf dieser Basis entwickelt sich eine „sozialistische Marktwirtschaft" mit zwischenbetrieblicher Konkurrenz.
Das jeweilige Arbeitskollektiv entscheidet souverän über die Form der Selbstverwaltung. In kleineren Betrieben wird sie durch periodische Vollversammlungen praktiziert — mit Ausnahme der Privatbetriebe unter fünf Beschäftigten — und in Unternehmen über 30 Beschäftigten durch den Arbeiterrat wahrgenommen. Daneben sind aber auch Urabstimmungen der Gesamtbelegschaft möglich.
Der Arbeiterrat wird nach einer öffentlichen Kandidatenaufstellung aufgrund allgemeiner Vorschläge oder (was die Regel ist) einer Gewerkschaftsliste gewählt. Wahlberechtigt sind alle Mitglieder des Betriebes (mit Ausnahme des Betriebsleiters), Jugendliche ebenso wie auch Ausländer; Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten existieren nicht. Die Interessen des Managements schlagen sich in dessen personeller Vertretung nieder. Der Arbeiterrat besteht in der Regel aus 15 und mehr Mitgliedern, je nach Betriebsgröße, wobei der Trend zu kleineren Selbstverwaltungseinheiten auch innerhalb größerer Betriebe das Verhältnis zwischen Wählern und Gewählten überschaubar beläßt (etwa 15 : 1). Auf Antrag eines Fünftels der Belegschaft muß er zusammentreten. Die Mitglieder des Arbeiter-rates sind jederzeit einzeln oder kollektiv abwählbar; eine Wiederwahl seiner Mitglieder ist nicht möglich (Rotationsprinzip). Im Jahre 1960 waren bereits 800 000 in der Industrie Tätige zu irgendeiner Zeit Mitglied eines Rates
Die Kompetenzen des Arbeiterrates reichen über die Beschlußfassung der jährlichen und mittelfristigen Produktionspläne, die Bestimmung der Investitionsrate sowie der Preise, die Verteilung der persönlichen Einkommen, die*
Organisationsschema der Selbstverwaltung in Betrieben mit über 70 Beschäftigten
(Generaldirektor, Abteilungsleiter)
Wahl der Betriebsleitung (im Benehmen mit der Gemeindeversammlung) bis hin zur Regelung aller weiteren personellen und sozialen Fragen. Zur Realisierung dieser Aufgaben werden teilweise Fachausschüsse gebildet. Unter der Kontrolle des Arbeiterrates fungieren die Vollzugsorgane (Management) auf Abteilungsebene und an der Spitze. Er entscheidet auch über die Frage eventueller Kooperation oder Fusionierung mit anderen Firmen. Nach Abzug der Steuern, Sozialabgaben und Mindest-In-vestitionen (8 Prozent) disponierten die Arbeitskollektive 1970 in eigener Regie über 70 Prozent der produzierten Werte, d. h.des Gegenwerts ihrer Arbeit.
Es liegt auf der Hand, daß dieses Modell große Anforderungen an die einzelnen Mitarbeiter stellt Dies definiert gleichzeitig die Chance seiner Realisierbarkeit im heutigen Jugoslawien. Die niedrige Stufe der materiellen Produktionskräfte und des Wissens sind objektive Hindernisse. Bedarf es in Anbetracht dessen nicht eines überdurchschnittlichen Engagements zur nicht-hierarchischen, demokratischen und syndikalistischen Kooperation? Statistischen Untersuchungen zufolge bilden be-triebswirtschaftliche Experten und ökonomisch Interessierte die Mehrheit in den Arbeiter-räten. Um das Sachverständnis aller Selbst-verwalter gegenüber der Betriebsleitung zu stärken, werden daher allenthalben Kurse für Mitglieder und Kandidaten im Rahmen der Arbeiteruniversitäten (Volkshochschulen) in zunehmendem Maße durchgeführt (vgl. Art. 4 und 5 des slowenischen Gesetzes über Volks-universitäten). Rein am wirtschaftlichen Erfolg gemessen, scheint die Funktionsbedingung der Selbstverwaltung gegeben. Die jährlichen Zuwachsraten des Bruttosozialprodukts liegen bei relativ niedriger Eigenfinanzierung an der Spitze der Weltrangliste: Die Steigerung betrug gegenüber 1963 im Jahre 1969 + 54 Prozent (BRD: + 44°/o) . Das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung hat sich in den letzten 10 Jahren mehr als verdreifacht; die Nettoeinkommen stiegen allein zwischen 1968 und 1969 um etwa 15 Prozent. Die Durchschnittsverdienste der in der Industrie Tätigen wuchsen von 1960 bis Bundesrepublik 1970 um 225 °/o, in der im gleichen Zeitraum nur um etwa 195°/o (wobei weibliche Arbeitnehmer im Schnitt ohnehin um etwa ein Drittel benachteiligt sind). Schließlich ist der Anteil der in der Landwirtschaft Arbeitenden, die im übrigen zu 90 Prozent weiterhin privat wirtschaften, von 75 im Jahre 1939 auf 51 Prozent im Jahre 1970 gesunken. Dies alles soll und kann selbstverständlich nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Lohn-niveau und der Lebensstandard in absoluten Zahlen sich immer noch bei weitem nicht mit etwa dem der Bundesrepublik messen lassen. Dabei gilt es jedoch, stets die Ausgangsbasis eines in weiten Bereichen reinen und auch auf diesem Sektor schlecht entwickelten Agrarlandes zu beachten. Andererseits sollen hier auch die negativen Auswirkungen der geschilderten stürmischen Expansion — inflationäre Preissteigerungen und ständige Dinar-Abwertungen—nicht verschwiegen werden, die allerdings weitergehende Betrachtungen erforderten.
Was hier allein interessieren kann, ist der Vergleich zwischen kapitalistischer und syndikalistischer Betriebsorganisation in ihren unmittelbaren Konsequenzen, der Einwurf etwa des Deutschen Industrieinstituts in Köln, die Selbstverwaltung hemme die volle Ausnutzung der jeweils gegebenen Rationalisierungsmöglichkeiten, da „die kurzfristigen Einkommensinteressen der Belegschaft in der Praxis Vorrang vor den langfristigen Kapitalinteressen des Unternehmens" hätten Arbeitskraft genügend werde also nicht durch Kapital ersetzt. Nun — abgesehen davon, daß diese Aussage durch die am gleichen Ort festgestellten hohen Investitionsraten konterkariert wird — wäre es ein sozialpolitisch kaum zu vertreten -des Unternehmen, bei der gravierend hohen Arbeitslosenquote Arbeitskräfte zusätzlich freistellen zu wollen. Allgemeiner gesprochen will das Selbstverwaltungsmodell weniger auf Gewinnmaximierung und damit Erhöhung des Leistungsdruckes abzielen, sondern, wie es in Selbstdarstellungen (so ein führender Gewerksdiaftstheoretiker aus Ljubljana, Dr. Bogdan Kavi, in einem Vortrag in der Volkshochschule Leverkusen) formuliert wird, „zur Humanisierung der Arbeit und zur Befreiung des Menschen" aus inhumanen Zwängen führen. Dies sind in der Tat qualitativ-politische Zielsetzungen, die sich einer rein quantitativ-ökonomischen Betrachtungsweise naturgemäß entziehen.
Die immer wiederholte Ermahnung Titos, die Instituion Selbstverwaltung zu stärken, macht andererseits deutlich, daß sich die Betriebsdemokratie im Vielvölkerstaat noch nicht zureichend eingespielt hat. Der SachVerstand der Leitungsgremien scheint auch ier überragend; aber mit Sachzwängen -----------läßt sich manches überzeugender begründen als mit gesellschaftspolitischen Argumenten.
Das Einkommensgefälle existiert nicht nur zwischen den Republiken, sondern auch vertikal in der Gesamtgesellschaft. Erheblich differenzierte Einkommensgruppen innerhalb der Betriebe — in Extremfällen bis zum achtfachen über den Niedrigstlöhnen liegend — führten zur Rede von der „sozialistischen Ausbeutung". Je nach der Ertragslage der betreffenden Unternehmenseinheit variieren darüber hinaus die von den Selbstverwaltungseinrichtungen jährlich zu fixierenden persönlichen Einkommen; festgelegte Tariflöhne gibt es nicht. In einem prosperierenden Betrieb z. B. kann der Pförtner mehr verdienen als der Facharbeiter oder Industriemeister in einem weniger rentabel arbeitenden — auch innerhalb der gleichen Branche. Bei einem aktiven Arbeiterrat kann sich andererseits die Verteilung der persönlichen Einkommen zur Mitte hin nivellieren, was dann aber gewisse Fragen hinsichtlich der Leistungsmotivation aufwirft. Aktueller jedoch scheint die Gefahr der neuen Klasse der „roten Bourgeoisie" in Wirtschaft und Staat. Deren Kritik ist keineswegs neu und Ausgangspunkt immer eines wiederkehrenden intellektuellen und studentischen Protests Der der Vorlesungsboykott an Universität Zagreb, der im Dezember 1971 unter Beteiligung 30 000 seinen Höhepunkt kroatischen Studenten erreichte, wies allerdings zunehmend nationalistische Merkmale auf, die schließlich zu den scharfen Reaktionen Titos und zur Ablösung der Parteispitze führten.
Der Staat interveniert prinzipiell nur soweit in das im übrigen marktwirtschaftliche System, als er den Preis der Grundnahrungsmittel sowie einzelner Rohstoffe festsetzt. Der Wirtschaftsplan hat eine immer weniger verbindliche und ausschließlich indikative Funktion. Die „Resolution über die Grundzüge der Wirtschaftspolitik" von 1967 enthielt sich bereits ebenso wie in den folgenden Jahren jeglicher mengenmäßiger Angaben im Detail. In die gesamtwirtschaftlichen Prognosen sind Gesellschaftspläne (bezüglich Infrastrukturmaßnahmen, Gemeinschaftseinrichtungen usw.) integriert, wodurch der Vergleich mit der planifi-cation franaise nahegelegt wird. Lediglich die Rohstoffeinfuhr ist mit Rücksicht auf die noch bestehende Devisenkontingentierung staatlicher Steuerung unterworfen. Subventionen erteilt der Staat an bestimmte Dienstleistungs-und Exportbetriebe sowie an unrentable Wirtschaftseinheiten mittels Sanierungsund Sozialplänen. Diese zunehmende staatliche Zurückhaltung erfährt nun von marktwirtschaftlich-kapitalistischer Seite ebenso wie von sozialistischer West) Seite (in Ost und Kritik. Diese unheilige Allianz der „Orthodoxen" bemängelt das Fehlen ökonomischer Leitungsmechanismen, wobei die Seite mehr eine die indirekten Steuerungsinstrumente (Geld-, Kredit-, Wettbewerbspolitik) die andere direkte, planerische Eingriffe vor Augen hat.
Die liberale Kritik scheint augenblicklich offene Türen einzurennen. Bedarfsforschung und Marketing erfolgen längst autonom auf Betriebs-und neuerdings vermehrt auf Branchenebene in den sogenannten Wirtschaftskammern. (Hier finden gleichzeitig — entsprechend westlichem Vorbild — informelle Absprachen über die Verteilung der Marktsphären statt.) Zur Streckung der dünnen Kapitaldecke erlauben die neuen „Gesetze über ausländische Investitionen" vom Juli 1967 eine ausländische Kapitalbeteiligung bis zu einer Höhe von 49 Prozent des betrieblichen Grundkapitals. (Die Rechte des Arbeiterrates werden in solchen Fällen entsprechend modifiziert.) Zur Belebung des inländischen Kreditgeschäftes wurde erst kürzlich die Ausgabe von Wertpapieren (Obligationen) zugelassen. Unternehmerische Initiative und damit Schließung der Bedarfslücken erhofft man sich schließlich auch von den relativ zahlreichen Privatbetrieben (bis zü fünf Beschäftigten), in denen ein beträchtlicher Teil der Berufstätigen wirkt, wie den kleineren Handwerks-, Bau-und Transportunternehmungen sowie dem privaten Gaststätten-und Fremdenverkehrsgewerbe. Sie alle erwirtschafteten zusammen mit der privaten Landwirtschaft über ein Viertel des gesamten Volkseinkommens.
Die Kritik von links am jugoslawischen Mo-dell befürchtet indessen ein Aufweichen und Abgleiten des Sozialismus der Selbstverwal-tung in kapitalistische Bahnen, in einen „sozialistischen Anarcholiberalismus" (Stojanovic), gesteuert durch das Finanzkapital in Belgrader Banken und anderswo, welchem bereits führende Politiker ihre Reverenz meinen erweisen zu müssen Gleichwie jedoch die freie Zirkulation des Weltkapitals in den Entwicklungsländern diese bislang nicht befähigen konnte, sich quasi mit dem Schopfe aus dem materiellen Elend zu ziehen, so dürfte auch die sozialistische jugoslawische Marktwirtschaft kaum in der Lage sein, die wahrhaft mit Entwicklungsländern vergleichbaren Südregionen ohne entsprechenden Nachdruck durch wirksam eingesetzte Planungsinstrumente auf das Durchschnittsniveau des Landes zu bringen. Diese Frage erhebt sich nicht zuletzt auch auf dem kulturellen Sektor; schon allein aus dem Grund, als die Lehrerbesoldung in den einzelnen Regionen je nach Wirtschaftskraft fühlbar schwanken kann. Denn auch im Diensllei-stungssektor wurde das Prinzip der Selbstverwaltung eingeführt. Um beim Beispiel der Schule zu bleiben: sie wird nach Möglichkeit ganz, zumindest aber zur Hälfte von der jeweiligen Kommunalbehörde finanziert, weshalb diese auch, neben Lehrern, Eltern und Schülern, Sitz und Stimme in den betreffenden Selbstverwaltungsgremien hat. Offene Stellen an der Schule schreibt die Kommune aus. Sondereinrichtungen — wie z. B. Hallenbäder — werden im Regelfall nach vorheriger Volksabstimmung per Umlage von allen Einwohnern mitfinanziert.
Selbstverwaltung in der Schule heißt aber auf der anderen Seite auch deren Demokratisierung. Sichtbar wird dies bereits auf der Ebene der Volkshochschule (Arbeiteruniversitäten), in deren sog. Gemeinschaftsausschuß neben der Leitung Hörer, Dozenten, kommunale Ratsvertreter sowie Repräsentanten der Gewerkschaft, des Sozialistischen Bundes (Massenorganisationen) sowie der Jugend Zusammenwirken, um Finanzierung und Programm zu beschließen Ähnliche demokratisierende Konsequenzen im Sinne eines Geltendmachens des innerorganisatorischen Pluralismus wird die zunehmende Übertragung des Selbstverwaltungsprinzips auch auf die öffentliche Verwaltung, die Sozialinstitutionen (z. B. Krankenhäuser) und nicht zuletzt die Universitäten haben müssen. Hier nun taucht das fundamen-tale Problem auf, inwieweit beamtete „Vorgesetzte" wählbar sind. Zu einer konsequenten Entscheidung konnte man sich dabei noch nicht durchringen. Auch auf Universitätsebene ist der Prozeß des notwendigen Strukturwandels noch keineswegs abgeschlossen.
3. Die Funktion der Gewerkschaften
Für das Funktionieren einer solchermaßen plural strukturierten, selbstverwalteten Gesellschaft sind schließlich übergreifende, am Gesamtinteresse orientierte Organisationen notwendig. In erster Linie ist hier an die Gewerkschaften zu denken, die eine spezifische gesellschaftspolitische Aufgabe im Selbstverwaltungsmodell zu erfüllen haben, zweifelsfrei abweichend von der Rollenerwartung jener Gewerkschaften, die in den Ländern des volks-demokratischen Zentralismus agieren.
Der Bund der jugoslawischen Gewerkschaften gliedert sich ähnlich wie in der Bundesrepublik in verschiedene Einzelgewerkschaften (Industrie-und Bergbau, Landwirtschaft, Bauindustrie, Verkehr und Nachrichtenwesen, Dienstleistungen, öffentliche Dienste). Er basiert auf betrieblichen Gewerkschaftsgruppen mit besonderen Zusammenschlüssen auf kommunaler und Republikebene. Fast 90 Prozent der Beschäftigten zählen sich zu seinen Mitgliedern — ein nominal hoher Organisationsgrad also, der sicherlich nicht ohne gehörigen Nachdruck erreichbar ist. (Darüber herrscht auch bei den Gewerkschaften keine ungeteilte Freude.)
Zur Zeit befinden sich die jugoslawischen Gewerkschaften in einer Phase des Umbruchs, resultierend aus einem durch die Arbeiterselbstverwaltung veränderten und kritisch befragten Selbstverständnis. Welches der Erwartungshorizont ihrer Mitglieder ist, versuchten die slowenischen Gewerkschaften durch eine Umfrage im Jahre 1967 herauszufinden. Von den Befragten wurden dabei als gewerkschaftliche Hauptaufgaben in der Reihenfolge der Häufigkeit genannt: 1 Schutz des Arbeiters einschließlich arbeitsrechtlicher Hilfen, 2 Unterstützung der Selbstverwaltung gegenüber Tendenzen der Verbürokratisierung und schließlich 3 Ausbildungsförderung im weitesten Sinne.
Eine vergleichbare Umfrage drei Jahre später (Ende 1970) erwies eine bedeutsame Verlagerung der Schwerpunkte im Selbstverständnis der Gewerkschaftsmitglieder. An die erste Stelle rückte nun — die Frage der innerbetrieblichen Einkommensverteilung im allgemeinen und die betriebs-und volkswirtschaftliche Beratungstätigkeit im besonderen, an zweiter Stelle steht — -die Kandidatenaufstellung bei der Wahl des Arbeiterrates und an dritter Stelle wurden — Ausbildungsförderungs-Maßnahmen genannt. Hier wird deutlich, wieweit eine Interessenvertretung der arbeitenden Massen zur Unterstützung der Selbstverwaltungsarbeit vorrangig wird. Die Gewerkschaften leiten daraus ihre spezifische Aufgabe ab, die ihnen auch eine relativ autonome Rolle in der sozialistischen Gesellschaft verleiht.
Jugoslawien ist das einzige kommunistische Land, in dem es offiziell ein Streikrecht gibt. Die immer wieder vorkommenden Arbeitsniederlegungen sind ein Beweis mehr dafür, daß die Selbstverwaltung noch nicht in der Lage ist, betriebliche Konflikte rasch und zufrieden-stellend zu regeln So traten im April 1971 die Eisenbahner in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana punktuell in einen dreiwöchigen Ausstand. Dieser Konflikt, der trotz des Auftauchens roter Fahnen und eines Marsches an Gedenkstätten der Revolution wenig Schlagzeilen machte, zeigte jedoch, daß in einem Staatsbetrieb Unstimmigkeiten ungelöst blie-ben. Wo funktioniert die Betriebsdemokratie nicht, wird hier immer zu fragen sein — bei der Leitung, im Arbeiterrat oder infolge einer inaktiven Gewerkschaft? Bei alledem bedeutet aber die Gewährung des Streikrechtes, daß es konfligierende Gruppen und Interessen auch in einem sozialistischen Land gibt und daß es zur Regelung der auftretenden Konflikte entsprechend sozial engagierter Kräfte bedarf.
An dieser Stelle seien aus dem sozial-kulturellen Kräftefeld der Gesellschaft zwei weitere Gruppen mit zunehmend eigenständiger und anerkannter Funktion erwähnt: der Bund der Jugend und die Kirchen. Ersterer ist — wie etwa in Slowenien, wo die Entwicklung am weitesten vorangeschritten zu sein scheint — keine erklärtermaßen kommunistische Jugendorganisation (wie in den ersten Nachkriegsjahren), sondern ist offen für verschiedenste Aktivitäten und Initiativen. Auch hier herrscht das Prinzip der Selbstverwaltung auf Schul-, Betriebsund Stadtteilebene.
Die katholische Kirche, zu der sich knapp ein Drittel der Bevölkerung bekennt, hat in der nachkonziliaren Periode ihr durch teilweise Kollaboration mit dem Faschismus kompromittiertes Verhältnis zum Sozialismus neu bestimmt und genießt nach dem Konkordat gleich den anderen großen Religionsgemeinschaften, der Orthodoxie (etwa 41 % der Bevölkerung) und den Mohammedanern (ca. 12 %), eine quasi autonome Stellung. Staatspräsident Titos Besuch bei Papst Paul VI. im vergangenen Jahr war wohl das spektakulärste Zeichen für die Aussöhnung und neue Standortbestimmung zwischen Staat und Kirche.
4. Der Bund der Kommunisten und die Räteidee
Welches ist nun aber die Rolle der Kommunistischen Partei in der selbstverwalteten Gesellschaft? „Wozu noch die Partei?" überschrieb die Frankfurter Allgemeine einen dem jugoslawischen Modell gewidmeten Artikel mit dem Untertitel „Denkkonsequenzen aus dem jugoslawischen System der Selbstverwaltung" (3. 9. 1970). Die Partei ist in der Tat aus ihrem sichtbaren Entscheidungsmonopol und vor allem ihrer Omnipräsenz merklich zurückgetreten, ausgehend vom 6. (von M. Djilas inspirierten) Parteitag des BdKJ im Jahre 1952, auf dem sich die Partei als politisch lenkender, jedoch nicht diktatorischer Rahmen der Selbstverwaltung interpretierte, bis hin zum letzten Parteikongreß vom Frühjahr 1969, der die mehr ideologische Führungs-und Überzeugungsarbeit betonte. Der Bund der Kommunisten, der sich auf rund fünf Prozent der Bevölkerung als Mitglieder und Kader stützen kann, versteht sich heute als Motor der Entwicklung und Moment der Integration der dabei auftretenden Widersprüche. Freilich realisiert er dies durch Macht, wenn auch geteilte Macht. (Wenn in dem erwähnten Artikel der FAZ im übrigen eine Umfrage in Kroatien zitiert wird, wonach 70 °/o der Befragten äußerten, sie hätten „keinerlei" Anteil an der Macht, so dürfte der entsprechende Prozentsatz in der subjektiven Einschätzung bei uns zumindest gleich hoch sein.)
Woher rührt nun der anhaltende Rückzug der Partei aus dem Rampenlicht der politischen Öffentlichkeit? Ist dies bloße Taktik oder steckt dahinter auch eine Theorie entsprechend der Marxschen Utopie des absterbenden Staates? Zweifellos liegt diese Tendenz ganz in der Logik der Dezentralisation, der Entstaatlichung („De-etatisierung") und der Demokratisierung, wie sie die politische Theorie in Jugoslawien propagiert Sie beruft sich dabei explizit auf die von Karl Marx in dessen Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich" (1871) geäußerten Gedanken, da sie gleich ihm die Unterstellung sämtlicher staatlicher Organe, Militär und Polizei eingeschlossen, unter die Kontrolle der Selbstverwaltungsorgane an der Basis fordert Ihr dezidiert pluralistischer Flügel verfolgt, wie Svetozar Stojanovic es ausdrückt, „die wahre Demokratisierung der politischen Organisationen, allen voran der Kommunistischen Partei"
An dieser Stelle empfiehlt es sich, eine einschlägige Passage aus der zitierten Marx-Schrift ins Gedächtnis zurückzurufen, da hier einer der wesentlichen Schlüssel zum Verständnis der staatlichen Struktur Jugoslawiens, die in der Politologie ein Novum darstellt, begründet liegt. Es heißt dort in der Adresse des Generalrats an die Internationale Arbeiter-assoziation vom 30. Mai 1871 in einem Nach-ruf auf die Pariser Kommune:
Die öffentlichen Ämter hörten auf, das Privateigentum der Handlanger der Zentralregierung zu sein. Nicht nur die städtische Verwaltung, sondern auch die ganze, bisher durch den Staat ausgeübte Initiative wurde in die Hände der Kommune gelegt ... Die Pariser Kommune sollte selbstverständlich allen großen gewerblichen Mittelpunkten Frankreichs zum Muster dienen. Sobald die kommunale Ordnung der Dinge einmal in Paris und in den Mittelpunkten zweiten Ranges eingeführt war, hätte die alte zentralisierte Regierung auch in den Provincen der Selbstregierung der Produ-lenten weichen müssen. In einer kurzen Skizze der nationalen Organisation, die die Kommune nicht die Zeit hatte, weiter auszuarbeiten, heißt es ausdrücklich, daß die Kommune die politische Form selbst des kleinsten Dorfes sein, und daß das stehende Heer auf dem Lande durch eine Volksmiliz mit äußerst kurzer Dienstzeit ersetzt werden sollte. Die Landgemeinden eines jeden Bezirks sollten ihre gemeinsamen Angelegenheiten durch eine Versammlung von Abgeordneten in der Bezirkshauptstadt verwalten, und diese Bezirksversammlungen dann wieder Abgeordnete zur Nationaldelegation in Paris schicken. Die Abgeordneten sollten jeder-Kit absetzbar und an die bestimmten Instruktionen ihrer Wähler gebunden sein. Die wenigen, aber wichtigen Funktionen, welche dann noch für eine Zentralregierung übrigblieben, sollten nicht, wie dies absichtlich gefälscht worden, abgeschafft, sondern an kommunale, d. h. streng verantwortliche Beamte übertragen werden. Die Einheit der Nation sollte nicht gebrochen, sondern im Gegenteil organisiert werden durch die Kommunalverfassung ..."
Das jugoslawische Rätemodell als politischer überbau der Selbstverwaltung an der Basis wurde von diesen Ideen weithin inspiriert. In einer Kombination parlamentarischer und Rätegremien versucht es, die „freien Assoziationen der Produzenten" (Marx) in die politische Willensbildung zu integrieren. Verfassungsrechtlich gesehen handelt es sich hierbei um ein legislatives Mehrkammern-System auf Gemeinde-, Republik-und Bundesebene aus jeweils allgemein gewählten repräsentativen sowie von den entsprechenden Selbstverwaltungsorganen bestellten Räten.
Dieses komplexe Modell (hervorgehend aus einer Erweiterung der ursprünglichen Produzentenräte) bedeutet eine Verdoppelung der parlamentarischen Gremien in einen allgemeinen Rat und eine Vertretung der Produzenten auf allen Ebenen der Gesellschaft und damit eine Pluralisierung des politischen Entscheidungsprozesses. Der einzelne Bürger wählt die Vertreter des Gemeinderates als der einen Hälfte der Gemeindeversammlung, des Republikrates sowie des Gesellschaftspolitischen Rates des Bundes. Die Räte der Arbeitskollektive (Wirtschafts-, Bildungs-und Kultur-, Gesundheitsund Sozialrat) entstehen daneben entweder durch unmittelbaren Wahlakt der jeweiligen Selbstverwaltungskollektive oder (auf Bundesebene) mittels eines paritätisch besetzten Wahlmännergremiums aus Delegierten der Arbeitsorganisationen und Mandataren der einzelnen Gemeindeversammlungen. Der Rat der Völker (Bundesrat) schließlich setzt sich aus Vertretern der Republikversammlungen zusammen. Auf allen Ebenen besteht das Prinzip der möglichen Abwählbarkeit sowie der obligatorischen Rotation: Alle Mandatsträger dürfen nicht länger als zweimal hintereinander Mitglied derselben Versammlung sein (13. Amendment der Verfassung vom 26. 12. 1968).
Eine augenblicklich diskutierte weitere Verfassungsreform sieht eine für die Praxis wichtige und konsequente Fortführung des Räte-gedankensvor. Demnach soll auf Gemeinde-ebene ein ständiger Rat aus 8 bis 15 Delegierten gebildet werden, aus dem nach der jeweils zu behandelnden Gesetzesmaterie ein sachverständiges, eigens zu bestimmendes Mitglied mit imperativem Mandat in die entsprechenden Fachräte der Republik entsandt wird. Damit soll dem Sachverstand ebenso wie dem Basis-willen vermehrte Geltung verschafft werden, Freilich werden damit die an der Gesamtgesellschaft orientierten Kräfte und das Element der Gesamtplanung nicht gerade gestärkt. Andererseits sind diese ständigen Reformen Ausdruck sozialer Phantasie, permanenten Innovationswillens und damit ein typisches Kennzeichen des politischen Systems Der allgemeine Trend zur dezentralisierten Basis-demokratie zeigt sich nicht zuletzt auch in der finanziellen Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung durch die stetige Verlagerung der Finanzmassen auf die Haushalte vor allem der Gemeinden und Republiken, während sich das Volumen des Bundesetats konstant verringert.
5. Tendenzen
Nadi der Beschreibung der pluralen Bestimmungselemente des jugoslawischen öffentlichen Lebens, der dezentralisierenden (Föderalismus, Selbstverwaltung) und der mehr integrierenden (Gewerkschaft, Bund der Kommunisten, Rätesystem), wäre abschließend die Frage zu erörtern, ob sich aus diesen, die verschiedenen Kräfte und Interessen der Gesellschaft widerspiegelnden und partiell konkurrierenden Bestandteilen die Theorie eines sich abzeichnenden sozialistischen Pluralismus ableiten ließe. Ist das Monopol der politischen Entscheidung in der SFRJ nach wie vor unangefochten oder bereits in einem Prozeß der Entflechtung begriffen?
Durch die nun über zwanzig Jahre zurückliegende Entscheidung für die Einführung der Selbstverwaltung erfolgte eine irreversible qualitative Änderung sozialistischer Praxis und Theorie. Mit ihr wurde eine Entwicklung in Gang gesetzt, die mit großer Wahrscheinlichkeit schließlich in einer konsequenten Demokratisierung aller sozialen Bereiche und Verhältnisse enden wird, falls nicht gewaltsame Einschnitte eintreten. (Die jüngsten Ereignisse in Kroatien stellen einen solchen gewaltsamen Eingriff gegen den weiteren Ausbau der Selbstverwaltung kaum dar. Im Gegenteil: Die II. Parteikonferenz vom 25. — 27. Januar 1972 in Belgrad betonte durchgängig die Notwendigkeit einer weiteren Stärkung des Selbstverwaltungssystems. Vielmehr scheint es sich bei den Vorgängen in Kroatien um eine — nach der Verfassungsänderung von 1971 erste — Absteckung der Grenzen eines partikularistisch interpretierten Föderalismus zu handeln, wobei sich andererseits nun auch eine für Kroatien annehmbare Lösung der Devisenfrage anbahnt.) Dieses System der Selbstverwaltung zeigt die Tendenz einer kooperativen Repräsentation der bestehenden sozialen Gruppen in den verschiedenen öffentlichen Institutionen (Betrieb, Schule, Universität, Verwaltung etc.) und damit einen innerorganisatorischen Pluralismus, wogegen die gängige „westliche" Plura, lismusvorstellung von der Konkurrenz und dem unverbundenen Nebeneinander der organisierten Gruppen (die intern nicht unbedingt demokratisch strukturiert sind) zur Durchset zung ihrer von ihrem Anspruch her vielfach antagonistischen, einander ausschließenden Interessen ausgeht.
Dennoch: Der Pluralismus in der Bundesrepublik ist „Konservation, mehr als es heute gern gesehen wird", wie H. F. Zacher in der Jesuitenzeitschrift . Stimmen der Zeit'(1/1970) vermerkt. Dieser aus der Gesellschaft entstandene Pluralismus, ursprünglich gegen die Monokratie eines totalitären Staates gerichtet, ist, wie Carl Schmitt (der Antipluralist der Weimarer Republik par excellence nun betont, „zur herrschenden Doktrin" der Bundesrepublik geworden. Dem kritischen Auge allerdings zeigt sich dieser als ein Pluralismus der anerkannten gesellschaftlichen Gruppen, der konzertierten Aktionen des Staates und der Verbände. Diese, straff organisiert und bürokratisiert, beargwöhnen jeden Neuling im pluralistischen Konzert naturgemäß als Infrage-stellung ihrer Position sowie der eingefahrenen Spielregeln. Jeder Ansatz systemverbessernder oder gar -verändernder Reform muß diesem Selbstverständnis verdächtig erscheinen. Dieses politische Angstpotential wird verstärkt durch die fast unbegrenzte Spann-breite unseres pluralen Meinungs-und Willensspektrums, welches in sich eine enorme Sprengkraft aufgrund der gesellschaftlichen Widersprüche (Beispiel: Mitbestimmung, Vermögensbildung) enthält.
Zur Abhilfe werden sodann Rezepte wie das der vorgeblich verbandsneutralen, faktisch aber industrieabhängigen Formierten Gesellschaft diskutiert oder aber pragmatisch-pluralistische Konzeptionen wie die der Konzertierten Aktion praktiziert. Ekkehart Krippendorff schrieb daher bereits zu Beginn der sechziger Jahre das Menetekel vom Ende des Parteienstaates an die Wand. Johannes Agnoli, ebenfalls Berliner Politologe, verschärft diese Kritik, wenn er davon spricht, die äußere Vielfalt der Parteien würde die Klassenstruktur der Bundesrepublik nur „plural verdecken”. In Wirklichkeit seien sie Flügel einer Einheits -partei als „Exekutivorgan von Gruppen arkanoligokratischer, zum Teil privater Natur"
pluralismuskritischen Um diesen Exkurs zu-sammenzufassen: In der Tat verbleibt im Sy-stem der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik für die öffentlichen, politisch konkurrierenden Kräfte, solange nahezu sämtliche Produktion (und Re-produktion) von fast ausschließlich privaten Kräften bestimmt wird, als Operationsfeld nur der Sektor der Verteilung des Sozialproduktes — so unbefriedigend diese Verteilung schließlich auch empfunden werden mag. Die Abhängigkeit von Konjunkturdaten erschwert ebenso jede politische Planung, einschließlich derjenigen der inneren Reformen, soweit nicht die gröbsten Mängel als potentieller Notstand schockierend in das Bewußtsein der öffentlichen Meinung treten.
Bliebe als Denkmöglichkeit für die entwickelte Industriegesellschaft also nur Helmut Schelskys Vision des „technischen Staates", einer residualen Demokratie als politischer überbau der Technostruktur? Oder ist die einzige Alternative hierzu nicht die Stärkung der demokratischen Basis durch die Selbstverwaltung kleinerer und kleinster Einheiten? Denn diese läuft mit innerer Logik auf die Fundierung der politischen Demokratie hinaus. Im Blick auf Jugoslawien: Führt das System der Selbstverwaltung ä la longue nicht zwangsläufig auch zu einem Mehr an innerparteilicher Demokratie, zu einem innerparteilichen Pluralismus? Wäre dies nicht ein gegenläufiger Trend zu den Bemühungen der parlamentarischen Demokratien, das politische Prinzip Demokratie nun auch auf alle Sektoren der Gesellschaft (in der die Selbstverwaltung bislang den Kammern von Industrie, Handel sowie einiger freier Berufe vorbehalten war) als Lebensprinzip zu übertragen? Zeichnet sich hierin eine echte „Kommutation" (F. Vilmar), also eine Annäherung durch Wandel ab?
Das politische Monopol der jugoslawischen Einheitspartei scheint zwar ungebrochen, aber dieses Monopol wird zunehmend durch das Prinzip der Selbstverwaltung aufgefächert und somit tendenziell der Basis Die von kontrollierbar.
eingeschriebenen Kommunisten sind längst nicht mehr in allen politischen Gremien in der Mehrheit. Schon aufgrund der geringen Mitgliederzahl sieht man sich gezungen, besonders auf Gemeinde-und Betriebsebene auch parteilose Engagierte oder „nur" gewerkschaftlich Organisierte in Führungspositionen zu tolerieren. Im Bund der Kommunisten selbst gibt es verschiedene Flügel, so daß sich Tito immer wieder genötigt sieht, an die Einheit aller Kräfte zu appellieren. Die spektakuläre Exkommunikation scheint — wie auch in der katholischen Kirche — immer weniger als das probate Mit-tel innerorganisatorischer Konfliktregelung angesehen zu werden. (Kollektive Führungswechsel sind damit im Ernstfall freilich nicht ausgeschlossen!) Eine relativ offene Meinungsäußerung gestatten die Medien, wissenschaftliche Zeitschriften und kritische Filme, zumal diese — in der Regel — nicht prinzipiell gegen den Sozialismus und die staatliche Einheit gerichtet ist. Die Justiz schließlich konnte ihre unabhängige Stellung gegenüber Versuchen einer politischen Bevormundung festigen. Die augenfälligen kritischen Punkte des jugoslawischen Mischsystems — eingegrenzte Vereinigungsfreiheit sowie die aus ungenügender Planung herrührende Gefahr eines anarchosozialistischen oder gar nationalistischen Gruppenegoismus — sollen in dieser abschließenden Bilanz indessen nicht unerwähnt bleiben.
Gleichwohl bietet die Grundentscheidung für die direkte Demokratie, d. h. die „Beteiligung aller erwachsenen Mitglieder der Gesellschaft an der Fassung von Beschlüssen von allgemeiner Bedeutung" eine hinreichende Chance für den Ausbau einer sozialistischen Demokratie. Stojanovic kann „nur freilich ein System, das auf dem gesellschaftlichen Eigentum begründet ist, die Demokratie auf die gesamte Gesellschaft ausdehnen". Die politische Utopie dieses marxistischen Philosophen ist das, was auch die tschechischen Reformkommunisten bewegte: „Der echte Sozialismus soll zur Explosion der Demokratie führen. Martin Buber hat diesen als . strukturreiche Gesellschaft'vorausgesetzt. In der Tat kann erst die gesellschaftliche Selbstverwaltung ein wahrhaft offenes und pluralistisches System sein".
Man wird die Prognose wagen dürfen, daß diejenigen, die ein solches System wünschen, sich in Zukunft vermehrt mit dem dritten Weg Jugoslawiens und den dabei gemachten Erfahrungen auseinanderzusetzen haben werden. In dem sozialistischen Nachbarland Ungarn — hier wäre vor allem der in seinem politischen Einfluß kaum zu überschätzende Vorsitzende des ungarischen Gewerkschaftsbundes und Verfechter eines „sozialistischen Pluralismus", Sandor Gaspar zu nennen —wie auch in Polen scheint dieser Umdenkungsprozeß bereits fruchtbar zu werden. Auch bei den deutschen Gewerkschaften ist ein wachsendes Interesse an der Praxis der Arbeiterselbstverwaltung zu verzeichnen — sei es in entsprechenden Seminaren, sei es in der Organisation wechselseitiger Studienreisen. Der DGB-Vorsitzende Oskar Vetter nannte unlängst bei der Verabschiedung einer Gastdelegation der jugoslawischen Gewerkschaften deren Funktion „eine Art Drehscheibe" zwischen Ost und West. Die Jungsozialisten in der SPD werden hier noch konkreter. Auf ihrem Bremer Bundeskongreß vom Dezember 1970 bekannten sie als langfristiges Ziel ihrer Mitbestimmungskonzeption die Selbstbestimmung, die einzuleiten sei „durch die Schaffung relativ autonomer Freiräume für Arbeitnehmergruppen, in denen das Leitungsprinzip der Arbeiterselbstverwaltung exemplarisch angedeutet ist" (Wirtschaft und Gesellschaft VI, 2). Die internationale einschlägige Literatur über Selbstverwaltungsfragen ist in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen Das Gespenst des Titoismus geht wieder um in Europa — beiderseits des eisernen Vorhangs.