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über die Ideologisierung der politischen Bildung | APuZ 10/1972 | bpb.de

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APuZ 10/1972 Artikel 1 über die Ideologisierung der politischen Bildung Politische Bildung in der Sackgasse? Kritische Anmerkungen zu dem Aufsatz von E. A. Roloff, Politische Bildung zwischen Ideologie und Wissenschaft, in: „Aus Politik und Zeitgeschichte" 41/71 Politische Didaktik als kritische Sozialwissenschaft

über die Ideologisierung der politischen Bildung

Hugo Andreae

/ 52 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Hugo Andreae: über die Ideologisierung der politischen Bildung

Die Frage nach der Rolle der Ideologie in der politischen Bildung kann eine gewisse Aktualität beanspruchen. Denn nach Jahren der „Entideologisierung" unserer Politik sind im politischen Leben der Bundesrepublik Tendenzen bemerkbar, die den Ideologien wieder ein größeres Gewicht geben. Dies ist nicht ohne Rückwirkung auf die politische Bildung oder doch mindestens auf die Diskussion der Fragen unserer politischen Bildung geblieben. Von den Problemen, die sich daraus ergeben, soll im folgenden die Rede sein — soweit sich darüber auf bemessenem Raum etwas Bündiges aussagen läßt.

Was kann gemeint sein, wenn von Ideologien gesprochen wird? Das Wort wird zunächst im weitesten Sinne verwandt werden, und es sollen alle Welt-und Lebensinterpretationen darunter verstanden sein, die sich nicht mit dem täglich Erforderlichen, mit dem Erfahrbaren und Praktizierbaren in Staat und Gesellschaft zufrieden geben — im allgemeinen Sinne also „pragmatisch" sind —, sondern die Welt nah ideellen Maßstäben werten, mit Idealbildern vergleichen und meistens auch danach umzugestalten gewillt sind. Wenn Ranke also von Napoleon gesagt hat, er habe sich in seiner Jugend an den Ideen der Französischen Revolution berauscht, sei dann aber bald ein „Verächter der Ideologien" geworden, so ist der Begriff hier in unserem Sinne verwandt.

Der Kundige erkennt, daß wir dabei über den Sinn hinausgehen, den einst Karl Marx — und später Karl Mannheim — dem Worte beigelegt hatten, als sie von der „bürgerlichen Ideologie" und dem „Ideologieverdacht" spra-

dien, daß aber das hier angewandte Verständnis das Marxsche mitumfaßt. Religionen, Konfessionen, Weltanschauungen, politische BeKenntnisse, Philosophien können also Ideologien werden, wenn sie nicht meditativen Charakter haben, sondern das Leben formen, die Menschen bekehren oder unterwerfen, die Welt umgestalten oder bewahren wollen.

Das Wesen der Ideologie ist damit noch nicht ausreichend bestimmt; es muß wohl noch ein Weiteres Kennzeichen angefügt werden. Trifft man den Wortgebrauch richtig, wenn man in er Politik Ideologien und Ideale unterscheidet und sagt, von Ideologien könne nur dann die Rede sein, wenn die auf die Lebensgestaltung gerichteten Tendenzen mit dem Anspruch auf apodiktische Geltung auftreten? In diesem Sinne jedenfalls soll das Wort im folgenden verwandt werden.

Die Aufforderung an die Philosophen, die Welt nicht zu „interpretieren", sondern zu „verändern", weist die Philosophie also auf diesen Weg, der jedoch andererseits dem erkenntniskritischen Skeptizismus und Relativismus, wie er seit Protagoras die Spur der Philosophen begleitet, versperrt bleibt. Fragt man nun -— und diese Frage wird für das Folgende wichtig werden — ob in den fünftausend Jahren Über-schaubarer Menschheitsgeschichte die Ideen-oder die Machtpolitik, vorgeherrscht habe und wodurch mehr Unheil über die Menschen gekommen ist, so muß man die Auskunft schuldig bleiben. Denn — um auf unser Beispiel zurückzukommen — wenn Napoleon der „Sohn der Revolution" genannt werden kann, ist dann das Unheil, das er über Europa gebracht hat, nicht eine mittelbare Folge der Ideologien? Und war es denn überhaupt auf große Sicht ein Unglück, und ist nicht das gleiche Verhängnis durch seinen großen Gegner Metternich über uns gekommen? Oder war Metternich historisch im Recht, als er den schwelenden Nationalismus austreten wollte, da er ahnte, welches Verhängnis diese Ideologie über das 19. und 20. Jahrhundert bringen würde?

Die Frage kompliziert sich, wenn man sie heute in globalem Zusammenhang aufwirft. Waren bis 1945 Deutschland und die UdSSR die ideologischen Großmächte, so ist diese Rolle zu-nächst den Sowjetrussen allein zugefallen, bis dann China auf den Plan trat und die Sowjetunion in eine neue Situation brachte. Sieht man es richtig, wenn man sagt, daß die Sowjetunion in einen Prozeß der Ernüchterung eingetreten ist? Wer nämlich koexistieren will und den Dogmatikern der Revolution „Revoluzzertum" vorwirft, wer erkennt, daß „ein Gulasch" dringlicher sei als die große Umwälzung, der ist auf dem Wege zum tellurischen „Pluralismus", auch wenn er noch so geflissentlich weiter seine Verpflichtung auf die reine Lehre beteuert.

Kann man überhaupt die Frage beantworten, ob die Welt seit 1945 in bezug auf die Ideologisierung oder Pragmatisierung fortgeschritten sei? — Eine Frage übrigens, die die Problematik des Begriffes „Fortschritt" ins Licht rückt. — Westeuropa, voran Deutschland, hat sich entideologisiert; von Osteuropa kann man dies nicht sagen. Afrika mit seinen jungen Nationalstaaten und die arabische Welt haben sich eher enthusiasmiert oder fanatisiert als ernüchtert. Die angelsächsische Welt, ohnehin zum Pragmatismus neigend, ist auf diesem Wege weiter vorangeschritten, desgleichen Japan. Aber was soll das besagen, wenn eine neue ideologische Macht von 800 Millionen Menschen auf den Plan tritt? Und was wäre von einer weiteren Ideologisierung für die Welt-situation zu befürchten und von einer Pragmatisierung zu erhoffen — oder umgekehrt? Und ist es im Hinblick auf unsere Frage von Gewicht, ob Ideologien mit partiellen Ansprüchen auftreten, wie etwa die nationalen Ideen, oder ob sie universeller Natur sind, wie die großen Religionen oder der Kommunismus, die Wahrheiten verkünden, die für alle Menschen gelten sollen? Niemand vermag darüber etwas Gültiges aussagen; wir bleiben aufs Fürchten und Hoffen verwiesen.

Bei der Entwicklung unserer Welt, speziell der Vorstellungen, die die Politik der Bundesrepublik beherrschen, fällt die Nüchternheit, der Wunsch, sich auf die Aufgaben des Tages und der Stunde zu beschränken, um so mehr ins Auge, wenn man diese Zeit mit den voraufgehenden Epochen vergleicht. Der Traum von imperialer Größe, von Weltmacht und Weltherrschaft, von der nationalen Sendung, der im Kaiserreich die Vorstellungen beherrschte; die Polarisierung der politischen Kräfte durch den jugendbewegten, lebensreformerischen „Idealismus" in den Tagen der Weimarer Republik, die exaltierten, bis zum Wahn gesteigerten Mißideen des Nationalsozialismus — von all den Träumen war nur Asche geblieben. Nun, aber, nach Jahren der Ernüchterung, der Arbeit für das Realisierbare, zeigen sich Tendenzen, die eine neue Ideologisierung an-künden. Dafür können mancherlei Ursachen angeführt werden, die alle nicht hinreichten, den Vorgang zu erhellen, wenn sie den Bilde nicht auf das Verhältnis der Generationen richten. würden. Die Jugend Westeuropas wächst, verglichen mit ihren Vätern, in einer ereignis-armen Zeit auf. Die Weltgeschichte hat sich andere Schauplätze gesucht. Mitteleuropa ist historisch erstarrt und illustriert Hegels Erkenntnis: „Die Tage des Glücks sind die leeren Blätter im Buche der Geschichte." Junge Menschen aber trachten nicht nur nach dem „Glück". Ihr Glück ist nicht selten die schöpferische Neugestaltung, das Wagnis, das Experiment, der Aufbruch zu, neuen Ufern — kein Dasein unter den Fittichen einer Generation, die so viel Experimente gemacht hatte, daß sie heute ängstlich ruft: „Nur keine Experimente!“, da sie unter dem Eindruck lebt: „Wir sind noch einmal davongekommen."

Dies aber ist nun die Lage des Erziehers, der der Generation der Überlebenden angehört. Wie weiland die aus dem Ersten Weltkrieg Heimgekehrten der Hitlerjugend sagten, sie wüßten ja nicht, was sie mit der Parole: „Und heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt" herausforderten, so sagt man der Jugend heute, daß die ersehnte große Umwälzung, die Weltrevolution, ihr frühes Grab bedeuten würde. Und so wenig man jenen Glauben schenkt, so gering ist heute die Neigung, diese Mahnungen zu beherzigen. Aber eine solche Parallelbetrachtung simplifiziert unzulässig. Die Hemmnisse, die dem großen welthistorischen Abenteuer entgegenstehen, sind heute größer als in jenen exaltierten Jahren, die Stabilisierungsflächen, die das Gegenwärtige im Gleichgewicht halten, breiter, die Zahl der jungen Menschen, die mitgerissen werden, geringer. Das Bedauern der Tatbereiten, daß wir in keiner revolutionären Situation lebten, daß die „affirmativen" Kräfte zu stark seien, zeugt von realistischer Einschätzung der Lage. Die Ungeduldigen müssen sich Beharrlichkeit auferlegen. Ihre Parole ist einstweilen die intellektuelle Demontage, die gänzlich unmarxistische Hoffnung, daß dermaleinst das „Bewußtsein" das „Sein" bestimmen könnte, da eines Tages das geistige Vakuum, das von ihnen beabsichtigt sei, mit Ideologien ge füllt werden könnte.

Der Stoß ins Zentrum

Bernhard Sutor:

Politische Bildung in der Sackgasse? ... S. 23 Ernst-August Roloff:

Politische Didaktik als kritische Sozialwissenschaft .......... S. 32

Nun hat sich erwiesen, daß der ideologische Einfallsreichtum der auf Neuerung Bedachten nicht groß, ja, geradezu kärglich ist. Die Phantasie war unterentwickelt; eine Restauration längst vergessener revolutionärer Lehren aus dem vorigen Jahrhundert findet statt. Eine Exhumierung seit langem begrabener Propheten vollzieht sich, mit deren Mumien Prozessionen veranstaltet werden, als wohnte ihnen blühendes Leben inne. Ein siebzigjähriger Ideologe erfährt, wohl zu seiner eigenen Überraschung, eine Rezeption seiner Gedanken, weil er sich sein Leben lang bemüht hat, jenen verstaubten Theorien ein zeitgemäßes Kolorit zu geben und partiell glaubhaft zu machen, woran insgesamt keiner mehr glauben kann. Sehr zum Unwillen, wie sich versteht, der Orthodoxen selber. Seine Stärke ist die Kritik, der Hinweis auf die inneren Ungereimtheiten der Wohlstandsgesellschaft, die wie wir wissen, widerspruchsvoll ist, wie alle Gesellschaften.

Darum richtet sich nun einstweilen auch die kritische Aktivität seiner Adepten nachdrücklicher gegen die ideellen Positionen des Gegners als auf den Entwurf dubioser Utopien und zielt, nachdem man lange Zeit nur auf die Unzulänglichkeiten der modernen Gesellschaft hingewiesen hatte, ins Zentrum. Dies kündet sich seit einiger Zeit dadurch an, daß man bei uns den Verfassungskern, die moralische Substanz des Grundgesetzes also, ideologiekritisch in Zweifel zu ziehen sich bemüht. Dies ist gut verständlich. Denn die Grundrechte treten mit dem Anspruch auf, nicht vom Staate verliehen, sondern dem Staate als ideelle Voraussetzungenvorgegeben zu sein, so daß die Verfassung Mr positiviert, was vor allen Konstitutionen in der sittlichen Natur des Menschen liege. So ist es zu verstehen, daß die Fundamentalkritik sich bis hierher vorarbeiten muß, wenn sie erfolgreich unterminieren will. Diese Aktivität trifft man heute auch auf jenem Terrain an, auf dem wir uns hier bewegen wollen — dem Bereich der politischen Bildung. Dies ist im einzelnen zu behandeln:

Die Didaktiker der politischen Bildung, vertreten sie nun rechts-oder linksliberale Grund-positionen, nehmen die Grundrechte als vorgegeben gültig an. So sollen sie auch der Jugend vorgestellt werden. Von Litt, Oetinger, Weniger, Messerschmid, Bußhoff und Assel bis zu Giesecke, Engelhardt, Fischer und Hil-

ligen findet sich bisher keiner, der der Jugend den Grundrechtskatalog in skeptischer Infragestellung darstellen wollte. Erst in jüngster Zeit will eine umstürzlerische Pädagogik auch hier die Selbstverständlichkeit, mit der man die junge Generation den Respekt vor der Würde des Mitmenschen lehren will, suspekt machen, das Fundament der Menschenrechte ideologiekritisch abklopfen und seine Fragwürdigkeit offenlegen. Damit träfe man, wie beabsichtigt, den Lebensnerv des moralischen Seibstverständnisses des freiheitlich-demokratischen Staates. Ein solches Unterfangen ist, soweit es sich noch nicht an die Jugend selbst wendet, sondern im Bereich der didaktischen Diskussion bleibt, zu begrüßen. Es kann sich hier die „Macht des Negativen" erweisen. Jene Vertreter der wissenschaftlichen Didaktik und alle Schulpraktiker, die bisher die Geltung dieser Rechte als die Basis der politischen Bildung postuliert hatten, werden sich ihre Position aufs neue durchdenken müssen, um vielleicht eine solider abgestützte Basis zu gewinnen. Es gilt darum, zunächst den Kritikern der Menschenrechte das Wort zu erteilen.

Wir halten uns im folgenden an den Beitrag, der den Lesern von „Aus Politik und Zeit-geschichte" im Oktober 1971 zugänglich gemacht wurde Eine politische Bildung, die das Bekenntnis zu den Grundrechten voraussetzt, wird hier, soviel man sehen kann, unter viererlei Aspekten in Frage gestellt 1. Die Naivität dieser Position wird kritisiert, und zwar die im „Bekenntnis" zu den Grundrechten enthaltene „politische Grundeinstellung .. ., diese unsere Herrschaftsordnung sei im Prinzip die einzig richtige und bedürfe lediglich der Verbesserungen . .." 2. Weiter wird zum Ausdruck gebracht, daß das Bekenntnis zu den Grundrechten als didaktische Überzeugungsbasis eine pädagogisch unzulässige Indoktrinierung sei. Sie mache dem Schüler „das Risiko einer echten Entscheidung" und „eine eigene Entscheidung über die damit getroffenen Wertentscheidungen" unmöglich 3. Neben den pädagogischen Einwänden präsentieren sich auch zwei politische: Die politisch-sozial konservativen Tendenzen unseres politischen Lebens der fünfziger und frühen sechziger Jahre würden hier pädagogisch bewahrt und fortgeführt. Die Zustimmung zu den Prinzipien der freiheitlichen Grundordnung mache bis heute — wie in jenen überwundenen Tagen — das „Bundesverfassungsgericht zur normensetzenden Instanz der politischen Erziehung"

4. Es wird zuletzt als politisch verhängnisvoll angemerkt, daß sich „auf dieser Grundlage" — nämlich dem Bekenntnis zu den Grundrechten — „neue Formen nationalistischer Denkweisen ausgeprägt haben", die sogar „faschistoide Züge angenommen" hätten

Ein weltanschaulich-ideologiekritischer, ein pädagogischer Einwand und zwei politische Einwendungen also!

Beginnen wir unsere kritische Betrachtung mit dem ersten. Aus dem „Bekenntnis" zu den Grundrechten sei auf die Vorstellung zu schließen, die darauf basierende Staatsordnung sei die „einzig richtige", wird gesagt Die Grundrechte erhielten auf diese Weise den Charakter von „Axiomen oder Dogmen". Diese Behauptung bedarf der Überprüfung. Die Verwendung des Wortes „Bekenntnis" weist bereits auf den hier vorliegenden Fundamentalirrtum hin. Unsere Wertvorstellungen, sagt Max Weber, seien „Bekenntnisse, nicht Erkenntnisse". Ein solcher Satz ist das Kennzeichen eines fortgeschrittenen Bewußtseins. Das „historische" Denken, die späte Frucht eines erkenntniskritischen, wenn nicht -skeptischen Bewußtseins, ein Ergebnis der fortschreitenden Klärung des reflektierenden Verstandes, steckt in einer solchen Aussage. Das Wort Bekenntnis sagt aber nun gerade nicht, daß man meint, das „einzig richtige" erkannt zu haben. Die populäre Wortwendung das „einzig richtige" deutet vielmehr auf die Vorstellung hin, daß man von einer Erkenntnis spräche. Die betreffende Aussage ist also widerspruchsvoll. Nicht besser steht es um die Schlußfolgerung, positives Verhältnis zu den Grundrechten ein ein zu „Axiomen" Was sei Bekenntnis ein Axiom ist, unterliegt in der Gelehrtensprache keiner sein Kennzeichen ist Mehrdeutigkeit, die Evidenz. Welchen Sinn aber könnte es haben, sich zum Evidenten zu „bekennen“? Man sieht es ein, man vollzieht es mit — aber ein „Bekenntnis" etwa dazu, daß die Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist, wäre ein Absurdität. Und wie steht es mit der weiteren Behauptung, die Grundrechte seien Axiome oder Dogmen? Während ein Axiom wegen seiner Evidenz Gültigkeit beansprucht, ist das Wesen des Dogmas seine Nicht, evidenz. „Credo, quia absurdum!" Es können aber die Grundrechte nicht zugleich evident und nichtevident sein. Das hier zu Gehör Gebrachte ist also zweifach logisch widersinnig.

Es versteht sich, daß mit dem Hinweis auf solche Widersprüche und Mißvorstellungen die Frage, wie die verfassungsmäßige Fixierung von Grundrechten überhaupt staatsphilosophisch und gegenwartskritisch aufzufassen sei, kaum berührt ist. Sie wird uns im weiteren zu beschäftigen haben. Wenden wir uns zunächst dem zweiten Einwand zu, mit dem nun pädagogisches Terrain betreten wird: Das Postulat einer unangreifbaren Geltung von Grundrechten, so wird gemeint, verträte dem Schüler den Weg zu eigener Stellungnahme; „das Risiko einer echten Entscheidung in einem prinzipiellen Konflikt um die Grundordnung" werde „vermieden", wenn die Schule eine „moralisch nicht akzeptabel erscheinende Kontra-Ordnung" ablehne Das von den politischen Entscheidungsträgern gewünschte Votum für die eigene Ordnung, also für die Grundrechte, müsse daher dubios erscheinen. Auch hier ist, wenn man die Aussagen so nimmt, wie sie da stehen, eine Fülle von pädagogischen Fehlvorstellungen vorgetragen, was nicht bedeuten soll, daß nicht auch ein echtes Problem in diesen Fragen steckte. Ihm werden wir uns weiter unten zuzuwenden haben. Doch zunächst zu dem, was hier gesagt wird:

Wenn Pädagogen wie Bußhoff die Grundrechte als sittlichen Minimalkonsensus unserer demokratischen Ordnung vertreten — und gibt es überhaupt Pägagogen, die dies nicht wollten? —, dann verzichteten sie auf eine kritische Befragung dieser Prinzipien, wird gesagt Das völlig Unbelegte Unbelegbare einer liegt der Behauptung auf solchen Hand. Zeigen wir dies mit einem Beispiel! Nimmt man die Achtung vor der Würde des Mitmenschen als Fundamentalprinzip der Grundrechte an, so ist die „kritische Befra gung" dieses Artikels sogar unumgänglich. Was heißt denn Menschenwürde, und kann man überhaupt — wie dies das Grundgesetz m. W. erstmalig tut — eine sittliche, aber ju-ristisch-inhaltlich nicht fixierbare Rechtsidee zum „geltenden Recht" erheben? Was heißt es, daß die Grundrechte Legislative, Exekutive und Judikative als geltendes Recht binden; was bedeutet es, daß diese Rechte zwar eingeschränkt, aber in ihrem „Wesensgehalt nicht angetastet" werden dürfen; ist es vertretbar, daß man einige wenige dieser Rechte verwirken kann; bezeichnet das Grundgesetz warum diese Rechte als auch mit Zweidrittelmehrheit nicht annulierbar, usf.? Das alles bedarf doch der kritischen der Diskussion, Infragestellung, der Illustration an Beispielen, die wieder ihre Problematik haben. Das Umgekehrte der obigen Behauptung ist doch der Fall: eine didaktische Grundposition oder ein Unterricht ohne kritische Befragung wäre völlig unreflektiert und demnach indiskutabel.

Dann werden uns im weiteren ohne jede In-fragestellung die „politischen Entscheidungsträger" als didaktische Auftraggeber der Pädagogen vorgestellt. Sie seien es, die den Lehrer auf eine unbefragte Zustimmung zu den Grundrechten festlegten. Auch in diesem Punkte werden Fehlvorstellungen entwickelt. Die „Autonomie der Erziehung", ihr Wesen und ihre Grenzen, ist doch ein hinlänglich ausdiskutiertes Problem, und jeder akademisch gebildeter Pädagoge ist über die antiquierte Vorstellung hinweg, er wäre der Ausführende staatlicher Direktiven. Praktisch ist diese Frage hinsichtlich der Grundrechte gegenwärtig ohnehin irrelevant, denn alle Parteien setzen die Grundrechte als unantastbar voraus. In unserem politischen Leben sind die Gegner des Grundgesetzes, die also das Bild einer . Gegenordnung" entwickeln könnten, gar nicht vorhanden. Zudem verpflichtet die UNO alle ihre Mitglieder auf diese Rechte, und wohl alle Staatedes Ostblocks führen sie in ihren „mora Verfassungen auch auf. Und daß das -lisch nicht Akzeptable" wegen dieser Eigen-schäft das „rational nicht Diskutable" sein soll das verstehe, wer kann. Es gibt doch heute in unserer eine moralisch-weltanschauliche kaum Frage, jig nicht in den Bereich der diskursiven Erörterung gezogen würde. Das „Hinterfragen" ist fast ein gelehrtes Schlagwort geworden.

Weiterhin erscheinen auch die politischen Einwände gegen die Grundechte problematisch. Die Zustimmung zu Grundrechten unveränderten sei ein Ausdruck der restaurativen Tendenzen der fünfziger und sechziger Jahre, wird gesagt. Als wenn es (gegenwärtig eine große politische Wendung gegen ihre Geltung gäbe! Die Bewegung gegen die Notstandsgesetze etwa war doch gerade Von der Sorge um die Gefährdung der Grundrechte getragen, und heute leisten sogar die deutschen Kommunisten, vertreten durch die DKP, den Schwur, daß sie fest zu den Grundrechten stünden. Und keiner beruft sich so oft auf sie wie ihre Anhänger. Zuletzt noch zu der durch nichts belegten Vorstellung, die Identifizierung mit den Grundrechten habe bei einer ganzen Gruppe unserer maßgebenden didaktischen -Theoretiker zu einer neuen Form des Nationalismus geführt: Die Grundrechte sind in ihrer heutigen hervorgehobenen Geltung unter dem Eindruck der furchtbaren Exzesse des Nationalismus in das deutsche Verfassungsleben eingeführt worden. Die Bundesrepublik Deutschland hat nun ihren höchsten Sinn nicht mehr in der nationalen Machtentfaltung, sondern in'der Verpflichtung auf ein übernationales Prinzip, die Menschenwürde, gesehen. Die Menschenwürde aber ist bei uns, angesichts der Greuel des Nationalsozialismus, geradezu die Antithese zum prononcierten Nationalbewußtsein geworden. Wieso gerade sie einem neuen Nationalismus Vorschub geleistet habe, wird wohl im Dunkel bleiben müssen.

Der Eindruck, den die hier zur Diskussion gestellten Thesen machen, läßt sich wie folgt zusammenfassen: sie stellen den zunächst wohl nur singulären Versuch dar, die Basis der geltenden politischen Pädagogik der Bundesrepublik in Frage zu stellen, um sie geistig zu unterminieren. Das war zu begrüßen. Denn es kann den um die Didaktik dies. es Faches wissenschaftlich Bemühten und den Lehrern, die didaktische Konzepte verifizieren wollen, Gelegenheit geben, ihre Grundposition noch einmal zu überprüfen.

Die Entgegnung

Die „ideologiekritische" Infragestellung der Menschenrechte, die der orthodoxe Marxismus versucht, wendet den stereotypen Schematismus, den diese Lehre praktiziert, auch auf den Menschenrechtskatalog an. Die Idee dieser Rechte gehöre zum ideelen überbau; sie sei eine „Ideologie" im Sinne der Definition Mannheims Also muß sie das Korrelat der ökonomischen Grundverhältnisse sein. Sie wird demnach als Forderung des kapitalistisch-bürgerlichen Wirtschaftsliberalismus interpretiert, der gegen merkantilistische Bevormundung und feudale Beschränkung die Freiheit forderte. So ist es zu verstehen, daß Marx die Freiheit als „bürgerliches Vorurteil" abqualifizierte.

Nun ist aber allen mit der Geschichte Befaßten der Protest des individuellen Gewissens gegen die Bevormundung durch die Obrigkeit in jederlei Gestalt wohlvertraut. Eine große Möglichkeit des Menschens allgemein ist hier erkennbar. Karl Jaspers nennt die Epoche, in der in Griechenland, Palästina, Indien und China fast gleichzeitig zum ersten Male der Mensch den mythischen Schleier, der ihm die Welt verhüllt hatte, durchdrang und individuell zur kritischen Infragestellung aller traditionellen Auskünfte überging, die „Achsenzeit" Für den Wissenschaftler ist die Achse der Geschichte also nicht — wie beim gläubigen Christen — die Geburt Christi.

Seither hat sich diese menschliche Möglichkeit, die man allgemein die Freiheit nennt, entfaltet; damit ist zugleich aber auch die Bedrohung gewachsen. Einsamkeit, Dekomposition, Disharmonie sind die Begleiter der Freiheit. Für uns läßt sich dieser Vorgang am klarsten in der griechischen Philosophie verfolgen. Von der kosmologischen Epoche, in der die Mythen der Weltentstehung durch naturwissenschaftliche Hypothesen abgelöst wurden, über den krassen Atheismus Demokrits und Xenopha-nes’ gelangt der Mensch in der anthropologischen Phase zur Kritik der Moral und der Gesellschaft. Die Frage des Sokrates an den Priester Euthyphron: „Ist es gut, weil die Götter es wollen, oder wollen es die Götter, weil es gut ist", kennzeichnet die Wendung Seither hat diese Fähigkeit des menschlichen Geistes zwar bekämpft, nicht aber wieder verschüttet werden können. In diese geistige Tradition gehört auch Hegels: „Es ist ein großer Eigensinn, der dem mensch-liehen Geiste Ehre macht, nichts in der Gesinnung anzuerkennen, was nicht vor der Vernunft gerechtfertigt ist".

Die Geschichte der Freiheit berichtet nun auch von den Versuchen, die Freiheit des Gewissens und der Überzeugung gegenüber Staat und Gesellschaft juristisch abzusichern. Sie wird begleitet von dem Bemühen, auch die Willkür gegen Leben, physische Freiheit und körperliche Unversehrtheit einzudämmen; daneben geht es um Freizügigkeit und Rechtssicherheit. Es ist ein langer Weg der Entbar-barisierung, von vielen Rückschlägen begleitet, mit vielerlei Neubeginn. Und viele soziale Lebensmächte sind beteiligt, die Kirche, der Staat, die Fürsten, die in den antiken und den mittelalterlichen Städten freigesetzten Sozial-mächte, bis dann in der Folge von Renaissance und Reformation eine größere Bewußtseinsklarheit in diesen Fragen einsetzte, die Auseinandersetzungen im Staatsrecht begannen und die christliche und profane Naturrechtslehre sich auf neuer Grundlage analysierend und diskutierend des Problems bemächtigte, das schon 1000 Jahre lang die kritischen Köpfe bewegt hatte.

Wie hat sich nun die Zeit der rationalen Diskussion der Rechte, die der einzelne gegen die kollektiven Daseinsmächte geltend machen könnte, zunächst das Wesen dieses Phänomens vorgestellt?

Die philosophische Legitimation Die Philosophen und Staatsrechtslehrer der Renaissance und ihrer Folgezeit haben einen Rückgriff auf die Antike getan. Die griechische und römische Stoa hatten den Menschen als Vernunftswesen aufgefaßt, der seine Triebe und Affekte rational zügeln und beherrschen könne. Dabei war man älteren Philosophen gefolgt, die der Vernunft keinen subjektiven Charakter zugemessen, sondern ihre überindividuelle Natur betont hatten. Hieß es doch be-reits bei Heraklit: „Die Wachen haben eine einzige Welt, nur im Traume hat jeder die seine", womit, wie sich versteht, die vorgestellte Welt, die Welt des Geistes, gemeint war—, ein objektiver Geist also, wenn der Begriff damals schon geläufig gewesen wäre. Die Stoa faßte nun auch die individuelle Vernunft als eine Teilhabe aller Menschen an der göttlichen Weltvernunft auf, woraus sich die Lehre von der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen ergab und zudem der Gedanke des Werts der Einzelperson, da jeder einzelne an dieser Vernunft partizipiere.

Diese Philosophie war den christlich-scholastischen Philosophen des Mittelalters wohlvertraut gewesen; die Unterscheidung zwischen der „Weltseele" der Stoa und dem christlichen Menschheitsgedanken hatte eine Rolle gespielt. Nun erfuhr sie neue Belebung. Der eine Wert des Einzelmenschen trat ins Bewußtsein Das rechtliche Gleichheitsprinzip der Spät-antike wurde betont, als man die römische Staatsidee neu beleben und die „renovatio" des Römerreichs vornehmen wollte, um die „Universalmonarchie" des Mittelalters abzulösen. Dieses Problem blieb in der Diskussion — noch die französischen Revolutionäre beriefen sich teils auf das republikanische Rom, teils auf die Spätantike, wenn sie exkla-

mierten: „Ainsi faisaient les Romains." Von Althusius über Locke, Montesquieu, Pufen-dorf, von Seckendorf bis zu Rousseau, Humboldt und Kant ist dieser Gedanke, die Idee der Humanität, dann festgehälten worden. Die klassische deutsche Literatur, Schiller mit seinem emphatischen Bekenntnis und Goethe in gelassenem Hinweis auf das Recht, „das mit uns geboren ist", nehmen den Gedanken auf.

Die christliche Legitimation Neben diesem aus der Antike fortwirkenden profanen Verständnis der natürlichen Rechte der Menschen arbeitete die christliche Theologie ihre eigene Interpretation des gleichen Themas heraus. Das christliche Naturrecht geht von der Gleichheit aller Menschen vor Gott und der Gotteskindschaft der Menschen aus. Die Schwierigkeit, die in der Frage steckt, ob dies für alle Menschen gilt, oder ob es sich nur um die „Freiheit eines Christenmenschen" handelt, wird durch die Idee der prinzipiellen Verwandtschaft aller Menschen als Kinder Adams überbrückt.

Die moralischen Impulse, die dem christlichen Mittelalter durch diese Lehre zugeströmt sind, entfalten ihre Wirksamkeit in doppelter Richtung. Einmal ist das alles von konservativem Charakter. Die Hierarchie wird legitimiert, zugleich aber versittlicht. Der „Gottesfriede", die Bindung der weltlichen Obrigkeit an die christlichen Sittengebote werden immer wieder ein-gemahnt. Daneben aber berufen sich die Mystiker — aber auch die Häretiker — auf diese unmittelbare Gotteskindschaft und wenden diese Lehre auf die weltliche Ordnung an. Hier ist eine der Quellen der Reformation zu finden, die vor allem im Calvinismus ihre politischen Konsequenzen hat. Althusius bestreitet zum ersten Male dem König das Recht, das Bekenntnis seiner Untertanen zu bestimmen, woraus sich Lehre vom die Widerstandsrecht und sogar eine christliche Volkssouveränitätslehre ergibt.

Die rationalistische Legitimation Neben der metaphysischen und theologischen bildet sich im Laufe der neuzeitlichen Geistes-entwicklung noch eine dritte Begründung der Menschenrechte heraus: die der rationalistischen Philosophie. Sie ist historisch eine Fortbildung des antiken und des mittelalterlichen Naturrechts, begreift sich selber aber als eine neue, besser fundierte Rechtfertigung. Die Geltung des dogmatischen Christentums war ins Wanken geraten, als sich durch die Glaubens-spaltung herausstellte, daß das Dogma verschieden auslegbar sei. Man suchte nach einer geistig solider fundierten Begründung der christlichen Lehre und glaubte sie in der kritischen Vernunft zu finden. Die Folge war die Idee einer „Vernunftreligion", die sich aber als mit dem Christentum identisch begriff.

Das Verhältnis zur Antike wandelte sich in ähnlicher Weise. Hatte man bis ins 17. Jahrhundert die antike Kultur als schlechthin vorbildlich aufgefaßt, so bemerkte man jetzt, daß man in manchen Disziplinen — in der Mathematik und den Erfahrungswissenschaften — über sie hinausgelangte. Man war mit den „Alten" in einen Zustand der Konkurrenz getreten. Durch beide Ereignisse fand man sich genötigt, auch im Hinblick auf die natürlichen Rechte nach einer besseren Begründung zu suchen, als Orthodoxie und Metaphysik sie präsentiert hatten. Die Vernunft, die rationale Erkenntnis der menschlichen Natur, sollte sie liefern. Die jedermann erkennbare allgemeine Fähigkeit des Menschen würde jetzt ihre Begründung sein müssen. Was die Vernunft ein-sehen konnte —-die prinzipielle Gleichheit der vernünftigen Wesen, das Unberechtigte von Feudalismus und Erbmonarchie, die Willkür der staatlichen Repressionsmittel, die Herleitung des Staates als göttlicher Setzung, an deren Stelle nun die Vertragslehre trat, die Auffassung des Staates als eines Vertrages zwischen Volk und Obrigkeit —, sollte jetzt den Maßstab des politischen Urteils abgeben. Im Namen der Vernunft und des Gottes der Vernunft wurden die amerikanischen Bürgerrechte proklamiert. Sie sprechen aber nicht von den Bürgern der Vereinigten Staaten, sondern von den Menschen, die, was der Vernunft leicht einsichtig ist, mit bestimmten allqemeinen Rechten geboren wären.

Die historisch-kritische Legitimation Zu diesen traditionellen Bemühungen, die Menschenrechte zu verstehen und ihre Gültigkeit, evident zu machen, gesellt sich später eine vierte. Sie entspringt einer neuen, individualisierenden, historischen Betrachtungsweise von Welt und Leben, zu der sich das 19. Jahrhundert in Europa dann durchgearbeitet hat. Dieser „Historismus“ hat nun unser Verständnis des Wesens der Menschenrechte vertieft — wenn auch gefährdet, wo man aus den gelehrten Einsichten geistig fehlgeleitete politische Schlüsse gezogen hat.

Die schematisch-begriffliche Auffassung der Humanitätsidee, die eine ewig gleiche Menschennatur mit der göttlichen Schöpfung gegeben annahm, hatte metaphysische, religiöse und rational-positivistische Aspekte vereinigt. Plato, Cicero, Augustinus hätten sich mit Lessing, Voltaire und Kant über das Wesen des Menschen gut verständigen können, denn sie bedienten sich alle der Begriffssprache des Naturrechts. Aber Herder, Möser, Goethe, Hegel und Ranke hätten sie nicht mehr verstanden. Die Vorstellung, „was wirklich ist, ist auch vernünftig" oder „jede Epoche ist unmittelbar zu Gott" wäre ihnen fremd geblieben. Der moderne Mensch aber, der diese vertiefte Einsicht in die Historie gewonnen hat und mit Dilthey aus der Geschichte erfährt, „was der Mensch sei", gewinnt auch hieraus eine neue Dimension des positiven Verständnisses der Menschenrechte. Er begreift sie nicht mehr als „mit uns geboren", sondern in einem langen, mühsamen Weg der Entbarbarisierung erworben. Darum sieht er hier eine sittliche Substanz sich entfalten, die zwar als große Möglichkeit in der Menschennatur angelegt, aber durch einen langen Weg der Rationalisierung erst bewußt geworden ist. Diese Einsicht, daß sich das Wesen des Menschen nur aus dem historischen Wandel begreifen läßt und daß keine staatliche Ordnung aus der Natur des Menschen als abstrakt-gültige herleitbar ist, hat ja gerade jenes Verständnis der Gesellschaft vorbereitet, das jedermann heute mit einem gelehrten Modewort den Pluralismus nennt. Hier speziell hat sich eine moderne, zeitkritische Begründüng der Menschenrechte ergeben.

Fassen wir zusammen: Die Überzeugung, daß es Rechte des Menschen gäbe, durch die der Willkür der Obrigkeit in jederlei Form eine Grenze gezogen sei, ist das Ergebnis eines jahrtausendealten Ringens des Menschengeistes um sein sittliches Selbstverständnis. Die simple Vorstellung, sie seien soziologisch aus einem bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte zu verstehen und lediglich als Teil der daraus herzuleitenden Produktionsverhältnisse, also der Rechtsverhältnisse, zu begreifen, entspringt einem soziologischenDogmatismus, wobei die Lehre des Meisters wahrscheinlich noch falsch angewandt wurde. Als der Bolschewismus in den Revolutionstagen die „bürgerlichen" Menschenrechte demonstrativ verwarf und an ihrer Stelle die „Rechte der unterdrückten und ausgebeuteten Menschen" proklamierte, tat er dies nicht in erster Linie unter dem Einfluß einer soziologischen Theorie. Diese exaltierte Äußerung war vielmehr als Trotzreaktion zu verstehen. Man empfand es, psychologisch durchaus verständlich, als Heuchelei, daß die kapitalistischen Staaten den Weltkrieg im Namen einer humanistischen Tradition geführt haben wollten. Heute sind die Französische Revolution und ihre Menschenrechte in durchaus wohlwollendem Sinne Teile der marxistischen Geschichtsschreibung geworden.

Sieht man nun einmal von solcher Gesinnungshistorie ab, dann ergibt sich das Ungereimte der Vorstellung einer Relation von ökonomischem Unterbau und ideellem überbau in bezug auf die Menschenrechte schon bei flüchtigem Hinsehen. Dieser Gedanke bewegt die Geister sowohl in der antiken Sklavengesellschaft als auch in der Spätantike, als sich die Institution der Slaverei auflöste. Die Idee wird sowohl in der Feudalgesellschaft als auch vor dem Hintergrund der urbanen Ordnung des Mittelalters, die keine Hörigkeit kannte, zur Diskussion gestellt. Thomas von Aquino, obwohl selber ein Feudaler, sah das Vorbild der societas perfecta in der mittelalterlichen Stadt. Die Kirche, soziologisch ein Glied des Feudal-staates, berief sich gegen den Schwertadel auf das christliche Naturrecht. Und die Häretiker, zum Teil an der altbäuerlichen vorfeudalen Ordnung festhaltend, wie die Stedinger und Hussiten, bestanden gleichfalls gegen die Kirche auf den von Gott verliehenen Christen-rechten, wie später die Wortführer des Bauern-krieges. Luthers Freiheit eines Christenmen-schen wurde von Bauern, Städtern und Fürsten vertreten. Auf persönlichen Rechten pochten so unterschiedliche Sozialgruppen wie der englische Adel als auch die bürgerlichen französischen Revolutionäre. Der despotische Absolutismus verwarf diese Ideen, der aufgeklärte näherte sich ihnen; der wirtschaftliche „Unterbau" ihres Staates aber war der gleiche.. Und Menschen unter so verschiedenen sozialen und ökonomischen Bedingungen wie die englischen Pflanzer in Virginia und französische Advokaten im proletarischen Paris proklamierten sie; nicht etwa, weil ein entsprechender Stand der Entwicklung der Produktiv-kräfte erreicht war, sondern weil der General Lafayette, fasziniert von dem, was er in Amerika erfahren hatte, sie in der Nationalversammlung vortrug.

Die Grundrechte als Reflex der besitzbürgerlichen Etablierung zu bezeichnen, würde dem Problem nicht gerecht; andererseits darf jedoch nicht übersehen werden, daß die Entstehung des modernen Rechts-und Verwaltungsstaates und die Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft dazu beigetragen haben, sie verfassungsrechtlich zu fixieren. Geradezu absurd aber muß es erscheinen, wenn gemeint wird, ihre Anerkennung als ideelle Basis unserer politischen Erziehung hinge mit einem sozial-reaktionären Interemezzo der Bundesrepublik zusammen: mit der „Sicherung der Macht der Unternehmer" und dem revisionistischen Kurs-wechsel der Gewerkschaft als Folge des Betriebsverfassungsgesetzes, „die damit ihre Integration in die bestehende Herrschaftsordnung einleiteten und sich künftig als Sozial-partner verstanden" Die Bildung der Großen Koalition als letzter und faulster Frucht der sozialreaktionären Epoche habe „jetzt" der Forderung Nachdruck verliehen, die Schulen hätten die freiheitlich demokratische Grundordnung zu bejahen und den Totalitarismus abzulehnen. Als ob ein rheinischer Bankier Adenauer bewogen hätte, die Grundrechte in die westdeutsche Verfassung aufzunehmen, um die Interessen des deutschen Finanzkapitals und der Oligopole gegen die berechtigten Ansprüche der lohnabhängigen Bevölkerung verfassungsrechtlich abzuschirmen —, jener Grundrechte, die dann eine kapitalhörige Didaktik zur Vernebelung des Bewußtseins der Jugend mit Augurenlächeln in die Lehrpläne aufgenommen habe, im komplicenhaften Einverständnis mit den etablierten Mächten.

Die Menschenrechte und der Nationalgedanke

In welchem Verhältnis standen nun diese vom abendländischen Geist so mühsam erkämpften Gedanken der natürlichen Rechte zu der anderen großen politischen Idee, die das 19. und 20. Jahrhundert bewegt hatte — zum National-gedanken? Eine rein begriffliche Analyse könnte zu der Erwartung kommen, das eins das andere ausgeschlossen hätte. Handelte es sich doch um Humanität und humanen Univer-salismus gegenüber der Nationalität und der Betonung des politisch-ideell Trennenden. Die europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts berichtet aber bekanntlich, daß beide Gedanken fast bis zur Identität verschmolzen sind. Die große liberale und demokratische Freiheitsbewegung des 19. Jahrhunderts nimmt die innere und äußere Freiheit als zwei Seiten der gleichen Sache. Der Befreiungskrieg der europäischen Völker wird als Kampf gegen das Joch Napoleons aufgefaßt. Zugleich aber fordert man, daß das Volk, das seine Sache gegen den Tyrannen selber geführt hatte, nunmehr sich selbst regiere oder zumindest an der Regierung beteiligt werde. In Deutschland geht es dabei zudem noch um die Wiederherstellung der Einheit des Reiches nach den Vorstellungen Steins.

Die europäischen Volksbewegungen der Folgezeit sind ähnlicher Art. Ob es um den Aufstand der Polen gegen den Zarimus, der Griechen gegen die Türken, der Italiener gegen Österreich geht — immer hat die Freiheit diese beiden Seiten. Und die Bewegung der Völkerschaften Österreich—Ungarns, die den Ersten Weltkrieg mit ausgelöst hat, trägt den gleichen Stempel. Die Verbindung von Liberalismus und Nationalismus führt zu den „Natio-nalliberalen" verschiedener Modifikationen, die in Deutschland in der Paulskirche und bei der Reichsgründung, aber auch in Italien, Frankreich, England die politischen Führungskräfte stellen. Alle liberale und demokratische Politik in Europa ist zugleich eine aktive Außenpolitik, der dann die traditionellen, re-staurativen und konservativen Lebensmächte, vor allem der politische Katholizismus, entgegenwirken. Dies geschieht einmal unter dem Einfluß der politischen Romantik und des Patriarchalismus, der seine Position ideologisch absichern will, zum anderen aber auch durch einen idellen Rückgriff, die Erinnerung an die Einheit Europas, die z. B. Novalis in „Die Christenheit oder Europa" beschwört. Dabei setzt sich der Liberalismus durch und gewinnt die Führung. Das allen europäischen Völkern gemeinsame Postulat, daß „ein Volk ohne Grundrechte keine Verfassung" habe, hindert nicht an der Austragung der nationalen Rivalitäten. Vielmehr werden diese, da die Völker selber ihre Sache führen, aufopferungsvoller und erbitterter, wie denn der Volks-krieg viel blutiger ist als der Kabinettskrieg. Deutschland macht keine Ausnahme. Die Frankfurter Nationalversammlung, die zum ersten Male in der deutschen Verfassungsgeschichte die Grundrechte fixieren möchte, beschließt zugleich den Krieg gegen Dänemark, um die Freiheitsbewegung der Schleswig-Holsteiner zu unterstützen. Sie setzt sich aber auch über die Einwände Palackys gegen die Eingliederung der tschechischen Nation in Nationaldeutschland hinweg.

Das aufschlußreichste Dokument der Rechtfertigung dieser Identifizierung von Liberalismus und Nationalismus, von innerer und äußerer Freiheit, ist Benedetto Croces „Geschichte Europas im 19. Jahrhundert". Der große italienische Hegelianer zeichnet darin nicht nur die Entfaltung dieser beiden politischen Gedankenkreise in Europa auf. Er nimmt vielmehr das historisch Zusammenfallende auch von seiner Idee und Herkunft als ideell zusammengehörig an. Es heißt da: „Nation ist nicht etwas Naturalistisch-Unveränderliches wie etwa die Rasse. Sogar die Ansprüche auf Hegemonie oder Primat, wie sie von Fichte für die Deutschen, von Guizot und anderen für die Franzosen, von Mazzini und Gioberti für die Italiener, von anderen schließlich für die Polen oder für die Gesamtheit der Slawen erhoben wurden, beruhten auf der Lehre, daß es ein Recht, ja eine Pflicht sei, an die Spitze der Völker zu treten, um für menschliche Bildung, Vollendung und geistige Größe den Weg zu bahnen. Die deutschen Nationalisten meinten, daß allerdings ihr Volk das auserwählte sei, aber doch nur deshalb, weil es kosmopolitisch, nicht ausschließlich national sei." So daß der imperialistisch verkrampfte nationale Egoismus des Ersten Weltkrieges und seiner Folgezeit, der Faschismus und Rassismus, nicht die letzte Konsequenz, sondern die Fehlform und Dekadenz der nationalen Idee gewesen sei. Aber die Erinnerung an diesen historischen Zusammenhang ist nicht die letzte Aussage. Vielmehr nimmt die deutsche Geistesgeschichte in dieser Frage einen eigentümlichen, unglücklichen Verlauf, ohne den die Ereignisse des 20. Jahrhunderts nicht zu verstehen sind.

Für unsere weitere Betrachtung wird es also wichtig werden, das besondere Verhältnis, das sich in Deutschland zu den Menschenrechten hergestellt hat, darzustellen. Der Nationalsozialismus und demnach auch die heutige Situation sind ohne diese Zusammenhänge nicht zu verstehen.

Die individualisierende Betrachtungsweise der Menschenwelt, die zu einem besseren, vertieften Verständnis der menschlichen Existenz geführt hat, das „historische Denken", ist eine Leistung des gesamten geistigen Europas. Sie hat ihre Wurzel in der europäischen Geistes-lage, die durch den Rationalismus entstanden war. Man ahnte und spürte, daß nicht alles am Maßstabe der nüchternen Vernunft zu messen sei, daß die Seele des Menschen von tieferen Lebensimpulsen bewegt werde, als der dürre Nutzen glauben machen wollte. Die irrationalistische Gegenströmung war ein übernationaler Vorgang. Aber dem deutschen Geiste, dem Sturm und Drang und der Romantik und der deutschen Geschichtsphilosophie, „fiel die Krone zu" Herder sprach es zum ersten Male aus, daß die Harfe der Menschheit viele Saiten habe, und daß die Humanität kein abstrakter Begriff sei, sondern aus der Vielzahl der Volksgeister verstanden werden müsse. Das bedeutete keinerlei „Nationalismus". Gerade Herder war es ja gewesen, der die Partei des Slawentums gegen das Deutschtum ergriffen hatte, was dann später der Panslawismus in geflissentlicher Verkennung propagandi-stisch ausgewertet hatte. Aber die Umdeutung des historischen „Irrationalismus“ erfolgte in Deutschland schon bald durch Fichte und fand ihre Resonanz in dem durch Napoleon gekränkten Nationalgefühl. Dieser Widerspruch füllt nun die ganze deutsche Geistesgeschichte im Jahrhundert und treibt im 20. zum Eklat. Einhundertfünfzig Jahre lang wird das abstrakte, rationale, naturrechtliche Denken in Deutschland begleitet von einer individualisierenden, historischen, irrationalen und bisweilen mystifizierenden Denkrichtung 19).

Die politischen Mächte, die diese Tendenzen fördern, sind zunächst die monarchische und klerikale Restauration, die politische Romantik, die Jugendbewegung im 20. Jahrhundert und die völkischen Bewegungen nach dem Ersten Weltkrieg. Aber auch die zeitkritische Analyse machte sich zum Wortführer dieser geistigen Bewegung und der Idee einer „organischen Staatslehre“, des Gedankens, daß das Lebensprinzip des Staates das Wachstum und die Entfaltung seiner individuellen Kräfte sei. Thomas Mann und Max Scheler sowie die Nietzsche-Epigonen von Ludwig Klages bis Oswald Spengler waren hier anzutreffen. Der Erste Weltkrieg trieb dann die Gegensätze auf den Höhepunkt. Nun erschienen in der Vereinfachung der Kriegspropaganda die Westmächte als Vorkämpfer der rationalen, naturrechtlichen Humanität gegen die mystifizierende, brutalisierende Barbarei. Die Tatsache, daß diese „Ideen von 1914" nach Ende des Krieges konserviert wurden — wobei sowohl der hybride französische als auch der ressentimentgeladene deutsche Nationalismus redlich beigetragen haben, das Unheil vorzubereiten —, ist nicht zu leugnen.

Hier ist auch der fatalen, literarisch hochstehenden Zeitschrift „Deutsches Volkstum" zu gedenken, die der zumeist in brillanter Spra-

che mit großer Wortgewalt agierenden nationalistischen Philosophie und Journalistik zur Resonanz verhalf. Was hier an Ideologisierung der jugendlichen Intelligenz und Radikalisierung der Hochschulen bewirkt wurde, kann erst heute, angesichts bestimmter Parallelerscheinungen, wieder ermessen werden.

Aus dieser Lage entwickelte sich ein besonderes deutsches Verhältnis zu der Idee der liberalen Menschenrechte. Sie schienen der dekadenten, bürgerlichen Verweichlichung des Westens entsprungen, und lediglich ersonnen, die besitzbürgerliche Behaglichkeit juristisch abzusichern. Die saturierten Völker der romanischen und angelsächsischen Wohlstands-sphäre, die Sekurität mit Kultur verwechselten und „geschichtslos" ihren bürgerlichen Besitzstand konservierten, so wurde dargetan, wollten die Menschenrechte und das Völker-recht vorschieben, um sich selber Völker-und verfassungsrechtlich zu sichern. Der intellektuelle Jargon konstruierte die Unterscheidung von Zivilisation und Kultur. Das romantische Alldeutschtum entwickelte sein eigenes Vokabular vom „Recht der jungen Völker" und vom „Dritten Reich der Deutschen". Die Verwirrung erhielt eine fatale Nuance durch ihre Biologi-sierung; die Rasse wurde bald der zentrale Begriff. Daß durch diese Mißidee der nationale Gedanke ad absurdum geführt wurde, da z. B. die Westdeutschen den Franzosen, die Norddeutschen den Dänen verwandter waren als etwa den Ost-und Mitteldeutschen, focht den dogmatischen Rassismus wenig an. Der Ideologie war damals, wie zu allen Zeiten, durch rationale Kritik nicht beizukommen. Vor allem, daß es individuelle Rechte geben sollte, die einen persönlichen Freiheitsraum gegen Staat und Gesellschaft absichern, rief eine bis zu Hohn und Erbitterung gesteigerte Ablehnung hervor. Der historisch einseitige Nachweis, daß dieser „artfremde" Liberalismus über den Rhein zu uns gekommen sei und unsere nationale Schlagkraft gelähmt habe, wurde wiederholt, bis er die Einwände der historischen Wissenschaft übertönte.

Für den intellektuellen Nationalismus spielte der Komplex der Geistesfreiheit und der publizistischen Grundrechte eine besondere Rolle. Seine Protagonisten empfanden aus dem Einfühlungsvermögen der parallelen Geistessituation den Gesinnungsterror, der dann einsetzte, die Bücherverbrennungen und die Publikationsverbote, mit zynischer Genugtuung. Der intellektuell zweifellos hochstehende Wilhelm Stapel schrieb 1933: „Die Geistesfreiheit im Sinne von Beliebigkeit und Willkür hat ein Ende ... Diese Verweigerung der Geistesfreiheit ist das, was den liberalen Menschen am heftigsten erschreckt; aber er wird sich daran gewöhnen müssen, daß es keine Geistesfreiheit im liberalen Sinne mehr gibt." Daß es dann auch keinen Schutz des Lebens und der Frei-heit mehr geben sollte, war ihm offenbar noch nicht deutlich.

Der Versuch, das Bekenntnis zu den Menschenrechten als unverrückbarer ideeller Basis unserer Staatsordnung heute ideologisch zu diskreditieren und es mit nationalistischen Verbindung Tendenzen in zu bringen, ist nach alledem hoffnungsloses Beginnen. Nichts ein war dem mystifizierenden Nationalismus deutscher Prägung so suspekt, ja so verhaßt, wie der humane Uniyersalismus, der sich in ihnen ausdrückt. Er behandelte sie „mit übel angebrachter Antipahie" (Troeltsch). Unsere Verpflichtung auf idlese Rechte ist heute — dies kann offenbar/kaum genügend betont werden — der Ausdguck unserer kategorischen und definitiven Absage an jederlei Nationalismus. Von weiterem im Zusammenhang braucht mit einer wissenschaftlichen Klarstellung nicht die Rede zu sein; die Kennzeichnung „faschistoid" hat, wie jeder weiß, keinen bezeichnenden oder unterscheidenden, sondern lediglich einen denunziatorischen Charakter.

Das neue Verständnis der Menschenrechte Daß das deutsche Verfassungsrecht und die dieses Recht tragende Philosophie das Wesen der Menschenrechte nach 1945 neu verstehen mußte, begreift sich aus der moralischen, nationalen politischen Katastrophe, die der Nationalsozialismus. historisch bedeutet. Daß unser auf Religion, -philosophischem Humanismus und fortgeschrittener Rationalität beruhendes Moralsystem nur eine dünne Kruste über der kreatürlichen Existenz des Menschen sei, ist nun auch von jenen erkannt worden, die sich lange geweigert hatten, dies zuzugeben. Der Kulturpessimismus Jakob Burckardts wird heute von allen-kritischen Köpfen geteilt. Diese Tatsache gibt den Menschenrechten eine viel elementarere Bedeutung als es jenen vorgeschwebt hatte, die sich, wie John Locke, philosophisch zu ihrem Wesen vorgearbeitet hatten oder die pich, wie die Bürger der Vereinigten Staaten, und die französischen Revolutionäre, feierlich oder emphatisch zu ihnen bekannt hatten.

Jene fortschrittsgläubige Zeit sah in ihnen einen Schritt der Menschheit auf dem Wege zu Freiheit und Glück. Man glaubte an diese Rechte mit fast religiöser Inbrunst. Indessen hat der Fortschrittsoptimismus dem Kulturpessimismus Platz gemacht. Jenes dunklere Zeit-gefühl, das den naiven Zukunftsglauben der europäischen Menschheit dämpft, seitdem Rousseau in seiner Preisschrift die Zivilisation angeklagt hatte, beherrscht unsere Lebens-stimmung seit den beiden Weltkriegen nahezu völlig. Eine furchtbare Möglichkeit, der Rückfall des Menschen in den Zustand entsetzlichster die der „Wolfs, Rückkehr zeit", ist nicht nur ständige Bedrohung eine erkannt; sie ist durch die Erscheinung:

des Nationalsozialismus bereits einmal historische Wirklichkeit geworden. Für die Menschen unserer Zeit sind die Menschenrechte also viel mehr als eine optimistische Zukunftshoffnung. Sie werden als einziger Wall gegen den Sturz in die Barbarei empfunden. Dabei ist den Menschen unserer Tage etwas Weiteres deutlich geworden. Diese moderne Neobarbarei, die uns bedroht, ist nicht nur als einfacher Rückfall möglich. Sie kann ein Erscheinungsbild haben, von dessen Möglichkeit man zuvor nichts geahnt hatte — einer bewußten und bejahten, literarisch und philosophisch gestützten Glorifizierung des vital, lan mit einer zynischen Diskreditierung der Humanität als Dekadenz und einem Appell an die schöpferische Animalität •— eine Vorstellungswelt, an deren Popularisierung die „Lebensphilosophie" mit ihrer Denunzierung des Geistes „als Widersacher der Seele" das ihre verhängnisvoll beigetragen hatte. Unter dem Eindruck solcher Erfahrungen mußten die Menschenrechte für uns eine neue, elementarere Bedeutung erhalten, als sie für jene hatte, die’ sie einst so feierlich verkündet hatten, obwohl jene Generation an sie „glaubte", während wir nur auf sie hoffen können.

Daneben ergibt sich für das historische Denken und das epochale Bewußtsein, das eine Frucht dieses Denkens ist, ein weiterer, neuer Aspekt der Menschenrechte, der einer modernen, kritischen Wertung zu einer positiven Wendung verhilft. „Sind einmal die Gedanken gewandelt" meinte Hegel, „läßt sich die Wirklichkeit nicht mehr halten." Das Bewußtsein ihrer natürlichen oder göttlichen Herkunft das wir mit dem naiven Verständnis der Aufklärung nicht mehr teilen können, hat dennoch seine geschichtsmächtige Kraft entfaltet. Es ist eine die Wirklichkeit des moralischen Bewußtseins prägende Kraft, die ohne diese Über-zeugung ihre Macht nicht bewiesen hätte. Man könnte dies — als Gedankenexperiment vorgetragen —• auch so darstellen: Wenn diese Rechte tatsächlich göttliche Setzung wären, ohne daß dies den Menschen ins Bewußtsein getreten wäre, dann hätte ihre „reale" histoi rische Bedeutung nicht so groß sein können wie jetzt, da sie der Inhalt des menschlichen Bewußtseins sind. „Der Mensch ist Geist" heißt es bei Karl Jaspers, „die Situation des eigentlichen Menschen seine geistige Situation." Dies alles ist zwar „unmarxistisch" gedacht, trifft aber die Wirklichkeit im Kern, denn auch die „Realitäten" des Marxismus sind nur — oder sogar — die Inhalte des menschlichen Bewußtseins.

Die Erfahrungen der gesamten Neuzeit stek-ken also in dem Beschluß der Deutschen, den Grundrechten jene wohl verfassungsgeschichtlich einmalige Stellung zuzuweisen, die sie im Grundgesetz haben. Der Staat ist 1949 bis zur äußersten, mit seinem Bestand noch vereinbarenden Preisgabe aller stabilisierenden Prinzipien gegangen. Dafür aber hat er die Grundrechte als unveränderbaren und nicht einzu-schränkenden Kern der öffentlichen Ordnung festgeschrieben. In diesem Entschluß sind dreierlei Einsichten enthalten: 1. Die Grundrechte resümieren, was sich zwei Jahrtausende europäischer Gesittungsgeschichte mühsam gegen Barbarei und Irrwahn erwarben. Sie bedürfen aber zu allen Zeiten der geistigen Legitimation und der institutionellen Sicherung. 2. Die Grundrechte sind, als man sie in Amerika und Frankreich formulierte und in das Verfassungsleben einführte, als Instrument der menschlichen Freiheit und Autonomie gegen Willkür und Bevormundung aufgefaßt worden. Es hat sich aber am deutschen Volke in historischem Ausmaß gezeigt, daß die Befreiung von Autorität und Tradition in den Menschen ein Maß an Wahn und Besessenheit freigesetzt hatte, das man nicht erwarten konnte. Auch hat sie seinen Geist für rational verkleidete Irrlehren freigemacht, gegen die er immun gewesen war, als ihn geistliche und weltliche Autorität noch in Unmündigkeit hielten. Die Menschenrechte sollen dieses Vakuum füllen. Sie sind für das 20. Jahrhundert also nicht nur ein Instrument der Personwerdung. Vielmehr sind sie heute der einzige Schutz, der die Menschen hindern kann, abermals dem Wahn zu verfallen und in einem Meer von Verbrechen, Blut und Schande zu versinken.

3 Sie sind, entsprechend der Stunde ihrer Neukonstituierung in Deutschland, von prononciert antinationalistischem SelbstverständniS. Da es die nationalistische Hybris unseres eigenen Volkes war, die uns über die finsteren Möglichkeiten die Augen geöffnet hat, die in den Menschen schlummern, mußten diese Rechte sich in erster Linie als Reaktion auf den Wahn der nationalistischen Überheblichkeit begreifen.

Die Einwände Das neue, profunde Verständnis des Wesens dieser Rechte hat aber auch die kritischen Vorbehalte gegen sie verstärkt. Die Apologie forderte die Gegenargumente heraus: So wird auch heute noch die Frage gestellt, die seit den Tagen des populären politischen Rationalismus das Denken bewegt: Sind menschliche Moral und humane Gesittung durch Herkunft und Autorität nicht besser bewahrt als durch die kritische Vernunft, der Kant ihren Schutz anheimgeben wollte? Die Zustimmung der Zeitgenossen war bereits in jenen Tagen schnell gedämpft oder verflogen, als man die autonome Vernunft und das souveräne Volk im Wohlfahrtsausschuß und vor dem Revolutionstribunal agieren sah. Dem Enthusiasmus folgte die Ernüchterung und dieser der Abscheu, als man gewahrte, wohin man unter der Herrschaft von Vernunft und Tugend gelangt war. Was Edmund Burke damals ein-wandte, hat auch noch heute unser Ohr. Karl Jaspers stimmte ihm völlig zu, und ein anderer kritischer Soziologe und Humanist unserer Tage, Alexander Rüstow, hat unsere, wenn auch zögernd gegebene Zustimmung, wenn er sagt, „das einzige Jahrhundert, dessen sich die Menschheit nicht zu schämen braucht, ist das 18., vorausgesetzt — daß man es mit dem Jahre 1789 zu Ende gehen läßt." Eine Aussage, die ihre Entsprechung durch Golo Mann findet, der meinte, daß, wenn die Hohenzollern noch in Berlin und die Wittelsbacher in München residiert hätten, dort Goebbels und hier Hitler undenkbar gewesen wären.

Die Menschenrechte haben nicht nur verfassungsrechtlich verbrieft, was Religion und Philosophie über die Bedingungen der Humanität dargelegt haben: den Schutz des Lebens, des Leibes, der physischen Freiheit und der Entscheidung des Gewissens. Sie haben auch etwas garantiert, wodurch dämonische Kräfte freigesetzt werden können: die Freiheit des menschlichen Geistes und die Garantie seiner unbeschränkten Verbreitung in Wort und Schrift. Speziell diese Rechte haben sich, wie die Welt seither erfahren mußte, als ein Instrument erwiesen, mit dem man jene elementaren humanen zu annullieren vermochte.

Diese Tatsache hat den Blick dafür geschärft, daß nicht dem gesamten Katalog der Menschenrechte eine gemeinsame Natur zu eigen ist. Man muß sie unterscheiden in jene, denen unser elementarstes menschliches Rechtsgefühl zustimmt und jene, skeptisch sehen die wir und nur mit Einschränkung gelten lassen wollen. Jahrhundert Auch das 20.den Kanon dieser Rechte dem Wechsel der Zeiten unterworfen, und bei manchen erkennt man ihre Geltung nur unter der Voraussetzung von bestimmten Lokal-und Die Sozialbedingungen. alte Naivität des Glaubens an ihre unveränderliche Geltung insgesamt ist lange dahin. Historisches und soziologisches Denken haben sie erschüttert. Und den heute geltenden Menschenrechten wird man neue hinzugesellen müssen, wenn die conditio humana in einer sich wandelnden Gesellschaft bewahrt werden soll.

Ein unentwickeltes Unterscheidungsvermögen oder der Vorsatz der Ideologen, unsere Ordnung dem Einfluß ihrer Lehren zugänglich zu machen, berufen sich auf diese Einsichten. Aber ihre Absichten sind leicht durchschaubar. Als Friedrich Naumann bei der Beratung der Weimarer Verfassung die Grundrechte mit der Kennzeichnung, es handle sich um „Museumsstücke einer antiquierten Rechtskultur", beiseiteschieben wollte, sprach er aus der Einsicht eines kritisch-historischen, soziologischen Bewußtseins. Er konnte noch nicht wissen, was wir heute wissen müssen, weil eine neue, furchtbare Erfahrung zwischen seiner und unserer Generation liegt. Wer aber die Epoche der Ideologisierung der Welt, in die wir ein: getreten sind — und für die der Nationalismus nur ein Beispiel abgibt —, bewußt miterlebt, der hält ein neues, erstmaliges Verständnis der Bedeutung dieser Rechte bereit: Sie sind ein Schutz gegen eine abermalige Ideologisierung unserer politischen Vorstellungen mit ihren blutigen Konsequenzen. Dies weiß der Ideologe und versucht sich an ihrer ideellen Demontage — aber auch wir wissen es und setzen alles daran, ihren Abbruch zu verhindern. Mit der Ankündigung dieses Vorsatzes ist auch noch eine weitere Frage beantwortet — oder doch eine Antwort versucht —, die den Historiker bewegt. Jakob Burckardt hat den Tagen der zunehmenden juristischen Absicherung des zivilisatorischen Bedürfnisses nach Sekurität das Beispiel „riskierter Zeiten" entgegengehalten und die Tage des gotischen Dombaues mit der Epoche der Lebensversiche. rungen verglichen. Er hat wohl unser aller Zustimmung erhalten, als er daran erinnerte, daß zunehmende Lebenssekurität nicht identisch sei mit einer Wertsteigerung des Lebens. Eine solche Erkenntnis — mißgedeutet — kann auch Gedanken gegen den der Grundrechte gewandt werden. Man mag, aus der Sicht der Heutigen, dazu im zustimmenden wie auch einschränken -den Sinne dieses sagen: Das Bekenntnis zu den Menschenrechten, das etwa unser Kulturkreis so nachdrücklich ablegt, ist keine Garantie für ihre Geltung. Sie sind kein Schild, hinter dem das „ewig gähnende Behagen" (Spengler) einer geschichtslosen Zeit sich zu etablieren trachtet. Vielmehr ist es ein aktives, opferbereites — wenn das Wort nicht verdächtig wäre „kämpferisches" — Bekenntnis zu Lebensmaximen, die erst in ständiger Bewährung und oft selbstüberwinderischen Tat Bestätigung und Realität gewinnen. Auch für diese Normen gilt das: „Wer täglich sie erobern muß". Die Menschenwürde, die das Grundgesetz meint, ist also eine Aufgabe, „ein Plebiszit jeder Stunde", wie es früher der französische Politiker von der Nationalität gefordert hatte.

Die Menschenrechte und die Ideologien In dem oben dargelegten Selbstverständnis haben heute die Menschenrechte eine neue, politische Funktion erhalten: Sie sind ein Schild gegen die Ideologisierung der Politik geworden. Denn die Erinnerung an die Tage des Schreckens verblaßt, der Pragmatismus der heutigen Parteien genügt den seelischen Bedürfnissen einiger Vertreter der neuen Generation nicht mehr. Der Absolutheitswille junger Menschen und ihr sittlicher Rigorismus machen sich bemerkbar. Das alles ist psychologisch verständlich und moralisch respektabel, enthält aber immer die furchtbare Möglichkeit, zur Tugendlehre Robespierres auszuarten. Wo man die Freiheit respektiert, werden in der Politik Weltanschauungsparteien instinktiv abgelehnt, meint Karl Jaspers. Die politische Ideologie, die mit dem Anspruch auftritt, zu wissen, welches die Bestimmung des Menschengeschlechts ist und was dem Menschen zu Nutzen und Frommen sei, neigt zum politischen Absolutismus, zu Gesinnungs-und Gewissensterror. In der Bundesrepublik haben diese Tendenzen zur Ideologisierung zumeist den nationalen Gedanken durch den sozialen ersetzt. Nach dem Ersten Weltkrieg enthielt unter dem Eindruck des Versailler Vertrages die Ideologie einen sittlichen Kern: man wollte die allgemein empfundene nationale Misere überwinden, die Krieg und Nachkriegszeit über die Nation gebracht hatten. Entsprechend ist auch den neuen Ideologien eine moralische Substanz immanent: man will größere soziale Gerechtigkeit. Daraus erklärt sich aber auch die geringe öffentliche Resonanz der Bewegung in einer Zeit fortschreitenden Volkswohlstandes und gesellschaft-licher Egalisierung sowie ihre Resonanz in den Bereichen mangelnden Kontaktes mit der Realität.

Die Ideologen stellen den Anspruch, das richtige Bewußtsein zu haben und daher zur Führung berufen zu sein. Der warnenden Erkenntnis Camus', daß zu keiner Zeit mehr Blut geflossen ist, als nach der Machtergreifung der Philosophen, verschließen sie sich keinesfalls. Eine solche Aussicht schreckt sie nicht. So vertritt E. Krippendorff die Meinung, der Linksradikalismus habe bei seinen Bluttaten die historische Wahrheit, also den objektiven Fortschritt, auf seiner Seite Nach dieser Vorstellung unterscheiden sich die Morde beispielsweise Stalins im positiven Sinne von denen Hitlers. Daß die Kommunisten sich ihre Massenmorde gegenseitig vorwerfen und einer den anderen einen Faschisten nennt und mit Hitler vergleicht, erscheint dabei offenbar nicht als störendes Element, so wenig wie die Tatsache, daß Stalins Untaten auf kommunistischen Parteitagen sowohl angeprangert als auch legitimiert werden.

In dieser Situation erfolgt nun der Versuch, die Menschenrechte, den entscheidenden Schild gegen die Herrschaft der totalitären Orthodoxie, anzugreifen. Das Unternehmen rechnet offenbar mit einer langen und mühevollen Unterminierungsarbeit — es will die pädagogische Affirmation der Grundrechte, die Verpflichtung der Jugend auf diese sittliche Substanz infragestellen. Die Ideologen bedienen sich dabei des Verfahrens, gegen diese Rechte ihrerseits den Ideologieverdacht im Sinne Marxens auszuspielen. Der Begriff des „Totalitarismus", der sprachlich durchaus zutreffend jene Verbindung von dogmatischer Gesell-

Schaftsinterpretation mit staatlicher Omnipotenz kennzeichnet — vor der uns die Grundrechte bewahren sollen —, soll auf den Stalinismus oder Marxismus nicht anwendbar sein. Er sei lediglich ein bewußtseinstrübender Terminus mit der Funktion einer „Ideologie des Kalten Krieges" oder einer „Integrationsideologie der Bundesrepublik" Dabei ist nicht nur die inhaltliche Absicht deutlich. Es bleibt auch verwunderlich, für welche peripheren Inhalte der Begriff „Ideologie" jeweils herhalten muß. Die Bestrebungen zur „Sicherung der Macht der Unternehmer" und die „Entideologisierung" in Verbindung mit dem Verbot der KPD und SRP werden im Zusammenhang gesehen Die prinzipielle Zustimmung des Didaktikers Assel zur freiheitlichen Demokratie sei ihrerseits ideologisch, weil sie „bis in einzelne Formulierungen hinein" mit den Ausführungen eines CDU-Abgeordneten übereinstimmten, gerade, als wenn die Rede eines CDU-Abgeordneten eo ipso ideologisch sei

Die Verwahrung des Marxismus gegen die Idee der alle Menschen bindenden Grundrechte nimmt die gleiche Position ein wie die nationalistische Ideologie. Eine allgemein verbindliche Wahrheit gäbe es so wenig wie eine allgemein bindende Gerechtigkeit, derartige globale Aussagen seien ideologisch eingefärbt. Die Färbung aber ergäbe sich entweder aus der Rasse — so die einen — oder aus der Klasse — so die anderen. Die Fatalität der Darlegungen des deutschen Nobelpreisträgers Lenard, daß es keine rassisch unabhängige Erfahrungswissenschaft gäbe, ist noch in peinlicher Erinnerung. Und mit ihm sprach auch der Nobelpreisträger Stark von der „arischen" und der „jüdischen" Physik. Nicht minder tendenziös, wenn auch nicht gleichermaßen plump, war etwa auch die Abhandlung Spenglers über die Zugehörigkeit der jeweiligen Mathematiken zu ihren ethnisch bestimmten Kulturen. Entsprechend wird die Bemühung des menschlichen Geistes um eine objektive Wahrheit von der marxistischen Orthodoxie als „Objektivismus" abqualifiziert. Alle Philosophie und Wissenschaft soll demnach klassenbedingt sein — nur der doktrinäre Marxismus verkünde objektive Wahrheiten. Daß es von solchen Grundpositionen aus keine Menschenrechte geben kann, versteht sich: Sie entspringen der Klassensituation der Bourgeoisie, sind „ideologisch" und sollen die eman-zipatorische Veränderung der Gesellschaft verhindern. Eine uralte marxistische Doktrin, die gleichwohl heute als profunde Novität verkündet wird! Wie denn auch damals das völkische Kraftgefühl und seine Lehre die Menschenrechte als ideologische Schutzbehauptung der Schwachen diskreditieren wollte, die bestrebt seien, den Stärkeren, überlegeneren mit blutleeren moralischen Worten zu begegnen. Speziell das Christentum erschien dieser Lehre mit Nietzsche als „Sklavenaufstand der Moral".

Die didaktischen Konsequenzen Es ist offenbar eine Neigung der Deutschen, Störungen und Mißerscheinungen des öffentlichen Lebens mit dem Erziehungswesen in Verbindung zu setzen. Die Schule habe versagt, heißt es leicht. Was nur ein reges und lebendiges staatliches Leben bewirken kann, was eine allgemeine verantwortliche Teilhabe und verbreitete, bewegte Teilnahme am Leben der Kommunen und des Landes und daneben eine seriöse Presse und ein verantwortungsbewußtes Fernsehen zustande bringen könnten, das sollte zuvor die Schule geleistet haben. Als ob in der Schulstube ein anderer Geist herrschen könne als der öffentliche, als ob von der Erziehung her das Zeitalter geprägt werden sollte, wie es weiland Fichte vorgeschwebt hatte! Zum drittenmal erlebe er das Versagen unserer politischen Bildung, vernimmt man in unseren Tagen aus dem Munde eines unserer alten, großen Pädagogen: Die Schule des Kaiserreiches habe die Bildung des Staatsbürgers versäumt — das war auch die Meinung Max Webers gewesen. Die Schule der Weimarer Republik sodann sei mitschuldig am Faschismus geworden. Dieser Behauptung hat bisher kaum jemand zu widersprechen gewagt, obwohl auch niemand deutlich hat sagen können, wo eigentlich ihre Schuld gelegen habe. — Und wer heute diese oder jene Begegnung mit ideologisierten Gruppen unserer Gymnasiasten oder Studenten hat, stellt abermals ein Versagen der Erziehung fest, obwohl niemand erklären kann, wie denn wohl die Schule der 60er Jahre in der Bundesrepublik an der marxistischen Indoktrinierung mancher Schülerzirkel beteiligt gewesen sein könnte. Noch dazu, da eine umfangreiche Untersuchung, die mit dem Anspruch auf wissenschaftliche Geltung auftrat, noch 1967 den konservativen, affirmativen undemokratischen, „faschistoiden" Charakter des politischen Unterrichts unseren Schülern glaubhaft zu machen versucht hat In der Diskussion um die politische Bildung der letzten Jahre ist jedenfalls kaum irgendeine Behauptung mit apodiktischem Wahrheitsanspruch hervorgetreten, der nicht eine gegenteilige mit gleichem Nachdruck widersprochen hätte. Und alle haben das Glaubhafte ihrer Darlegungen und das Unglaubhafte der Gegenposition mit gleicher Überzeugungskraft dartun können wie die Gegner.

Darf man in einem Punkte dennoch Überein-stimmung zwischen allen um die politische Bildung Bemühten voraussetzen?: Die Schule habe allen ideologischen Tendenzen entgegenzuwirken und den Pluralismus der Gedanken und Ideen, der Meinungen und Interessen das Tor zu öffnen, Toleranz und Kompromißbereitschaft zu lehren und zu fördern und den Totalitarismus als das nachzuweisen, was er ist: der Ausdruck menschlicher Beschränktheit, sowohl geistiger Enge als auch sittlicher Verirrung. Diesen Tendenzen hat der Unterricht über die Grundrechte den entscheidenden Dienst zu leisten. Denn hinsichtlich dieser Rechte ist doch wohl zu zeigen, welche Versäumnisse dem politischen Unterricht unserer Schulen in der Vergangenheit nachgesagt werden können: Das Kaiserreich sah den Sinn seiner Politik in der außenpolitischen Entfaltung und dem Ausbau seiner nationalen und imperialen Weltgeltung. Der vaterländische Gedanke beherrschte die Schule mit Hilfe des nationalen Geschichtsunterrichts und seiner aktuellen Bezugnahme. Die nationalliberale Grundtendenz — allerdings mit bestimmten Neigungen zum Alldeutschtum — und die romantisch-bündische Gegenbewegung gaben die herrschende Richtung an und waren insgesamt von so pointiert konservativ-nationalistischem oder monarchistisch-kleindeutschem Gepräge, daß man des 50jährigen Jahrestages des Parlaments in der Paulskirche mit keinem Worte Erwähnung tat. Daß das Reich ein Rechtsstaat mit Geltung von Grundrechten sei, verstand sich von selbst und trat, da man hier keine Problematik erkannte, nicht ins öffentliche Bewußtsein. Das Gleiche traf für die Weimarer Republik zu. Der Unterricht der Schulen wurde, wie das öffentliche Leben selbst, von Tendenzen beherrscht, die die Frage nach der rechtsstaatlichen Ordnung völlig in den Hintergrund treten ließen. Der extreme Nationalismus war unter dem Eindruck von „Versailles" und der „Dolchstoßlegende" aus dem Stadium bramarbasierender Überheblichkeit in das eines verkrampften, rache-lüsternen Ressentiments übergewechselt. Der liberale Nationalgedanke war beherrscht von der Idee der Aushöhlung der problematischen Versailler Ordnung und der Einordnung eines unabhängigen, wiederhergestellten Deutschlands in das System der westeuropäischen pax britannica. Hier wurde er zwar vom demokratischen Sozialismus unterstützt, doch war dessen politische Vorstellungswelt — und damit auch seine politische Erziehungsarbeit — von sozialreformerischem Idealismus gemäßigt marxistischer Färbung fast völlig absorbiert. Daß Deutschnationale und Sozialdemokraten durch einen, wie inan heute sagt, politisch-sittlichen Konsensus verbunden waren, trat angesichts etwa ihrer durch den „Flaggenstreit" angefachten Kontroversen gar nicht ins Bewußtsein. Daß aber die eigentliche Trennungslinie zwischen jenen verlief, die die Menschenrechte respektierten, und jenen, die diese bewußt und zynisch ablehnten, das wurde nicht erkennbar.

Dieser Mangel an staats-und verfassungsrechtlicher Klarheit hat der Popularität des politischen Extremismus zweifellos in die Hände gearbeitet. Die Leichtigkeit, mit der 1933 die rechtsstaatliche Verfassung außer Kraft gesetzt werden konnte, der Mangel an Bedenken, dem Vorgang seine Zustimmung zu geben, finden hier ihre Wurzeln. Auch die mutige Rede, mit der Wels damals die Zustimmung der Sozialdemokraten verweigerte, läßt nicht erkennen, daß man sich des historischen Rückfalls voll bewußt war. Der Protest galt den persönlichen Verfolgungen, der Einbuße an Volkssouveränität und demokratischer Machtkontrolle, nicht aber der Gefahr einer bewußten und zynischen Barbarisierung unseres politischen Lebens mit der Möglichkeit des staatlich befohlenen Massenmords. Wird man einwenden, daß dergleichen noch außerhalb der Vorstellungen gelegen habe, und die breite bürgerliche Zustimmung, die der „Tag von Potsdam“ ankündigte, auch so zu verstehen gewesen sei, so liegt darin die Bestätigung, daß hier, mangels einer klaren politischen Unterrichtung, eine Trübung des Blicks für die Tragweite des Geschehens vorlag.

Dies alles ist eine Warnung und eine Lehre. Das Grundgesetz hat unter dem Eindruck solcher Erfahrungen die Grundrechte an die Stelle gesetzt, die ihnen zukommt. Und es ist der Schule dringend aufgegeben, abermaligem Verhängnis pädagogisch entgegenzuwirken. Den Tendenzen zur erneuten Ideologisierung unseres politischen Lebens, die am gefährdet-sten Punkt ansetzen, wenn sie sich an die Jugend wenden, ist am nachdrücklichsten begegnet, wenn die Grundrechte in der politischen Pädagogik an den richtigen Ort gerückt werden. Jedenfalls wird lediglich von ihrer grundgesetzlichen Absicherung nichts zu hoffen sein, wenn eine soziale Volks-und Massenbewegung ihre Beseitigung durchsetzen wollte. Verfassungen ohne den politischen Willen breiter Volksschichten sind ohne historisches Gewicht. Ein solcher fester Wille hängt, nach allem was man sagen kann, auch von geklärten Vorstellungen ab; dabei kommt der Begriffsklärung durch den Unterricht keine geringe Rolle zu.

Die Bemühungen der Ideologen richten sich daher auch ganz gezielt auf die Verwirrung der Elementarbegriffe, mit denen bisher eine prinzipielle Klarheit bis in die Bereiche der volkstümlichen Vorstellungen hinein geschaffen werden konnte: Es geht um die Begriffe Totalitarismus und Pluralismus. Der Begriff „Pluralismus" kennzeichnet treffend und all-gemeinverständlich den Zustand der Gesellschaft, der sich in nachfeudaler Zeit herausgebildet hat. Eine geistige, soziale und wirtschaftliche Gesellschaftsverfassung, die der Vielzahl der weltanschaulichen, politischen und ökonomischen Tendenzen jene Freiheit zumißt, die ihren gedeihlichen Beitrag zum Gesamten garantiert, ohne ihnen ein Übergewicht zu konzedieren, wird so bezeichnet. Und das breitere Verständnis für diese komplizierte Sozialstruktur ist durch die Popularisierung des Wortes sehr begünstigt worden. Das gleiche gilt für den Gegenbegriff. Das Wesen des Totalitarismus ist durch die gelehrte und auch volkstümliche Diskussion so weit geklärt, daß man weiß, wovon man spricht. Ein Staat, der den Anspruch stellt, nicht nur die politischen Dinge entsprechend seiner Machtbefugnis zu regeln, sondern die gesamten Lebensäußerungen eines Volkes zu reglementieren und seine Herrschaft über alle privaten Bereiche auszudehnen, gilt in der Sprache der Wissenschaft als totalitär. Der Versuch der ideologischen Subversion, die Verwirrung mit dem Austausch der Begriffe einzuleiten, die Parteidiktaturen als „pluralistisch" zu apostrophieren und den pluralistischen Demokratien einen totalitären Charakter zuzusprechen, kann sowohl dreist als auch gutgläubig sein, besitzt aber gerade dadurch die Möglichkeit des Erfolgs. Auch darüber sind wir durch Erfahrungen belehrt: die deutschen Kommunisten nannten in den Tagen der Auflösung der Weimarer Republik die Sozialdemokraten ausschließlich „Sozialfaschisten"; der Rechtsextremismus nannte die Tendenzen des intellektuellen Liberalismus nur noch „bolschewistisch" und sprach von „Kulturbolschewismus“, „Sexualbolschewismus", „Steuerbolschewismus", und Goebbels bezeichnete sich als „besseren Demokraten". Für alle Versuche einer politischen Demagogie, die verbale Verwirrung voranzutreiben, gilt, daß den Anfängen zu wehren ist; die rationale Analyse und die Klärung der Begriffe ist eine der Voraussetzungen für die Klarheit des Bewußtseins, die der politische Unterricht herzustellen hat.

Dieser Tendenz kann ein methodisches Prinzip hilfreich sein, das in jüngerer Zeit im politischen Unterricht unserer Schulen eine gewisse Resonanz erhalten hat und das schulpraktische Konseguenzen aus der „pluralistischen" Situation unserer Gesellschaft ziehen will. Der Pädogoge Rudolf Engelhardt schlägt vor, in der Schule aktuelle oder historische Fälle und Situationen des politischen Lebens zu behandeln, an denen man das relative Recht der anderen Seite bzw.der anderen Seiten zu erkennen vermag. Hier müßten die Schüler lernen, daß es „das" Recht, „die" Wahrheit, „den" Primat im sozialen und politischen Leben nicht gibt, daß hier Recht gegen Recht, Interesse gegen Interesse, Anspruch gegen Anspruch, Glaube gegen Glaube steht und nur der Kompromiß, der Ausgleich, der Vergleich den Beteiligten weiterhilft. Einem solchen Vorschlag, „Kontroversen" in den Mittelpunkt des Unterrichts zu stellen, liegt die liberale Theorie unserer Gesellschaftsordnung zugrunde, wobei wir den Begriff „liberal" mit jenen Einschränkungen verstehen, die dem Gedanken seinen aktuellen Wert bewahren.

Es handelt sich auf den ersten Blick also um das Prinzip des freien Interessenausgleichs, das das Leben der westeuropäischen und amerikanischen Gesellschaft trägt. Nur auf den ersten Blick allerdings und beim flüchtigen Hinsehen! In Wahrheit enthält es kein laissez faire, sondern eine sehr pointierte und nach-

drückliche Wendung gegen die Ideologisierung der Politik. Dies ist von Theodor Litt, der zum ersten Male auf die Bedeutung dieses Zusammenhangs für die politische Bildung hingewiesen hat, herausgearbeitet worden. Die Bemühung, das Wesen der politischen Ordnung in der „Harmonie" zu sehen, zielt auf den Totalitarismus, so Litt. Die pluralistische Ordnung dagegen sei kontrovers — Litt spricht von Dissonanz —, denn wer Freiheit wolle, müsse eine unharmonische Ordnung in Kauf nehmen. Ein Unterricht, der die junge Generation lehren sollte, in einer Gesellschaft zu leben, in der eine undoktrinäre, pragmatische Auffassung von der Politik das öffentliche Bewußtsein beherrsche, müsse die Schule bestimmen. Eine solche Unterrichtslehre ist richtig zu interpretieren. Sie unternimmt nicht etwa den Versuch, die Jugend mit dem resignierenden und agnostischen Achselzucken der Lebens-skepsis vertraut zu machen — sie träfe bestimmt auf den Widerspruch des Wahrheits-und Absolutheitswillens junger Menschen. Es handelt sich vielmehr um eine — wenn der antiquierte Terminus noch einmal verwendet werden darf — politische Tugendlehre. Denn Toleranz, Nachgiebigkeit, Kompromiß-und Ausgleichswille kennzeichnen ein höchst aktives Verhalten, dem die rationale Abwägung der Ansprüche, die kritische Selbstprüfung und ein selbstüberwinderischer Altruismus voraufgehen müssen.

Ausblick

Wir stehen am Ende unserer Betrachtung. Sie hat — wie hätte es anders sein können — mit jeder Frage, auf die eine Antwort versucht wurde, neue Fragen aufgeworfen. So fahren wir nur im Tenor der Abhandlung fort, wenn mit Fragen an die Zukunft der Abschluß gesucht wird. Ist der Pluralismus der Werte, den das geklärte Bewußtsein des gebildeten Mittel-europäers voraussetzt, seinerseits ein Wert, für den zu leben und zu streiten sich lohnt? Der geschichtsgeprüfte Mensch der älteren Jahrgänge, dem die erste Hälfte unseres Jahrhunderts das Bewußtsein geprägt hat, möchte diese Frage bejahen. Ihm will der politische Relativismus als ein Prinzip erscheinen, das allein geeignet ist, die Menschheit vor einer Wiederholung der blutigen Greuel der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu bewahren. Fürs nächste, fürs weitere, für immer?

Auf diese Fragen ist nur eine vage Auskunft möglich. Es ist ja dem Menschen nicht die Fähigkeit gegeben, sein Zeitalter — oder auch nur irgendein Zeitalter — zu beurteilen und zu bewerten. Die geschichtlich-gesellschaftliche Welt entzieht sich der menschlichen Erkenntnis nahezu völlig. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft liegen für ihn im Dunkeln. Die Kenntnis des Vergangenen ist gründlich; die historische Wissenschaft hat ein unübersehbares Tatsachenmaterial vor uns ausgebreitet. Aber Urteil und Bewertung erfordern geschichtsphilosophische Kategorien und Aspekte, und schon verlassen wir den Bereich der Wissenschaft und betreten das Terrain der Spekulation. über die Gegenwart erhalten wir täglich eine Fülle detaillierter Informationen; aber niemand kann sie zu einer Gesamtschau bündeln und ordnen. Die Zukunft ist völlig verhangen, trotz aller Futurologie. Geschichtliche Vergleiche können lediglich helfen, diese unsere Situation deutlich zu machen, denn die profundesten Denker sind in allen Zeiten zu den eklatantesten Fehlurteilen gekommen: Als Gibbon 1780 die historische Lage Europas analysierte, wäre ihm auch nur der Schimmer einer Erwartung von Revolution und Cäsarismus als eine Absurdität erschienen. H. G.

Wells schreibt über diese Situation: „Da die im Mittelalter formulierten, großen schöpferischen Ideen versagt hatten, ermangelte der menschliche Geist jeder schöpferischen Führerschaft.

Sogar gebildete Männer von Phantasie sahen die Welt undramatisch, nicht mehr als ein Wechselspiel von Willenskraft und Schicksal, sondern als eine Bühne, auf der ein Alltags-stück erlebt und sanfte Tugenden belohnt werden. Nicht nur die selbstzufriedenen, konservativ Gesinnten waren überzeugt davon, daß in der Welt trotz aller stürmischen Veränderungen eine Stabilität menschlicher Lebensbedingungen erreicht sei. Sogar kritische und rebellische Geister neigten zu derselben Ansicht, da die Seele der Gesamtheit nicht die leisesten Anzeichen schöpferischer Kräfte verriet." Immanuel Kant wagte mit plausiblen Gründen die Prophezeiung, daß der „ewige Friede" hergestellt sei, wenn alle Staaten Republiken wären. Nichts aber wurde im 19. und 20. Jahrhundert so gründlich — und so furchtbar — widerlegt. Sozialistische Staaten würden niemals Krieg gegeneinander führen, ließ Engels sich vernehmen. Heute halten die kommunistischen Weltmächte, Vertreter von einer Milliarde Menschen, Waffen füreinander bereit, mit denen man Milliarden Menschen umbringen kann.

Für welche Zeit kann in Europa die Entideologisierung der politischen Welt gelingen, die allein eine Garantie werden könnte für einen friedlichen Abschnitt der Geschichte? Und wollen die Menschen denn überhaupt das „Wechselspiel von Schicksal und Willenskraft" durch die „sanften Tugenden des Alltagsglücks" ablösen? Und kann der Mensch denn in der liberalen Gesellschaft sein Leben führen — jener Ordnung, die ihn, nach Durkheim, in die Einsamkeit der „Anomie", der Bindungslosigkeit, stößt, aus der er in den Selbstmord flieht? Und kann und will der Mensch so leben, ohne die Prämissen und Garantien des Glaubens, in einer Situation der Relativität der Werte? Ist nicht vielleicht die Reflexionskultur nur ein kurzlebiges Experiment zwischen Epochen der Bindung des Lebens an erzwungene oder freigewählte Normen und selbstgesetzte Grenzen, die die freie, schöpferische Vernunft weder überschreiten kann noch will, wie in vergangenen Zeiten oder in sozialen Systemen neben dem unsrigen? Und welche Rolle wird der freie und ungebundende, kritische Geist dann noch spielen? Wird er in geheimer Opposition geduldet bleiben? Wird er ein Apologet der strengen geistigen Bindung des Menschen werden, wie Dostojewskis Großinquisitor? Oder wird ihm die Hegelsche Rolle zufallen, daß er aus vermeintlich tieferer Einsicht in die Vernunft des Wirklichen den Tatsachen seine Reverenz erweist? Und wird er das sacrificium intellectus dann noch als solches erleben?

Der große Benedetto Croce legte in den Tagen, als der Liberalismus von den totalitären Mächten überrannt war, sein Bekenntnis zur Freiheit ab und schrieb: „Wenn einem heute die Frage gestellt wird, ob der Freiheit sozusagen die Zukunft gehöre, dann muß man erwidern: etwas viel Besseres — die Ewigkeit!" Er gewann seinen Trost aus dem Worte Hegels, daß die Idee keine Eile habe. — Das alles sind die Zweifel, die sich dem Bewußtsein aufdrängen, wenn es der Erziehung zu freiem, kritisch-abwägendem Urteil das Wort redet und an die Möglichkeit eines Lebens des Menschen in einer pluralistischen Gesellschaft glaubt.

Der Tag und die Stunde machen diese Fragen dringlich und geben ihnen eine unerwartete, bedrückende und beängstigende Aktualität. Die Neigung zur Ideologie hat in unserer Gesellschaft nur eine Weile geschlummert. Sie ist wieder erwacht und erfaßt heute hier und dort auch jene, denen das erzieherische Amt die Aufgabe setzen sollte, die Jugend zu offenem, tolerantem Welturteil zu erziehen. Es wiederholt sich — es könnte sich wiederholen — was man nach 1945 als das tragische Verhängnis der Jugend empfand: Die Indoktrinierung hatte ihre Opfer zu Taten hingerissen, für die man ihnen den Galgen aufrchtete, und immer wieder wurde gefragt, ob nicht die Schuldigen jene wären, die, selber fanatisiert, die intellektuelle Wehrlosigkeit der Jugend mißbraucht hatten, um ihre eigene Verranntheit pädagogisch weiterzugeben. Ist aber die Schuld richtig zugemessen, wenn man sagt, daß weder die indoktrinierte Jugend noch ihre dem Wahn verfallenen Pädagogen die Hauptschuld trifft? Denn den überzeugungsund Gesinnungstätern — selbst wenn sie Entsetzliches getan haben — wird man ja nicht die volle intellektuelle Zurechnungsfähigkeit zusprechen können. Eine uneingeschränkte Verantwortung trifft aber jene, die im Bewußtsein der Situation, sei es aus Furcht, sei es aus falsch verstandener Toleranz, den Dogmatikern die heranwachsende Generation in einer Zeit ausgeliefert haben, als sie noch die Macht hatten, es zu verhindern. Und es muß erwartet werden, daß sie sich nun beim zweiten Male ihrer Verantwortung bewußt werden. Wenn die allgemeine Schulpflicht die nachwachsende Generation in die staatlichen Schulen zwingt, dann müssen die Eltern vom Staate fordern, daß ihre Kinder dort nicht Ideologien ausgeliefert werden. Mag der Staat sein Verhältnis zu den Vertretern der dogmatischen Gesellschaftslehre regeln, wie er es für verantwortbar hält, die Schule darf er ihnen nicht überantworten. Das „Principiis obsta" hat heute also den Tendenzen zu gelten, die unserer Betrachtung das Thema gegeben haben — der Ideologisierung der politischen Bildung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ernst-August Roloff, Politische Bildung zwischen Ideologie und Wissenschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 41/71 v. 9. 10. 1971.

  2. A. a. O., S. 6, 8 und 14.

  3. Ebenda, S. 8.

  4. Ebenda, S. 14.

  5. Ebenda.

  6. Ebenda, S. 8.

  7. Ebenda, S. 8.

  8. Ebenda, S. 7.

  9. Ebenda, S. 14.

  10. Ebenda, S. 14.

  11. Ebenda, S. 14.

  12. Ebenda, S. 14.

  13. Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt 1952.

  14. Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1956.

  15. Romano Guardini, Der Tod des Sokrates, Düsseldorf und München o. J.

  16. Ebenda, S. 6.

  17. Benedetto Croce, Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert, Zürich 1968.

  18. Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, München-Berlin 1936.

  19. Ernst Troeltsch, Deutscher Geist und Westeuropa, Tübingen 1925.

  20. Karl Jaspers, Die qeistiqe Situation der Zeit, Berlin 1933.

  21. Alexander Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart, Zürich-Stuttgart 1957.

  22. Restauration entläßt ihre Kinder, Hamburg

  23. E. -A. Roloff, a. a. O„ S. 6.

  24. Ebenda, S. 6.

  25. Ebenda, S. 8.

  26. Zur Wirksamkeit politischer Bildung. Max Traeger Bericht, Frankfurt 1966.

  27. Weltgeschichte, 1928.

Weitere Inhalte

Dr. Hugo Andreae, geb. 1910, Professor der Hamburger Universität mit Lehrauftrag für politische Bildung-, gelernter Tischler; seit 1928 Mitglied der SPD; seit 1935 Gewerbe-lehrer und seit 1947 Hochschullehrer in Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: Demokratie in unserer Zeit, 1971 3; Sozialkunde für berüfsbildende Schulen, 1971 9; Gemeinschaftskunde für Frauenschulen, 1969 3; Kleine Gemeinschaftskunde, 1968 3; Lehrbuch der Geschichte für berufsbildende Schulen, 1971 7; Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, 1971 *; Der Unterricht in der Gemeinschaftskunde, 1965 3; Politische Bildung in der Berufsschule, 1964; Zur Didaktik der Gemeinschaftskunde; 1968; Politisches Unterrichtswerk für die Fachoberschule, Bd. 1: Der Rechts-und Verfassungsstaat, 1970; Bd. 2: Die Wirtschafts-und Sozialordnung, 1971; Bd. 3: Deutschland in der Weltpolitik, 1972; Politischer Unterricht in Frage und Antwort, 1970.