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Die Frage nach dem Sinn des Lebens im zeitgenössischen Marxismus | APuZ 11/1972 | bpb.de

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APuZ 11/1972 Die Frage nach dem Sinn des Lebens im zeitgenössischen Marxismus Kirche und Sozialismus in Chile

Die Frage nach dem Sinn des Lebens im zeitgenössischen Marxismus

Gerd-Klaus Kaltenbrunner

/ 52 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile: Im ersten wird skizziert, wie sich in marxistischer Perspektive die Frage nach dem Sinn des Lebens überhaupt stellt. Diese Frage ist von Marx zwar nie ausdrücklich thematisiert worden, doch beweist seine anthropologische Vision, daß ihm das Problem als solches nicht fremd war: Leben ist sinnvoll, sofern es den Menschen gelingt, den bestehenden Wider-Sinn überholter gesellschaftlicher Verhältnisse zu eliminieren und Arbeit aus einem Mittel bloßer Selbsterhaltung in freie schöpferische Selbstverwirklichung zu transformieren. Diese grundlegende Konzeption Marxens wird näher diskutiert im Zusammenhang mit Problemen wie geschichtlicher Fortschritt, Privateigentum, Arbeitsteilung und Entfremdung. . Im zweiten Teil werden einige repräsentative Stellungnahmen zeitgenössischer marxistischer Denker referiert. Die Auswahl konzentriert sich bewußt auf solche Autoren, die in vom Marxismus geprägten Ländern wirken oder doch bis vor kurzem dort gewirkt haben. Behandelt werden u. a. Leszek Kolakowski, Milan Machovec, Milan Kangrga, Mihailo Markovic, Gajo Petrovic und Petr M. Egides. Der dritte Teil versucht eine Zusammenfassung und Kritik. Unterschieden wird zwischen einer „objektivistischen" und einer „praxeologischen" Behandlung der Sinn-Frage. Inwiefern wird im Zusammenhang damit der Marxismus dazu gedrängt, sich Denkweisen zu nähern, die er einmal voreilig als „falsches Bewußtsein" abgetan hat? Ist der schöpferische Mensch der „ganze" Mensch? Lassen sich alle Widerstände gegen menschliche Sinnverwirklichung in einer klassenlosen Gesellschaft beseitigen? Welchen Ort hat gesellschaftlicher Fortschritt und individueller Lebenssinn in einem Univerum, das, nach Engels, in gnadenloser ewiger Wiederkehr rotiert? Am Schluß wird nach jenen Quellen gefragt, die den Menschen immer wieder zum Leben verführen und ihm das Gefühl eines sinnvollen Daseins in einer rätselhaft bleibenden Welt vermitteln.

Einem, der ihn fragte, warum wohl jemand eher wählen möchte geboren als nicht geboren zu werden, soll Anaxagoras geantwortet haben: „Um den Himmel zu betrachten und den gesamten Kosmos, die Gestirne, den Mond und die Sonne."

Ein Fragment von Heraklit lautet: „Des Lebens Ziel — ein Wohlgefallen."

Im Ödipus auf Kolonos von Sophokles singt der tragische Chor: „Nie geboren sein, höchstes Glück; glücklich auch, wer nach kurzer Frist aus dem Sein ins Nichtsein den Pfad wandelt, den er gekommen." Doch Ödipus selbst, unwissentlich zum Mörder geworden, blind und verzweifelt, spricht ein Wort, das Albert Camus im Schlußkapitel seines Sisyphos anführt und heilig nennt: „Allen Prüfungen zum Trotz — mein vorgerücktes Alter und die Größe meiner Seele sagen mir, daß alles gut ist."

Daß wir diese jahrtausendealten Sätze, die um das kreisen, was Sinn des Lebens meint, auch heute noch verstehen, wenngleich ihre erhabene Naivität uns befremden mag, bestätigt die Vermutung, daß es tatsächlich so etwas wie eine philosophia perennis gibt, in der'freilich weniger die Antworten als die Fragen perennieren. So gehört auch die Frage nach dem Sinn des Lebens, ungeachtet der Verachtung, mit der sie von akademischen Philosophen als „vulgär" oder als „Scheinproblem" abgetan wird, zu jenen „metaphysischen" Themen, die sich sowohl dem theoretisch-spekulativen als auch dem Denken des Alltagsverstandes aufdrängen. Bereits von den frühesten Weisen des alten China und Hellas bedacht, von den Propheten und Lehrern Israels in verschiedenen Entwürfen artikuliert — man denke an das Buch Hiob und den wird die Frage nach dem Ekklesiastes Lebenssinn mit jedem Teenager wiedergeboren, spätestens aber in dem Augenblick, da wir uns klar darüber werden, daß man das Leben durch freiwilligen Tod ablehnen kann. Wer wissend um die Möglichkeit des Selbstmords weiterlebt, akzeptiert damit grundsätzlich auch die Welt, in der er lebt — selbst dann, wenn er sie, mit Schopenhauer, für die schlechteste aller möglichen halten sollte. Mit dieser gleichsam kosmischen Perspektive der Frage nach dem Sinn des Lebens, mit der in ihr enthaltenen Stellungnahme zur Welt überhaupt, hängt auch die vor allem bei professionellen Philosophen verbreitete Neigung zusammen, den Sinn des menschlichen Daseins von einem Sinn der Geschichte, der Natur, des Universums, des Seins überhaupt her zu bestimmen. Teilhard de Chardin und der frühe Georg Lukäcs sind zwei Beispiele für diese Intention.

Unabhängig davon spricht man bereits im Alltag vom Sinn eines Satzes, einer Äußerung, eines Symbols, eines bestimmten Verhaltens. Man kann ferner soziale Systeme definieren durch die von ihnen geleisteten Sinnstiftungen und -Übertragungen; insofern ist Sinn ein Grundbegriff der Soziologie So reicht die Sinn-Frage von der Bedeutung eines Wortes über den Zweck oder die Funktion einer Handlung und die psychoanalytische Dechiffrierung Rudolf Schloz:

Kirche und Sozialismus in Chile........ S. 21 latenter Trauminhalte bis zu den spekulativen Geschichtsund Weltauslegungen religiöser, gnostischer, philosophischer Art.

Welchen Ort hat die Frage nach dem Sinn des Lebens in diesem Fächer von Sinngebungen? Wenn wir nicht schon im Ansatz den Weg verfehlen wollen, dann empfiehlt es sich, jene Situationen zu berücksichtigen, in denen Menschen sich nach dem Sinn des Lebens fragen. Wir werden dann bemerken, daß die Frage nach dem Sinn des Lebens weit mehr als andere Themen der Philosophie mit Erfahrungen, Einsichten und Entscheidungen zusammenhängt, die allen Menschen durchaus vertraut sind. Sie repräsentiert etwas, das — wenn auch fragmentarisch und zerfließend —• bereits im täglichen Dasein enthalten ist. Nach dem „Sinn des Lebens" zu fragen bedeutet dann etwa folgendes: Lohnt es sich zu leben, ist etwas am Leben daran? Was soll man mit dem Leben anfangen — vor allem dann, wenn das zur Selbsterhaltung Notwendige und vielleicht schon etwas mehr gesichert ist? Wie müßte ein „gutes Leben", ein erfülltes, ein gelungenes, ein Integrales Leben beschaffen sein? Aber kann es ein solches Leben überhaupt geben, wenn man auf jeden Fall sterben muß? Wozu das alles?

„Der Glückliche phantasiert nie", sagt Freud in einem unvergeßlichen Satz. Und der Marxist Leszek Kolakowski ergänzt: Er fragt auch nicht nach dem Sinn des Lebens; danach fragt nur, wer das Bedürfnis seiner Veränderung fühlt. „Es ist eine Frage, die für alle diejenigen gefährlich ist, die den Sinn ihres Daseins in der Erhaltung des jetzigen Zustandes sehen, es ist also eine für Bürokraten und Konservative unerträgliche Frage." So führt das Denken über den Sinn des Lebens ganz von selbst von den verborgensten Sehnsüchten des menschlichen Herzens bis in die großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen im politischen Raum. Es impliziert sowohl eine bestimmte Anthropologie und Ethik als auch eine bestimmte Vision von der dem Menschen angemessenen Gesellschaft. Es hat trotz seiner „Ewigkeit" auch eine Geschichte, und diese Geschichte ist zu großen Teilen eine des Kampfes zwischen jenen, die gebrauchsfertige und obligatorische Sinngebungen verwalten, und jenen, die diese Sinngebungen kritisch befragen. Die einen stehen allemal auf der Seite der Herrschenden, die anderen sind zumindest potentielle Rebellen auch dann, wenn sie sich unter die philosophische Narrenkappe flüchten.

Dies gilt ganz besonders für die Länder, in denen der Marxismus die Rolle einer Staats-philosophie innehat. Dort wird die Frage nach dem Sinn des Lebens erst seit etwa fünfzehn Jahren öffentlich gestellt und in Büchern, Zeitschriftenaufsätzen und Leserbriefen diskutiert. Die Entdeckung dieser Thematik steht in einem engen Zusammenhang mit den als „Tauwetter" benannten Ansätzen zu einer Über-windung des Stalinismus, den schon in den fünfziger und vor allem in den sechziger Jahren von tschechischen, polnischen, jugoslawischen und ostdeutschen Intellektuellen gewagten Verstößen zu dem, was im Frühjahr 1968 als „Sozialismus mit menschlichem Antlitz" manifest werden sollte. Das Trauma des stalinistischen Erbes, das Chruschtschow auf dem 20. Parteitag der KPdSU zu überwinden sich anschickte; die relative Stabilisierung der sich sozialistisch nennenden Systeme in Mittel-und Osteuropa; die sich verstärkende Tendenz zum Polyzentrismus und damit zu konkurrierenden Sozialismen und Marxismen; die Tatsache, daß selbst nach jahrzehntelangen atheistischen Kreuzzügen das Christentum — und damit eine bestimmte Weise, den Sinn des Lebens zu bestimmen — nicht verschwunden war; die im Zeichen der faktischen Koexistenz nicht mehr zu umgehende Auseinandersetzung mit dem Existentialismus, der philosophischen Anthropologie und anderen „bürgerlichen" Doktrinen; die gleichzeitige Zuwendung zum „realen Humanismus" des jungen Marx, den man dem offiziellen Diamat leninistischer Provenienz gegenüberstellte; die kritische Einsicht, daß gewisse elementare Lebensprobleme auch noch so tiefgreifende gesellschaftliche, ökonomische und politische Umwälzungen überdauern, daß auch in der nachrevolutionären Gesellschaft Entfremdung, Leid Resignation und Tod beharrlich vorkommen, also das Problem des Parusie-Verzugs — dies alles hat dazu geführt, daß die Frage nach dem Sinn des Lebens, nach dem Sinn der Anstrengungen für ein verheißenes klassenloses „Reich der Freiheit" nicht mehr mit der unter Stalin üblichen Vertröstung beschwichtigt werden konnte (berichtet von Wolfgang Leonhardt): „Spintisiere nicht, Genosse! Wir sind keine Utopisten. Diese Fragen werden zukünftige Generationen entscheiden."

Ziel der folgenden Skizze ist dreierlei: Erstens versucht sie zu umreißen, wie sich in marxistischer Perspektive die Frage nach dem Sinn des Lebens überhaupt stellt. Dabei ist es unumgänglich, auf Marxens nur fragmentarisch entwickelte Anthropologie einen Rückblick zu werfen — ist es doch gerade dieser Teil des Lebenswerkes von Marx, der das Denken über den Lebenssinn im zeitgenössischen Marxismus entscheidend inspiriert hat.

Zweitens sollen einige repräsentative Stellungnahmen zum Thema referiert werden, wobei ich mich bewußt auf Autoren konzentriere, die sich als Marxisten verstehen und überdies in vom Marxismus geprägten sozialistischen Ländern wirken oder doch bis vor kurzem dort gewirkt haben.

Drittens soll danach gefragt werden, ob das marxistische Denken eine gedanklich widerspruchsfreie und zugleich menschlich fruchtbare Konzeption vom Sinn des Lebens vorgelegt hat oder, bescheidener, in welchen Ansätzen, Fragestellungen und Thesen man begründetermaßen erhellende, zukunftweisende Elemente vermuten, in welchen man nur Mystifikation, „falsches Bewußtsein" und Apo-B logie eines überwindenswerten Zustandes erblicken kann.

Nicht behandelt wird die noch vor etwa zehn Jahren im Westen überwiegend verneinte Frage, ob der Marxismus überhaupt imstande sei, die Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen oder gar zu ihrer Klärung etwas beizutragen -Wir behandeln diese Frage deshalb nicht, weil die letzten Jahre genügend gezeigt haben, daß sich eindeutig auf Marx berufende Denker der verschiedensten Richtungen zum Teil sehr gründlich mit den Bedingungen, Inhalten und Konsequenzen eines menschlich sinnvollen Lebens befassen, daß diese Thematik nicht länger eine Domäne christlicher, idealistischer und existentialistischer Philosophen ist.

Marx verwendet in seinen Schriften oft die Begriffe „Sinn", „menschlich" und „Leben", doch gibt es von ihm keine direkte Äußerung zum „Sinn des menschlichen Lebens" Unter seinen Zeitgenossen war es vielmehr ein Gegner des Marxismus, der sich dieses Themas annahm: Eugen Dühring, heute den meisten nur dem Namen nach bekannt durch Engels'Schrift „Anti-Dühring", veröffentlichte 1865 ein Buch „Der Wert des Lebens", das 1922 in achter Auflage erschien und eine „heroische Lebensauffassung" propagiert Wenn man Marxismus verkürzt auf Klassenkampf, Primat der Ökonomie und Basis-Uber-bau-Schema — was Anhänger und Gegner der Marxschen Lehre häufig getan haben — , dann hätte die Sinnfrage in ihm keinen Platz. Sie könnte dann nur von außen an ihn herangetragen und mit ihm eklektisch verbunden werden. Spätestens seit der Entdeckung und Rezeption der Marxschen Frühschriften wissen wir jedoch um die anthropologische Dimension des Marxismus. Wir wissen, daß im Zentrum dieser Lehre weder die Materie noch die Wirtschaft stehen, sondern der Mensch und seine Befreiung, die revolutionäre Aufhebung einer Welt, in der, wie Marx im „Kapital" sagt, „ein General oder Bankier eine große, der Mensch jedoch schlechthin eine sehr schäbige Rolle spielt". Im Lichte dieser humanistischen Vision läßt sich sehr wohl bestimmen, wie sich Marx die Frage nach dem Sinn des mensch-lichen Lebens stellt.

Die Weltgeschichte als Ganzes ist ihm der Prozeß der Menschwerdung des Menschen. Im Vollzug dieses Prozesses entäußert und objektiviert der Mensch seine Wesenskräfte in den verschiedenen Weisen materiell-geistiger Produktion. Diese Selbstentäußerung und Vergegenständlichung in seinen Werken nennt Marx auch Arbeit. Der Mensch ist das Resultat seiner eigenen Arbeit. Indem er arbeitend die Welt verändert, verändert er sich selber. Wenn aber Arbeit die dem Menschen wesentliche Daseinsweise ist und er nur in ihr zu sich selbst gelangt, wie ist es dann möglich, daß er die von ihm hergestellte Welt als fremd, feindlich und unmenschlich erfährt? Wie wird aus Vergegenständlichung Entfremdung? Diesist dann der Fall, wenn der Mensch innerhalb der Produktion sich selbst entfremdet ist. In der Fremdheit der Produkte seiner Arbeit spiegelt sich die Selbstentfremdung des Menschen im Arbeitsprozeß selbst wider. Worin besteht diese Selbstentfremdung in der Arbeit, die die gesamte uns bekannte Geschichte charakterisiert und im Kapitalismus ihren äußersten Punkt erreicht hat? Menschliche Arbeit ist entfremdet, solange sie nicht Selbstbetätigung und Selbstbestätigung des Menschen ist, solange sie nicht freie, schöpferische Aktivität ist. Die ungeheuerliche Verkehrung liegt darin, daß der Mensch — ein Wesen, das universell zu produzieren vermag — diese seine schöpferische Potenz zu einem bloßen'Mittel zu degradieren gezwungen ist, daß er alle seine Anstrengungen auf die bare Selbsterhaltung rich-ten muß, anstatt sich als freier, universell produzierender Schöpfer zu verwirklichen und die Natur, indem er sie bearbeitet, zu seinem unorganischen Körper zu machen. Diese Verkehrung ist kein moralischer Sündenfall und deshalb auch nicht durch bloße Änderung der Gesinnung aufzuheben; sie ist eine Folge der Organisation der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion des Lebens.

Wenn der Sinn des menschlichen Lebens in freier schöpferischer Arbeit liegt, dann kommt es darauf an, alle Verhältnisse umzustürzen, in denen Arbeit nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zur Erlangung des Lebensunterhalts, nur notwendiges Übel ist. Kommunismus ist für Marx nichts anderes als die praktisch-revolutionäre Emanzipation der Individuen von einer Welt entfremdeter Arbeit, in der nur „unter der Herrschaft des egoistischen Bedürfnisses" produziert wird und an die Stelle aller physischen und geistigen Sinne die Entfremdung aller dieser Sinne, der Sinn des Habens getreten ist. Sinnfälliger Ausdruck der Entfremdung ist das Privateigentum. Kommunismus ist die „positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentiremdüng", die „wirkliche Aneignung des mensch-lichen Wesens durch und für den Menschen", „die vollständige, bewußte und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordene Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d. h. menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus; er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung."

Diese Auffassung vom Kommunismus als Negation der Entfremdung ist die Grundlage des Lebenswerkes von Marx, wenngleich er später (seit 1844) statt von Entfremdung häufiger von „Arbeitsteilung" spricht und in der berufsmäßigen Spezialisierung, in der Trennung von geistiger und körperlicher, von Stadt-und Landarbeit die Quelle menschlicher Daseinsverfehlung erblickt Diesem bornierten, zer-stückelten und verkümmerten Menschen stellt er gegenüber den „reichen", den „einer Totalität der menschlichen Lebensäußerung" bedürftigen Menschen Was aber ist Reichtum an-deres, fragt Marx, „als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc.der Individuen? Die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sogenannten Natur sowohl, wie seiner eigenen Natur? Das absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andere Voraussetzung als die vorhergegangene Entwicklung, d. h.der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einein vorhergegebenen Maßstab, zum Selbstzweck gemacht? Wo er sich nicht reproduziert in einer Bestimmtheit, sondern seine Totalität produziert? Nicht irgend etwas Gewordenes zu bleiben sucht, sondern in der absoluten Bewegung des Werdens ist?"

Zusammenfassend können wir sagen, daß für Marx die Frage nach dem Sinn des Lebens eine Frage der Praxis ist. Das Leben ist dann sinnvoll, wenn es dem Menschen gelingt, den bestehenden Widersinn überholter Produktionsverhältnisse zu eliminieren und Arbeit aus einem Mittel bloßer Selbsterhaltung zu dem zu machen, was sie an sich ist: freie Selbsttätigkeit Und kreative Entfaltung aller menschlichen Potenzen

Diese Konzeption steckt trotz ihrer Kohärenz voll offener Probleme. Wir können hier nur einige anführen, die im vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse sind: 1. Marx faßt einseitig das menschliche Leben als Produktion, als kollektive Auseinandersetzung mit der Natur und den Menschen als Herrschaftssubjekt gegenüber der Natur auf. Andere anthropologische Bestimmungen, die gerade für die Sinnthematik von fundamentaler Bedeutung sind, kommen deshalb — wenn überhaupt — nur verkürzt, funktionalisiert auf Produktion, in den Blick: so vor allem der ganze Bereich symbolisch vermittelter Interaktion, der sich jenseits der Sphäre von Arbeit und Herstellung vollziehende Prozeß menschlicher Selbstbefreiung durch Aufklärung, Kritik und Bildung Ferner schließt der Marxsche Begriff vom Wesen des Menschen vieles aus, was neben Produktivität und Kreativität nicht minder zum menschlichen Potential gehört: seine Destruktivität und Aggressivität, seine im weitesten Sinne irrationalen, nekrophilen, nihilistischen Züge.

2. In Marx'Deutung der Geschichte sind drei einander widersprechende Motive verflochten und damit implicite auch drei divergierende Auffassungen vom Sinn des Lebens: Geschichte als universaler, zielstrebig-sinnerfüllter Prozeß in Richtung aut eine ideale, man kann sagen: eschatologische Menschheit, eine finale Identität von Humanität und erlöster Natur. Dieses Bild einer Heilsgeschichte findet sich ganz besonders — jedoch nicht nur — beim jungen Marx von 1844.

Geschichte als gesetzmäßiger, mit „eherner Notwendigkeit", unabhängig vom Wollen der Menschen verlaufender naturhistorischer Prozeß. Diesen deterministischen Ansatz hat Marx in den bekannten Sätzen seines Vorworts zur „Kritik der politischen Ökonomie" (1859) skizziert und namentlich im Vor-und Nachwort zum ersten Band des „Kapitals" weiter ausgeführt

Geschichte als offener und kontingenter Prozeß, als Resultante der konkreten Praxis der Menschen, als das Werk der von ihren Bedürfnissen und Trieben geleiteten, im Hinblick auf konkrete Situationen ihre Zwecke verfolgenden Individuen und Gruppen. Diesen » praxeologischen« Ansatz finden wir besonders deutlich in den „Thesen über Feuerbach" (1845) und in der „Deutschen Ideologie" (1845/46).

3. Marx zeigt keinen realistischen Weg, der von der „entfremdeten Arbeit" zur Arbeit als freier, schöpferischer Selbstbetätigung, unabhängig von physischer Not und äußeren Zwek-ken, führen soll. Er definiert letztere so anspruchsvoll, daß man zögert, hier überhaupt noch von Arbeit zu sprechen Es gibt übrigens einige wenige Stellen im Werk des älteren Marx, aus denen hervorgeht, daß er zumindest vorübergehend seine ursprüngliche eschatologische Vision aufgab und auch eine kommunistische Gesellschaft nicht frei von entfremdeter Arbeit wähnte

4. Ist aber durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmte Arbeit eine von allen Gesellschaftsformen und Produktionsweisen unabhängige Konstante, dann steht diese Einsicht im Widerspruch zu der These, daß die Aufhebung des Privateigentums die totale Emanzipation und Versöhnung des Menschen herbeiführe. 5. Wie soll die Arbeitsteilung, die Marx als den „nationalökonomischen Ausdruck von der Gesellschaftlichkeit der Arbeit innerhalb der Entfremdung" ja geradezu als weltgeschichtlichen Sündenfall charakterisiert hat in einer hochentwickelten wissenschaftlich-technologischen Gesellschaft, deren Funktionieren die Begründer des Marxismus doch als notwendige Voraussetzung des „Reiches der Freiheit" anerkannt haben, praktisch aufgehoben werden? Die idyllische Vorstellung Marx'von einer „kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann" und die Möglichkeit habe, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, auch das Essen zu kritisieren, ohne je Jäger, Fischer oder Hirt oder Kritiker zu werden" ist eine reaktionäre Utopie.

6. Ist es somit problematisch, daß durch Abschaffung des Privateigentums Entfremdung aufgehoben werden könne, und läßt sich die in der Arbeitsteilung sich manifestierende Entfremdung auf unabsehbare Zeit überhaupt nicht beseitigen, dann wird der Entfremdungsbegriff selbst fragwürdig. Die Frage ist berechtigt, ob Entfremdung überhaupt etwas unbedingt Abzuwehrendes sei, ob ihr in jedem Falle ein inhumaner Charakter zukomme. Gibt es nicht neben dem horror alieni auch einen amor alieni, einen Eros zu dem was anders, verschieden und fremd von uns ist, wie er, bereits sublimiert, noch in dem enthalten ist, was nach Platon und Aristoteles Philosophieren begründet, nämlich im Staunen? Ist Glück denkbar ohne ein untilgbares Moment von Entfremdung, von aufgehobener Selbst-Vertrautheit im je Eigenen? Man kann wohl sagen, daß im horror alieni, den der Marxismus mit der idealistischen Philosophie teilt, etwas von Gnosis unbewußt nachwirkt, von einem Denken, dem das Fremde, das Andere, das Geschiedene, das Viele nur Depravation, nur sekundärer und wesenloser „Abfall" des ursprünglich in sich selbst verharrenden Einen ist Während Marx Entfremdung als ein bloß historisches, das heißt: vorübergehendes Stadium der Menschheit ansieht neigen zeitgenössische Marxisten immer mehr dazu, zumindest bestimmte Formen von Entfremdung, von individueller und sozialer Nicht-Identität und Verdinglichung für ein unaufhebbares essentiale der menschlichen Rasse zu halten

Noch weiter geht Theodor W. Adorno, wenn er in seiner „Negativen Dialektik" Entfremdung als bejahte, ja geliebte, mit Humanität schlechthin identifiziert: „über die Romantik hinaus, die sich als Weltschmerz, Leiden an der Entfremdung fühlte, erhebt sich Eichendorffs Wort . Schöne Fremde'. Der versöhnte Zustand annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, daß es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen."

Es gibt neben der furchtbaren auch so etwas wie eine gnädige Entfremdung, und vielleicht liegt die Eigenart christlicher Existenz eben darin, daß sie, gemäß dem alten „O felix peccatum Adami!", sich jenseits von Resignation und ruchlosem Optimismus als entfremdete annehmen kann

So hinterließ das Erbe von Marx eine Fülle von Fragen, die besonders virulent wurden, als sich marxistische Denker, in Reaktion auf den Stalinismus, der diese Frage konfisziert hatte, dem Problem eines sinnvollen menschlichen Lebens zuwandten. Einige Autoren, die sich ausführlicher dazu vernehmen haben lassen, sollen im folgenden kurz vorgestellt werden.

II.

Den ersten Versuch, die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens auf marxistischer Grundlage zu behandeln, hat der polnische Philosoph Leszek Kolakowski (geboren 1927) unternommen mit seiner im Sommer 1957 im polnischen Staatsverlag erschienenen Broschüre „Die Weltanschauung und das tägliche Leben"; diese essayistisch gehaltene Studie liegt seit längerem auch in deutsch vor Man hat bei ihm Einflüsse Sartres und Merleau-Pon-tys festgestellt und dem Denker insbesondere von parteioffizieller Seite vorgeworfen, daß er den Marxismus „existentialisiere" — ein Vorwurf, den auch die Fachschaft des philosophischen Seminars der Universität Frankfurt a. M. wiederholte, als sie 1970 sich gegen die Berufung Kolakowskis als Nachfolger Theodor W. Adornos wandte Wie immer es mit diesen Einflüssen bestellt sein mag, gewiß ist eines: Kolakowski schöpft aus unmittelbarer Erfahrung; ihn hat die Unabhängigkeit seines Denkens etwas mehr gekostet als jenen westlichen Leftisten, die gefahrlos und in aller Freiheit eine Opposition betreiben können, die nicht nur geduldet, sondern geradezu als schick empfunden wird.

Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist für Kolakowski „der geheime Lebensnerv der Philosophie". Erst mit diesem Problem gelangt sie an die Wurzel des täglichen Lebens. „Sinn des Lebens" und „Ziel des Lebens" bedeuten ihm dasselbe. Außerhalb des Bereiches zielbewußter Tätigkeit könne man nicht die Sinnfrage stellen. Zugleich ist diese Frage nach dem Sinn Symptom eines Mangels, einer des-integrierten und frustrierten, kurz: entfremdeten Existenz: Sie wird akut, „wenn das Leben selbst nicht mehr in genügendem Maße das Gefühl vermittelt, sinnvoll zu sein. Wenn das intellektuelle Bedürfnis danach entsteht, einen Ersatz für verlorene Werte zu schaffen, wenn also das Schicksal die Bindung zerreißt, die zwischen dem aktiven Erleben der Welt und ihrer moralischen Bejahung besteht, wenn die Selbstverständlichkeit der in ihm selbst enthaltenen Gründe, die für das Leben sprechen, undeutlich wird, dann verwandelt sich „Sinn des Lebens'in ein Problem. Dieses Problem erfreut sich vor allem in Zeiten des Niedergangs, aber auch in Zeiten der Vorahnung eines Umschwungs oder in Zeiten, die von einer Atmosphäre des Schreckens beherrscht sind, einer besonderen Beliebtheit" Die generelle Frage nach dem Sinn des Daseins überhaupt sei falsch; das Dasein als solches habe keinen Sinn, ebensowenig die Geschichte als Ganzes. Nur bewußtes Handeln sei sinnbegabt, und dieses eigne nur dem Menschen. „Der Sinn des Lebens kann — da er bewußte Bejahung erfordert — keinem Menschen ohne seine Beteiligung gegeben werden. Niemand kommt mit einem fertigen Sinn des Lebens zur Welt: Der Lebenssinn ist eine Sache der Wahl." Kolakowski spricht einerseits in einem volun-taristisch-dezisionistischen Sinne vom Lebenssinn als Ziel, Entscheidung und Wahl, andererseits aber auch mehr emotionalistisch vom „Gefühl dafür, daß das Leben sinnvoll ist" Wem dieses Gefühl mangle, der könne es nicht durch rein intellektuelle Anstrengungen sich 26 verschaffen, dazu bedürfe es vielmehr einer „Revision des Lebens" selbst

Im weiteren Verlauf seines Essays fragt Kola-kowski nach den objektiven Voraussetzungen eines subjektiv als sinnvoll empfundenen Lebens. Er plädiert für einen Pluralismus voneinander unabhängiger Ziele, also — wenn man seiner Gleichsetzung von Lebenssinn und Lebensziel folgt — für eine Vielfalt divergierender Sinne des Lebens: „Nichts zwingt uns dazu, das . Lebensziel'so zu wählen, daß alle unsere Handlungen ihm restlos untergeordnet werden." Bejahte Vielfalt von Werten und Zielen bewahre zwar das Leben vor Fanatismus, Borniertheit und katastrophalen Niederlagen im Falle, daß es ein bestimmtes Ziel nicht erreiche, doch schließe sie keineswegs Konflikte sogar tragischer Art aus, sobald Situationen auftauchen, in denen unabdingbar zwischen verschiedenen Werten gewählt werden muß. Eine weitere Voraussetzung für ein als sinnvoll empfundenes Leben entwickelt der polnische Philosoph im Anschluß an den Satz des Stoikers Epiktet: „Von den Dingen sind die einen von uns abhängig, die anderen nicht." Das Gefühl, ein sinnvolles Leben zu führen, sei um so intensiver, „je weniger Situationen wir für unvermeidlich halten, und gleichzeitig, je entschiedener wir die unzweifelhaften Unvermeidlichkeiten bejahen"

Des weiteren sei das Gefühl des Lebenssinns um so stärker, je mehr man auf Veränderung eingestellt ist, je mehr Grund man hat, auf Unerwartetes zu hoffen, je weniger also das Los des einzelnen vorauszusehen ist. Erlebnis-und Ereignismangel, allzu große Gleichförmigkeit und Voraussehbarkeit lassen das Leben stagnieren und das Gefühl seines Sinns verkümmern Freilich könne auch in einer eher beständigen, einförmigen Welt das Leben als sinnvoll empfunden werden — doch unleugbar sei ein solches Dasein weniger intensiv, weniger schöpferisch als ein von Spannungen, Überraschungen und unerwarteten Veränderungen erfülltes. Letzten Endes drücke sich in diesen beiden Lebensstilen der Gegensatz zwischen den Kräften des Bewahrens und denen des Schaffens aus. Kolakowski hält diesen Antagonismus für universell und nicht weiter ableitbar; als Denker des Konflikts steht er im Gegensatz zu jenen Marxisten, die der Vision einer gänzlich harmonischen, entspannten und widerspruchslosen Zukunftsgesellschaft, also einer Art von sozialem Pantheismus anhangen.

Damit gelangt Kolakowski zu den sozialen Voraussetzungen individueller Sinnerfüllung. Despotisch-terroristische Regime fördern naturgemäß fatalistische Stimmungen der Ohnmacht, Hoffnungslosigkeit und Absurdität „Da das Bewußtsein der Sinnlosigkeit des Lebens oft als Folge der Irrationalität der Geschichte entsteht, liegt also eines der wichtigsten Mittel, dem Leben einen Sinn zu verleihen, darin, daß man die Geschichte rational macht, das heißt, die Ursachen ihres jetzigen Zustandes erklärt und seine Bedeutung für die — sei es noch so entfernte — Zukunft interpretiert. In diesem Zusammenhang ist es besonders wichtig, eine Möglichkeit zur Teilnahme an der Gestaltung der geschichtlichen Wirklichkeit zu finden." Daher verleihe der Kommunismus als „Rationalisierung der menschlichen Geschichte" und als „Verpflichtung, an ihren Veränderungen teilzunehmen", am intensivsten das Gefühl eines sinnvollen Lebens. Er verwandle die Wirklichkeit in einen Gegenstand menschlicher Praxis, integriere den Menschen so weitgehend in sein gesellschaftlich-natürliches Milieu, daß dieses seine „ontologische Fremdheit" verliere, und erweitere das Bewußtsein zum „Bewußtsein der aktiven Koexistenz mit der Geschichte"

Diese optimistische Konzeption vom Kommunismus als Schöpfer weltgeschichtlicher Rationalisierung und individueller Sinnerfüllung trägt deutlich die Spuren der in der Epoche der beginnenden Entstalinisierung sich regenden Hoffnungen, die nur zu bald enttäuscht werden sollten. „Das Leben wird dadurch, daß man ihm einen Sinn verleiht, noch nicht fröhlicher", schrieb Kolakowski schon damals, als er Rationalisierung der Geschichte, kommunistische Praxis und individuellen Lebenssinn in eins dachte.

Das Postulat, unzweifelhafte Unvermeidlichkeiten zu bejahen, gilt am offenkundigsten für den Tod, wenngleich Kolakowski auch dessen Problematik durch Rationalisierung entschärfen will. Er unterscheidet zwischen der Furcht vor dem konkreten Tod und der abstrakten Angst vor dem Tod. Jene sei eine biologische Mitgift, gleichsam eine instinktive Alarmanlage, die in Funktion tritt, sobald dem Le-ben Gefahr droht; diese dagegen entstamme allein unserem Intellekt und trete ganz unabhängig von aktuellen Gefahren ein. Diese Angst könne man als eine „Entartung" bezeichnen, da sie sich mit einer sonst in der Natur fremden Empörung gegen das Unvermeidliche verbindet. Im Grunde sei unsere Furcht vor dem Tode eine Furcht vor dem Verlust unserer eigenen Vergangenheit, unserer Erinnerungen an alle bisherigen Erlebnisse, un-serer Kontinuität. Die abstrakte Angst vor dem Tode sei das Resultat des Gefühls der Sinnlosigkeit des Lebens; sie nehme proportional ab zur Intensität eines sinnvoll erlebten Lebens Das Gefühl, sinnvoll zu leben, sei nichts anderes als das „Gefühl der frei gewählten und frei realisierten Solidarität mit dem Rhythmus der menschlichen Geschichtswer-düng, in deren Gewebe man versponnen wurde" Wer dieses Gefühl besitzt, vermag dann den Sinn seines Lebens gleichsam überfließen zu lassen auf die außermenschliche Natur, die dann gewissermaßen humane Gestalt annehme.

Diese Aussagen hat Kolakowski im Rahmen anderer Arbeiten ergänzt und präzisiert, vor allem in seinem 1967 in deutsch erschienenen „Traktat über die Sterblichkeit der Vernunft“. Dort heißt es: „Die Welt ist für uns ein Alternativangebot, ein Geschenk, das man unmöglich nur halbwegs annehmen kann. Solange wir freiwillig leben, akzeptieren wir die angebotene Welt durch unser Verhalten, aber auch durch einen bewußten oder halbbewußten Akt der Zustimmung mit alldem, was sie enthält." Wir akzeptieren die schändlichen Seiten der Welt in dem Sinne, in dem wir durch die Annahme von jemandes Erbe auch dessen Schulden und Hypotheken übernehmen. Obwohl unfähig, die Aktiva und Passiva der Welt auszurechnen, stellen wir dennoch spontan, gleichsam nach Augenmaß, eine eigene Rechnung auf, so etwas wie eine private Theodizee. Diese spontane Theodizee, mit der wir die Welt und unsere Anwesenheit in ihr rechtfertigen, ist freilich weniger anspruchsvoll als die der Metaphysiker, „sie begnügt sich mit der praktischen Bejahung der Annahme, der gemäß die Lichtseiten des Lebens sich eines bescheidenen Übergewichts über dessen Schattenseiten erfreuen dürfen, und ist gleichzeitig bereit, die Verantwortung für alle Bemühungen zu übernehmen, die eine Verbesserung dieses Verhältnisses anstreben"

Noch stärker betont Kolakowski den Konflikt-charakter des Lebens, dem auch jeder Versuch einer Sinngebung ins Auge zu sehen habe. Die beiden grundlegenden Bedürfnisse des Menschen — der Drang nach Geborgenheit in einer vorgegebenen Ordnung und der Drang nach Expression seiner Anlagen — lassen sich nicht in einer glorreichen Synthese zugleich befriedigen Der polnische Philosoph wagt sogar die für orthodoxe Marxisten ketzerische Frage, ob nicht bestimmte Konflikte „ein vielleicht organisches Leiden unseres Gattungsdaseins" darstellen In einer solchen paradoxen Welt kann Leben nur sinnvoll erfahren werden in schöpferischer Verantwortung, die darum weiß, daß die von uns gefällten Entschlüsse nicht aus einem allgemeinen System von Regeln ableitbar sind, und sich dennoch bestimmten Werten verbunden fühlt Welche Werte dies sind, hat Kolakowski am Schluß seines 1959 publizierten Essays „Der Priester und der Narr" unmißverständlich ausgesprochen: „Wir treten für die Philosophie des Narren ein, also für die Haltung der negativen Wachsamkeit gegenüber jedem Absoluten — und dies nicht aufgrund eines Ergebnisses nach Prüfung der Argumente, denn die wichtigsten Entscheidungen sind Wertungen ... Es geht uns um die Vision einer Welt, in der die am schwersten zu vereinbarenden Elemente menschlichen Handelns miteinander verbunden sind, kurz, es geht uns um Güte ohne Nachsicht, Mut ohne Fanatismus, Intelligenz ohne Verzweiflung und Hoffnung ohne Verblendung. Alle anderen Früchte philosophischen Denkens sind unwichtig."

In ein davon sehr verschiedenes Klima begeben wir uns, wenn wir den Großteil sowjetischer Publikationen zum Problem des mensch-lichen Lebenssinns studieren. Die erste, die speziell diesem Thema gewidmet ist, stammt von dem Moskauer Professor Nikolaj Janzen (1959). Die entscheidende Stelle lautet: „Der wahre Sinn des menschlichen Lebens besteht objektiv in der aktiven Teilnahme am Kampf des Volkes gegen Ausbeutung und Not, weil nur ein Leben, das diesem Kampf gewidmet ist, wirkungsvoll dem Fortschritt dient, den objektiven gesellschaftlichen Bedürfnissen Rechnung trägt, im vollen Einklang mit der objektiven Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung in der Klassengesellschaft entspricht. Der Marxist vertritt den Standpunkt: Je mehr das Leben, die Tätigkeit eines Menschen, den Interessen des Volkes und da-mit dem Fortschritt dient, je vollständiger es sich im Einklang mit der objektiven Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung befindet, desto sinnvoller, desto wertvoller ist es."

Formal weniger dogmatisch, doch sachlich im gleichen Sinne hat sich der Leningrader Philosoph Wassilij P. Tugarinow geäußert: „Das Leben an und für sich stellt einen großen Wert für den Menschen dar, doch hat es einen noch größeren Wert für ihn als denkendes We-sen, wenn es einen Sinn hat." Die Frage nach dem Sinn sei eine der „ewigen Fragen des menschlichen Geistes" und man solle „solche Fragen wie die des Lebens oder Todes, des Sinns des Lebens u. a. m., insofern sie wirklich ewig sind", nicht den Gegnern des Marxismus überlassen Indem der Mensch den Sinn seines Lebens schafft, verwirklicht er einen Wert des Lebens für sich und gestaltet sein Leben als Wert für die anderen: „Der Sinn des Lebens kann nur im Leben selbst liegen, im Dienste für dieses Leben. . Dienst'nur für das eigene Leben, nur für die eigenen Interessen, losgelöst von den gesellschaftlichen, ist illusorisch." Der Lebenssinn sei das „große Ziel" des Menschen im Gegensatz zu den vie-len „kleinen Zielen", die er sich täglich stellt: „Der Sinn des Lebens ist das hohe gesellschaftliche Ziel, dessentwegen der Mensch lebt." Konkret bedeutet das die Gleichsetzung von Sinn des Lebens und Aufbau des Kommunismus: „So ist die Arbeit zum Wohle der Gesellschaft, für den Fortschritt, für die Errichtung einer besseren Gesellschaft der Sinn des menschlichen Lebens. Die Arbeit für den Aufbau des Kommunismus ist Lebensbedürfnis, Hauptinteresse und Sinn des Lebens eines sozialistischen Menschen."

In mehreren Publikationen hat sich in den sechziger Jahren noch ein weiterer sowjetischer Philosoph, Petr M. Egides aus Brjansk, zu diesem Problem vernehmen lassen: „Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist die Frage danach, wofür der Mensch lebt, was das Wichtigste in seinem Leben ist." Das „rechte Verständnis vom Sinn des Lebens verleiht dem Menschen Selbstvertrauen, es macht sein Verhalten entschlossener, zielgerichteter" Egi-B des unterscheidet zwischen Lebenssinn und Lebensziel, obgleich er einen Zusammenhang zwischen beiden annimmt: „Während der Sinn des Lebens die objektive Bedeutsamkeit des Lebens ist, die auch unabhängig vom Bewußtsein des Subjekts existieren kann, setzt sich die Ziele das Subjekt selbst." Sinn des Le-ben ist also hier nicht — wie bei Kolakowski — eine Sache subjektiver Wahl, sondern resultiert aus der Teilhabe des Individuums an einem als objektiv sinnvoll vorgestellten Wirklichkeitsprozeß: „Mit der Entdeckung, daß die Entwicklung der Gesellschaft ein naturhistorischer Prozeß ist, eben dadurch hat der Marxismus den objektiven Sinn des mensch-lichen Lebens aufgezeigt, das heißt, daß das Leben des einzelnen Menschen . . . eine objektive Bedeutsamkeit für den Fortschritt der Menschheit hat . . . Das Leben eines Menschen, der sich Ziele setzt, welche objektiv gesellschaftliche Bedeutung haben (auch wenn er sich dessen nicht bewußt ist), hat eben dadurch einen objektiven Sinn."

Es ist schwer einzusehen, warum das Leben eines einzelnen von ihm selbst bloß deshalb schon als sinnvoll erfahren werden soll, weil die Geschichte ein naturgesetzlich ablaufender Prozeß ist, in dem dieser einzelne eine bestimmte Funktion hat, die ihm noch dazu verborgen sein kann. Die Annahme, daß die Ge-. schichte in einer bestimmten Richtung verläuft, kann das Individuum kaum davor bewahren, daß er sein Leben als sinnlos empfindet. Unter Sinn des Lebens wird von den sowjetischen Autoren nicht ein in erster Linie persönliches Problem verstanden, sie gehen vielmehr davon aus, daß die gesellschaftliche Entwicklung an sich schon sinnvoll verlaufe —-obwohl sie, wie versichert wird, ein naturgeschichtlicher Prozeß sei — und daß der Mensch seinen Lebenssinn finden könne, in-dem er sich zu diesem objektiven Sinn konform verhalte.

Daß eine solche Theorie fatalistischen Konsequenzen nicht entgeht und auf eine Aufforderung zu sozialasketischer Selbstverleugnung hinausläuft hat zumindest einen sowjetischen Autor zu einer Kritik der Thesen von Egides veranlaßt. Gersen K. Gumnickij, Philosophiedozent am Pädagogischen Institut von Ivanovo, protestierte in einem Zeitschriftenartikel gegen die Gleichsetzung des persönlichen Lebenssinns mit der objektiven Bedeu-tung des Individuums in der historischsozialen Entwicklung: „In Wirklichkeit aber hat das persönliche Leben einen selbständigen Wert, — und dagegen kann man nur aus der Position einer völlig abstrakten, vom Leben losgelösten Konzeption vom Leder ziehen." Es gibt keine kosmischen Bedürfnisse, derentwegen die Menschheit ins Leben trat. „Im weitesten Sinn des Wortes liegt der Sinn des Lebens im Leben selbst. Er hängt mit den Zielen zusammen, zu denen die Menschen streben." Der volle Sinn des Lebens liegt nicht nur im Dienst an der Gesellschaft, sondern auch im Dienst an sich selbst. „Kaum jemand wird behaupten, daß das Streben nach persönlichem Glück sinnlos ist." Glück aber schließt mehr in sich ein als die moralische Genugtuung darüber, zum Fortschritt der Menschheit etwas beigetragen zu haben. „Weswegen führen denn die Werktätigen den Kampf gegen den Kapitalismus .. .? Wegen des Dienstes am gesellschaftlichen Fortschritt?

Um moralische Befriedigung zu erlangen?

Selbstverständlich bildet dieser Kampf den grundlegenden Inhalt des gesellschaftlichen Fortschritts .... Aber letzten Endes wird er geführt, um bessere materielle und geistige Lebensbedingungen zu schaffen."

Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Sinn des Lebens hat auch die unter Stalin tabuierte Kontrastkategorie „Entfremdung" in die sowjetische Philosophie Eingang gefunden, freilich fast ausschließlich im Blick auf die kapitalistische Gesellschaft Bemerkenswert ist jedoch, daß der schon erwähnte Philosoph Egides in einer späteren Arbeit zwar davon spricht, daß die sozialistische Gesellschaft die Bedingungen der Entfremdung — also in erster Linie das Privateigentum — beseitige, gleichzeitig aber konstatiert:

„Dennoch bedeutet das nicht, daß es bei uns keine Erscheinungen von Entfremdung und Selbstentfremdung mehr gebe." Er begründet jedoch nicht näher, wie solche Erscheinungen überhaupt möglich sind, wenn der Kapitalismus abgeschafft ist.

Ein weiterer Marxist, der sich zur Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens geäußert hat, ist der Tscheche Milan Machovec (geboren 1925), der bis 1970 an der Prager Karls-Universität eine Professur innehatte Ähnlich wie Kolakowski betont auch er, daß dem Leben kein Sinn a priori eigen sei: „Dadurch, daß wir leben, erfüllt sich der Sinn des Lebens, nicht dadurch, daß wir nur darüber nachdenken. Das Leben erlangt seinen immer höheren Wert dadurch, daß wir arbeiten, schöpferisch tätig sind, kämpfen und lie-ben . . . Das menschliche Leben hat also dann einen Sinn, wenn der Mensch in der Lage ist, ihm einen solchen zu geben. Mehr wollen wäre Fiktion, Idealismus und Selbsttäuschung." Da die elementaren Bedingungen des individuellen und gesellschaftlichen Daseins relativ unverändert bleiben vom geschichtlichen Wandel, sei es notwendig, auch frühere Bestimmungen des Lebenssinns zu studieren. Sie enthalten alle bestimmte Wahrheiten, die wir nicht übergehen können. Machovec untersucht deshalb im ersten Teil seines Buches „Vom Sinn des menschlichen Lebens“ die historisch bedeutsamsten, auch heute noch wirksamen Sinnkonzeptionen: die religiöstranszendente, die epikureisch-hedonistische, die stoische, die utopisch-optimistische und die resignative.

Im zweiten Teil entwickelt Machovec seine eigene Deutung im Horizont der Erfahrungen unserer Epoche. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er dabei dem Vordringen des Menschen in den Kosmos, den deformierenden Wirkungen verdinglichter sozialer und politischer Systeme und der Rolle der Arbeitsorganisation. Machovec essayistische Behandlung der Sinnproblematik gipfelt in seiner Deutung des Dialogs, in dem er nicht bloß eine Methode, Gegensätze friedlich auszutragen, erblickt, sondern die humane Existenzform schlechthin. In diesem „bedeutenden Beitrag zu einer marxistischen Theorie der Kommunikation"" liegt auch die Originalität des tschechischen Philosophen, dessen unspekulativer, gelegentlich etwas gemütvoll-hausbackener Marxismus mehr der Tradition des freundlich-diesseitigen böhmischen Humanitätsdenkens von Comenius bis Masaryk als der Dialektik von Hegel bis Lenin verpflichtet ist * Machovec unterscheidet zwischen Dialog und bloßer Diskussion: „Dialog ist die höchste Form der menschlischen Kommunikation, in der beide Seiten bewußt das volle Erschließen der anderen Seite anstreben ... Er bedeutet eine auf das Wesen ausgerichtete Diskussion, in der alle inneren Fähigkeiten der Beteiligten — nicht nur ihre Kenntnisse oder Ansichten — zum Ausdruck gelangen." Der Mensch bedarf des Dialogs, um über den anderen er selbst zu werden; um zu erfahren, auf welche Weise Menschen menschlich sind; um durch Vergleich und Konfrontation seine Irrtümer und Einseitigkeiten korrigieren zu können. „Ein wirklicher Dialog stellt neben der kreativen Arbeit die höchste Forderung des Humanismus dar, er ist Mittel und Ziel der Humanisierung zugleich."

Machovec nennt fünf Bedingungen eines wahrhaften Dialogs: den Mut, sich ganz zu öffnen; den Willen, sein gesamtes Wissen dem Partner zur Verfügung zu stellen; das konkrete, von Nützlichkeitserwägungen freie Interesse am Partner als Partner; das persönliche Engagement, das sich nicht scheut, auch das Risiko des anderen auf sich zu nehmen; die Ausschaltung alles dessen, was auch nur entfernt mit Zwang und Gewalt zu tun hat. Ge-walt und Dialog schließen einander aus Zu den Hindernissen des Dialogs zählt Machovec: allzu geringes Bildungsniveau, zu weit fortgeschrittene Spezialisierung, das Prinzip der Hierarchisierung der Gesellschaft und die Tendenz der Institutionen, zum Selbstzweck zu werden, sich vom Leben abzukapseln und in bürokratischer Routine zu erstarren. »Die Verschiedenheit der Ansichten, auch die Zugehörigkeit der Teilnehmer zu verschiedenen Systemen ist kein Hindernis für den Dialog. Einen höchst anspruchsvollen, innerlich bereichernden Dialog kann ein Gläubiger mit einem Atheisten, kaum jedoch ein Pfarrer mit seinem Bischof führen. «

Ämter, Institutionen und Parteien können eine Diskussion miteinander führen, einen Dialog aber nur Menschen. Die progressive Institutionalisierung, Organisierung und Verbürokra-tisierung aller Lebensbereiche, die in gewissem Ausmaß unvermeidlich sei, verringert daher die Chancen dialogischer Existenz immer mehr. Insofern der Kommunismus „die allseitige und harmonische Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit" erstrebe, müsse er jedoch unvermeidlich zu einer „Epoche der maximalen Entwicklung des Dialogs“ werden Der Dialog umfaßt nicht nur Freunde und Liebende, er kann auch in einer ehrenvollen Gegnerschaft sich verwirklichen. Selbst der tote Freund könne noch mein Partner im Dialog bleiben

Schließlich gibt es auch den inneren Dialog, das Gespräch des Menschen mit sich selbst, zwischen seinem alltäglichen und seinem idealen Ich. In den Religionen ist dieser Dialog als Gebet, als Rede mit Gott mystifiziert worden. Wenn der moderne Mensch mit dem Glauben an Gott das Gebet ersatzlos aus seinem Leben streicht, dann geht er des inneren Dialogs mit sich selbst verlustig, dann sinkt er unter das Niveau der historisch überwundenen Religionen. Der Marxist Machovec zitiert mit einer Unbefangenheit, um die ihn mancher Theologe beneiden sollte, seitenlang die Verse des 119. Psalms, um das vom Gläubigen geführte Gespräch als Kommunikation mit dem Menscheninnern aufzuschlüsseln. Er gibt zu, daß es dem areligiösen Humanismus bis-her nicht gelungen sei, etwas dem Gebet Adäquates zu finden

Zur höchsten Form des Dialogs gelange der Mensch aber, wenn er sich in ein Gespräch einlasse, „mit einer Welt , ohne mich,'mit dem Komplex dessen, was weder ich bin noch Ich ist, was letztlich mit der vollen Bewußtheit des Konflikts meines Seins mit meinem Nicht-Sein, mit dem Tode, identisch ist" Der Mensch kann den Tod nicht verhindern, aber er kann seine Lebensziele so modififieren, daß der Tod sie nicht vernichtet, sondern vollendet. „Jenes Nicht-Ich im Dialog zwischen Ich und Nicht-Ich kann als Tod (mein Nicht-Sein), aber auch als Welt (nicht mein Sein) aufgefaßt werden; im Prinzip ist dies ein und dasselbe. Der Dialog mit dem Tod ist ein Dialog mit der Welt ohne mich, mit dem absoluten Nicht-Ich. Nur in ihm finde ich endlich und völlig mein Selbst . . . Als , Kind der Zeit'bin ich auch etwas . Ewiges,'denn die Zeit selbst ist ewig. Mein Tod, mein Nicht-Sein ist dann — unter kosmischem Gesichtspunkt — nur die Episode eines wunderbaren Prozesses, in dem es um etwas geht — und dieses Etwas ist ebenso real wie der Prozeß selbst . .. Ich bin gewesen — also bin ich. Bin ich in der Zeit, bin ich auch in Ewigkeit." Wunderliche Worte aus dem Munde eines Marxisten, die mehr einer pantheistischen Mystik als einem konsequenten Materialismus entsprechen. Nicht von ungefähr zitiert Macho-vec in diesem Zusammenhang Verse aus der Bhagavadgita, einem der heiligsten Bücher des Hinduismus; er meint, daß das darin empha-tisch zum Ausdruck gelangende kosmische Alleinheitsgefühl auch von einem modernen Materialisten geteilt werden könne: „sein Ausgangspunkt ist der Monismus, das Gefühl, daß letzten Endes nur eine Welt existiert. Bin ich, so bin ich der Sohn des ganzen Seins und Bruder von allem, was existiert. Das Böse besteht nur im Mangel und in der Beziehung; das Sein selbst jedoch ist ein gutes Sein, ein schönes und wahres Sein, eben weil es ist.“

So bemerkenswert diese kosmische Perspektive ist — argumentieren doch die meisten'Marxisten überwiegend anthropozentrisch — so bedenklich erscheint die Auffassung, daß mit dem Tode ein Dialog möglich sei und daß dieser Dialog mit dem Tode im Grunde nur die andere Seite des Dialogs mit der Welt darstelle. Kann man aber wirklich mit dem Tod — mit dem eigenen Tod — reden und läßt der Tod überhaupt mit sich reden? Fehlen für ein solches Gespräch nicht alle von Machovec genannten Voraussetzungen eines fruchtbaren Dialogs? Anstatt den Tod zum Partner eines Dialogs zu verklären, erschiene es doch naheliegender, in ihm den Gipfel alles dessen zu erblicken, was den Dialog verhindert.

Hölderlin sagt von der gültigen Vergangenheit des Menschen als Menschen: „Seit ein Gespräch wir sind und hören können von einander". Wie sollte ein solches Leben als Dialog den Tod akzeptieren können, gar als „Partner", wo er doch den radikalen Bruch aller menschlichen Bindungen, eines jeden menschlichen Gesprächs bedeutet?

Wieder von einem anderen Ansatz aus greifen jugoslawische Marxisten das Thema „Sinn des Lebens" auf. Dabei handelt es sich vor al-lem um jene Gruppe von Philosophen, die sich um die in Zagreb erscheinende Zeitschrift „Praxis" geschart haben Im Zentrum des Den-kens dieser Gruppe, zu der neben anderen Gajo Petrovic, Rudi Supek, Milan Kangrga, Danko Grlic und Svetozar Stojanovic gehören, steht die Idee der Praxis. Sie gilt ihnen nicht nur als das Wesensmerkmal des Menschen, sondern auch geradezu als ontologische Kategorie: erst der handelnde, weltverändernde, geschichtlich tätige Mensch produziert den Sinn des Seins oder, wie Gajo Petrovi (geboren 1927) sagt: „Der Mensch ist Mensch nicht dann, wenn er passiv und geduldig erwartet, was die Zeit unvermeidlich mit sich bringt, sondern dann, wenn er wirkt und kämpft, um sein wirklich menschliches, individuelles und gesellschaftliches Sein zu realisieren. Und wirklich menschliches Sein ist nicht stolze Abwartung des Nichts, sondern freie schöpferische Tätigkeit, durch die der Mensch seine Welt und sich selbst schafft."

Diese Sätze sind ebenso gegen Heidegger gerichtet wie Petrovics abschließende Vermutung: „Ist nicht die Praxis derjenige authentischste Modus des Seins, der uns als einziger den wahren Sinn von Sein offenbart und deshalb auch nicht ein besonderer Modus, sondern das entwickelte Wesen des Seins ist? Ist nicht Praxis deshalb derjenige Ausgangspunkt, der uns ermöglicht, das Wesen der nicht-authenischen . niederen'Formen des Seins und den Sinn von Sein überhaupt zu sehen?" Praxis bedeutet mehr als Arbeit, die durch äußere Zwecke und physische Notwendigkeit bestimmt ist; sie ist primär Schöpfertum, geschichtliche Aktion, revolutionäre Befreiung. Schöpfertum aber ist letzten Endes dasselbe wie Freiheit. Insofern der Mensch ein schöpferisch-praktisches Wesen ist, ist er auch das auf die Zukunft angelegte, auf sie hörende und aus ihr wirkende Wesen.

Schon aus diesen allgemeinen Andeutungen geht hervor, daß für diese jugoslawischen Philosophen die „Frage nach dem Sinn des Lebens, nach dem wahren Sinn des menschlichen Daseins, nicht vom Standpunkt des Verharrens im Rahmen des Bestehenden gestellt wird oder gestellt werden kann." Diese Frage vermag „auf wirklich geschichtlichem Niveau nur vom Standpunkt dessen, was noch nicht ist, aber sein kann und soll, gestellt werden ..., also in der Perspektive und mit der Tendenz des Zukünftigen, worin bereits sowohl das Be-* dürfnis als auch der Impetus nach der Veränderung des Bestehenden enthalten sind. Andererseits weist aber schon die Frage nach dem Sinn des Lebens ... auf eine wirkliche Unsinnigkeit des faktischen Lebens und die Bestätigung der Möglichkeit des Andersseins hin, das heißt, daß man bereits davon ausgeht, daß dieser Sinn weder einem einzelnen noch einer gesellschaftlichen Gemeinschaft einfach gegeben ist, sondern erkämpft und tätig erzeugt werden muß. Die Möglichkeit des wirklichen Sinns des Lebens kann also nur in der tätigen Möglichkeit der Erzeugung einer neuen, anders beschaffenen Welt, als es die unsere, bereits bestehende ist, gesehen werden." Diese Erzeugung einer neuen Welt ist aber nur ein anderes Wort für Revolution, die sich somit erweist als „der einzige wirkliche Modus der geschichtlichen Existenz des Menschen"

Weniger spekulativ als Milan Kangrga (geboren 1923) äußert sich Mihailo Markovic (geboren 1923) zu der Frage, worin der Sinn des Lebens bestehe. Für ihn vollzieht sich das ganze menschliche Dasein zwischen den Polen Sinnschöpfung und Sinnzerstörung: diese findet in jeder Krise, jene in jedem echten Engagement statt. Der Sinn des Lebens könne nur in ihm selbst liegen — auch jene Ziele und Werte, für die Menschen ihr Leben zu opfern bereit sind, wie Wahrheit, Freiheit, Recht und Schönheit, sind Elemente, „ideale Attribute des Lebens und der schöpferischen Menschheit". Der Sinn des Lebens hänge primär nicht von seiner Dauer, sondern von seinem Inhalt und seiner Intensität ab: „Der Höhepunkt des Lebens, das höchstmögliche Maß des Daseins ist charakterisiert durch ein Gefühl der Fülle, der überströmenden Macht, der Offenheit für andere, die Nähe zu ihnen; man spürt, daß man die gesteckten Ziele erreicht hat, man erlebt zugleich die volle Selbsterfüllung und Selbstverwirklichung. Fülle und Reichtum dieses Erlebnisses sind so stark, daß das Nichts, die Leere, zeitweise völlig verschwindet. Vor der Liebe, dem schöpferischen Elan, der Entdeckung einer großen, bedeutenden Wahrheit, vor der Schönheit der Natur und der Kunst, dem Gefühl der Brüderlichkeit in einer menschlichen Gemeinschaft, die sich für ein gemeinsames Ideal engagiert -— vor diesen Dingen verschwindet die Sorge, die Furcht vor dem Tode, die Langeweile und Leere, das Gefühl des Mangels und der Leere." *

Markovic betont, daß ein reiches, intensives, sinnerfülltes Leben nicht ohne Ideale möglich sei, obwohl sich selbst im günstigsten Falle Ideale nur partiell verwirklichen lassen. Wesentlicher als die vollkommene Realisierung eines Ideals erscheint ihm jedoch der Mut, die Leidenschaft, Intensität und Wachsamkeit der Menschen, die sich dafür engagieren. Im Gegensatz zu Kangrga, der den Sinn des Lebens in der Revolution und damit in der Verneinung des Bestehenden findet, ist Markovic der Auffassung, daß etwas Unmenschliches im Maß gegen alles Gegenwärtige liege. Wie aber kann der Mensch der Gefahr entgehen, sich mit der bestehenden Welt voreilig zu versöhnen? „Die Lösung dieses Dilemmas erfordert eine der schwierigsten Synthesen, die der menschliche Geist zu schaffen imstande ist: eine Synthese der Liebe und der Revolte, der Ruhe und der Unruhe, der Ordnung und der Unordnung, der Tradition und des schöpferischen Neuen. Jede Epoche muß diese Synthese leisten. Ohne sie hätten wir keinen Grund zu der Annahme, daß die Zukunft besser sein wird als die Gegenwart."

III.

Wenn wir die verschiedenen marxistischen Stellungnahmen aus Polen, der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Jugoslawien miteinander vergleichen, lassen sich, mit dem Mut zu einiger Vereinfachung, zwei prinzipiell verschiedene Konzeptionen unterscheiden. Die eine statuiert einen universalen, objektiv aufweisbaren Sinn der Geschichte und erklärt, daß die Menschen um so sinnvoller leben, je mehr sie sich im Einklag mit diesem objektiven Sinn befinden. Inhaltlich wird der Sinn des Lebens bestimmt als aktive Teilnahme am Kampf gegen Ausbeutung und Not, als Tätigkeit im Dienste des sozialen Fortschritts, konkret: als Hingabe an den Aufbau des Kommunismus. Es ist offenkundig, daß dieser sozial-ethische Rigorismus auf eine Selbstverleugnung und Funktionalisierung des Individuums hinausläuft, dem zugemutet wird, den Sinn seines Lebens in der Aufopferung für ein künftiges ideales Kollektiv zu finden. Neben der Bedeutung des individuellen Lebens für die Gesellschaft kommt die Bedeutung des individuellen Lebens für das Individuum selbst zu kurz. Diese Konzeption, die vor allem von sowjetischen Autoren vertreten wird, hat insofern apologetisch-dogmatischen Charakter, als sie menschliches Sinn-Verlangen, unter überspringung des subjektiven Moments So-73) wie konkreter Nahziele, auf einen abstrakten „gesellschaftlichen Fortschritt" oder auf die „Interessen des Volkes" verweist, die ihrerseits jeweils von der einen herrschenden kommunistischen Partei verbindlich definiert werden. Ungeklärt läßt diese Sinn-Auffassung die Frage nach dem Verhältnis von Zielen und Mitteln: Wie ist es möglich, daß Uniformität in Vielfalt, Zwang in Freiheit, Terror in Humanität umschlägt? Was für ein Ziel kann das sein, wenn zu seiner Verwirklichung ihm ganz entgegengesetzte Mittel angewandt werden? Können noch so erhabene Ziele anders gerechtfertigt werden als durch die Art der zu ihnen führenden Mittel, die gleichsam die Ziele im Vollzug ihrer Realisierung darstellen?

Im Gegensatz zu dem vor allem von sowjeti-schen Autoren vertretenen Sinn-Objektivismus steht eine Philosophie, der sich Sinn nicht als eine dem Individuum von außen, von einer hypostasierten Gesellschaft auferlegte Funktion, sondern als das Werk schöpferischer Freiheit darstellt. Sinn wird gewählt und geschaffen, nicht aus einem geschichtsphilosophischen Fahrplan abgelesen und fatalistisch vollstreckt. Sinn ist im Leben in dem Maße aufzuweisen, als es den Menschen gelingt, die Grundlagen von Entfremdung, Unmündigkeit und Ausbeutung im gesellschaftlichen Bereich abzubauen und bereits im Hier und Jetzt Raum für das zu schaffen, was menschliche Selbsterhaltung und Selbstbehauptung transzendiert: für die „menschliche Kraftentwicklung, die sich Selbstzweck ist" Keineswegs ist Sinn-Verwirklichung durch irgendwelche historische Determinismen garantiert, etwa in der Weise, daß die durch Entfaltung der Produktivkräfte vor-angetriebene geschichtliche Entwicklung auf einem bestimmten Punkt notwendig zum Reich der Freiheit führe. Es läßt sich nur die prinzipielle Möglichkeit eines menschlich sinnvollen Lebens aus einer Grundstruktur der Geschichte ableiten und diese Grundstruktur ist eben die Praxis als freie schöpferische Aktivität des Menschen. Praxis ist frei, da sie nie restlos durch objektive Bedingungen determiniert ist, und sie ist schöpferisch, da sie qualitativ Neues zu schaffen vermag. Als frei und schöpferisch ist aber Praxis nicht länger identisch mit Arbeit, mit der produktiven Eroberung und Umwandlung der Natur zwecks Befriedi-gung menschlicher Bedürfnisse Praxis ist mehr als poiesis, als zweckrational-instrumentales Handeln, das sich philosophisch als Mensch-Ding-Verhältnis erweist. Diese Sinn-Konzeption hat eine kritisch-emanzipatorische Funktion, und nicht zufällig wird sie vornehmlich von Autoren vertreten, die sich gegen einen etatistisch-bürokratischen Sozialismus wenden und für einen Sozialismus gesellschaftlicher Selbstverwaltung eintreten.

Unleugbar sind diesem philosophischen Ansatz, so sehr er vor allem vom jungen Marx inspiriert ist, Tendenzen immanent, die auf eine Selbstrelativierung des Marxismus hinzielen, wie sie sich etwa auch in dem erstaunlichen Interesse zeitgenössischer jugoslawischer Marxisten an Nietzsche manifestiert. Wenn nämlich das Streben nach menschlicher Sinnverwirklichung zunehmend von der Sphäre der Arbeit in jenes Reich verwiesen wird, das erst jenseits der materiellen Produktion beginnt, so ist dies sicherlich eine Konsequenz der Tatsache, daß die Aufhebung des Privateigentums allein Entfremdung nicht aufzuheben vermag und die Abschaffung der Arbeitsteilung nicht möglich ist. Soll aber bei fortbestehender — wenngleich eventuell gemilderter und reduzierter — Entfremdung in der Sphäre der Produktion der Sinn des menschlichen Lebens sich erfüllen in Schöpfertum, Dialog und Liebe, in der Welt ästhetischer Kreation und Rezeption, dann ist eine solche Verlagerung der Sinn-Thematik in eine Dimension, die Marx eindeutig zum „überbau", zur „Ideologie" im weitesten Sinne geschlagen hätte, nur insofern annehmbar, als die alte marxistische These aufgegeben wird, daß die ökonomische Basis den überbau bedinge, daß diese das Primäre, jener das Sekundäre sei. Denn wie sollte sonst in der Welt des Über-baus Freiheit und Sinn möglich sein, wenn dieser überbau von einer Basis bestimmt wird, die unfrei und sinnwidrig ist? Soll das Reich der Freiheit jenseits der Sphäre der Produktion aufblühen, dann muß vorausgesetzt werden, daß diesem „Jenseits" eine relativ starke Autonomie zukommt. Wird aber diese Autonomie im Hinblick auf die sozialistische Gesellschaft zugestanden, dann kann kaum bestritten werden, daß auch die überbauten vorsozialistischer Gesellschaften von der jeweiligen Basis zumindestens pariell unabhängig sind, daß sie einen Überschuß enthalten, der klassentranszendent, nicht bloß falsches Bewußtsein ist. Ist der überbau jedoch nicht nur unwahre Ideologie, sondern vielmehr möglicher Raum des Reiches der Freiheit, dann gibt es auch einen sinnvollen Dialog mit dem in Mythos, Kunst, Recht, Religion, Philosophie usw. enthaltenen Erbe vergangener Klassengesellschaften, dann muß der Sozialismus, der als Kritik der Überlieferung angetreten ist, zugleich darauf bedacht sein, die Überlieferung des Kritisierten nicht abreißen zu lassen. Dieses Motiv ist für die Ästhetik von Georg Lukäcs ebenso maßgebend geworden wie für die Hoffnungsphilosophie von Ernst Bloch, nachdem schon Marx danach gefragt hatte, woran es wohl liege, daß das griechische Epos, obwohl Produkt längst vergangener gesellschaftlicher Verhältnisse, auf uns einen „ewigen Reiz" ausübe Es scheint, daß der Marxismus auch auf seiner Suche nach dem Sinn des menschlichen Lebens sich zunehmend Erfahrungen, Einsichten und Denkweisen wird nähern müssen, die er einmal voreilig als ideologischen überbau und falsches Bewußtsein abgetan hat. Der Marxismus ist primär eine Theorie der Geschichte und der Arbeit. Er mag die notwendigen — nicht die zureichenden — Bedingungen ökonomischer und gesellschaftlicher Art formulieren, die es dem Menschen gestatten, ein Leben zu führen, das immer weniger von der Nötigung fremdbestimmter Arbeit, von Mangel und Unterdrückung gezeichnet ist. Es läßt sich nicht leugnen, daß auf dem erreichten Niveau gesellschaftlicher Entwicklung ein sinnvolles Leben nicht ohne solche elementare Voraussetzungen gedacht werden kann. Das einzige Übel jedoch, das man durch Freizeit beseitigen kann, ist das der Arbeit. Freizeit ist der Raum, in dem Menschen sich jenen Gedanken und Werken zuwenden können, ohne die ein Leben nur ein sinnloser Übergang von einem Nichts zum anderen bleibt. Mit anderen Worten: Der Marxismus erinnert an die triviale, nichtsdestoweniger oft verdrängte Wahrheit, daß die notwendigen Lebensrnittel gesichert sein müssen, bevor die Menschen sich der Frage und Gestaltung des Lebens-sinns widmen können; er vermag auch mit Hilfe seiner ideologiekritischen Methode bestimmte Sinngebungen als falsches Bewußtsein zu entlarven; er betont mit Recht, daß niemand mit einem fertigen Sinn des Lebens geboren wird, daß dieser vielmehr von uns erst dem Leben verliehen werden muß.

An diesem Punkt enden jedoch die Möglichkeiten des Marxismus, aus sich selbst heraus die Sinn-Frage zu beantworten. Diese Grenze ergibt sich aus seiner einseitig am arbeitenden, am produzierenden Menschen orientierten Anthropologie. Doch weder der homo faber noch der homo sapiens, weder der homo prac-ticus noch der homo theoreticus noch die Einheit beider bilden den ganzen Menschen. Fragwürdig ist auch die einseitige Betonung des Schöpferischen im menschlichen Wesen, in der wohl das seit Ludwig Feuerbach bekannte Motiv nachwirkt, die Attribute des jüdisch-christlichen Schöpfergottes dem emanzipierten Menschen zu übertragen. Der Mensch ist keineswegs nur Schöpfer, und unabsehbar wären die Möglichkeiten neuer Entfremdung, stünde er unter dem Zwang, permanent schöpferisch sein zu müssen. Unschwer lassen sich bourgeoishafte Züge in diesem Menschenbild nadi-weisen, Reminiszenzen bildungsbürgerlicher Vorlieben für den Titanismus der Renaissance und Beethovens etwa. Vieles davon ist Kompensation für versagte Erfüllung im eigenen Beruf-, auch elitärer Dünkel, der sich vom amusischen Spießer abzusetzen wünscht, so wie die Nationalsozialisten zwischen schaffendem und raffendem Kapital unterschieden (letzteres war das jüdische). Wo bleibt neben dem Schöpfer und Arbeiter der Heilige, der Prophet, der Seher, der Mystiker? Wo bleibt der träumende, der spielende, der feiernde und festlich gestimmte Mensch? Wo bleibt der liebende, der liebensfähige und liebenswürdige Mensch? Uns scheint, daß diese Möglichkeiten menschlichen Ausdrucks weder auf Praxis zurückzuführen noch als defiziente, entfremdete Weisen von Praxis zu begreifen sind.

Hinzu kommt die auch von den kritischen Marxisten noch kaum bedachte Möglichkeit des „Bösen" in der menschlichen Natur — theologisch gesprochen: die Erbsünde. Es ist nicht abzusehen, wie dieses Potential in einer klassenlosen Gesellschaft verschwinden soll. In dieser Hinsicht dürfte Freud wirklichkeitsgerechter gedacht haben als die Marxisten, wenn er in seinem Spätwerk „Das Unbehagen in der Kultur" (1930) schreibt: „Mit der Aufhebung des Privateigentums entzieht man der menschlichen Aggressionslust eines ihrer Werkzeuge, gewiß ein starkes, und gewiß nicht das stärkste. An den Unterschieden von Macht und Einfluß, welche die Aggression für ihre Absichten mißbraucht, daran hat man nichts geändert, auch an ihrem Wesen nicht. Sie ist nicht durch das Eigentum geschaffen worden ..."

Andre Breton, der stark von Freud beeinflußte Schöpfer des Surrealismus, gibt in seinem Buch „Entretiens" einen Dialog zwischen Diego Rivera, Leo Trotzki und ihm wieder: „Ich erinnere mich noch, wie Trotzki eines Abends explodierte, als wir in einer lautstarken Diskussion darüber spekulierten, daß es, wenn einmal die klassenlose Gesellschaft bestünde, neue, nicht-ökonomische Anlässe für blutige Auseinandersetzungen geben könnte ..." Die seitherigen Erfahrungen haben nur zu deutlich gezeigt, wie sehr Trotzkis Abneigung, sich eine von Konflikten erfüllte sozialistische Gesellschaft vorzustellen, auf einer revolutionären Lebenslüge beruhte. „Der Mensch besitzt wesentlich mehr Anlage zu Irrationalismus, Versklavung und Unterwerfung, Aggressivität und Destruktion, als Marx glaubte. In unserem Jahrhundert ist es zur größten Explosion des menschlichen Bösen gekommen . . . Eine Philosophie, die auf dem Niveau der neuesten Geschichte stehen will, muß einen Platz für die Unmenschlichkeit aufsparen. Optimistisch ausgedrückt: die Philosophie kann nur die relative, nie aber die absolute Humanisierung antizipieren." Diese Sätze des jugoslawischen Marxisten Svetozar Stojanovic lassen vermuten, daß die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens auch im Marxismus allmählich in einem viel weiteren Bezugsrahmen gestellt werden wird.

Ernst Bloch, dessen Hoffungsphilosophie Materialismus und Gnosis, goldenes Zeitalter, blaue Blume und rote Fahne zusammenzudenken unternimmt, hat schon vor Jahrzehnten eine „neue marxistische Kosmologie" gefordert, da sonst die marxistische Anthropologie ohne Fundament sei. Im Zusammenhang mit der Sinn-Frage ist dieses Postulat insofern von besonderer Bedeutung, als Friedrich Engels — fast gleichzeitig mit Nietzsche — den Kosmos als ewigen Kreislauf interpretiert hat und diese Auffassung nach wie vor einen Bestandteil des offiziellen Diamat ausmacht.

Engels schreibt: „Es ist ein ewiger Kreislauf, in dem die Materie sich bewegt, ein Kreislauf, der seine Bahnen wohl erst in Zeiträumen beendet, für die unser Erdenjahr kein ausreichender Maßstab mehr ist, ein Kreislauf, in dem die Zeit der höchsten Entwicklung, die Zeit des organischen Lebens und noch mehr die des Lebens selbst und naturbewußter Wesen ebenso knapp bemessen ist wie der Raum, in dem Leben und Selbstbewußtsein zur Geltung kommen ... Aber wie oft und wie unbarmherzig auch in Zeit und Raum dieser Kreislauf sich vollzieht, wieviel Millionen Sonnen und Erden auch entstehen und vergehen mögen, wie lange es auch dauern mag, bis in einem Sonnensystem nur auf einem Planeten die Bedingungen des organischen Lebens sich herstellen, wie zahllose organische Wesen auch vorhergehn und vorher untergehn müssen, ehe aus ihrer Mitte sich Tiere mit denkfähigem Gehirn entwickeln und für eine kurze Spanne Zeit lebensfähige Bedingungen vorfinden, um dann auch ohne Gnade ausgerottet zu werden — wir haben die Gewißheit, daß die Materie in allen ihren Wandlungen ewig dieselbe bleibt, daß keines ihrer Attribute je verlorengehen kann und daß sie daher auch mit derselben eisernen Notwendigkeit, womit sie auf der Erde ihre höchste Blüte, den denkenden Geist, wieder ausrotten wird, ihn anderswo und in anderer Zeit wieder erzeugen muß."

Welchen Ort hat gesellschaftlicher Fortschritt und individueller Lebenssinn in einem derartigen Universum, das gnadenlos in ewiger Wiederkehr rotiert? Engels selbst freilich konnte diese an vorsokratische Naturphilosophie gemahnende Vision eines sinnlosen Kosmos ertragen, ohne deshalb in Verzweiflung, Melancholie oder Zynismus zu verfallen. Insofern kann ich Arnold Buchholz nicht zustimmen, wenn er bedingungslos erklärt, ein denkender Mensch könne in einer Welt a lä Engels nur in tiefer Resignation leben. Wenn Engels wie andere vor und nach ihm ein sinnleeres, einer transzendenten Sinngarantie bares Universum denken konnten, ohne zu resignieren, dann wohl aufgrund eines sie bergenden Lebensgefühls, das aus außerrationalen Quellen gespeist wird und einen Lukrez am Beginn seines materialistischen Lehrgedichts Venus, „die Spenderin jeglicher Lust, Verleiherin jeglicher Anmut", preisen ließ oder einen strikten Positivisten wie Moritz Schlick zu dem lapidaren Satze drängte: „Der Sinn des Lebens ist die Jugend.“

Wir dürfen die Vermutung wagen, daß auch ein großer Teil metaphysischer Sinngebungen inspiriert wird von jenen Quellen, die uns immer wieder zum Leben, zur Lust am Leben verführen. Was meint die Anrufung der Göttin der Schönheit, das Zusammensehen von Jung-sein und Lebenssinn bei den erwähnten Antimetaphysikern anderes als den Ausblick auf ein Dasein, das nicht mehr unter dem Zwang steht, einzig Mittel zu seiner Erhaltung zu sein, sondern sich jenseits der Herrschaft äußerer Zwecke zu entfalten vermag? Große Metaphysiker haben von jeher im Grunde dasselbe gesagt. Etwa Platon, der dafürhielt, die Menschen sollten Spiel, Gesang und Tanz als wahren Gottesdienst zum Inhalt eines festlichen Lebens machen und Baader mit seiner mystischen Gewißheit, daß „die Begriffe der Jugend, der Unsterblichkeit und der Integrität des Seins ineinanderfallen"

In einer Zeit, da Institutionen wie Kirche, Staat, Beruf und politische Parteien ihrer lebenssinnstiftenden Kraft weitgehend verlustig gegangen sind, kommt es mehr denn je darauf an, daß jene vitalen Quellen nicht verschüttet werden, als deren Zeugen wir sonst so weit voneinander entfernte Denker wie Platon und Lukrez, Baader und Schlick genannt haben. Wir wissen nie im voraus, ob das, was uns an Sinn gelingt, in wirklich kritischen Situationen bestehen wird, ob es dann nicht, wie das Paradies-Kleinod Alexanders, das alles Gold der Welt nicht aufzuwiegen vermochte, vom Staub des Irdischen berührt, leichter wiegt als eine Flaumfeder. Doch ist es heilsamer, jener Unsicherheit eingedenk zu sein, deren wir uns in dieser mittleren Region zwischen Himmel und Erde, wohin wir gestellt sind, ohnehin nicht entschlagen können, als der Lebenslüge absolut gesetzter Sinngebungen anzuhangen.

Eines sind die ökonomisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen menschenwürdigen Daseins, an die eindringlich erinnert zu haben ein dauerndes Verdienst des Marxismus bleibt, ein anderes ist das Glück eines sich selbst nicht als bare Leistung, sondern als Geschenk und Wunder erfahrenden Daseins, in dem wie in jenem mittelalterlichen Spruch aufblitzt, was Sinn des Lebens in einer stets rätselhaft bleibenden Welt meint:

Ich komme, ich weiß nicht woher, Ich bin, ich weiß nicht wer, Ich sterb', ich weiß nicht wann, Ich geh, ich weiß nicht wohin, Mich wundert’s, daß ich fröhlich bin.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Jürgen Habermas — Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt a. M. 1971; Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Wien 196012.

  2. Leszek Kolakowski, Der Mensch ohne Alternative. Von der Möglichkeit und Unmöglichkeit, Marxist zu sein, München 1960, S. 192.

  3. Noch 1961 konnte Arnold Buchholz schreiben, daß die „Sinnfrage" „weder bei den Klassikern des Marxismus noch in den großen philosophischen Lehrbüchern ... in umfassender Weise gestellt oder behandelt wird. Es bedarf schon spezieller Nachforschungen in der kommunistischen Literatur, um wenigstens eine annähernde Vorstellung von den Antworten oder Antwortmöglichkeiten des dialektischen Materialismus auf diese Frage zu bekommen" (Der Kampf um die bessere Welt. Ansätze zum Durchdenken der geistigen Ost-West-Rrobleme, Stuttgart 1961, S. 156).

  4. Vgl. dazu Hans Friedrich Steiner, Marxisten-Leninisten über den Sinn des Lebens. Eine Studie Sz. um 57 kff. ommunistischen Menschenbild, Essen 1970,

  5. Vgl. Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Vom Konkurrenten des Karl Marx zum Vorläufer Hitlers — ugen Dührinq, in: Karl Schwedhelm (Hrsg.), Propheten des Nationalismus, München 1969, S. 36— 55.

  6. Die Diskussion über den Begriff der Entfremdung, eines Zustandes, in dem „die eigene Tat des Menschen ihm zu einer fremden gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht" (Marx-Engels, Deutsche Ideologie, I. Teil), ist inzwischen unübersehbar geworden. „Entfremdung" und „Fremde" sind Urworte der Gnosis: so ist in den heiligen Schriften der noch heute in Mesopotamien verbreiteten Mandäer die Rede vom „fremden Leben", bei Markion vom „fremden Gott". Auch bei Augustinus findet sich der Begriff (alienatio). Bei Meister Eckhart findet sich der Begriff „peregrinatio", womit die Entfremdung der Seele von ihrer überirdischen Heimat gemeint ist. In der Neuzeit scheint er zuerst wieder bei Rousseau aufgetaucht zu sein. Er stellte fest, daß das Volk sich seinem eigenen Wesen entfremde, wenn es durch Deputierte vertreten werde. Die Staatsgewalt könne nicht in Vertretung ausgeübt werden; sie bestehe ihrem Wesen nach im Gemeinwillen, und dieser könne nicht übertragen werden. Der Wille ist „er selbst oder ein fremder, ein Mittelding gibt es nicht" (Contrat social). In der englischen Ökonomie von Adam Smith und James Mill bedeutet „alienation" die Veräußerung von Waren. Der Sache nach, wenn auch nicht terminologisch, ist von Entfremdung die Rede in Schillers Briefen „Uber die ästhetische Erziehung des Menschen" (bes. im 6. und 7. Brief). Uber Fichte, Hegel und Ludwig Feuerbach gelangte dann der Begriff zu Marx, der von der Abschaffung des Privateigentums und der Arbeitsteilung die Aufhebung aller Entfremdung erwartete. Die zentrale Bedeutung der Idee der Entfremdung bei Marx wurde, abgesehen vom jüngeren Georg Lukäcs (Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923), erst seit der Publikation der Frühschriften in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts zunehmend erkannt. Wahrscheinlich unabhängig von Marx ist Georg Simmel auf das Phänomen Entfremdung gestoßen, so, wenn er von der „immer wachsenden Fremdheit" zwischen dem Menschen und seinen sich von ihm trennenden Schöpfungen spricht. Vom parteioffiziellen Marxismus-Leninismus verpönt, steht die Entfremdungstheorie, vielfach ergänzt mit tiefenpsychologischen Anleihen, im Mittelpunkt aller neomarxistischen Schulen. Vgl. L. A. Coser, Entfremdung und Entfremdungstheorie, in: Wörterbuch der Soziologie, hrsg. von Wilh. Bernsdorf, Stuttgart 19692, S. 228- 232; Daniel Bell, Die Diskussion über die Entfremdung, in: Der Revisionismus, hrsg. von Leopold Labedz, Köln-Berlin 1965, S. 295- 319; Ernst Topitsch, Entfremdung und Ideologie, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschaftsund Gesellschaftskritik 1964, S. 139- 159; Heinrich Popitz, Der enfremdete Mensch, Basel 1953; Joseph Gabel, Formen der Entfremdung. Aufsätze zum falschen Bewußtsein, Frankfurt a. M. 1964; Erich von Kahler, Entfremdung, in: Neue Deutsche Hefte, Nr. 84 (Dezember 1961); Friedrich Tomberg, Der Begriff der Entfremdung in den „Grundrissen" von Karl Marx, in: Das Argument, H. 52, Juni 1969, S. 187- 223; Werner Schöllgen, Entlastung oder Entfremdung, in: Hochland, H. 2 (Dezember 1965), S. 101- 119; T. I. Oisermann, Die Entfremdung als historische Kategorie, Berlin (Ost) 1965; Paul Kägi, Genesis des historischen Materialismus. Karl Marx und die Dynamik der Gesellschaft, Wien 1965, S. 56 ff., 109 ff„ 192 ff., 197 ff., 231 ff., 244 ff., 260 ff„ 293 ff., 371 L; Friedrich Müller, Entremdung. Zur anthropologischen Begründung der Staatstheorie bei Rousseau, Hegel und Marx, Berlin-München 1970; Leo Kofler, Die Entfremdung des Arbeiters, in: Periodikum für wissenschaftlichen Sozialismus, H. 2 (Dezember 1958), S. 15- 32; Adam Schaff, Zum Problem der Entfremdung, in: Weg und Ziel, H. 12 (Dezember 1966), S. 658- 671; Hans Barth, über die Idee der Selbstentfremdung des Menschen bei Rousseau, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 13. Jg., H. 1 (1959); Paul Tillich, Entfremdung und Versöhnung im modernen Denken, in: Eckart, 26. Jg., H. 2 (1957), S. 99- 109; Arnold Gehlen, Die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung, in: Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied-Berlin 1963, S. 232- 246; Peter Christian Ludz, Der politische Aspekt der Entfremdung, in: Osteuropäische Rundschau, H. 5 (Mai 1965), S. 3- 11; Oskar Schatz, Entfremdung als anthro-pologisches Problem, in: Salzburger Philosophisches Jahrbuch 1967, S. 215- 258.

  7. Vgl. Karl Marx — Friedrich Engels, Werke, Ergänzungsband (Schriften — Manuskripte — Briefe bis 1844), erster Teil, Berlin (Ost) 1968 S. 536 (ökonomisch-philosophische Manuskripte, 1844).

  8. Vgl. auch Friedrich Engels: „Indem die Arbeit geteilt wird, wird auch der Mensch geteilt. Der

  9. Karl Marx — Friedrich Engels, a. a. O., Anm. 7 S'544.

  10. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 387 f. Vgl. dazu Rudi Supek, Soziologie und Sozialismus. Probleme und Perspektiven, Freiburg i. Br. 1970, S. 213 ff.

  11. Vgl. dazu Branko Despot, Revolution der Arbeit, n: Praxis, internationale Ausgabe, Zagreb 1969, H 1/2, S. 162 f. j Gajo Petrovi, Wider den autoritären Marxismus, Frankfurt a. M. 1969, S. 38 ff., 63 74 ff.

  12. Vgl. dazu Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a. M. 1968, S. 36 ff., 59 ff., insbes. 71 ff.

  13. Vgl. die Belege bei Helmut Fleischer, Marxismus und Geschichte, Frankfurt a. M. 19703, S. 33 ff. Zu Marx'„historischem Determinismus", der im Widerspruch steht zu seiner Vision vom schöpferisch-praktischen Menschenwesen s. auch Svetozar Stojanovic, Kritik und Zukunft des Sozialismus, München 1970, S. 144 ff.

  14. Arnold Künzli, Karl Marx. Eine Psychographie, Wien 1966, S. 596, vgl. auch S. 766 ff., 770 ff.

  15. Vgl. etwa Karl Marx, Das Kapital, Bd. 3, Berlin 1953, S. 873 f.; dazu: Arnold Künzli, a. a. O., Anm. 14, S. 775 ff., und Julius I. Löwenstein, Vision und Wirklichkeit. Marx contra Marxismus, Tübingen 1970, S. 90 ff.

  16. Vgl. Karl Marx — Friedrich Engels, a. a. O., Anm. 7, S. 557.

  17. Vgl. Robert C. Tucker, Karl Marx. Die Entwicklung seines Denkens von der Philosophie zum Mythos, München 1963, S. 246— 266, und Arnold Künzli, a. a. O., Anm. 14, S. 617— 621.

  18. Karl Marx — Friedrich Engels, Werke, Berlin (Ost) 1958 ff., Bd. 3, S. 33 (Die deutsche Ideologie).

  19. Vgl. dazu Ernst Topitsch, Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, Neuwied-Berlin 19662, S. 261 ff., ders. Mythos — Philosophie — Politik. Zur Naturgeschichte der Illusion, Freiburg i. Br. 1969, S. 101 ff., 154 ff.

  20. Vgl. Gajo Petrovic, Wider den autoritären Marxismus, Frankfurt a. M. 1969, S. 82 ff., 144 ff.

  21. Vgl. Adam Schaff: „Die Entfremdung existiert also auch in der sozialistischen Gesellschaft ... Der Idealtyp des Menschen der kommunistischen Epoche ist der aus der Macht der Entfremdung befreite Mensch, der totale Mensch. Wenngleich dieser Menschentyp unerreichbar ist, so kann und soll man ihm doch zustreben .. . Man darf nicht die Augen vor der Wirklichkeit verschließen und mit dogmatischem Glauben verkünden, die neue Ordnung sei die Erfüllung einer Gesellschaft ohne Entfremdungen, in ihr sei die Entfremdung ex definitione unmöglich" (Marxismus und das menschliche Individuum, Reinbek 1970, S. 99). Vgl. auch Svetozar Stojanovic: „Man kann durchaus sagen, der Mensch sei zu einer Zweiheit, zum Gegensatz von humanen und inhumanen Potenzen, verurteilt. Der Gegensatz von Wesen (im Marx-sehen Sinn) und Existenz gehört zum Wesen des Menschen ... Heute findet man die größte und bedeutendste Entfremdung nicht in der Produktion der Mittel für das Leben, sondern für den Tod .Ein Zyniker würde sagen, die endgültige Aufhebung der Entfremdung könne mit ihrem Triumph zusämmenfallen" (a. a. O., Anm. 13, S. 27, 39).

  22. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1966, S. 190.

  23. Vgl. zu diesem ganzen Gedankengang auch Michael Landmann, Plädoyer für die Entfremdung, in: Praxis, internationale Ausgabe, Zagreb 1969, H. 1/2, S. 134 ff., bes. 147 ff., und Reimar Lenz, Der neue Glaube. Bemerkungen zur Gesellschaftstheologie der jungen Linken und zur geistigen Situation, Wuppertal-Barmen 19702, S. 49— 52.

  24. Vgl. Leszek Kolakowski, Der Mensch ohne Alternative, a. a. O., Anm. 2, S. 191— 215. Zur Biographie und philosophischen Entwicklung Kolakowskis vgl. Günter Bartsch, Kolakowski — der ausgestoßene Reformator, in: Politische Studien, H. 173, München Mai/Juni 1967, S. 293— 296, und Gesine Schwan, Leszek Kolakowski. Eine marxistische Philosophie der Freiheit, Stuttgart 1971. Vgl. außerdem Martin Greiffenhagen, Das Gute und der gesellschaftliche Fortschritt im Marxismus Kolakowskis, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik, 1965, S. 284— 297.

  25. Vgl. Dieter Lau, Um die Nachfolge Adornos. Frankfurter Studenten lehnen den Polen Kolakowski ab, in: Die Welt, Nr. 58. 10. März 1970, S, 19.

  26. Leszek Kolakowski, Der Mensch ohne Alternative, a. a. O., Anm. 2, S. 191; vgl. auch S. 207: „In der menschlichen Welt taucht die Reflexion über den Sinn des Lebens immer dann auf, wenn das abstrakte Denken von der menschlichen Arbeit getrennt ist und eine eigene Welt schafft, die dem täglichen Leben entfremdet ist."

  27. Ebenda, S. 195.

  28. Ebenda, S. 196.

  29. Ebenda

  30. Ebenda, S. 197.

  31. Ebenda, S. 200.

  32. Ebenda, S. 203 f.

  33. Ebenda, S. 205 und 209.

  34. Ebenda, S. 206 f. Vgl. S. 209 f.

  35. Ebenda, S. 210 ff.

  36. Ebenda, S. 215.

  37. Leszek Kolakowski, Traktat über die Sterblich-Keit der Vernunft. Philosophische Essays, München 1967, S. 89.

  38. Ebenda, S. 92.

  39. Ebenda, S. 102 ff.

  40. Ebenda, S. 117.

  41. Ebenda, S. 118, 120.

  42. Vgl. Leszek Kolakowski, Der Mensch ohne Alternative, a. a. O., Anm. 2, S. 280.

  43. N. Janzen, Vom Sinn des menschlichen Lebens, dt. in: Die Presse der Sowjetunion, Sonderbeilage, 4. Dezember 1959, 11. Dezember 1959, 26. Februar 1960, 19. August 1960. — Das Zitat stammt aus dem ersten Teil des Abdrucks.

  44. W. P. Tugarinow, über die Werte des Lebens und der Kultur, Berlin (Ost) 1962, S. 53.

  45. Ebenda, S. 120 f.

  46. Ebenda, S. 55.

  47. W. P. Tugarinow, O smysle izni (über den Sinn des Lebens), Leningrad 1961, S. 6.

  48. W. P. Tugarinow, über die Werte .... a. a. O., Anm. 44, S. 56.

  49. P. M. Egides, Marksistskaja etika o smysle zizni (Die marxistische Ethik über den Sinn des Lebens), in: Voprosy filosofii (Fragen der Philosophie), Moskau 1963, H. 8, S. 27.

  50. Ebenda, S. 31.

  51. Ebenda, S. 30 f.

  52. Vgl. dazu Hans Friedrich Steiner, a. a. O., Anm 4, S. 136 ff., 205 ff.

  53. G. K. Gumnickij, Smysl zizni, scast'e moral'(Sinn des Lebens, Glück und Moral), in: Voprosy filosofii, Moskau 1967, H. 5, S. 102— 105. Vgl. dazu auch Siegfried Müller-Markus, Der Aufstand des Denkens. Sowjetunion zwischen Ideologie und Wirklichkeit, Düsseldorf-Wien 1967, S. 338— 340.

  54. Vgl. dazu auch Iring Fetscher, Karl Marx und der Marxismus, München 1967, S. 259 ff., und Rudi Supek, Soziologie und Sozialismus, Freiburg i. Br. WO, S. 59 ff., 79 ff.

  55. P. M. Egides, Osnovnoj vopros etiki tak nlosofskoj nauki i problema nravstvennogo otudenija (Die Grundfrage der Ethik als philosophisciier Wissenschaft und das Problem der sittlichen Entfremdung), in: G D Bandzeladze (Hrsg.),

  56. Vgl. Milan Machovec, Vom Sinn des mensch-lichen Lebens, Freiburg i. Br. 1971.

  57. Ebenda, S. 22, 25.

  58. So Hans Jürgen Steiner, Marxisten-Leninisten über den Sinn des Lebens, a. a. O., Anm. 4, S. 188.

  59. Dies ist auch das Urteil von Friedrich Weigend, Überlegungen, den Sozialismus angenehm zu ma-

  60. Milan Machovec, a. a. O., Anm. 56, S. 205.

  61. Ebenda, S. 207.

  62. Ebenda, S. 207 ff.

  63. Ebenda, S. 212.

  64. Ebenda, S. 216.

  65. Ebenda, S. 217.

  66. Ebenda, S. 223.

  67. Ebenda, S. 225.

  68. Ebenda, S. 226, 228 f.

  69. Ebenda, S. 230.

  70. Inzwischen sind in deutsch zwei Anthologien erschienen, die einen Einstieg in das Denken dieser Philosophen ermöglichen: Gajo Petrovi (Hrsg.), Revolutionäre Praxis. Jugoslawischer Marxismus der Gegenwart, Freiburg i. Br. 1969; Rudi Supek, ranko Bosnjak (Hrsg.), Jugoslawien denkt anders. Marxismus und Kritik des etatistischen Sozialismus, Wien 1971, Vgl. ferner: Rudi Supek, Soziolo26 und Sozialismus. Probleme und Perspektiven, rburg i. Br. 1970; Svetozar Stojanoviö, Kritik hu Zukunft des Sozialismus, München 1970; Gerdaus Kaltenbrunner, Jugoslawisches Philosophieren der Gegenwart, in: Die Tat, Nr. 32, Zürich, 7. Februar 1970, S. 33; Predrag Vranicki, Der augenblickliche Stand der ideologischen Diskussion in Jugoslawien, in: Marxismusstudien, 5. Folge, Tübingen o. J. (DeAutor skizziert die Entwicklung bis 1962).

  71. Gajo Petrovi, Wider den autoritären Marxismus, a. a. O., Anm. 20, S. 183 f.

  72. Vgl. Milan Kangrga, Der Sinn der Marxschen Philosophie, in: Gajo Petrovic (Hrsg.), a. a. O., Anm. 70, S. 66, 67, 68. Vgl. dazu auch Branco Bosnjak, Betrachtungen über die Praxis, in: Rudi Supek, Branko Bosnjak (Hrsg.), a. a. O., Anm. 70, S. 13— 32.

  73. Vgl.. Mihailo Markovic, Ideale, Möglichkeiten, Wirklichkeit, in: Gajo Petrovic (Hrsg.), a. a. O" Anm. 70, S. 34— 49.

  74. Dies sind auch die Einwände des jugoslawischen Marxisten Danko Grlic gegen eine „eschatolo-gishe" Sozialismus-Auffassung. Vgl. D. Grlic, Sozialismus und Kommunismus, in: Praxis, inter-S" 1n 0ae Ausgabe, 1. Jg., H. 2/3, Zagreb 1965,

  75. Karl Marx — Friedrich Engels, Werke. Berlin l°st) 1958 ff., Bd. 25 (Kapital, B± 3), S. 828.

  76. Zu der These, daß Marx Arbeit und Praxis weitestgehend gleichsetzt, vgl. oben S. 7, ferner Mihailo Djuric, Praxis, Arbeit und Handeln, in: Praxis, internationale Ausgabe, 8. Jg., H. 1/2, Zagreb 1971, 101— 107.

  77. Zit. in: Das Unbewußte, Schriften zur Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1960, S. 385 f.

  78. Vgl. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (geschrieben 1857/58), Bd. 1, Moskau 1939, S. 31.

  79. Ebenda, Anm. 70, S. 32.

  80. Friedrich Engels, Dialektik der Natur, Berlin. 1952, S. 27 f.

  81. Vgl. Moritz Schlick, Vom Sinn des Lebens, Sonderdrucke des „Symposion", H. 6, Berlin 1927, S. 346.

  82. Nomoi, 803 c.

  83. Franz von Baader, Sämtliche Werke, Leipzig 1851— 1860, Bd. 14, S. 33.

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Gerd-Klaus Kaltenbrunner, geboren 1939 in Wien, studierte dort Rechts-und Staatswissenschaften. Seit 1962 als Verlagslektor tätig. Veröffentlichungen: Franz von Baader: Sätze aus der erotischen Philosophie und andere Schriften, Frankfurt a. Main 1966 (als Herausgeber); August M. Knoll: Zins und Gnade. Studien zur Soziologie der christlichen Existenz, Neuwied — Berlin 1967 (als Herausgeber); Studien über Eugen Dühring, Houston Stewart Chamberlain, Arthur Moeller van den Bruck und Ludwig Klages, in: Propheten des Nationalismus (Hrsg. Karl Schwedhelm), München 1969; Hugo Ball: Zur Kritik der deutschen Intelligenz, München 1970 (als Herausgeber); Hegel und die Folgen, Freiburg i. Br. 1970 (als Herausgeber); Das Lustprinzip Revolution. Michail Bakunin und der Anarchismus, in: Wort und Wahrheit, Jg. 25 { 1970), H. 3, S. 248 bis 265; Rekonstruktion des Konservatismus, Freiburg i. Br. 1972 (in Vorbereitung, als Herausgeber).