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Kirche und Sozialismus in Chile | APuZ 11/1972 | bpb.de

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APuZ 11/1972 Die Frage nach dem Sinn des Lebens im zeitgenössischen Marxismus Kirche und Sozialismus in Chile

Kirche und Sozialismus in Chile

Rudolf Schloz

/ 27 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Weg Chiles zum Sozialismus begegnet weltweitem Interesse. Die entscheidende Frage zur gegenwärtigen Entwicklung, ob es dem chilenischen Volk gelingen wird, einen eigenständigen Weg zu gehen und einen „chilenischen" Sozialismus aufzubauen, wird hier unter dem Blickwinkel des Verhältnisses von Kirche und Regierung untersucht. Obwohl die Hierarchie der katholischen Kirche Chiles sich mehrmals positiv zur Politik der Regierung Allende geäußert hat, zeigen sich doch immer deutlicher die Bedenken, die die Kirche dem Regime gegenüber anmeldet. Da die Entwickung in Chile auf einen Sozialismus marxistischer Prägung geht, lehnt die Hierarchie der Kirche ihn besonders deshalb ab, weil er atheistisch ist. Der „linke" Flügel der Kirche, der sich aus jüngeren Geistlichen und intellektuellen Laien zusammensetzt, ist jedoch der Ansicht, daß es die Pflicht jedes einzelnen Chilenen und folglich auch jedes Katholiken sei, die Regierung Allende bei ihrem Bemühen um den Aufbau des Sozialismus zu unterstützen. In diesen beiden extremen Positionen innerhalb der Kirche wird deutlich, wie schwer, ja unmöglich es für jede Gruppe ist, für die Kirche in ihrer Gesamtheit zu sprechen. Das Ringen der Kirche um einen Ausgleich der auseinanderlaufenden Standpunkte ist besonders im Jahr 1971 in breiter Öffentlichkeit ausgetragen worden. In den verschiedensten Studien, Erklärungen und Pressekonferenzen haben die wichtigsten Gruppen ihre Standpunkte dargelegt und die Ansichten und politischen Optionen der anderen Gruppen zurückgewiesen. Eine Annäherung der gegensätzlichen Positionen oder gar ein alle Seiten befriedigender Kompromiß ist gegenwärtig nicht zu erwarten. Einige Anzeichen weisen jedoch darauf hin, daß die verschiedenen Gruppen innerhalb der Kirche versuchen, Zeit zu gewinnen und einen Bruch nach Kräften zu verhindern.

Seit dem 4. November 1970, dem Tag da der Sozialist und Marxist Salvador Allende das Amt des Präsidenten Chiles übernahm, um als Exponent der „Unidad Populär" die Zukunft des Landes in neue Bahnen November 1970, dem Tag da der Sozialist und Marxist Salvador Allende das Amt des Präsidenten Chiles übernahm, um als Exponent der „Unidad Populär" 1) die Zukunft des Landes in neue Bahnen zu lenken, wird Chiles Weg zum Sozialismus auf der ganzen Welt mit großem Interesse verfolgt. Das Interesse gilt dabei vor allem den Besonderheiten dieses Weges: Die Hoffnung der Chilenen richtet sich auf die Möglichkeit, einen eigenständigen Weg zu finden, ohne „Modelle" aus anderen Ländern kopieren zu müssen. Gleichzeitig sollen auf diesem Weg Traditionen und Volkscharakter voll berücksichtigt werden.

Bereits vor Allendes Amtsantritt stand fest, daß die neue Regierung der Unidad Populär bei der Verfolgung ihrer Ziele auf die Unterstützung der verschiedensten, im Lande wirksamen Gruppen und Kräfte angewiesen sein würde. Wie richtig diese Annahme war, hat sich inzwischen vielfach bestätigt.

Dabei ist die Unterstützung und Billigung ihrer Politik für die Regierung Allende nicht nur im engeren Bereich der politischen Parteien und des Parlaments notwendig, sondern darüber hinaus auch bei den gesellschaftspolitisch wichtigen Gruppen und Verbänden, die als „change engines" oder „change agents" 2) anzusehen sind. Neben den hier üblicherweise zu erwähnenden Gruppen und Verbänden, wie etwa Gewerkschaften, Genossenschaften, Studenten-und Jugendverbände, sind im Falle Chiles die während der Regierung Frei ins Leben gerufenen Nachbarschaftsgruppen (Juntas de Vecinos), Mütterzentren (Centros de Madres), Jugendzentren (Centros juveniles) und Agrarligen (Ligas agrarias) typischer und bedeutender als für die übrigen Länder des Kontinents.

Unter den verschiedenartigen Kräften, die in einem Land mit traditionellem Pluralismus den Weg der Regierung Allende mit beeinflussen, steht aber auch die katholische Kirche in vorderer Front. Da etwa 90 Prozent der Bevölkerung zumindest formal Christen sind und nahezu vollständig der katholischen Kirche angehören, muß diese Kirche notwendigerweise ein gewichtiges Wort mitreden.

In Chile muß es sich erweisen, „ob Sozialismus und Christentum, ob Marx und Gott miteinander leben und arbeiten können!" 3).

Das Gewicht der Kirche in diesem Entscheidungsprozeß geht jedoch nicht allein auf die große Zahl der Christen im Lande zurück, sondern im selben Maß auch auf das geschichtlich gewachsene Selbstverständnis, das die Kirche seit langem zum Mitgestalter der bedeutenden sozialen und politischen Prozesse macht, wobei sich diese Rolle in den letzten zwei Jahrzehnten noch deutlich vertieft hat.

Anmerkungen zur Geschichte der katholischen Kirche in Chile

In ihren wesentlichen Zügen entspricht die Geschichte der Kirche in Chile der in anderen Ländern Lateinamerikas. Auch hier kamen die ersten Vertreter der katholischen Kirche im Gefolge der Conquistadoren ins Land, um die indianischen Ureinwohner durch „religiöse Unterweisung, Predigt und gutes Beispiel" 4) zu christianisieren und zu zivilisieren, aber auch um christliche Tradition und Glaube bei den europäischen Eroberern lebendig zu halten. Zwischen 1540 und 1570 wurde die zentrale Position der katholischen Kirche bereits definitiv begründet: Sie konnte sich in den folgenden Jahrhunderten — auch über die Unsicherheiten der Befreiungskriege hinweg — nahezu unversehrt behaupten, überragenden Einfluß gewann die Kirche alsbald im Unterrichts-und Erziehungswesen, den sie bis in die Gegenwart mit vollem Erfolg behauptet. Damit hatte die Kirche eine Schlüsselstellung bei der geistigen, sittlichen und religiösen Orientierung der sich festigenden jungen Nation.

Bei der Gründung der „Universidad de Chile" (1842) war eine der fünf vorgesehenen Fakultäten selbstverständlich die theologische. Ebenso selbstverständlich war das Dominieren religiöser Orden im Primär-und Sekundar21 schulwesen, besonders auch in den privaten Lehranstalten.

Im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts zeigten sich im Erstarken politischer Parteien mit antiklerikalen Tendenzen (liberale und radikale Partei) die ersten ernst zu nehmenden Gefahren für die Kirche; ein lang anhaltender Prozeß der Säkularisation begann. Im Jahre 1881 wurde die Zivilehe gesetzlich zulässig; 1885 war die Trennung von Kirche und Staat bereits vollzogen.

Als verständliche Antwort auf diese Gefahr des Einflußverlustes muß der Entschluß des Klerus gewertet werden, die konservative Partei zu unterstützen, die die christliche Tradition am entschiedensten verteidigte. Tatsächlich konnte sich die Kirche im wesentlichen behaupten-, ihre Entfaltung hielt in den darauffolgenden Jahrzehnten ständig an. Seit 1925 gibt es eine kirchliche Laienbewegung (Accion Catölica), die rasch eine Führungsschicht intellektueller Laien heranwachsen ließ und sich der Anliegen der Kirche sachkundig annimmt.

Die Entwicklung der Kirche wurde besonders stark von Ausländern mitgeprägt: „In Chile waren 1952 von 1331 Ordenspriestern 843 gleich 63, 3 0/0 Ausländer" (besonders Spanier, Italiener, Deutsche und Franzosen) Dieses außerordentlich starke Mitwirken von Ausländern, das bis zur Gegenwart für Chile typisch ist, läßt die „Priesterstatistik" als eine der positivsten in Lateinamerika erscheinen. „Mit einem Durchschnitt von 2 692 Katholiken je Priester stand Chile 1963 unter allen lateinamerikanischen Republiken am günstigsten. Es übertrifft bei weitem den lateinamerikanischen Durchschnitt (1963) von 4891 Katholiken je Priester." Die im Vergleich zu den meisten anderen Ländern des Kontinents günstige Bilanz kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß besonders die unteren Klassen der Gesellschaft ein sehr distanziertes Verhältnis zur Kirche haben. Nach Kirchgässner beträgt der durchschnittliche Kirchenbesuch 16 Prozent, in gutsituierten Wohngegenden ist er bedeutend höher, in Wohnvierteln der Arbeiter dagegen nur um 6 Prozent und weniger Damit ist die Arbeiterschaft „unglaublich weit von der Kirche entfernt, offenbart dabei aber ein echtes Verhältnis zum Evangelium und tiefe Religiosität" — ein Phänomen, das den allgemein verehrten Pater Alberto Hurtado, einen der bedeutendsten Arbeiterpriester des Landes, schon 1941 besorgt fragen ließ: Ist Chile ein katholisches Land? 1963 mußte die Kirche schließlich selbst eingestehen: „Die Kirche hat in Chile immer gehandelt, als stelle sie die Mehrheit dar. Es ist zwar richtig, daß sich 85— 90 0/o der Bevölkerung bei Volkszählungen katholisch nennen, doch stellen die aktiven Katholiken, die als solche auch handeln, die Minderheit dar." Bei der Dynamik des ungleichgewichtigen Bevölkerungswachstums einerseits und der zunehmenden Verhärtung der Fronten zwischen den verschiedenen sozialen Klassen andererseits mußte die Kirche zwangsläufig mitten in die Auseinandersetzungen geraten, die immer stärker auf eine Lösung drängen.

In den sechziger Jahren zeigte sich die Kirche besonders um zwei Gebiete bemüht: Im Innen-Verhältnis war die Erneuerung der Kirche „an Haupt und Gliedern", das heißt die Modernisierung und Anpassung ihrer Strukturen an die sich verändernde Umwelt eines der Hauptanliegen; nach außen zeigte sie sich, im Rückgriff auf die Forderungen Alberto Hurtados und unter den bedeutsamen Impulsen des Bischofs von Talca, Manuel Larrain, besonders an der Überwindung der sozialen Ungerechtigkeiten und an der Besserung der Lebensverhältnisse der Ärmeren, der vom System benachteiligten Bevölkerungsteile, interessiert.

In diesem Jahrzehnt vollzog sich immer stärker die Abkehr der engagierten Laien und eines Teils des Klerus von der Oligarchie, aber auch von der überwiegend konservativ eingestellten Mittelklasse und führte schließlich zur Ablehnung des herrschenden Systems schlechthin, während andere Teile der Kirche sich ebenso deutlich mit der bestehenden Ordnung einverstanden erklärten und die Durchführung notwendiger Veränderungen innerhalb des bestehenden politischen und wirtschaftlichen (kapitalistischen) Systems und der vorhandenen Gesellschaftsform forderten.

Das beherrschende Thema ideologischer Diskussionen war in diesen Jahren die Revolution als langfristiger Prozeß, das „Wie" ihrer Durchführung sowie die anzustrebenden Ziele in diesem Prozeß.

Bei aller parteipolitischen Neutralität war das Verhältnis der kirchlichen Hierarchie zur Regierung Frei und der christlich demokratischen Regierungspartei positiv und ungetrübt, die gegenseitige Übereinstimmung weitreichend, die Erarbeitung vieler politischer Konzepte, etwa der „Promociön Populär" durch kirchliche Gruppen, besonders durch intellektuelle Jesuiten, unübersehbar.

Damit war es klar, daß sich die Kirche unmittelbar nach der Wahl des Marxisten Allende zum Präsidenten intensiv auf ihre neue Rolle besinnen mußte.

Das feierliche Te Deum, das Kardinal Silva zur Amtseinführung Allendes zelebrierte, die Teilnahme des Kardinals als Ehrengast an der Maifeier des Jahres 1971 sowie verschiedene zustimmende Stellungnahmen des Kardinals selbst oder anderer hoher Würdenträger zur Regierungspolitik und nicht zuletzt die teilweise sichtbare Bereitschaft der Kirche, ihre Bankaktien an den Staat zu verkaufen, boten bisher das Bild einer starken Annäherung der Kirche Chiles an die Volksfrontregierung. Die Frage, ob diese äußeren Anzeichen den inneren Veränderungen der Kirche auch nur entfernt entsprechen, ist trotzdem mehr als berechtigt.

Die Kirche in der Gegenwart

Zu Beginn der siebziger Jahre zeigt sich die katholische Kirche gespalten und um den Ausgleich der verschiedenen, auseinanderstrebenden Positionen bemüht — ein Phänomen, das sich auch bei den wichtigen Parteien des Landes offenbart. Der Grund ist hier wie dort im wesentlichen derselbe: die Auseinandersetzung mit Chiles Weg zum Sozialismus, d. h. das Bemühen um die „richtige" politische Option, die für die Zukunft des Landes entscheidende Bedeutung haben muß. Hierbei sind zwei Gesichtspunkte bedeutsam:

— Die Auseinandersetzung um diese politische Option reicht zeitlich weit hinter Allendes Wahlsieg zurück: Sie war schon im Gange, als Allende noch nicht als Präsidentschaftskandidat feststand und sich die Parteienkombination der „Unidad Populär"

noch nicht gebildet hatte. Diese Auseinandersetzung begann bereits im Jahre 1967. — Die Auseinandersetzung wurde in ihrer ersten Phase ausschließlich von „Ideologen"

der jüngeren Generation geführt, deren Ziele allerdings nie rein akademisch waren, die vielmehr ihren Blick immer auch auf die politischen Möglichkeiten der Verwirklichung gerichtet hatten. Doch stießen die »niedrigeren Chargen" erst viel später zu diesen Ideologen, etwa zur Zeit der Gründung der „Iglesia Joven".

In dieser 1967 beginnenden Epoche zeigte sich deutlicher als je zuvor, daß die Ideologen, die gleichermaßen unter den Laien wie den jüngeren Klerikern zu finden sind, ihre Anliegen nach Neuorientierung der Kirche in erster Linie aus politischen Einsichten nähren und gleichzeitig ein Vokabular in die Diskussion einführen, das die Orientierung an Marxschem edankengut deutlich macht. Ein wichtiger rund für diese Entwicklung ist zweifellos die Enttäuschung über die bescheidenen Fortschritte auf dem Gebiet der Entwicklung, insbesondere der sozialen Veränderungen, die für diese Gruppen durchweg wichtiger sind als das ebenfalls angestrebte Wirtschaftswachstum. Zur Erbitterung über die Allianz für den Fortschritt trat damit die Ernüchterung über Freis „Revolution in Freiheit" und —• wie in den meisten anderen Ländern des Kontinents auch — die Erkenntnis, daß die eigene Unterentwicklung eine Konsequenz der hohen Entwicklung der Industrienationen sei. Zu dieser Einsicht, die sich schlagwortartig in der Forderung nach Bekämpfung des Imperialismus und Neokolonialismus verhärtete, trat gleichzeitig die Begeisterung für die revolutionäre Veränderung der eigenen Gesellschaft, bei der die Ablösung der Oligarchie die Hauptforderung darstellte.

Diskussionen dieser Art wurden zunächst weitgehend in anderen Kreisen, besonders in den politischen Parteien geführt. Sie reflektierten sich aber direkt und ungebrochen stark innerhalb der kirchlichen Meinungsbildung und trugen zur Neuorientierung der Kirche bei. Zum Zeichen ihres Protestes „gegen die Hierarchie der Kirche, die chilenische Rechte sowie den Kapitalismus im allgemeinen" besetzte eine Gruppe junger Laien und Geistlicher am 11. August 1968 die Kathedrale von Santiago. Mit dieser Aktion wollte sie die Aufmerksamkeit des Papstes sowie der Weltöffentlichkeit auf das Elend in ihrem Land und Kontinent ziehen sowie die Gleichgültigkeit oder gar Unfähigkeit der kirchlichen Hierarchie diesem Zustand gegenüber anprangern. Die daraus entstehende Be vegung „Iglesia Joven" war der Vorläufer aller Bemühungen um Verständigung und Zusammenarbeit mit den Marxisten.

Damit waren also bereits über zwei Jahre vor dem Amtsantritt Allendes die verschiedenen Grundpositionen markiert, die im Jahre 1971 die Kirche in größter Spannung und Unruhe halten sollten. Daß die Fronten in diesem Fall mit aller Härte aufbrachen, ist nicht verwunderlich. Allerdings ist die stereotype Einteilung in die drei Lager: konservative Hierarchie, unpolitische Mitte und linksprogressiver junger Klerus im Falle Chiles besonders unbefriedigend, da sich sowohl die erste wie die zweite Gruppe sehr viel differenzierter und politisch vielgestaltiger darstellt.

Die Spitze der Kirche, besonders die Bischofskonferenz, allen voran Kardinal Raul Silva Henriquez, hat wiederholt ihre positive Haltung zu Chiles Weg zum Sozialismus bekundet. „Im Sozialismus sind mehr Werte als im Kapitalismus." Diese „progressive" Haltung des ho-hen Klerus ist in Chile nicht erst seit November 1970 festzustellen. Sie reicht vielmehr zumindest bis zum Beginn der sechziger Jahre zurück, in die Jahre, da Manuel Larrain Bischof von Talca war. Larrain führt in einem inzwischen berühmt gewordenen Hirtenbrief im August 1965 folgendes aus: „Für die Völker der Dritten Welt ist Unterentwicklung der Krieg von heute und morgen. Das Elend von zwei Dritteln der Menschheit und die wachsende Ungleichheit gegenüber den privilegierten Nationen führen zu Spannungen und Aufruhr, die örtliche oder auch weltweite Konflikte hervorbringen können. Wir sind nicht so naiv, die Unruhe von ganzen Kontinenten auf künstliche Ursachen zurückzuführen. Wenn wir an die Wurzel des Übels herangehen, müssen wir erkennen, daß sie Unterentwicklung heißt. Die Festellung, daß die Unterentwicklung eine Bedrohung des Friedens ist, genügt jedoch nicht. Man muß hinzufügen, daß sie mehr ist, nämlich bereits ein Bruch des Friedens."

Damit nimmt Bischof Larrain die in Medellin von den Bischöfen Lateinamerikas ausgesprochene Ansicht von der „institutionalisierten Gewalt" inhaltlich bereits vorweg und erhebt nach präziser Analyse der Gründe für die Unterentwicklung die Forderung, dieses Übel von Grund auf zu beseitigen: „Die Armut ist ein Übel und muß wie eine Plage überwunden werden."

Für Larrain ist Entwicklung mehr als nur wirtschaftliches Wachstum; sie sei Humanismus, Solidarität der entwickelten und unterentwik. kelten Länder, Zusammenarbeit der verschie.denen Völker, gemeinsames Handeln. Sie sei schließlich für den Christen begründet in der überirdischen Zielsetzung: „Es gibt nur ein Mo-dell: Christus, den vollendeten Menschen.“ In den sechziger Jahren hat die Kirche eben-falls starke und „progressive" Impulse seitens des Studienzentrums „Bellarmino", das von Jesuiten geleitet wird, sowie von der in ganz Lateinamerika bekannten entwicklungspolitischen Forschungszentrale DESAL erhalten und sich zu den dort erarbeiteten Analysen und Entwicklungsmodellen bekannt. Die Kirchenoberen bejahten auch die von der christlich demokratischen Partei entwickelten und propagierten Modelle einer kommunitären Gesellschaft, letztlich eines Sozialismus eigener Prägung vollzog schließlich in den Jahren 1968/69 auch den Schritt zum „Socialismo Comunitario", der besonders von den progressiven Gruppen der Iglesia Joven, den Studentenverbänden und der Parteijugend der christlichdemokratischen Partei gefordert wurde, und sprach sich schließlich ab Ende 1970 für Sozialismus aus.

Getreu den Forderungen Hurtados, die Religion müsse „dem Volk mehr durch Handlungen als durch Worte beweisen, daß das Leben einen Sinn hat" hat die Kirche ihren Worten auch Taten folgen lassen und im Rah-men einer eigenen Agrarreform schon ab 1962 mit der Verteilung kirchlicher Ländereien an landlose Bauern begonnen.

Aber auch die unpolitische Mitte innerhalb der Kirche gibt es letztlich in Chile nicht. Während es noch zu Zeiten des Präsidenten Ibanez (1952 bis 1958) für den Katholiken ein nahezu ungeschriebenes Gesetz war, bei Wahlen den Kandidaten der christlichen konservativen Partei zu wählen, verteilten sich bei den Präsidentschaftswahlen 1970 die Stimmen der katholischen Wähler auf alle drei Kandidaten, worin sich das gewandelte Selbstverständnis weiter Teile der Kirche eindeutig widerspiegelt. In der Unterstützung des Kandidaten Allende zeigt sich vollends die zunehmende Bedeutung des linken Flügels, der schließlich 1971 als „Izquierda Cristiana" („Christliche Linke") auch parteipolitische Gestalt annimmt

Die Auseinandersetzungen des Jahres 1971

Im April 1971 wurde die ernste innerkirchliche Auseinandersetzung um den chilenischen Weg zum Sozialismus deutlich, als eine Gruppe von achtzig Priestern — über die Hälfte Auslän-der —, die in reinen Arbeiterpfarreien und Randbezirken tätig sind, sich mit einer Erklärung über „die Mitwirkung der Christen beim Aufbau des Sozialismus" 19) in einer Presseerklärung an die Öffentlichkeit wandten.

Eine ebenfalls öffentliche Entgegnung darauf erfolgte alsbald von Beltran Villegas, einem der führenden Theologen des Landes, sowie vor allem von der chilenischen Bischofskonfe-renz. Wenige Tage nach dieser Entgegnung der Bischöfe erklärten sich die Professoren der theologischen Fakultät der katholischen Universität mit der Gruppe der 80 solidarisch. Ein umfassendes Arbeitsdokument der chile-nischen Bischofskonferenz, das unter dem Titel „Evangelium, Politik und Sozialismus" im Juni 1971 veröffentlicht wurde, stellt den erneuten Versuch dar, die Position der gesamten Kirche dazulegen. Die heftige Reaktion der Gruppe der 80 auf dieses Arbeitsdokument zeigte jedoch, wie schwierig, ja unmöglich es derzeit für die Kirchenspitze wie für jede andere Gruppe ist, den Gesamtbereich der chilenischen Kirche auf eine Linie zu bringen.

Die genannten Dokumente und Erklärungen sollen im folgenden in ihren wesentlichen Aussagen dargestellt werden: 1. Erklärung der „Gruppe der 80"

Am 16. April 1971 übergaben 80 Priester nach einer Studientagung zum Thema „Die Mitwirkung der Christen beim Aufbau des Sozialismus" der Presse eine Erklärung, die die bestehende „Ausbeutung der Arbeiterklasse und deren Auswirkungen: Unterernährung, Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Unmöglichkeit sich zu bilden und kulturell zu betätigen", auf das . kapitalistische System als Folge der Beherrschung durch den ausländischen Imperialismus und die Stützung dieses Systems durch die einheimische herrschende Klasse" zurückführt und verurteilt. In der Erklärung heißt es weiter: . Dieses System, das durch den Privatbesitz an Produktionsmitteln und jig immer noch wachsende Ungleichheit in der Verteilung der Ein-'Omnien bestimmt wird, macht den Arbeiter zu einem bloßen Werkzeug des Produktiv-Systems und fördert eine unlogische Verteilung der wirtschaftlichen Mittel sowie den unzulässigen Abfluß von Gewinnen ins Ausland. All dies bedeutet Krisen sowie die Unmöglichkeit, von der Unterentwicklung wegzukommen." 20)

Für die Gruppe der 80 bietet der Sozialismus durch die Aneignung der Produktionsmittel seitens des Volkes einen Weg zu einer neuen Wirtschaftsverfassung, die sowohl eine raschere Entwicklung ermöglicht als auch die Einteilung der Gesellschaft in sich bekämpfende Klassen überwindet. „Wir fühlen uns diesem Prozeß verpflichtet und wollen zu seinem Gelingen beitragen. Der letzte Grund für diese Verpflichtung ist unser Glaube an Christus. Solidarisch sein, bedeutet in der Gegenwart in Chile, sich beteiligen an einem historischen Projekt, dessen Verwirklichung sich das chile-nische Volk vorgenommen hat." 21)

Als wichtige Aufgabe auf diesem Wege sehen es die 80 Priester an, bestehende Vorurteile sowie das Mißtrauen, das zwischen Christen und Marxisten besteht, zu zerstören. Die Gruppe der 80 spricht deutlich aus, daß der Aufbau des Sozialismus und damit einer neuen Gesellschaft mit großen Opfern verbunden sei und daher auf den Widerstand derer stoße, die ihre Privilegien in diesem Prozeß verlieren. Aus diesem Grund halten sie die Mobilisierung des Volkes und besonders die Vereinigung aller Arbeiter, gleich welcher politischen Richtung, für notwendig.

Mit dem Aufbau einer neuen Gesellschaft streben sie gleichzeitig die Schaffung einer neuen eigenständigen Kultur an, die nicht mehr nur das Spiegelbild kapitalistischer Interessen darstellt. Die Gruppe der 80 gibt zu, daß nicht alles, was gemacht wird, notwendigerweise positiv und wirkungsvoll sei, betont aber gleichzeitig, daß die Kritik am revolutionären Prozeß nur dann gerechtfertigt sei, wenn sie von Beteiligten an diesem Prozeß, nicht von Außen-stehenden ausgesprochen werde.

Aus der Antwort Villegas auf die Erklärung der Gruppe der 80 22) geht hervor, daß die Position dieser Gruppe eine politische Option darstellt, die man schlechterdings nicht mit einem theologischen „Mehrwert“ anreichern könne. Da es sich aber um eine politische Option handele, sei es nicht möglich, alle Christen auf diese Art der Solidarität einzuschwören, d. h., sie zur aktiven Teilnahme an diesem „historischen Projekt" zu bringen. Vielmehr ist es nach Villegas denkbar und gerechtfertigt, daß Christen ihre verschiedenartigen politischen Vorstellungen, die alle „von den absoluten Werten des Evangeliums erleuchtet" sein können, auch auf verschiedenen Wegen, etwa durch Mitarbeit in verschiedenen Parteien, zu verwirklichen suchen. Damit steht für Villegas fest, daß es niemand verwehrt sein soll, den eingeschlagenen Weg zum Sozialismus als den richtigen anzusehen. Es gebe jedoch keinen Grund oder ein Prinzip, nach dem man die Forderung aufstellen könnte, daß alle diese Über-zeugung teilen müßten.

Villegas weist, ferner darauf hin, daß die Gruppe der 80 mit marxistischen Methoden der Analyse der Gesellschaft und mit klassen-kämpferischer Haltung an die chilenische Wirklichkeit herangeht. Dabei seien sich die Vertreter dieser Gruppe nicht im klaren darüber, daß der wissenschaftliche Wert dieser Methode umstritten ist; ferner übersehen sie — so Villegas —, daß die marxistische Aufwertung der Proletarier als der „einzigen Träger der Zukunft der Menschheit" nicht in Einklang steht mit der Seligkeit der Armen, wie sie im Evangelium angesprochen ist.

Der Hauptvorwurf, der letztlich an den Kern des Problems rührt und den Villegas deutlich ausspricht, ist aber folgender: Die Gruppe der 80 springt mit Leichtigkeit von der umfassenderen Vorstellung von Sozialismus zur konkreteren des marxistischen Sozialismus, vom sozialen Eigentum zum Staatseigentum an den Produktionsmitteln, von der Zusammenarbeit mit Marxisten in einigen konkreten Aufgaben zur Zusammenarbeit mit ihnen beim Aufbau eines marxistischen Sozialismus.

Nach Villegas hat die Gruppe der 80 Priester hier ihre Kompetenzen überschritten; er zweifelt den bescheidenen Beitrag, den sie leisten wollten, an. 3. Erklärung der chilenischen Bischofskonferenz Die chilenische Bischofskonferenz veröffentlichte am Ende ihrer Jahresversammlung am 22. April 1971 eine Erklärung, die im ersten Teil zur aktuellen Lage Stellung nahm und im zweiten Teil konkret auf die Erklärung der Gruppe der 80 einging.

Im ersten Teil ihrer Erklärung bekannt sich die Bischofskonferenz erneut zum Inhal der Erklärung der lateinamerikanische Bischöfe von Medellin. Danach unterstützt di Kirche „in ihrer Treue zum Evangelium Chii sti" die dringenden und tiefgreifenden Verän derungen der Gesellschaft. Was aber den kon kreten Weg zur Erreichung dieser Veränderun gen, der gegenwärtig in Chile vorgeschlage wird, angeht, so spricht die Bischofskonferen ihre Befürchtung aus, daß es sich bei diesen Sozialismus um einen Sozialismus marxistische Prägung handele. Mit Bezug auf das zweiteVa tikanische Konzil erinnern die chilenische Bischöfe daran, daß die Kirche aufgrund ihre Aufgabe mit keinem bestimmten politische System verbunden sei. Daher habe die Kirch auch nicht die Kompetenz, sich für bestimmt politische Lösungen auszusprechen, sie setzt sich vielmehr für die Befreiung der Einzelper son und für die menschliche Gesellschaft all Ganzes ein. Die Wahl eines Sozialismus marxi stischer Prägung sei äußerst fragwürdig. Dit vorhandenen historischen Erfahrungen zeigten daß in diesem System die Freiheit des einzel nen oft mit Füßen getreten worden sei. Die Kir ehe, die von Gott den Auftrag habe, dem Men sehen zu dienen und ihn zu befreien, könne die ser Tatsache gegenüber nicht indifferent gegen überstehen. Die gegenwärtige Lage in Chile erfordere den Dialog aller Gutwilligen. Die Kirche suche diesen Dialog und lade dazu ein: Voraussetzung dafür sei Ernsthaftigkeit, Loyalität und gegenseitige Achtung. Der demokratisch und rechtmäßig gewählten Regierung Chiles versichert die Bischofskonferenz erneut ihren Respekt vor ihrer Autorität und bietet die Zusammenarbeit im Dienste des Volkes an. Den Präsidenten der Republik erinnert sie an sein Versprechen, die individuellen Freiheitsrechte zu respektieren und: besonders die freie Religionsausübung nicht anzutasten.

Im zweiten Teil der Bischofserklärung, die eine Antwort auf die Pressemitteilung der Gruppe der 80 darstellt, heißt es in vier Punkten: — Wie jeder Bürger kann der Priester eine politische Meinung haben und Stellung beziehen. Aber er darf in keinem Fall seiner Meinung und Stellungnahme den Charakter priesterlicher Entscheidung geben Unsere Priester dürfen daher in der Öffentlichkeit nicht parteipolitische Positionen beziehen. — Eindeutige politische Stellungnahmen seitens des Priesters implizieren die Ablehnung jeder anderen Position und verletzen damit die Freiheit der anderen Christen. — Politische Stellungnahmen des Priesters bedrohen, wenn sie in der Öffentlichkeit abgegeben werden, die Einheit des christ-lichen Volkes innerhalb der Kirche und ihrer Priester.

— Angesichts der gegenwärtigen Situation schmälert unsere Erklärung nicht unsere Achtung vor den Priestern, auf die wir uns hier beziehen und die gemeinsam mit vie-len anderen mitten in der Arbeiterklasse wertvolle Arbeit leisten 4. Solidaritätserklärung der Professoren der theologischen Fakultät der Katholischen Universität Diese Erklärung erschien am 25. April 1971 in der regierungsoffiziellen Tageszeitung „La Na-cin" die im Dienst der Regierung der Unidad Populär steht. Sie bringt das volle Einverständnis der Theologieprofessoren mit der Erklärung der Gruppe der 80 zum Ausdruck, die als außerordentlich positiv bezeichnet wird. Sie betont ferner, daß auch in Chile, einem Land mit demokratischen Freiheiten und parteipolitischem Pluralismus, der Zustand der „institutionalisierten Gewalt" gegeben sei. Aus diesem Grund müsse die Solidarität mit den Unterdrückten zu konkreten Aktionen führen, gleichgültig wie hoch deren Risiken seien. Stillschweigen und Untätigkeit bedeuteten hier Komplizentum mit den Unterdrückern. Auch die Theologieprofessoren erwähnen den Tatbestand, daß der als einzige Möglichkeit erscheinende Aufbau des Sozialismus von Parteien marxistischer Orientierung angeführt wird. Daraus werde die Notwendigkeit für die Christen abgeleitet, mit diesen marxistischen Kräften zusammenzuarbeiten. Es sei illusorisch, beim Aufbau einer freien und sozialistischen Gesellschaft an diesen marxistischen Parteien vorbeizudenken. Außerdem weisen sie suf den bekannten Tatbestand hin, daß die Zahl der Christen, die sich auf Parteien marxistischer Orientierung festlegen, Tag um Tag anwächst.

Audi die Professoren leiten ihre Haltung aus dem Evangelium ab, das besagt, daß die Ge-genwart entscheidend ist und der Mensch in der Gegenwart sich für die Belange seines Nächsten einzusetzen habe. Sie betonen fer-ner, die politische Entscheidung für den Auf-bau des Sozialismus habe für die Christen eine theologische Dimension. Der Christ könne nach einem Glauben leben, der vor der nicht Wirklichkeit haltmache.

— Die Vertreter der theologischen Fakultät erklärten ferner: „Sicher ist, daß die Liebe Christi keine Klassenschranken kennt und die Gnade sowohl Reichen wie Armen zuteil wird. Wenn jedoch die Liebe Christi lediglich auf eine tiefe und universelle Dimension zurückgeführt wird, wird sie dadurch unwirksam. Sie kann sogar damit zur Ursache und Begründung von vielerlei Haß und Ungerechtigkeit werden. Die dem Evangelium getreue christliche Liebe ist eine politische Kraft der Befreiung. Sie muß den Armen aus seinem Elend und seiner Abhängigkeit befreien und den Reichen — in einer Art gewalttätiger Liebe — von seinem Egoismus und seiner bewußten oder unbewußten Unterdrückung der Besitzlosen. In der Vergangenheit waren viele Priester mit den Kreisen in Einklang, die die herrschenden Zustände verteidigen. Wenn die Priester jetzt schweigen, erwecken sie auch weiterhin diesen Eindruck. Aus diesem Grund können wir nicht schweigen." 25)

Die Beteiligung von Christen am Aufbau des Sozialismus sei nach dieser Stellungnahme keinesfalls ein Versuch, einen christlichen Sozialismus einzuführen oder einen christlichen Weg zum Sozialismus vorzuschlagen. Die gegenwärtige Situation bringe damit eine Reihe neuer Probleme mit sich, z. B. die Fragen nach Art und Form der christlichen Mitwirkung, dem Verhältnis zwischen Marxismus und Christentum, nach neuen Wegen der Erkenntnis der Wirklichkeit und anderen mehr, die letztlich nur geklärt werden könnten, wenn auf seifen der Christen noch mehr Erfahrungen vorliegen würden. 5. Arbeitsdokument „Evangelium, Politik und Sozialismus"

Dieses Dokument, das von der Vollversammlung der Bischöfe Chiles im Juni 1971 präsentiert wurde, stellt zweifellos den Versuch dar, die Meinung der Kirche zu den strittigen Fragen von Amts wegen darzulegen. Die Erklärung wird zwar nur als Arbeitsdokument (Documento de trabajo) vorgelegt und nicht in autoritärer Form für die Gläubigen verbindlich gemacht, vielmehr sollen sie zum Nachdenken über den Inhalt der Erklärung aufgefordert werden. Der Versuch der Bischofskonferenz, hier von Amts wegen zu sprechen, ist dennoch unübersehbar.

Die Bischöfe gehen zunächst von der Bejahung und Unterstützung der „auf jeden Fall dringend notwendigen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen" aus. In einen beschleunigten Prozeß solcher Veränderungen sei Chile bereits eingetreten, und dieser Prozeß mache es für den Christen notwendig, Kriterien festzulegen, die seinen Weg auf der Suche nach gerechter Lösung der Probleme bestimmen. Die Antwort der Kirche auf diese Fragen sei im Grunde immer dieselbe: „Sie entscheidet sich für Christus und das Reich Gottes und bezieht daher diejenigen Positionen, die dieser Option dienen. Das Evangelium bietet zunächst keine Rezepte für soziale, poli-sehe oder wirtschaftliche Strukturveränderungen; es beschreibt aber die Werte, die zu beachten und zu fördern sind und ruft dazu auf, sich für diese Werte (z. B. Gerechtigkeit, Liebe, Hilfsbereitschaft) einzusetzen."

Zur augenblicklichen Lage Chiles betonen die Bischöfe, daß es eine eingeengte Perspektive verrate, wenn man eine Entscheidung zwischen Kapitalismus und Sozialismus erzwingen wolle, da es auch noch andere Gesellschaftsformen gebe. Zum anderen fänden sich viele verschiedene Spielarten des Kapitalismus wie auch des Sozialismus, die sich je nach ihrer Strukturierung mehr oder minder einander annäherten, so daß die Option für das eine oder andere System weitgehend relativiert werde. Es kommt nach dieser Ansicht weniger auf die Unverfälschtheit des theoretischen Mo-dells an, sondern auf die Anwendung in der Praxis, weniger darauf, ob ein Modell besser ist als ein anderes, als darauf, was Chile tatsächlich braucht.

Diese Frage entscheide aber nicht die Kirche, sondern die Politik. Die Kirche lege sich nicht auf eine bestimmte politische Partei fest, auf kein bestimmtes System, sie rufe aber die Christen dazu auf, sich ihrerseits, jeder einzelne für sich selbst, nach seinem Gewissen zu entscheiden.

Besonders wichtig sind die Aussagen über das Verhältnis des Christen zum Sozialismus: Die Sozialisation des menschlichen Lebens sei eines der deutlichsten Zeichen unserer Zeit. Es gebe auf diesem Wege sehr verschiedene Methoden und Spielarten. Fest stehe aber, daß nicht alle mit dem christlichen Glauben in Einklang zu bringen seien. Wichtig sei, daß im angestrebten System die Achtung vor der individuellen Freiheit genügend gesichert werde. Das sozialistische System zeige aber die Tendenz, in den Händen des Staates eine gewaltige Fülle wirtschaftlicher Macht anzuhäufen, die ihrerseits Ausgangspunkt für verschiedenste Arten der Unterdrückung, Bevormundung und Diskriminierung des einzelnen werden könne. Der Übergang vom Paternalismus der einzelnen Kapitalisten zum Staatspaternalismus könne aber für niemanden eine gewinnbringende Lösung sein

Noch sei die endgültige Form des chilenischen Sozialismus unbekannt. Bekannt seien dagegen die Kräfte, die den Prozeß vorantreiben, und dabei werde deutlich, daß Chile nicht auf „irgendeinen" Sozialismus zusteuere, sondern auf einen Sozialismus marxistischer Prägung. In diesem Fall müsse sich der Christ klar darüber werden, inwieweit er sich diesen Kräften annähern oder mit ihnen Zusammenarbeiten könne vor dem Hintergrund der Tatsache, daß der Marxismus atheistisch sei.

Die Absicht der Bischöfe, auf die unhumanen Exzesse marxistischer Doktrin und Methoden, die systemimmanent sind, hinzuweisen, wird deutlich ausgesprochen. Dem Marxismus werden zwar durchaus positive Elemente zuerkannt, etwa das ernste Bemühen um Befreiung und Solidarität oder die Erfolge im Kampf ge-gen Ungerechtigkeiten; er verneine jedoch andererseits eine Dimension des Menschen, die dem Christen die wesentlichste sei: die geistige Transzendenz, die Hinordnung auf Gott. Damit könne der gläubige Christ bei allen Möglichkeiten des Dialogs und der Zusammenarbeit in gemeinsamen Einzelproblemen der marxistischen Vision von der Welt und dem Menschen im Grundsätzlichen nicht zustimmen. „Aus diesem Grund sind wir sehr darüber besorgt, daß wir in Chile zu einem Sozialismus gelangen könnten, der wegen seiner marxistischen Grundlage gleichzeitig bewußt atheistisch wäre." 28)

Ebenso besorgt sind die Bischöfe über die Gefahr, daß die Marxisten im Laufe des Prozesses den Pluralismus und das Mehrparteiensystem überwinden, einen allmächtigen Staat aufbauen, ein Einparteiensystem errichten und damit der Demokratie den Todesstoß versetzen könnten. Sie bleiben aber nicht dabei ste-hen, diese Gefahren deutlich zu machen, sondern fordern den Marxismus im Lande gleichzeitig — und das sei Voraussetzung für eine Mitarbeit der Christen — dazu auf, seine Grundthesen neu zu überdenken, und zwar nicht nur seinen Atheismus, sondern auch die These von der Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats als Übergangsphase zu einer vollkommenen Gesellschaft sowie ferner die Forderung nach einer Einheitspartei, mit der Begründung, daß diese Postulate notwendigerweise zur Einsetzung neuer Formen von ideologischer und politischer Gewalt führen müssen. Die abschließende Aussage der Bischöfe zum chilenischen Sozialismus ist die mutigste, aber auch folgenschwerste: „Da Chile ein freies Land ist und einmal getroffene Entscheidungen demokratisch verändern ©der auch rückgängig machen kann, um in Zukunft andere Wege zu beschreiten, kann man niemanden untersagen, dafür zu arbeiten, daß ein anderer, menschlicherer und gerechterer Weg als der eines eindeutig marxistischen Sozialismus in Zukunft gegangen wird."

6 . „Reflexionen über . Evangelium, Politik und Sozialimus"“

Das Dokument der Bischofskonferenz konnte wie die übrigen zuvor erwähnten Erklärungen nicht unwidersprochen bleiben. So ist es nicht verwunderlich, daß es vor allem von der Gruppe der 80 scharf angegriffen wurde. Besonders fällt dabei die aggressive Sprache auf, wenn das Dokument der Bischöfe wiederholt als „dilettantisch, unwissenschaftlich, ahisto-

risch oder klassistisch" disqualifiziert wird Die Verfasser der „Reflexionen" sprechen den Bischöfen gegenüber auch deutlich den Vorwurf aus, sich wieder von den Beschlüssen von Medellin entfernt zu haben, um in eine überwunden geglaubte reaktionäre Oppositionshaltung zurückzufallen. Nach ihrer Ansicht genügt die Erklärung nicht, die Kirche widme sich vorzugsweise den Armen. Vielmehr sei die klare Entscheidung und Aussage notwendig, „dem Proletariat bei seinem Kampf für die Befreiung von der Ausbeutung" beizustehen.

Was die Haltung der Kirche zum gegenwärtigen Prozeß angehe, sei es vollkommen unmöglich, die Unabhängigkeit oder Neutralität der Kirche zu betonen. „Die Kirche in Ohile hat sich schon immer politisch betätigt, nicht nur in ihren Hirtenbriefen und Dokumenten, sondern vor allem in ihren Taten. Heute ist unsere Kirche Erbin einer Kirche, die zuerst im System der kolonialen Beherrschung integriert war, sich später mit der liberalen Demokratie und dem Kapitalismus verbunden hat, sich in jüngster Vergangenheit zu einem Reformgeist und zur Unterstützung der , Promociön Populär'durchgerungen hat und heute gespalten ist in Gruppen, die der Vergangenheit nachhängen, und solchen, die sich nach der Zukunft ausrichten." Der Hauptvorwurf der Gruppe der 80 gegen die Bischofskonferenz ist — zusammengefaßt —folgender: Das Dokument der Bischöfe „gibt vor, nur die Kriterien zu beleuchten, die für eine politische Entscheidung wichtig sind, im übrigen aber diese Entscheidung jedem Christen selbst überlassen. Tatsächlich aber wird die im Dokument enthaltene politische Option sehr deutlich: Sie vertritt in der Theorie einen christlichen Humanismus, der eine moderne Form des liberalen Kapitalismus darstellt, und in der Praxis einen Reformismus, der die bestehenden Verhältnisse als human anspricht."

Schlußbemerkungen:

Die beschriebenen Dokumente, Erklärungen und Gegenerklärungen machen die nahezu unüberbrückbaren Gegensätze deutlich, mit der die chilenische Kirche in Gegenwart und naher Zukunft konfrontiert ist. Die Gruppe der 80, die Izquierda Cristiana und andere Gruppen sind dabei durchaus bemüht, ihr Verhältnis zur Hierarchie als geordnet und im Einklang mit deren Forderungen nach Einheit darzustellen. „Wir wollen keine Separatistenbewegung in Gang bringen, wir wollen unsere Mitbrüder wegen ihrer anderen Überzeugung nicht geringschätzen, vor allem wollen wir niemandem unsere Ansichten aufdrängen", verkündete die Gruppe der 80 in den „Reflexiones". Diese Erklärungen können die bestehende Kluft allerdings ebensowenig überbrücken wie die Stellungnahmen einiger ausländischer Bischöfe, wenn etwa der Bischof von Cuernavaca, Sergio Mendez, es für nicht unwahrscheinlich hält, daß in Chile „Marxisten und Christen gemeinsam einen Weg zur Überwindung des herrschenden Systems des Kapitalismus" finden. Eine Stellungnahme gegenteiliger Prägung gab zurselben Zeit der römische Kardinal und ehemalige päpstliche Nuntius in Chile, Monsigniore Baggio, mit den Worten ab: „Die chilenische Kirche hat jüngst ein Dokument veröffentlicht das aufgrund seines bestimmten Urteils über den Marxismus von großem Wert ist. Dieses Dokument müßte auch in Italien veröffentlicht werden, denn meiner Meinung nach sind wenige Bischofskonferenzen auf der Welt in der Lage, ein solches Dokument so intelligent abzufassen."

Die führenden Ideologen der Gruppe der 80 gaben am 10. September 1971 in einer erneuten Pressekonferenz ihre Absicht bekannt, ein Sekretariat „Christen für den Sozialismus" zu eröffnen. Dieses Sekretariat soll den Priestern dazu dienen, „ihre verschiedenen Aufgaben besser zu koordinieren und die Kenntnisse interessierter Laien über die Probleme der Mitwirkung der Christen beim Aufbau des Sozialismus zu vertiefen"

Die erste öffentliche Erklärung dieses Sekretariats stellte ein Lob und moralische Unterstützung für den Jesuitenorden und den Orden der „Sagrados Corazones" dar. Beide Orden haben sich dazu entschlossen, die Privatschulen in ihren Händen dem Staat zu übereignen. Dazu das neu eröffnete Sekretariat „Christen für den Sozialismus": „Es ist an der Zeit, daß die kirchlichen Institute und die religiösen Or-den den Klassencharakter ihrer Privatschulen in drastischer Weise bekämpfen und überwinden, denn die Schulen sind durch die Höhe des Schulgeldes und durch andere Bedingungen elitär und daher diskriminierend." Die Erklärung wird wiederum mit der Beteuerung abgeschlossen, zwischen den 80 und den Kirchenoberen bestünden Bande der Freundschaft und gegenseitigen Verstehens. „Konflikte zwischen Kirchenspitze und uns gibt es nur im Geiste derer, die darüber berichten. Sie entsprechen nicht der Wirklichkeit."

Für die Zukunft der katholischen Kirche Chiles und ihr Verhältnis zum Aufbau des chilenischen Sozialismus müssen neben dem Ringen um die Einheit noch weitere Faktoren als bestimmend angesehen werden, in erster Linie natürlich das Verhältnis der „Unidad Populär" zur Kirche und hier besonders zum höheren Klerus. Wenngleich dieses Verhältnis bis zur Gegenwart noch vom Wohlwollen der Regierung bestimmt ist und wachsende Bereitschaft zur Erfüllung von Forderungen der Kirche zeigt, so können sich hier die Verhältnisse dennoch jederzeit ändern. Die Faktoren der Unsicherheit erhöhen sich auch dadurch, daß die „Unidad Populär" weder politisch noch ideologisch eine Einheit darstellt und die Gruppen und Parteien innerhalb dieser „Unidad" sehr verschiedenartige Haltungen zur Kirche einneh-men. Bei der Beurteilung der Entwicklungen in näherer Zukunft muß ferner davon ausgegangen werden, daß die ideologisch starre Trennungslinie zwischen Christen und Marxisten zwar immer mehr abgebaut wird, andererseits das gegenseitige Mißtrauen und die Ablehnung in der Praxis aber weiter bestehen. Zusammenfassend läßt sich das Dilemma, in dem die Kirche in ihrem Verhältnis zum chilenischen Sozialismus steht, wie folgt umreißen: — Die Mehrheit der Katholiken Chiles ist ge-gen den Kapitalismus und für eine Art Sozialismus. In dieser Hinsicht bejaht die Kirche die Regierungspolitik.

— Die Mehrheit der Katholiken Chiles ist aber deutlich gegen den Marxismus und damit gegen die „Unidad Populär". Hier ist die Kirche der große Gegner der Regierung. In dieser ambivalenten Position achten und fürchten sich Kirche und Regierung bis heute.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ein aus sechs verschiedenen Parteien bestehendes Parteibündnis, das die Regierung Allende unterstützt.

  2. 1971 („Volksfront zwischen Gott und ) NuevaEnciclopedia de Chile, Buenos Aires 1967,963. Zitate aus spanisch-sprachigen Texten sind, wo nicht anders vermerkt, vom Verfasser übersetzt.

  3. Werner Prömper, Priesternot in Lateinamerika, Löwen 1965, S. 62.

  4. Werner Prömper, a. a. O., S. 51.

  5. Alfons Kirchgässner, Im Katholischen Kontinent, Frankfurt 1963, S. 107.

  6. Pablo Fontaine, La Iglesia Catölica Chilena en los Ultimos 20 anos, in: Mensaje, Santiago de Chile, S. 426.

  7. Alberto Hurtado S. J., Es Chile un pais catölico?, Santiago de Chile 1941.

  8. Pablo Fontaine, a. a. O., S. 427.

  9. Innerhalb der Gesamtbevölkerung wachsen die zurückgebliebenen Schichten (Clasa baja und Marginalbevölkerung) rascher als die Oberschichten, machen also von Jahr zu Jahr einen höheren Prozentsatz aus. Vgl. dazu Rudolf Schloz, Die Problematik der Veränderung der lateinamerikanischen Gesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B. 23/70.

  10. Pablo Font? -te, a. a. O., S. 429.

  11. So Kardinal Raul Silva in einer Rede im November 1970.

  12. Manuel Larrain, Entwicklung, die Existenzfrage Lateinamerikas, in: Kirche und Entwicklung in Lateinamerika, Mannheim 1969, S. 29.

  13. Manuel Larrain, a. a. O., S. 36.

  14. Manuel Larrain, a. a. O., S. 44.

  15. Die kommunitäre Gesellschaft soll nach det Vorstellung der Christlichen Demokraten demokratisch, pluralistisch und christlich orientiert sein. Sie ist die Antithese zum Kollektivismus, , wei ihre Glieder soziale Verantwortung aus dem Bewußtsein der Solidarität mit den anderen üben nehmen und nicht weil sie einem Druck von außen gehorchen müssen." Dazu Claudio Orrego Vicuna, Solidaridad o violencia, Santiago 1969.

  16. A Hurtado, a. a; O., S. 22.

  17. Declaraciön de la conferencia Episcopal Chile-s 75: Vispera Nr. 23, April 1971, Montevideo,

  18. Offener Brief der Professoren der Theol. Fakultät der Universität Catolica, in: La Nacion, 25. April 1971, unterzeichnet von Pablo Richard, Eugenio Rodriguez, Diego Jrarräzaval u. a.

  19. Evangelio, Politica y Socialismo, Conferencia Episcopal de Chile, Juni 1971, S. 7.

  20. Evangelio, Politica y Socialismo, a. a. O., S. 25.

  21. Ebenda, S. 30— 35. 28) Ebenda, S. 40.

  22. Ebenda, S. 69.

  23. „Reflexiones sobre el Documento de Trabajo Eangelio, Politica y Socialismo", Hektografiertes anuskript vom Iß, Juli 1971. Einige Vorwürfe Wien: „Es besteht große Unwissenheit über die vuxturellen Ungerechtigkeiten, unter denen das Gag zu leiden hat." — „Die Aussage zum Thema FrSselschaft’ sind wenig wissenschaftlich, über flä gen die beurteilt werden, besteht nur ober-soiche Kenntnis." „Es liegt ein Konzept von nentksmus zugrunde, das man als irrig bezeich-Beg iffess — " Ein mangelhaftes Verständnis des

  24. Reflexiones sobre .... a. a. O., S. 10.

  25. Ebenda, S. 11.

  26. Iglesia de Santiago, August 1971, S. 7.

  27. Gemeint ist: Iglesia, Politica y Socialismo.

  28. Iglesia de Santiago, August 1971, S. 8.

  29. Iglesia de Santiago, Oktober 1971, S. 30.

  30. Ebenda, S. 30.

  31. Ebenda, S. 30.

  32. Dazu Pablo Fontaine, Situaciön actual de la Iglesia Chilena, in: Mensaje Nr. 201, August 1971, S. 367 ff.

Weitere Inhalte

Rudolf Schloz, Dr. rer. pol., geb. 1930 in Stuttgart, verschiedene Aufenthalte in Lateinamerika, besonders in Chile, Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung. Veröffentlichungen u. a.: Die Problematik der Veränderung der lateinamerikanischen Gesellschaft, in: Christliche Demokratie in Lateinamerika, Schriftenreihe des Instituts für internationale Solidarität, Band 10, und in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 23/70; Eduardo Frei, in: Politiker des 20. Jahrhunderts, Band 2, München 1971; Das Fortschreiten der Revolution — Lateinamerika 1970, in: CIVITAS, Band 10, Mannheim 1971; zahlreiche Artikel über Entwicklungspolitik in verschiedenen, z. T.fremdsprachigen Fachzeitschriften.