Vor allem auf der lokalen Ebene des Sports mit seinen differenzierten Gruppierungen finden die aktiven Sportler „ihr" Publikum und entsprechende Rollenchancen in der örtlichen Gesellschaftsstruktur. Im Hinblick auf die wachsende soziale Mobilität trägt der lokale Sport auch dazu bei, sowohl die aktiven Sportler wie die allgemein Sportinteressierten rascher in die neuen lokalen Gruppen zu integrieren und ein entsprechendes Gruppenbewußtsein zu schaffen. Nationale Integration durch Förderung des internationalen Sportbetriebs besitzt dagegen eine andere Sozialrelevanz. Aktualisierung des nationalen „Wir" im internationalen Sportbetrieb kann dazu führen, daß nationale Antagonismen und konfliktfördernde Vorurteilsstrukturen nicht aufgelöst, sondern eher begünstigt werden. Die Integrationseffekte des Sports können auch Herrschaftsinteressen dienlich gemacht werden, mit um so mehr Aussicht auf Erfolg, als zum Erkennen des sportlichen „Wertes" der eigenen Nation schon geringe intellektuelle Fähigkeiten ausreichen. Da dem „Nationalgefühl" zudem ein Pathos anhaftet, das anderen Gruppengefühlen, soweit sie im Sport aktualisiert werden, nicht eigentümlich ist, wird unbewußt eine Ich-Ergänzung gerade durch Erfolge der nationalen Gruppe gesucht. Ich-Schwäche muß besonders bei Angehörigen der sozial unterprivilegierten Bevölkerungsschichten angenommen werden, die insoweit im Sport eine Kompensationsmöglichkeit zu finden vermögen. Privates Mäzenatentum und staatliche Förderung nationalen Leistungssports werden von ihnen positiv bewertet und im Sinne einer gewissen Legitimierung des Bestehenden umgesetzt. In der Bundesrepublik hat der Auftrag, 1972 die Olympischen Spiele auszugestalten, nationales Prestigedenken im Sport erheblich gefördert. Diese Gesinnung mindert die Bereitschaft, den Sport als private Lebensäußerung und Angelegenheit autonomer Gruppen zu werten, was angesichts der Gültigkeit demokratischer Wert-und Zielvorstellungen kritisch bedacht werden sollte. Das Prestigegedenken wirkt zudem desintegrativ auf das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der DDR.
Im modernen Sport ist seit langem die Tendenz zu beobachten, daß die öffentliche Bedeutung des „Publikumssports" gegenüber der Bedeutung der aktiven Sportbetätigung stetig wächst. Im Begrifflichen hat sich allerdings noch keine klare Scheidung dieser beiden Seiten der Sportwirklichkeit ergeben. Im allgemeinen werden beide mit der Bezeichnung Sport zu fassen gesucht. Daß der Sport, wie Andreas Flitner noch in jüngster Zeit feststellen mußte, „als ein Schlüsselphänomen unseserer Zeit ... in der wissenschaftlichen Erforschung und theoretischen Durchdringung noch fast am Rande steht" hat sich auch dahin aus-gewirkt, daß die Begriffe, die zur Kennzeichnung der Sportwirklichkeit zur Verfügung stehen, nicht sehr differenziert sind. Es erscheint daher notwendig, sich in manchen Zusammenhängen einer vorläufigen, nicht allgemeinen gebräuchlichen Terminologie zu bedienen.
„Jede Tätigkeit ist Sport", so definierte Steinitzer, „soweit sie ausdrücklich zu dem Zweck ausgeführt wird, Kräfte mit anderen unter bestimmten Ausführungsbedingungen zu messen." Diese Definition berücksichtigt das Element des Wettstreits, das „agonale Prinzip" im Sport wie auch seine Regelhaftigkeit. Sie macht es daher möglich, Gymnastik oder etwa ein nicht wettkampfmäßig betriebenes Turnen oder Schwimmen zu eliminieren und den Leibesübungen zuzuordnen. „Der Drang ins Öffentliche", den Valentich als „ganz charakteristischen Zug alles Sportlichen" bezeichnet muß aber außerdem berücksichtigt werden, wenn man Sport zu definieren versucht.
Es erscheint, wenn es um die Komponente der . öffentlichen Anteilnahme" im Sport geht, gerechtfertigt, von „Massensport" zu sprechen, zumal der Begriff „Publikumssport" nicht sehr gebräuchlich ist. Die vielen aktiven Sportler sind „Masse" lediglich in einem statistischen Sinne, im Sinne von „Menge". „Immer gehört zur Masse", meint Leopold v. Wiese, „das Mitgerissensein, das Untergehen eines Teils des Ichbewußtseins im Wirbewußtsein." Prozesse dieser Art sind, wie in der folgenden Abhandlung näher belegt wird, in besonderem Maße beim Publikum des Sports zu beobachten, so daß die Charakterisierung dieser Seite des Sports als „Massensport" berechtigt erscheint.
Publikumswirksame Sportarten und der entsprechende Sportbetrieb sollen im folgenden im Vordergrund der Betrachtung stehen. Die Analyse muß zusätzlich berücksichtigen, daß es einmal das Sportplatzpublikum gibt, das wir vor allem im „Primärbereich" des Sports, bei den Vereinen als den bedeutsamsten Trägern des sportlichen Lebens, finden, daß der Sport aber zum anderen ein „Medien" -Publikum hat, dessen Anteilnahme sich über die Kommunikationsmedien Zeitung, Rundfunk und Fernsehen vollzieht und das besonders als Fernsehpublikum sein Interesse mehr auf eine „sekundäre", vor allem nationale und internationale Ebene des Sports richtet.
A. Publikum im Primärbereich des Sports I. Die „Vertretung" von Gruppen
Das Wort „Vertretung" begegnet uns in bestimmten Zusammenhängen in der Begriffswelt des Sports recht häufig. Man spricht beispielsweise von Vereins-Vertretungen, Städte-Vertretungen, National-Vertretungen, Länder-Vertretungen etc. In diesen Verbindungen verwendet, verdeutlicht der Begriff der „Vertretung", daß sich das „Kräftemessen mit anderen" (Steinitzer) nicht nur auf den aktiven Sport beschränkt, sondern daß sich bei diesem Kräftemessen gleichzeitig bestimmte Gruppen von den Sportlern „vertreten" sehen. J. Huizinga weist darauf hin, daß „Ehre und . . . Ansehen stets unmittelbar der ganzen Gruppe zugute kommen, der der Gewinnende angehört . . . Der im Spiel errungene Erfolg ist in hohem Grade vom Einzelnen auf die Gruppe übertragbar."
In der Tatsache, daß in der Wirklichkeit des heutigen Sports selbst eine Großgruppe wie die „Nation" vertreten wird, daß dabei das „Wir-Bewußtsein" vieler Gruppenangehöriger durch Hoffnung auf Teilhabe an einem Erfolg „aktualisiert" wird, ist fraglos in starkem Maße die Publizität sportlicher Ereignisse begründet. Das Jahrbuch 1930 des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) brachte eine Erlebnis-schilderung zum Thema „Der kleine Unbekannte im Sport", die unter mehreren Einsendungen, die man von Sportinteressierten zu diesem Thema erbeten hatte, ausgewählt worden war. Es hieß dort unter anderem: „Ich bin die Null. Namenlos und unbekannt . . . Ich, der kleine Unbekannte im Sport, das Mitglied, der Anhänger, das Stück der Masse . . . Wie oft lauschte ich des Sportgeistes Brausen, wenn der Flügelschlag großer Ereignisse Gefühl und Empfindung traf. Eine seltsame Unruhe beginnt im Blut zu kreisen, je näher die große Stunde rückt . . . Um den Platz stauen sich die Massen. Mittendrin, ein Teil, ein Stück des gewaltigen Organismus auch ich. Erwartung schwebt überall. Länderkampf! Schauer der Erregung durchzittern die Menge. Machtvoll offenbart sich die Größe des deutschen Sports . . . Höhepunkte des Lebens . . . Auch den kleinen Unbekannten kann das Schicksal begnaden."
Ein sportlicher Länderkampf kann für viele einer der Anlässe sein, durch die „der Wert der eigenen Person, mit dem Effekt der He-* bung des Selbstgefühls, durch den der eigenen Gruppe ergänzt wird" An diesem Erlebnis auf der Sportstätte unmittelbar und dadurch besonders intensiv teilhaben zu dürfen, ist allerdings bei einem Länderkampf nur wenigen der „vertretenen" Gruppenangehörigen vorbehalten. Der weitaus größere Teil ist auf Vermittlung durch die Massenmedien angewiesen. Da es aber im Wechselverhältnis zwischen aktivem Sport und Publikum aus einer Reihe von Gründen, auf die noch näher einzugehen sein wird, wichtig ist, ein zahlreiches Sportplatzpublikum zu gewinnen, müssen Formen des Sportbetriebes gepflegt werden, die das gewährleisten. Das ist nachweislich durch Pflege der Sportgegnerschaft zwischen Vertretungen von Lokalgruppen optimal zu erreichen. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß bei Mitgliedern von Sportvereinen ein besonders starkes „Wir-Gefühl" angesprochen wird, wenn ihre Sportler in Wettkämpfen stehen. Die Vereinsmitglieder dürften, relativ gesehen, einen großen Teil des Sportplatzpublikums stellen, Die großen absoluten Zahlen sind aber so nicht zu erklären. Vielmehr sind erfolgreiche Vereine und ihre Sportler effektiv in der Rolle der Vertretung von Lokalgruppen, deren Gruppenmitglieder sie mobilisieren. Städte werden im heutigen Sportbetrieb keineswegs durch Stadtmannschaften repräsentiert, sondern die Angehörigen der jeweiligen Lokalgruppe fühlen sich durch erfolgreiche Sportler eines Ven eins vertreten. Ähnliche Vertretungsrollen haben etwa Vereins-Fußballmannschaften für die einzelnen Länder in den Europawettbewerben der Landesmeister und Landespokalsieger. Diese Vereinsmannschaften aktualisieren nationales Gruppenbewußtsein in etwa dem gleichen Maße wie Nationalmannschaften in Länderspielen. Um ein potentielles Sportplatzpublikum stimulieren zu können, muß also vor allem die Voraussetzung erfüllt sein, daß der Gegner eine fremde Gruppe repräsentiert. Die Ausprägung des Wir-Gefühls einer Gruppe beeinflußt zusätzlich den Grad der Distanz gegenüber anderen Gruppen. So mag etwa die unterschiedliche Publikumsresonanz auf den sportlichen Antagonismus zwischen Stadtteil-Vertretungen einerseits und Stadt-Vertretungen andererseits darauf hinweisen, daß im allgemeinen das Wir-Gefühl des einzelnen gegenüber der städtischen Gesamtgruppe stärker ist als gegenüber einer Teilgruppe der Stadt. Der verschieden starke Grad der Außenabgrenzung von Städten und Stadtteilen trägt gewiß dazu bei.
Je kleiner die Siedlungsgebilde sind, um so klarer werden auch die Konturen des „Wir", weil Teilgliederungen der Gemeinden immer stärker zurücktreten. Von hier aus mag mit zu erklären sein, daß, anteilsmäßig gesehen, in kleineren Orten ein in der Zahl stärkeres Sportplatzpublikum gewonnen werden kann als in größeren Die „Kohäsion", worunter Eisermann eine jeweilige „Festigkeit der Bindungen der Gruppengenossen aneinander, die Hafttiefe ihrer sozialen Beziehungen" versteht, sei, wie er meint, „für die Erkenntnis der Gruppen wichtig". „Die Kohäsion ist . . . umgekehrt proportional zur Größe der Gruppe . . ." sagt er weiter. Insoweit kann für kleinere Lokalgruppen eine größere Kohäsion angenommen werden, die eine Erklärung für die in der Wirklichkeit des Sports sichtbaren Zuschauerproportionen liefert. Es ist aber zusätzlich zu bedenken, daß die Beziehungen zwischen den Gruppenangehörigen und ihren sportlichen Vertretungen um so persönlicher werden, je kleiner die Lokalgruppe ist und daß so das „Wir", das „Vertreter" und „Vertretene" umschließt, stärker empfunden wird.
Die größeren absoluten Zuschauerzahlen in Großstädten verschaffen ihren Bewohnern allerdings dort eine größere Chance zur Befriedigung ihres Selbstgefühls, wo der Sport als Berufssport betrieben wird. Die persönliche Distanz zum agierenden Sportler dürfte dem großstädtischen Sportpublikum die Identifikation mit einer Leistung erleichtern, die bestenfalls nur sehr bedingt eine sportliche Leistung der eigenen Gruppe ist. Im Berufs-fußball etwa haben wir es vielfach mit Leistungen von Angehörigen fremder Gruppen zu tun, die zur Sicherung des Prestiges der eigenen Gruppe gekauft worden sind. Im Berufssport findet daher auch der Sport-Nationalismus gewisse Grenzen. Ob es sich um den berufsmäßig betriebenen Fußball-, Rad-oder Autorennsport handelt, immer ist ein Element von „Internationalität" zu erkennen, das sich von den „internationalen" Formen des Amateursports unterscheidet, daß nämlich im Berufssport die Vertretungen in ihrer Zusammensetzung „international" sein können
Im Berufssport kann also der Wunsch einer jeweiligen Gruppe, aus Prestigegründen leistungsmäßig gut vertreten zu werden, die gruppenmäßige Herkunft der Sportler in den Vertretungen nebensächlich werden lassen. Die Bereitschaft zum sportlichen Illusionismus und damit zu einer Spielhaltung scheint hier durchaus gegeben. Es ist weiterhin auch die Frage, ob im Vertretenwerden durch eine nach Nationalitäten bunt gewürfelte Mannschaft nicht mehr Fremdheits-und Distanzgefühle abgebaut werden als im Antagonismus zwischen Nationalvertretungen.
Dies sind allerdings Effekte des Berufssports, denen er keineswegs seine Förderung verdankt. Für unseren Zusammenhang ist vor allem festzuhalten, daß der kommerzielle Aspekt ihn primär dem Publikum der Großstädte vorbehält. Zum anderen sind die sozialen Beziehungen in den urbanen Zentren einer starken Versachlichung und Entpersönlichung unterworfen. Durch Teilhabe am Leistungssport höherer Stufen ist es Großstadtbewohnern möglich, sportliche Wir-Erlebnisse einer entsprechenden Intensität haben zu können.
Umgekehrt fehlt den kleineren Orten die Möglichkeit, sich in publikumswirksamen Sportarten ähnlicher leistungsfördernder Mittel zu bedienen. Sie scheinen aber zuweilen dieses Unvermögen dadurch zu kompensieren, daß sie sich der Förderung der weniger populären Sportarten annehmen. Hier werben die Großen nicht im gleichen Umfang ab. Mit oftmals verblüffender Ausschließlichkeit wird dann eine Sportart betrieben, in der es möglich ist, zu Meisterehren auf höchster Ebene zu kommen. Im Ringen, Gewichtheben, Feld-und Hallenhandball stehen oftmals kleinste Orte in der „nationalen Spitze". Anders als bei „König Fußball" finden wir in der Ringer-Bundesliga Namen wie Schifferstadt, Efferen, Köllerbach, Aalen, Hallbergmoos, Bad Reichen hall, Tuttlingen; in der Handball-Bundesliga Namen wie Dankersen, Gummersbach, Wellinghofen, Göppingen, Großwallstadt, Rintheim, Milbertshofen, Leutershausen etc.
II. Die „lokale" Integration
Abbildung 2
1963/64 Zuschauer in den Bundesliga-Spielzeiten (in Millionen)
(In Klammern: Tabellenplatz bei Saisonende) 1964/65 1965/66 1966/67 1967/68 1968/69 1969/70 Zuschauer Einwohner der Stadt 1966 Hamburger SV 0, 516 0, 532 0, 393 0, 435 0, 316 0, 350 0, 290 3, 353 1, 854 (6)
Es gibt keineswegs, wie der Sportbetrieb erkennen läßt, ausschließlich gruppenaffine Motive der Anteilnahme an sportlichen Veranstaltungen. Wettkämpfe, die etwa Titelentscheidungen auf nationaler oder internationaler Ebene mit sich bringen, die aber zumeist nur in längeren zeitlichen Abständen wiederkehren, haben einen so starken Sensationscharakter, daß sie eine weitergehende Publizität gewinnen. Es ist dann aber zu beobachten, daß die Anteilnahme bei den „vertretenen" Gruppen weitaus größer zu sein pflegt als am Austragungsort des Wettkampfes, obgleich die Angehörigen dieser Gruppen nur ein mittelbares Erlebnis haben. Der geläufige Sport-Terminus „neutraler Austragungsort“ oder „Ort mit neutralem Publikum" bestätigt, daß es gleichzeitig eine nicht-neutrale Reaktionsweise auf derartige Sportbegegnungen gibt.
Ein Teil des Medien-Publikums sucht gewiß auch aus einem von Gruppeninteressen freien, rein spielerischen Verhältnis die Information etwa über die jeweiligen Ergebnisse der Fußball-Bundesliga. Im ganzen entspricht aber auch das Fernsehen den Erwartungen von Gruppen, vor allen Dingen der „nationalen", in seinem jeweiligen Sendegebiet.
Die Sportberichterstattung der Lokalpresse ist dagegen in sehr starkem Maße auf Erwartungen von Lokalgruppen bezogen, und fraglos beeinflussen diese Erwartungen sogar die Existenzgrundlage der örtlichen Zeitungen. Die Funktion der Presse gegenüber den Erwartungen der Sportanhänger bestätigt aber zusätzlich, daß die Wechselbeziehung zwischen agierenden Sportlern und Lokalgruppen ein sehr bestimmender Faktor für die öffentliche Bedeutung des Sports ist.
Diese Wechselbeziehung hat sich im ganzen, sieht man von den zweckorientierten Manipulationen im Hochleistungs-und besonders im Berufssport ab, spontan herausgebildet. Sie ist informeller Natur und insofern in gewissem Umfang auch eine Reaktion auf die Rationalisierungsprozesse der Industriegesellschaft. Es hat sich gezeigt, wie Rene König unter Hinweis auf Untersuchungsergebnisse besonders der Industrie-und Betriebssoziologie feststellt, „daß gerade dort, wo die allgemeine Tendenz zur Rationalisierung am ausgeprägtesten ist, spontane Gruppen informeller Natur entstehen" formellen Gruppenstrukturen inder Arbeitswelt wurden ergänzt durch die Entwicklung weiterer, sehr zweckrational orientierter Gruppen, nämlich Interessengruppen, deren Entstehungsursachen in der Arbeitsteilung und der privaten Verfügung über das Ergebnis gesellschaftlicher Arbeit liegen. Die Zugehörigkeit zu diesen Gruppen ist entsprechend den Ursachen ihrer Entstehung und Existenz mit Leistungsauflagen an das Mitglied verbunden.
Die Identifikationen mit sportlichen Vertretungen der Lokalgruppe, der man angehört, kommen in einer weitaus freieren, sehr spielerischen Weise zustande. Man kann die Identifikation vollziehen, wenn sie Aussicht auf Teilhabe am Prestigegewinn verspricht, man kann auf sie verzichten, wenn diese Aussicht nicht besteht. Man kann bei „Sieg" ein Bewußtsein der Teilhabe am Prestigegewinn in sich nähren, man kann das Bewußtsein der Teilhabe am sportlichen Mißerfolg andererseits in gewissem Umfang mindern, indem man den Spielcharakter des ganzen („es ist eben doch nur Sport") ins Bewußtsein rückt. Die Tendenz eines jeweiligen Publikums, das Bewußtsein des „Sieges" lange auskosten zu wollen, ist allenthalben erkennbar. Ein so spielerischer Umgang mit dem Wir-Bewußtsein ist gegenüber den Gruppen, zu denen man aus zweckrationalen Gründen in der Industriegesellschaft gehört, nicht möglich. Bei einer Wertung der Integrationseffekte des Sports ist auch zu bedenken, daß die Zugehörigkeit des einzelnen zu gesellschaftlichen Großgebilden — wie etwa Großstädten — heute vielfach nicht dauerhaft ist. Wir beobachten, was die Wahl des Wohnsitzes betrifft, eine starke Mobilität. Die Daten, die das Statistische Bundesamt jährlich unter der Rubrik „Wanderungen nach einer anderen Gemeinde im Bundesgebiet" mitteilt, stiegen fast kontinuierlich von 2, 1 Millionen im Jahre 1950 auf 3, 6 Millionen im Jahre 1968 Wenn Elisabeth Pfeil zudem nachweist, daß Zuwanderungsbevölkerung typisch eine junge Bevölkerung ist damit erfahrungsgemäß eine besonders sportinteressierte, so darf unterstellt werden, daß der Sport vielen Zuwanderern die Integration in die neue und zunächst fremde Lokalgruppe erleichtert.
Sportanhänger werden in das neue „Wir" von dem Augenblick an eingeschmolzen, in dem eine Identifikation mit sportlichen Vertretungen der neuen Lokalgruppe beginnt. Sie überwinden insofern Gefühle der Fremdheit und Isolierung gewiß früher als andere. Die Intensität, mit der „alte" und „neue" Vertretungen in ihrem sportlichen Abschneiden beobachtet werden, gibt Aufschluß über den Prozeß von Lösung und neuer Bindung.
Wenn das Hineingeborenwerden in eine Gemeinde immer weniger eine lebenslange Zugehörigkeit zur gleichen Gemeinde einschließt, so muß dem Sport zugebilligt werden, daß er dazu beiträgt, den Bewohnern ein Bewußtsein nicht nur siedlungsmäßiger, sondern auch gruppenmäßiger Gemeinsamkeit zu geben. Die -s-o-z-ia-l-e-n---I-nteraktionen zwischen Sport und Einwohnerschaft einer Gemeinde rechtfertigen es daher auch, von Lokalgruppen im sportlichen Leben zu sprechen. In dieser Sphäre menschlichen Zusammenlebens ist der Sport eine Konstituante der Formung von Gruppenbewußtsein, was-in unserer Zeit auch unter dem Aspekt gewertet werden muß, daß die Entwicklungen der Städte häufig ohne ausreichende Rücksicht auf menschliche Kommunikationsbedürfnisse betrieben werden.
Wanderungsbewegungen zu den Industriezentren erfolgen heute zunehmend auch über Ländergrenzen hinweg. Es kann angenommen werden, daß der Sport auch ausländischen Arbeitnehmern, die dem Problem sozialer Fremdheit und Isolierung besonders ausgesetzt sind, Integrationshilfen gibt. Das dürfte im Berufs-sport, wo es, wie bereits bemerkt, gruppen-überschreitende Vertretungen gibt, zuweilen am besten gelingen. Man denke etwa daran, daß Gastarbeiter aus Jugoslawien in den Mannschaften der Bundesliga verhältnismäßig oft jugoslawischen Spielern und Trainern begegnen und daß eventuell Jugoslawen und Deutsche gemeinsam diese Mannschaften als „ihre“ Vertretungen betrachten.
Zeugnis für gruppenaffine Motive der Anteilnahme wie für die Integrationseffekte des Sports legen auch jene Anhänger ab, die „ihren" Sportlern als „Schlachtenbummler" oftmals über Hunderte von Kilometern folgen und entsprechende Kosten nicht scheuen. Leistungen allein, die eventuell bei einem sportlichen Ereignis erwartet werden können, genügen nicht, um Sportanhänger zu solchen Aufwendungen zu veranlassen Eisermann gibt zu bedenken, daß die „Kohäsion einer an sich nur locker gefügten Gruppe durch den Eintritt in eine sozial fremde Umgebung stark gefördert" werde, „wie es z. B. bei einer Reisegesellschaft in einem fernen Land der Fall" sei Im Sport ist durch das agonale Moment die Kohäsion schon in starkem Maße vorgegeben, in der Umgebung der fremden Gruppe wird aber eine besondere Steigerung des Selbstgefühls durch Sieg erhofft. Das oftmals auffällige Gebahren dieser Sportanhänger ist ebenfalls so zu erklären. F. Wirth bemerkte aus solchem Anlaß: „Sie kommen nicht, um eine fremde Stadt zu erleben, die Stadt soll sie erleben." Wenn gerade Schlachtenbummler nach Enttäuschungen durch Niederlagen zu Exzessen neigen, dann gewiß auch deswegen, weil ihr materielles Opfer die Fähigkeit zu einer Spielhaltung stark mindert.
Das Bedürfnis der Mitglieder von Lokalgruppen, an Erfolgen der Vertretungen mit dem „Effekt der Hebung des Selbstgefühls" beteiligt zu sein, schließt ein Interesse an materiellen Förderungsmaßnahmen, die einer Leistungsverbesserung der Sportler dienen sollen, häufig ein. Das Förderungsziel, das in der Lokal-gruppe besteht, helfen die Anhänger vielfach selbst zu realisieren, etwa durch Mitgliedschaft und finanzielle Leistungen in einem Verein oder durch Dienstleistungen vielfältiger und zumeist ehrenamtlicher Art. Derartige Rollen machen den Sportverein für die Beteiligten zu einer anziehungskräftigen Erlebnisgemeinschaft wodurch sich auch der immer noch wachsende Mitgliederzuspruch für Sportvereine insgesamt erklärt. Das Erlebnis wirkt integrierend nach innen und desintegrierend nach außen. Vereinszusammenschlüsse gibt es nur selten, obwohl sie vielfach eine leistungsmäßig bessere Vertretung der Lokalgruppe, also „Siege", ermöglichen würden. Bei Carl Diem sind die Ursachen richtig angedeutet, wenn er bemerkt:
„Wenn man . . . zwei Sportvereine zusammenfügt, dann hat man nicht einen doppelten, sondern einen halben" — Es ist hier eine Autonomie kleiner Gruppen zu erkennen, die unter dem Aspekt demokratischer Pluralität als legitim anzusehen ist und die auf der Ebene der Kommunen unter Verzicht auf möglicherweise höheres Sportprestige auch respektiert wird. Mangelhafter Respekt vor dieser Autonomie wird vor allem erkennbar, wenn Leistungsförderung zugunsten „nationalen"
Sportprestiges betrieben wird. Konzentration leistungsstarker Sportler in „Leistungszentren" auf Kosten ihrer ehemaligen Vereine, Unfähigkeitserklärungen für ihre bisherigen Trainer, Berufungen hauptamtlicher Förderungskräfte (Trainer wie Verwalter der Förderung) durch eine von der Basis der Vereine abgehobene Sportbürokratie — solche Erscheinungen gehen, wie allenthalben zu erkennen ist, mit der Förderung des „nationalen Leistungssports" einher, bedeuten aber eine Schwächung der autonomen Gruppen des lokalen Sports.
Sehr häufig ist auf der Ebene der Lokalgruppen Mäzenatentum kapitalkräftiger Privatleute den Vereinen gegenüber zu beobachten. Eine Erklärung dafür hat schon vor langer Frist der Sportpublizist Willy Meisl zu geben versucht. Er meinte, den Gönnern seien „ihre Athleten einigermaßen das, was dem Züchter oder Eigner sein Rennstall ist" — Vertreter des privaten Kapitals, durch ihre gesellschaftliche Rolle ohnehin an eine Verfügungsgewalt über Menschen gewöhnt, mögen sich einmal durch das von Meisl angedeutete Motiv zum Mäzenatentum im Sport veranlaßt sehen. Unterstellen wir darüber hinaus mit Max Weber, daß jede Macht, ja jede Lebenschance ein Bedürfnis nach Selbstrechtfertigung hervorruft so könnte in diesem Bedürfnis eine weitere Erklärung des Gönnertums zu erkennen sein. Sportverein und Angehörige der Lokalgruppe lassen den Mäzen in reichlichem Maße verspüren, daß seine materielle Leistung aufgrund größerer Chance zu Prestigegewinn für sie einen hohen Wert darstellt. Vorstandssitze werden Unternehmern in Vereinen und Verbänden nur zu gern angetragen. Insoweit tragen die Dotationen durchaus zur Legitimierung des privatwirtschaftlichen Systems bei. Mäzenatentum, das der Legitimierung von Privilegien dienen soll, ist allerdings eine historisch bekannte Erscheinung.
III. Publikumswirksamer Sportbetrieb
Abbildung 3
Berlin Hamburg Rheinl. -Pfalz Saarland 2 134 000 1 817 000 3 671 000 1 127 000 644 481 3264 1292 10, 7 12, 5 16, 8 18, 7 16 925 13 370 50 744 14 682 Einwohnerzahl Zahl der Vereine im Deutschen Sportbund °/o der Bevölkerung im Deutschen Sportbund 18— 21-jährige in Sport-vereinen
Berlin Hamburg Rheinl. -Pfalz Saarland 2 134 000 1 817 000 3 671 000 1 127 000 644 481 3264 1292 10, 7 12, 5 16, 8 18, 7 16 925 13 370 50 744 14 682 Einwohnerzahl Zahl der Vereine im Deutschen Sportbund °/o der Bevölkerung im Deutschen Sportbund 18— 21-jährige in Sport-vereinen
Die Organisation des Sportbetriebs ist weitgehend von dem Ziel bestimmt, eine möglichst große Anteilnahme der Öffentlichkeit zu errei-chen. Kommerzielle Gründe sind dabei zwar nicht ausschließlich, aber doch in sehr starkem Umfang maßgebend. Formen des Sportbetriebs, die sich als besonders publikumswirksam erwiesen haben, sind aber nicht in allen Sportarten in gleicher Weise anwendbar, vielmehr bestimmt der Charakter der Sportarten die Betriebsformen. Drei Kategorien sind aufgrund bestimmter charakteristischer Merkmale unter den Sportarten deutlich zu unterscheiden:
1. Die „MKS" -Sportarten (MKS = Meter, Kilogramm, Sekunde
In allen Sportarten dieser Kategorie werden die Leistungsergebnisse mit exakten metrischen Verfahren ermittelt; die Zuweisung des Platzes in der sportlichen Leistungsskala ist daher außerordentlich objektiv. Menschliche Bewertungsmaßstäbe treten hier bei der Ermittlung des Leistungsurteils stark zurück. Die Meßbarkeit verleiht in diesen Sportarten den Leistungen Dauer, da Leistungsmarken, etwa Rekorde, festgehalten werden können. Die Leistungsentwicklung pflegt an derartigen Marken gemessen zu werden. Der Sportbetrieb kennt hier „Wettkämpfe gegen physisch nicht anwesende Opponenten" die bestimmte Leistungsmarken gesetzt haben, aber auch Wettkämpfe lediglich um „Plätze" mit „anwesenden“ Konkurrenten. 2. Die Spiel-Sportarten Sportarten werden im allgemeinen begrifflich mit dem „Spiel" in Verbindung gebracht, wenn Leistungsziele erreicht werden sollen, die menschliche Phantasie entwickelt hat, wie Tore schießen oder Körbe werfen, die also nicht an das metrische System gebunden sind. Umgekehrt wird für die „MKS" -Sportarten kaum die Bezeichnung „Spiel" gewählt. Man spielt Fußball, Basketball etc., aber nicht 100-m-Lauf, Hochsprung oder Gewichtheben. Um regelgerechte Spielergebnisse zu gewährleisten, muß menschliches, also subjektives schiedsrichterliches Urteil in stärkerem Maße eingeschaltet werden als bei den „MKS" -Sportarten. Imponderabilien des Spielablaufs tragen dazu bei, daß häufig Spielergebnisse zustande kommen, die keineswegs leistungsgerecht sind, zudem ist „Leistung" in Spielsportarten ohnehin eine relative Größe, wodurch es mit gerechtfertigt ist, sie nicht nur vom Begriff her, sondern auch aufgrund ihrer Besonderheiten dem Spiel zuzuordnen.
Die Spiel-Ziele fordern zwar physische Leistungen heraus, die Leistungen sind aber nicht in dauerhaft für den Sportbetrieb gültigen Lei-stungsmarken zu fixieren. Den von vielen Komponenten beeinflußten Spielerfolg und damit das Spiel immer wieder neu zu suchen, erscheint vielen offenkundig sinnvoller als das Streben nach einer guten persönlichen, aber für andere irrelevanten Leistung in den „MKS" -Sportarten, überhaupt sind die Spiel-sportarten auch dadurch gekennzeichnet, daß soziale Interaktionen großer Vielfalt und Intensität zu beobachten sind. In solchen Zusammenhängen dürfte in starkem Maße die Anziehungskraft der Spielsportarten begründet sein. 3. Die „Kunst“ -Sportarten In „Kunst" -Sportarten wie Kunstturnen, Eiskunstlauf, Kunstspringen (im Wassersport) erfordert die Wertung von Leistungen in besonderem Maße Kompetenz. Sportler und Publikum haben nicht wie in den anderen Sportarten ein objektives Meßergebnis oder ein Spielergebnis als regelgerecht ermittelt anzuerkennen, sondern sie müssen sich hier stärker einem jeweils subjektiven Urteil unterwerfen. Die Subjektivität kann lediglich dadurch gemildert werden, daß man mehrere Personen an der Urteilsfindung beteiligt. Der Objektivität jeglichen Urteils sind aber ohnehin schon dadurch Grenzen gesetzt, daß hier „Künstlerisches" bewertet werden muß.
Die Ästhetik der Ausführungsformen schafft bei diesen Sportarten eine spezielle Motivation der Anteilnahme. Sofern diese Ästhetik sichtbar gemacht wird, etwa durch das Fernsehen, kann Publikum gewonnen werden, auch wenn das agonale Moment entfällt. Umgekehrt sind aufgrund dieser Zusammenhänge Rundfunk-und Zeitungsreportagen über Schauturnen oder Eiskunst-Schaulaufen recht sinnlos. Sie werden aber gewünscht und finden ein Publikum, sobald Wettkämpfe stattfinden.
Die Sportwirklichkeit läßt erkennen, daß besonders in den Spielsportarten ein zahlreiches Sportplatzpublikum gewonnen werden kann. In kommerzieller Hinsicht hat das zur Folge, daß etwa die Gesamteinnahmen aus Fußballspielen an einem Wochenende die Einnahmen aller Schwimm-oder Leichtathletik-Veranstaltungen um ein vielfaches übersteigen. Derartige Einnahmen bilden eine wesentliche Voraussetzung für die Erfolgsfähigkeit der Vereine als autonomer Grundgruppen des sportlichen Lebens. Folgerichtig werden immer wieder Konflikte ausgelöst, wenn Massenmedien wie Fernsehen oder Rundfunk, die aktueller als Zeitungen sind und vielfach „live" übertragen, durch Übermittlung bestimmter Sport-ereignisse ein potentielles Sportplatzpublikum binden. Auf eine Schädigung von Vereinsinteressen wurde aus solchem Anlaß bisher fast immer nur im Fußball hingewiesen, der Sportart also, in der auch in kleinen Siedlungsgebilden mit relativ vielen Zuschauern bei Wettkämpfen gerechnet werden kann.
Es sind vor allen Dingen „nationale" Sport-ereignisse wie Länderspiele, die zu derartigen Interessenkonflikten führen. Nach aller Erfahrung macht sich eine Dominanz des „nationalen" Gruppenbewußtseins bemerkbar, wenn es gleichzeitig mit „lokalem" Gruppenbewußtsein angesichts eines Sportereignisses auf der örtlichen Ebene aktualisiert wird. Da diese Dominanz politische Voraussetzungen und Folgen haben dürfte, muß hier später auch zu klären versucht werden, ob „lokalem" wie „nationalem" Sportantagonismus die gleiche Sozial-relevanz beizumessen ist. Daß es nicht Leistungsgesichtspunkte sind, die zu unterschiedlicher Anteilnahme veranlassen, geht schon aus der Tatsache hervor, daß bereits vor der umfassenden Einführung des Fernsehens die Konflikte durch Rundfunkübertragungen ausgelöst wurden. Das mittelbare Erlebnis des Länderkampfes, bei dem Leistungen durch Rundfunkreporter gar nicht erkennbar gemacht werden konnten, wurde von vielen dem visuellen Erlebnis des Lokalereignisses vorgezogen. Es kann unterstellt werden, daß das nationale Gruppenbewußtsein, das durch Erziehung und durch die Stellung der Nation im politischen Raum eine besondere Färbung erhält, stärker als jedes andere nach Befriedigung des Prestigebedürfnisses verlangt. Es weckt, wenn es aktualisiert wird, entsprechende Anteilnahme.
In vielen Sportarten ist hinsichtlich der Publikumswirksamkeit die Situation so, daß nur Spitzenleistungen der Öffentlichkeit so relevant sind, daß sie daran Anteil nimmt. Die Berichterstattung überregionaler Zeitungen, die des Rundfunks und des Fernsehens läßt aber erkennen, daß diese Medien kein wesentliches öffentliches Interesse selbst an der Bundesliga des Turnens, des Gewichthebens oder Ringens voraussetzen, obwohl nach sportlichen Leistungsmaßstäben hier eventuell Hervorragendes geboten wird. In solchen Sportarten ist die Pflege des internationalen Sportverkehrs eine Voraussetzung dafür, daß diese Leistungen eine größere Öffentlichkeit finden. Ein Medium wie das Fernsehen, das von Vereinen und Mannschaften des Fußballs daran gehindert wird, durch Darstellung nationaler oder internationaler Fußballereignisse ein potentielles Sportplatzpublikum von den lokalen Ereignissen abzulenken, ist durch die Berichterstattung über Spitzenleistungen in den publikumsarmen Sportarten das wichtigste Mittel der Sicherung breiter öffentlicher Anteilnahme. Daß es dazu primär des internationalen Sport-antagonismus bedarf, kommt den Intentionen der Sportberichterstattung bei diesem Medium durchaus entgegen, weil es nicht regionalen, geschweige denn lokalen, sondern überregionalen, genauer nationalen Gruppenerwartungen mit seiner Berichterstattung dient. Insofern verhilft das Fernsehen, das internationalen Sport visuell und „live" Millionen Zuschauern zugänglich macht, dieser Ebene des Sportbetriebs zu einer wachsenden Publizität. Es ist bisher allerdings ziemlich unreflektiert geblieben, wie dieser Vorgang sportpolitisch zu werten ist.
In einigen Sportarten ist es möglich, durch die Einrichtung von „Ligen" oder „Klassen" einen besonders stimulierenden Sportbetrieb zu pflegen, über eine ganze Saison hinweg wird so bei den vertretenen Gruppen Spannung erzeugt, weil jedes Wettkampfergebnis nicht nur für sich die Gruppenangehörigen Prestige-gewinn oder -Verlust erfahren läßt, sondern durch das Punktsystem in Beziehung steht zu Meisterschaft und Klassenwechsel nach „unten" oder „oben" am Saisonende. In den so-genannten „MKS" -Sportarten qualifiziert man sich im allgemeinen in einmaligen Wettkämpfen mit „physisch anwesenden Opponenten" auf Vereins-, Kreis-, Landes-und Bundesebene zum „Meister", wird aber gleichzeitig an den höchsten Wertmarken der Leistungen von „physisch nicht anwesenden Opponenten" gemessen, wodurch Meisterleistungen immer wieder relativiert werden. Wenn in den „MKS" -Sportarten nicht durch den Ablauf von Wettkämpfen zwischen ähnlich leistungsfähigen Sportlern für Spannung gesorgt ist, wenn eventuell Punkte genauso vergeben werden wie im Ligabetrieb der Spielsportarten, dann könnte Leistung ohne physische Anwesenheit des Gegners auch jeweils am Wohnort der Sportler gemessen werden. In Spielsportarten hingegen benötigt man immer „physisch anwesende Opponenten", damit Spiel überhaupt stattfinden kann. Jedes Spielergebnis hat für sich seinen besonderen Wert für die Spielbeteiligten, so daß es sinnvoll ist, das Spiel immer wieder zu suchen. Zudem ist das Spielergebnis von einer solchen Fülle von Leistungskomponenten und Unwägbarkeiten beeinflußt, daß auch der Spielausgang nicht recht wägbar ist. Die Dramatik von Spielabläufen, die dadurch häufig zustande kommt, ersetzt dem Publikum „Leistung", ja wird vielfach als die angemessenste Gegenleistung für die materielle Zuschauerleistung genommen. Der besondere Charakter des Spielsports bringt es auch mit sich, daß immer wieder die Frage aufgeworfen werden kann, ob „früher" besser Fußball gespielt wurde als heute, ohne daß eine solche Frage jemals schlüssig zu beantworten sein wird. In allen „MKS" -Sportarten ist eine eindeutige Antwort auf eine derartige Frage möglich. Hier ist die Basis des Urteils „metrisch", in Spiel-Sportarten, wenn man so will, „menschlich". In den „MKS" -Sportarten wird sich daher, wenn Publizität ereicht werden soll, der Leistungsdrill immer an den höchsten Marken orientieren müssen. In den Spiel-Sportarten kommt es zur Sicherung von Publizität sehr darauf an, immer auch jene Ingredienzien hinzuzufügen, die einem menschlich-spielerischen Leistungsbegriff gerecht werden.
Daß der Spielsport derartigen Erwartungen zu entsprechen vermag, wird auch durch die Tatsache belegt, daß er offenkundig Mentalitätsunterschieden der Völker gerecht wird. Baseball, Kricket, Fußball, American Football oder Hockey finden in der Welt eine unterschied-
liche Resonanz. Traditionelle Einstellungen des Publikums bringen es mit sich, daß das, was bei einem Volk als faszinierende Leistung gilt, bei einem anderen Volk keine Anteilnahme auslöst. So haben Mentalbarrieren auch vor einigen Jahren den Versuch scheitern lassen, in den USA mit erheblichem Werbeaufwand dem Fußballspiel größere Resonanz zu verschaffen.
Nicht weniger schwer wäre es bei uns, den amerikanischen „Nationalsport" Baseball oder American Football durchzusetzen.
Es kann gesagt werden, daß aufgrund eines substantiell verschiedenartigen Leistungsbegriffs in Spielsport und „MKS" -Sport nicht von dem Sport ausgegangen werden darf, wenn nach Wirkungen auf das Publikum und sein Bewußtsein gefragt wird. Wenn derartige Differenzierungen noch nicht in genügendem Maße vorgenommen werden, dann gewiß auch deswegen, weil die Wissenschaften sich dem Sport gegenüber bisher sehr desinteressiert gezeigt haben, dem aktiven Sport gegenüber allerdings etwas weniger als gegenüber dem Massensport. Arnold Gehlen, einer der wenigen Soziologen, die sich zum Sport geäußert haben, meint allerdings den aktiven Sport, wenn er bemerkt: „Die aus den Ballspielen hervorgegangenen Sportarten haben an Regeln, Disziplinforderungen und Sondermoral Züge des kollektiven Arbeitsdaseins umstrukturiert erhalten.“ — Es stellt sich die Frage, ob dieses Urteil nicht eine Modifikation erfah—---------ren muß, wenn man die Sportarten in ihrer Beziehung zum Publikum sieht. Gerade in den von Gehlen genannten Sportarten ist es möglich gewesen, das Interesse eines breiten Publikums aufrechtzuerhalten, weil Spielelemente immer wieder regeneriert worden sind. Adolf Metzner trifft in diesem Zusammenhang die Feststellung: „Offenbar muß die Dramaturgie eines Spieles, wenn dieses wie Fußball etwa über mehrere Menschenalter hinweg faszinierend bleiben soll, ziemlich anpassungsfähig sein." Wenn „Disziplinforderungen" um sportlicher Erfolge willen gestellt werden, so beobachten wir keineswegs nur eine Tendenz zu allgemeiner Nachahmung, sondern es wird auch immer Spielphantasie gegen die Effekte von „Disziplinierung" zu entwickeln versucht, wenn diese dem Gegner Erfolge bringen. Im Spielsport werden die „Regeln" auch durchaus modifiziert, wenn „Taktik" ein Spiel erstarren läßt und die Folgen im Ausbleiben von Zuschauern erkennbar werden.
Die „Anpassungsbereitschaft" an die Erfordernisse der Publizität ist in allen Sportarten gewiß in annähernd gleichem Umfang vorhanden, nur ist die „Anpassungsfähigkeit" unterschiedlich. Im Spielsport ist nicht im gleichen Umfang wie bei anderen Sportarten die Tendenz zu erkennen, durch einen nationalistisch motivierten Hochleistungssport und durch Nutzung adäquater Interessen der Massenmedien Publizität zu gewährleisten. In der Entwicklung der Ballspiele konnte schließlich auch beobachtet werden, daß einzelne ihre Faszination eingebüßt haben, andere an Anziehungskraft gewannen. Man denke etwa an das heute geminderte Interesse an Schlagball, Feldhandball und Baseball (in den USA) und die Entwicklung des Interesses an Fußball, Hallenhandball, American Football andererseits. Es kann freilich auch nicht übersehen werden, daß Faszination und Dramatik in Spielsportarten dazu beitragen, daß Spielgesinnung in -— wie wir es zuweilen erleben— „blutigenErnst" umschlagen kann. Aber bei der Wertung der entsprechenden Vorgänge muß bedacht werden, daß jene Ingredienzien, die Anteilnahme für bestimmte Sportarten auslösen, das Publikum andererseits hinsichtlich seiner Fähigkeit zu „Objektivität" und „Fairneß" auch besonders herausfordern. Insofern ist es auch durchaus offen, ob die geringe Zahl von Exzessen in anderen Sportarten als Indiz für eine bessere erziehliche Wirkung dieser Sportarten herangezogen werden kann. Das Urteil über die Regelgerechtigkeit eines Sporterfolgs ist eben für die Zuschauer in den verschiedenen Sportarten unterschiedlich schwer zu fällen. Einem nach naturwissenschaftlichen Meßverfahren ermittelten Leistungsurteil wird man sich verhältnismäßig leicht „beugen". Wenn außerdem im Spielsport ein Sportplatzpubli-kum gewonnen wird, im MSK-Sport aber eher ein Medienpublikum, so muß auch bedacht werden, daß in dem einen Falle zwischen agierenden Sportlern und Publikum räumliche Nähe besteht, im anderen Falle räumliche Distanz.
IV. Rollenchancen für aktive Sportler
Abbildung 4
unter 500 Einwohn. 500— 2000 Einwohn. 2000— 5000 Einwohn. Gemeinden insges. 1377 923 187 2487 2592 68 156 73 297 347 Gemeinden Rheinland-Pfalz Saarland
unter 500 Einwohn. 500— 2000 Einwohn. 2000— 5000 Einwohn. Gemeinden insges. 1377 923 187 2487 2592 68 156 73 297 347 Gemeinden Rheinland-Pfalz Saarland
Folgt man Deutungen, die H. Plessner über die Motive zu aktiver Sportbetätigung gegeben hat, so müßten auslösende Momente besonders in den Frustrationen gesehen werden, die hinsichtlich der Erfüllung gesellschaftlicher Rollenerwartungen erlebt werden. Der Sport, meint er, biete „Ersatz" in einer Gesellschaft, die nur einem Teil ihrer Bevölkerung die Chance der Zugehörigkeit zu ihren „Eliten" eröffnen könne. Im Sport „gibt es die große Chance, den, Sprung nach vorn ins volle Rampenlicht der Öffentlichkeit, die exorbitante Karriere, das große Geschäft" An anderer Stelle hat Plessner von „Ausgleichsreaktionen" gegenüber Verstädterung und Anonymität gesprochen. Die in der Anonymität untergehenden Menschen kämen zum Sport, weil sie „auch in der Leistung als Einzelmenschen sichtbar bleiben" wollten -Die Wechselbeziehungen zwischen aktivem Sport und Öffentlichkeit unterstreicht er mit der Bemerkung, man wolle „sehen und gesehen werden, bewundern und bewundert werden" Unsere bisherige Darstellung hat gezeigt, daß die Öffentlichkeit des Sports in seinem Primär-bereich durch die Konstruktionselemente „Verein" und „Lokalgruppe" eine vielfältige Gliederung erfährt. Diese Differenzierung nimmt um so mehr ab, je größer die Gruppen sind, die „vertreten" werden sollen. Sie ist im internationalen Sport am geringsten. Das bedeutet für die aktiven Sportler, daß von der Gliederungsstruktur auch die Leistungsanforderungen an sie beeinflußt sind und daß damit unterschiedliche Rollenchancen bestehen. Die Anforderungen sind aber nicht nur in „nationalen" und „lokalen“ Vertretungen unterschiedlich, sondern auch in den Vertretungen von Lokalgruppen verschiedener Größe.
Wir beoachten, daß in Städten von einer gewissen Größe an mehrere Sportvereine bestehen, Vertretung der Stadt also nicht nur einmal möglich ist. Von den Bewohnern der Städte werden aber jene Sportler oder jene Vereins-mannschaften als „Vertretungen" empfunden, die den Ort auf der jeweils höchsten Leistungsebene repräsentieren. Die hervorragende Leistung, die etwa einen Sportler in die zweite oder dritte Mannschaft eines Bundesliga-vereins einer Millionenstadt vordringen läßt, verurteilt ihn in der Sportöffentlichkeit dieser Stadt weitgehend zu Anonymität. Die gleiche Leistung würde ihm in einer kleineren Lokal-gruppe hohes Ansehen einbringen. Seine soziale Geltung würde ihm hier aber nicht nur dadurch deutlich werden, daß er seinen Namen in der Lokalzeitung findet, sondern sie würde ihm, weil die sozialen Kontakte mit abnehmenden Einwohnerzahlen intimer werden, vor allen Dingen im Verkehr mit den Angehörigen seiner Gruppengenossen bewußt gemacht werden. Ebenso wie die von Gruppengrößen beeinflußten sozialen Beziehungen, wie oben vermerkt worden Ist, zu unterschiedlichem Publikumszuspruch führen, wirkt es sich hinsichtlich der Rollenchancen der aktiven Sportler in der Öffentlichkeit aus, daß „die große Gruppe sachlicher, die kleine Gruppe persönlicher wirkt und wirken muß"
In diesen Gegebenheiten dürfte der Grund dafür zu finden sein, daß die Zahl der aktiven Sportler keineswegs dort am größten ist, wo die Anonymität zur Suche nach Rollen im Sport veranlaßt, sondern dort, wo die Gruppengrößen Rollenchancen bieten. Insoweit erscheint es auch erklärbar, daß ein Vergleich zwischen Einwohner-, Vereins-und Vereinsmitgliederzahlen von zwei Stadt-und zwei Flächenstaaten der Bundesrepublik für 1969 folgendes Ergebnis bringt Mit Rheinland-Pfalz und dem Saarland sind hier jene Bundesländer aufgeführt, die den größten Prozentsatz der Bevölkerung von Bundesländern im Deutschen Sportbund stellen. Diese Daten wie auch die Zahlen der Sportvereine und der jugendlichen Mitglieder in Sportvereinen müssen aber in Verbindung mit der Gemeindestruktur der beiden Bundesländer gesehen werden. Hier ergibt sich, wiederum für 1969, folgendes Bild
Derartige Gemeindestrukturen bringen es mit sich, daß Vertretungsrollen in weitaus größerer Zahl zur Verfügung stehen als in Großstädten wie Hamburg oder Berlin, wo schon die Zahl der Konkurrenten den Zugang zu den Vertretungen erschwert. Die Teilgliederungen großer Städte führen zudem offenkundig nicht in gleichem Umfang zu Vereinsbildungen wie eine starke Gemeindegliederung.
Vergleicht man im populären Fußballsport weiterhin die effektiv gegebenen Rollenchancen, die jungen Menschen etwa in Hamburg und in dem siedlungsmäßig stark gegliederten Bundesland Rheinland-Pfalz zur Verfügung stehen, so ist davon auszugehen, daß das Einwohnerverhältnis zwischen den beiden Bundesländern fast genau 1: 2 ist (siehe oben). Während der Hamburger Fußball-Verband für 1969 jedoch nur 212 Vereine und 2237 Mann-schäftenin seinen Bestandszahlen aufführte, waren es in Rheinland-Pfalz (Südwestdeutscher FV und FV Rheinland) 1748 Vereine und 7502 Mannschaften
Die Rollenvielfalt in dieser Sportart ist aber keineswegs vergleichbar mit der Situation im gesamten Sport. In Sportarten, die auf lokaler Ebene nur in geringem Umfang öffentliche Anteilnahme auslösen, fehlt der Anreiz, sich sportlichem Leistungsdruck zu unterwerfen. Gewährleistet erst Leistung auf nationaler Ebene Öffentlichkeit und Prestige, so sind Leistungsnormen zu erfüllen, die nur eine verschwindende Minderheit zu erreichen vermag. Resignation dürfte vielfach die Folge sein. Insofern ist für den Fußballsport und seine vielfältig differenzierte Öffentlichkeit festzuhalten, daß er dem jungen Sportler eine große Freiheit der Rollenwahl gestattet. Hier ist die Wahlfreiheit, „erster auf einem Dorf statt zweiter in Rom" sein zu dürfen, durchaus gewährleistet, während in weniger populären Sportarten die Rollenalternativen zum „alles oder nichts" tendieren. Im Fußball werden sich daher die persönlichen Investitionen in die Leistungsentwicklung, wenn sie der Verwirklichung von Rollenwünschen dienen sollen, weniger oft als absolute Fehlinvestitionen enthüllen. Die Leistungsinvestitionen können zudem in einer Dosierung erfolgen, die der Sozialisation eines jungen Menschen, die durch Leistungssport behindert werden kann, nicht im Wege stehen.
Statistische Erhebungen haben ergeben, daß viele Jugendliche bereits nach dem 18. Lebensjahr aufhören, Sport zu treiben. Neben anderen Motiven mag dabei eine Desillusionierung über die Möglichkeiten, Sozialprestige durch sportliche Leistungen zu erwerben, eine Rolle spielen. Die Bestandszahlen sämtlicher Landessportbünde der Bundesrepublik (einschließlich West-Berlin) für die jugendlichen Mitglie-der wurden im Jahre 1969 wie folgt ermittelt
14— 18 Jahre 18— 21 Jahre männlich weiblich männlich weiblich 701 680 242 573 569 223 163 909
Von den männlichen Jugendlichen im Alter zwischen 18 und 21 Jahren sind 54 000 Leichtathleten und 20 300 Schwimmer Bezieht man diese Zahlen auf die Tatsache, daß es 1969 in der Bundesrepublik 23 629 Gemeinden gab so wird deutlich, daß es in diesen Sportarten nur in größeren Gemeinden einen umfangreicheren Sportbetrieb geben kann. Wenn man aber nur für größere Lokalgruppen oder sogar nur für die Großgruppe „Nation" springen, laufen oder schwimmen kann, dann sind hier mit hohen Leistungsansprüchen der Gruppen gleichzeitig auch geringere Rollenchancen gegeben. Darin mag begründet sein, daß in solchen Sportdisziplinen zwischen den beiden hier genannten Altersgruppen Jugendlicher eine überproportionale Reduzierung der Mitgliederzahlen zu beobachten ist. In der Altersgruppe 14. — 18. Lebensjahr sind bei den Leichtathleten noch 75 600, bei den Schwimmern noch 36 700 männliche Jugendliche zu finden 700 männliche Jugendliche zu finden 35).
Noch stärker ist in diesen Disziplinen und Altersgruppen der Rückgang bei den weiblichen Mitgliedern, nämlich in der Leichtathletik von 37 400 auf 20 600 und im Schwimmen von 26 800 auf 13 400 36). Während also in allen Sportarten zusammengenommen der Anteil weiblicher Mitglieder um rund ein Drittel zurückgeht, ist es beim Schwimmen die Hälfte und in der Leichtathletik fast die Hälfte. In beiden Fällen handelt es sich um „MKS“ -Sportarten, während in Spielsportarten die negative Entwicklung zugunsten besserer Gesamtzahlen ausgeglichen wird. Diese Kompensation ist allerdings begrenzt, da im Frauensport kein Spielsport eine ähnliche Bedeutung hat wie Fußball im Männersport. Damit sind Frauen aber auch unterschiedlich auf die Kategorien von „Leistung" festgelegt, die für den „MKS“ -Sport einerseits und den Spielsport andererseits charakteristisch sind. Sie müssen ihre Rollenchancen weit stärker im System metrischer Leistungsfixierung suchen als Männer, wobei nicht auszuschließen ist, daß ihre gesellschaftliche Unterprivilegierung Kompensationsbedürfnisse auslöst und die potentiell sportlich Leistungsfähigen so zu einer besonders hohen Leistungsbereitschaft stimuliert werden.
Die Zahl von 13 400 Schwimmerinnen und 20 600 Leichtathletinnen unter den 18— 21jährigen im Deutschen Sportbund besagt zusätzlich, daß für diese Frauen die Rollen im Primärbereich des Sports relativ gering sind. Es kennzeichnet insoweit auch die gesellschaftliche Bedeutung des Sports für die Geschlechter, wenn wir den Mann in den Rollenfelderr.des sportlichen Primärbereichs weit überrepräsentiert sehen, aber im internationalen Sport das Verhältnis möglicher Vertretungsrollen zugunsten der Frauen proportionaler wird. Was im internationalen Sport als Indiz für „Gleichberechtigung" der Frauen angesehen werden könnte, ist aufgrund höchster Leistungsanforderungen bei geringer Ausweichmöglichkeit in leistungsmäßig weniger beanspruchende Rollen eher ein Indiz für eine Benachteiligung der Frauen auch im Sport.
B. Publikum und internationaler Sport I. Der Sportvergleich zwischen Nationalvertretungen
Internationale Sportbeziehungen werden nur in begrenztem Umfang zwischen den Grund-gruppen des Sports, den Vereinen, gepflegt. Es sind dann zumeist Begegnungen außerhalb des organisierten Sportbetriebs, also „Freundschaftsbegegnungen". Die Anteilnahme der Öffentlichkeit unterscheidet sich in Umfang und Intensität nicht wesentlich von der, die bei Freundschaftsbegegnungen innerhalb des nationalen Rahmens zutage tritt. Eine weitaus größere Resonanz in der Öffentlichkeit registrieren wir jedoch, wenn Vertreter oder Vertretungen von Vereinen im organisierten internationalen Sportbetrieb eine Rolle spielen. Sie werden, wenn es um Titel in internationalen Wettbewerben geht, zu „Nationalvertretungen" im Bewußtsein der Bevölkerung eines Landes, auch wenn sie es verbandsoffiziell gar nicht sind. Wir beobachten derartige Identifikationen etwa in den Europawettbewerben der Landesmeister und -pokalsieger des Fußballs, den Europawettbewerben des Hallenhandballs etc. Wer in diesen internationalen Wettbewerben in die Rolle der „Vertretung" kommt, entscheidet sich im Leistungswettbewerb zwischen den Vereinen, also den autonomen Grundgruppen des Sports. Die nationalen Verbandsführungen des Sports leisten dabei lediglich Aus-führungshilfen technischer Art. Eine völlig veränderte Kompetenz zugunsten der nationalen Sportbürokratie stellen wir aber im internalen Sportverkehr zwischen Auswahlvertretungen der Länder fest. Organisation, Vorbereitung der potentiellen „Vertreter" und schließ-lich ihre endgültige Auswahl liegen dann primär in der Befugnis der von der Basis des Sports relativ weit abgehobenen Funktionsträger nationaler Sportverbände. Insoweit kann bei Vereinen und nationalen Verbänden auch auf unterschiedliche Interessenlagen hin-
sichtlich der erstrebenswerten Formen des internationalen Sports geschlossen werden, ob also ein Antagonismus von Vereinen oder Auswahlvertretungen gepflegt werden soll.
Unabhängig davon jedoch, ob Vereine oder Auswahlmannschaften im internationalen Sport die Rolle der „Nationalvertretung" übernehmen, muß zunächst festgehalten werden, daß durch derartige Sportbeziehungen ein Gruppenbewußtsein besonderer Art aktualisiert wird. Die Gruppenqualität der Groß-gruppe „Nation" unterscheidet sich wesentlich von der jener Gruppen, denen wir im Primär-bereich des Sports begegnen. Es ist gewiß dieser Qualität, die in starkem Maße politisch begründet ist, zuzuschreiben, wenn die Sport-vereine einen konkurrierenden internationalen Sportbetrieb in gewissem Umfang akzeptieren, obgleich er soviel Publikumsinteresse auf sich zieht, daß der im Interesse der Vereine eingerichtete Sportbetrieb oftmals wegen einer Verringerung der Resonanz zwangsläufig ruhen muß.
Eine solche Konzessionsbereitschaft besteht nicht annähernd gegenüber den landsmannschaftlichen Gliederungselementen innerhalb der nationalen Großgruppen. Die Organisation der regionalen Sportverbände folgt zwar häufig diesem Gliederungsprinzip, und es kann etwa in Bayern oder Schleswig-Holstein durch-aus mit einem landsmannschaftlich gefärbten Gruppenbewußtsein gerechnet werden, aber es gibt keinen Sportbetrieb zwischen landsmannschaftlichen Gruppen, der an den Umfang des internationalen Sportbetriebs auch nur annähernd heranreicht. Vor allen Dingen in jenen Sportarten, die ein zahlenmäßig starkes Sport-Platzpublikum gewinnen, beobachten wir eine Bereitschaft zur Minderung des Vereins-Sportetriebs nur zugunsten der Repräsentation durch Nationalvertretungen im internationalen Sport.
Die heutige Bedeutung des internationalen Sports kann in gewissem Maße als Reflex der Bedeutung angesehen werden, die das nationale Konstruktionsprinzip schlechthin in der menschlichen Gesellschaft gefunden hat, wobei sich bekanntlich gleichzeitig eine Bedeutungsminderung der landsmannschaftlichen Gliederung der Gesellschaft vollzog. Aber zusätzlich haben bestimmte technische Entwicklungen jenes Gewicht des internationalen Sports ermöglicht, das wir heute registrieren. Huizinga meint, daß die Zunahme des „agonalen Sinnes" in unserer Zeit durch die Tatsache gefördert werde, „daß auf jedem Gebiet und mit allen Mitteln der Verkehr unter den Menschen so außerordentlich viel leichter geworden ist. Technik, Publizität und Propaganda locken überall den Wettbewerb hervor und machen seine Befriedigung möglich" „Kräfte mit änderen" im Sport „zu messen" (Steinitzer), das setzte zu jeder Zeit voraus, daß man dem „anderen" auch ohne größere Schwierigkeiten begegnen konnte. Unter primitiven Verkehrsbedingungen konnte das zunächst für eine lange Frist nur ein „anderer" in räumlicher Nähe sein. Das gleiche Erfordernis bestand, damit Gruppengenossen der Sportler Wettkampfpublikum sein konnten. Wollten sie lediglich mittelbar beteiligtes Publikum sein, so waren sie auf Zeitungsberichte angewiesen, deren Aktualität allerdings mit der Entwicklung der Nachrichtentechnik stetig zunahm. Der Rundfunk gewährleistete schließlich verstärkte Aktualität und später das Fernsehen sogar die visuelle Unmittelbarkeit des Erlebnisses, selbst wenn agierende Sportler und Publikum über den halben Erdball voneinander getrennt sind. Wenn die Erlebnis-werte für das Sportplatzpublikum etwa eines Länderkampfes auch graduell höher sein mögen als für das Fernsehpublikum, so vermag das Medium Fernsehen doch das Mißverhältnis aufzuheben, das vor der Einführung dieser technischen Errungenschaft zwischen den Erlebniswünschen eines potentiellen Publikums nationaler Großgruppen einerseits und den Befriedigungsmöglichkeiten andererseits bestand. Während für den Sport im Primärbereich selbst in größten Städten die Arenen im allgemeinen ausreichen, um dem Wunsch des Zuschauenwollens zu entsprechen, braucht der internationale Sport für das Millionenpublikum, das er häufig anzusprechen vermag, die Vermittlungshilfe des Fernsehens. Für die Zu-kunft ist daher bei einer Bereitschaft zu solcher „Hilfe" dem internationalen Sport die Chance einer wachsenden Massenpublizität eröffnet.
Es ist allerdings offen, ob mit der Zunahme des Medienpublikums der Primärbereich des Sports seine Publikumssubstanz zu erhalten vermag. Eine solche Problematik ergibt sich nicht nur bei Gleichzeitigkeit „lokaler" und „nationaler" Sportereignisse, sondern möglicherweise auch bei intensiver Pflege des nationalen Leistungssports. Es ist die Frage, ob eine Befriedigung des Bedürfnisses nach „Ich" -Ergänzung durch den Wert der Gruppen, denen man sich zugehörig fühlt, nicht in besonderem Maße durch Erfolge der eigenen nationalen Gruppe eintritt und insofern die Tendenz zur sportlichen Identifikation mit „Vertretungen" anderer Gruppen gemindert wird. Gewiß fordert die nationale Großgruppe dem einzelnen eine Identifikation mit einem besonders abstrakten, von seiner Alltagserfahrung losgelösten „Wir" ab, aber andererseits haftet dieser Gruppe im Bewußtsein ihrer Angehörigen eben eine Qualität an, die keiner anderen Gruppe eigentümlich ist.
Der technologische Fortschritt, so muß also festgestellt werden, hat es mit sich gebracht, daß der Sportbetrieb zwischen Nationalvertretungen aufgrund der Publizität, die er erreicht, als „Massensport" charakterisiert werden darf. Diese Klassifizierung ist unter rein statistischen Aspekten, aber wegen „des Untergehens eines Teils des Ichbewußtseins im Wirbewußtsein" (Wiese), das sich dabei vollzieht, auch unter soziologischen Aspekten legitim. Weit weniger wäre es unter solchen Gesichtspunkten erlaubt, den auf Eigeninitiativen zurückgehenden internationalen Sportverkehr zwischen Vereinen der verschiedenen Leistungsebenen so zu bezeichnen. Die persönlichen Kontakte, die dabei zwischen Sportlern verschiedener Nationalitäten geknüpft werden, sind fraglos weitaus zahlreicher als die, die der organisierte Sportbetrieb zwischen Nationalvertretungen mit sich bringt. Für die Publizität jedoch, die der organisierte Sportbetrieb bei den jeweils vertretenen Nationen hervorruft, ist aufgrund der Rolle der Medien kennzeichnend, daß das Publikum der beteiligten Gruppen der Zahl nach weitaus größer ist als die persönlich einander begegnenden Sportler, daß es aber für das Medienpublikum keinerlei persönlichen Konnex zu Angehörigen der anderen Gruppe gibt. Die Entwicklung zu solchen Wirklichkeiten im heutigen internationalen Sport dürfte mit dazu beigetragen haben, daß von seinen „völkerverbindenden Wirkungen" immer seltener gesprochen wird.
Die Deutschen und Coubertins Idee Dieser Effekt wurde in früheren Jahrzehnten besonders häufig dem bedeutendsten Ereignis des organisierten internationalen Sports, den Olympischen Spielen, nachgesagt. Es muß aber bedacht werden, daß bei der Einführung dieser Sportveranstaltung gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts ihr nur eine weitaus geringere Publizität aufgrund des Entwicklungsstandes der Kommunikationsmedien beschie.den sein konnte. Bei der Wertung der Olympischen Spiele als Sportler-Meeting oder Stimulans zur Aktualisierung des Bewußtseins „passiv" beteiligter Massen, war damals von einer Wirklichkeit auszugehen, die keineswegs ausschließlich, aber mehr als heute die persönlichen Kontakte der Sportler als bedeutungsvoll erscheinen lassen konnte. Der Gesichtspunkt der „Teilnahme" und nicht der des „Sieges" wurde ja in der Anfangszeit auch zum Leitbild erhoben.
Da der heutige internationale Sport einschließlich der Olympischen Spiele derartige Leitbilder allzu deutlich widerlegt, wird es kaum noch für opportun gehalten, sie der Offentlichkeit nahezubringen. Es spricht aber einiges dafür, daß sie von Anfang an dort, wo sie anempfohlen wurden, vielfach der Verschleierung der wirklichen Ziele dienen sollten. So ist zu bedenken, daß bereits Pierre de Coubertin, der vielfach als „Erneuerer der Olympischen Spiele" bezeichnet wird, mit seinen Bestrebungen Ziele verfolgte, die dem nationalen Interesse Frankreichs dienen sollten. „Rebroncer la France", stellte Kurt E. Zentner fest, war ein Ziel, das er mit Hilfe des Sports zu verwirklichen suchte. „Zu seiner Bestürzung sah er, daß sich die französische Mentalität seinem Vorhaben verschloß. Um seine Absicht durchzuführen, nahm er Zuflucht zur Internationalität. Durch das Wettkampfmoment in Verbindung mit Fragen nationalen Prestiges hoffte er auf Kräfte zur Verwirklichung seines Planes." — Ebenso wie Coubertin haben nach ihm nationale Sportführungen der verschiedensten Länder die erfolgreiche Teilnahme an internationalen Wettbewerben immer wieder als ein Mittel bezeichnet, die Massen sportlich zu aktivieren. Motive für die Pflege des internationalen Sports, wie Zentner sie bei Coubertin feststellte, sind also weit verbreitet. Daß Coubertin in Olympischen Spielen kein von gruppenbezogenen Zwecken freies Sportlertreffen sah, läßt aber auch die folgende Äußerung erkennen: „Das erste und wesentliche Merkmal des alten wie des modernen Olympismus ist, eine Religion zu sein. Durch Leibesübungen formte der Wettkämpfer der Antike seinen Körper, wie der Bildhauer seine Statue und . ehrte damit seine Götter'. Der Wettkämpfer der Neuzeit, der gleiches tut, erhöht damit sein Vaterland, seine Rasse und seine Fahne."
Die Zeit, in der Coubertin die Einführung Olympischer Spiele moderner Art betrieb, das ausgehende 19. Jahrhundert also, erlebten die Franzosen als Ära eines scharfen politischen Antagonismus gegenüber Deutschland. In Deutschland aber war zu dieser Zeit die Turnbewegung auf dem Höhepunkt der Entwicklung. „Die Deutsche Turnerschaft", bemerkte damals ihre Verbandsführung, „ist die weitaus größte Korporation der ganzen Welt für die Pflege der Leibesübungen." Bedenkt man, welche Bedeutung in dieser Zeit besonders unter militärpolitischen Aspekten den Leibesübungen beigemessen wurde, so mußte für die französische Seite festgestellt werden, daß sie nichts der deutschen Turnbewegung Vergleichbares aufzuweisen hatte. Insoweit mag für einen Franzosen die „Zuflucht" zu den mobilisierenden Wirkungen des internationalen Sports durchaus nahegelegen haben.
Die deutsche Turnbewegung hingegen, die schon 1861 das Ziel proklamiert hatte, durch das Turnen „dem Vaterlande ganze, tüchtige Männer zu erziehen" die sich in dieser Hinsicht zur Zeit der ersten Erfolge Coubertins dem damaligen nationalen „Erbfeind" Frankreich weit überlegen glaubte, sah folgerichtig in einer aus französischen Interessenpositionen wünschbaren Sportbewegung eine Gefährdung der bisherigen deutschen Überlegenheit. Der 1. Vorsitzende der Deutschen Turnerschaft, Götz, urteilte im Jahre 1900: „Sport ist eine mit äußerster Leidenschaft betriebene Leibesübung und ist germanischem Tun fremd wie sein Name, für den es überhaupt kein deutsches Wort gibt." Die Beteiligung an den ersten Spielen in Athen war derartigen Einschätzungen entsprechend von der Turnerschaft auch abgelehnt worden. Horst Peets berichtet in diesem Zusammenhang: „Der Mann, der dennoch die Teilnahme befürwor-tete, Dr. Willibald Gebhardt, Begründer des . Deutschen Bundes für Sport, Spiel und Turnen', wird als undeutsch bezeichnet, der Franzosenfreundlichkeit beschuldigt und ausgeschlossen."
Peets urteilt über den Turner-Bund: „Er ist bürgerlich und deutschnational und zeichnet 1892 indirekt verantwortlich für die Gründung eines . Arbeiter-Turnerbundes'. . .". In diesem Zusammenhang zitiert er eine Entschließung des Turntages von 1907, in der es unter anderem hieß: „Ein Herr, der sich offen zur Sozialdemokratie bekennt, hat mit uns nichts zu schaffen."
Wenn Peets dieser „politischen Position" gegenüber vom „unpolitischen Sport" spricht so dürfte er von der unterschiedlichen innenpolitischen Parteinahme im bürgerlichen Turnen und im Sportlager ausgehen. In einem anderen Sinne müssen aber die deutschen Bemühungen um Beteiligung am internationalen Sport ebenfalls als „politisch" bezeichnet werden. Da Coubertin das agonale Prinzip des Sports in nationalem Interesse wirksam zu machen versuchte, bedeutete Nichtbeteiligung am internationalen Sport, den Beteiligten allein die Effekte der Aktualisierung nationalen Gruppenbewußtseins zu überlassen. Das Wettbewerbsprinzip des Sports zwischen den Nationen zu praktizieren, das hatte zur Folge, daß von nun an innerhalb der nationalen Großgruppen die Kräfte, die besondere Affinitäten zum „Nationalen" aufwiesen, Beteiligung und Erfolge wünschten. Insofern konnten auch die „nationalen" Gesichtspunkte der Verweigerung, die die Turner ins Feld führten, nicht lange den Durchbruch der „nationalen" Gesichtspunkte der Beteiligung aufhalten. Ein sehr deutliches Indiz für die nationalistischen Hintergründe der Beteiligungskampagne ist auch darin zu sehen, daß keineswegs die sozialdemokratischen Arbeitersportler hinter ihr standen. Diese hatte die erwähnte antisozialistische Turnerentschließung von 1907 gemeint, in der unter Nennung der „Sozialdemokratie" bemerkt worden war, daß der mit den Turnern „nichts zu tun" haben könne, der „die weite Welt als Vaterland" betrachte. Nicht der politische „Internationalismus" der Arbeiter-sportler stimmte mit einem internationalen Sport nach dem Verständnis Coubertins überein, sondern es waren bezeichnenderweise bürgerlich-nationale Kräfte, die ihn in Deutschland förderten. Das Auseinanderfallen der Turnbewegung in eine bürgerliche und eine proletarische Gruppierung hatte bereits erken-nen lassen, daß der Versuch, die Turner mit Hilfe völkisch-monarchistischer Ideologie zusammenzuhalten, aufgrund konträrer ideologischer Positionen der Arbeiterbewegung immer stärker zum Mißerfolg verurteilt war. Die nationale Turnbewegung wurde durch die politische Spaltung des Volkes zunehmend des-integriert. Die nationalen Integrationseffekte des internationalen Sportantagonismus hingegen führten zur Einschmelzung divergierender politischer Kräfte in einem nationalen „Wir", das die Turnbewegung allein nicht mehr gewährleisten konnte.
Daß solche Wirkungen Herrschaftsinteressen dienten, deutet auch die Tatsache an, daß typische Repräsentanten des damaligen Herrschaftssystems, wie der Erbprinz zu Hohenlohe-Schillingsfürst, der Sohn des Reichskanzlers, der Großherzog Franz Friedrich von Mecklenburg-Schwerin, Prinz Friedrich Karl v. Hessen oder, etwas später, Victor Adolph Theophil v. Podbielski sich für die Beteiligung an den Olympischen Spielen engagierten Martin Berner, der vor dem Ersten Weltkrieg einer der bekanntesten Vertreter des bürgerlichen Sportlagers war bemerkte 1912 zum Thema „Fußballsport und Staat", durch die sportliche Berührung mit fremden Nationen werde das Bewußtsein wach, „deutsches Können zu vertreten", und der „Krieg im Frieden" werde „zur besten Schule angewandten Vaterlandsstolzes" Im Kriegsjahrbuch (1. Weltkrieg) des Deutschen Fußball-Bundes sagte Berner zum Thema „Sport und Vaterland":
„Wollen wir doch das eine auseinanderhalten, daß Sportverkehr der Länder untereinander mit Internationalismus, mit Verwischung oder Außerachtlassung nationaler Grenzen nichts gemein hat, daß er vielmehr im Gegensatz nur unter Vertretung der Nationalität vor sich geht . . . ich kann mir im gesamten internationalen Sportverkehr der Welt nicht die Nationalitäten wegdenken, ohne ihn in ein Nichts aufzulösen."
Carl Diem, der etwa vom Jahrhundertbeginn an über sechs Jahrzehnte wesentlichen Einfluß auf Idee und Organisation des deutschen Sports hatte „Pädagoge und Olympier von hohem Rang und Ansehen", und „mit Pierre de Coubertin führender Förderer und Wahrer der Olympischen Idee", wie Karl Adolf Sche. rer ihn heute beurteilt hat in der Zeit der Monarchie als Repräsentant des bürgerlichen Sports eine vom Autoritarismus der Turner abgehobene bürgerlich-demokratische Tendenz vermissen lassen. Als 1912 seine Forderung nach Pflichtsport an Universitäten als Eingriff in die akademische Freiheit abgelehnt worden war, entgegnete er: „Auch das 20. Jahrhundert hat den größten Unsinn der Weltgeschichte, die klingende Phrase von der Freiheit (in der peinlichen Gesellschaft von Gleichheit und Brüderlichkeit) noch nicht überwinden können." Und weiter sagte er damals: „Was meintet Ihr, würde das ein Geschlecht von Führern geben, wenn unsere Studenten jeden Tag zwei Stunden vormittags und nachmittags einen frei gewählten Sport pflichtgemäß betrieben?" 1924 bemerkte Diem über die Bedeutung des Sports, er sei von „nationalem Wert" durch seinen Einfluß auf das „Nationalgefühl" und den „Nationalstolz". „Vaterlandsliebe und Vaterlandsbegeisterung" würden auf internationalen Wettbewerben entfacht und gestärkt.
„Der nationale Sport wie der internationale in der ganzen Welt, natürlich auch in Deutschland", so hieß es weiter, „ist in vaterländischem Sinne gestaltet und gilt überall als eine wichtige Stütze, vaterländischen Geistes.“ über den Eindruck, den die deutsche Mannschaft beim Publikum der Olympischen Spiele 1928 in Amsterdam hinterließ, urteilte Diem in serner „Festrede" beim Deutschen Bundes-schießen 1930 in Köln, die „fremdenZuschauer'
seien „aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen", denn diese Mannschaft, „die seit 16 Jahren an keinem Olympischen Spiel mehr teilgenommen hatte, schlug alle anderen Sportnationen zu Boden und wurde zweite im Wettbewerb der Völker"
Hans Geisow, 1919 zum Ersten Vorsitzenden des Deutschen Schwimmverbandes gewählt, interpretierte 1925 den Internationalismus des Sports in folgender Weise: „Wir aber wollen unserem Vaterlande auf unsere Art dienen, die Achtung vor dem deutschen Namen ins Ausland tragen und für ihn siegen. So wird der sogenannte Internationalismus, den man dem Sport zum Vorwurf macht, zum reinen Dienst am Vaterlande."
Eine Tendenz, internationale Beziehungen möglichst vieler Sportler zur Überwindung nationaler Vorurteilsstrukturen zu nutzen, ist im bürgerlichen Sport dieser Zeit nicht so ausgeprägt zu erkennen wie die Tendenz, den organisierten internationalen Sportbetrieb wegen seiner Effekte der Aktualisierung nationalen Gruppenbewußtseins und der Integration zu fördern. In der sozialistischenArbeitersportbewegung, deren politischer Internationalismus nur mit einem tendenziell internationalistischen Sportverständnis hätte korrespondieren können, wurde eine scharfe Abgrenzung gegenüber dem bürgerlichen Sportnationalismus vorgenommen. Das „Deutschland, Deutschland über alles des Sports" die „nationalistischen Treibereien im bürgerlichen Sportlager" wurden abgelehnt. Je mehr mit der Entwicklung des internationalen Sport-antagonismus auch das sportliche Leistungsdenken zunahm, um so mehr wurden Analogien zum kapitalistischen Leistungsprinzip gesehen. Durch die „Rekord-und Konkurrenz-gesinnung" versuche man, „das Denken der Arbeiter mit kapitalistischem Geist anzufül-len" Das „Kämpfen und Ringen um den Erfolg, um den Sieg", das „Hochschrauben der Leistung bis zum Rekord" sei ein „getreues Spiegelbild des Kapitalismus . . . mit seinem brutalen Gebrauch des Ellenbogens" Die Arbeiter, so befürchtete Wagner, seien aufgrund ihrer sozialen Deklassierung besonders dafür prädisponiert, dem „Sportrausch" und der „Sportbetäubung" anheimzufallen An sie wurde appelliert, sich „von jeder inneren Gemeinschaft mit ihren bürgerlichen Gegnern zu befreien" innerhalb der Arbeiterbewegung selbst Sport zu treiben, denn wer „selbst ernstlich Sport" treibe, meinte Fritz Wildung, der seit 1922 die Dachorganisation der Arbeitersportverbände leitete, der „tauge nicht zum Maulaffenfeilhalten bei Aufführungen sportlicher Landsknechte"
Im Arbeitersport wie im bürgerlichen Sport ist also häufig bekundet worden, daß man sich der integrierenden wie auch desintegrierenden Wirkungen des Sports auf die jeweils beteiligten Gruppen, einschließlich der nationalen Großgruppen, bewußt war. Angesichts der politischen Bedeutung, die der Großgruppe „Nation“ zukommt, ist aber abzuwägen, ob und wie diese Interessen auch Herrschaftsinteressen berühren.
II. Integration und Herrschaftsinteressen
Die Gruppenintegration, die sich durch Sport-vergleich vollzieht, ist sozial auch aufgrund der Tatsache bedeutsam, daß dieser Effekt selbst bei Großgruppen erkennbar wird. Das betrifft Lokalgruppen ebenso wie Nationen. Eine relative Vergleichbarkeit dieser beiden Gruppen ist allerdings nur in quantitativer Hinsicht gegeben. In der Gruppenqualität ist auch die kleinste Nation von der großen Lokalgruppe deutlich unterschieden. Was sie jedoch mit Großgruppen aller Kategorien gemeinsam hat, also etwa auch mit der großen Lokal-gruppe, ist die Abstraktheit des Verhältnisses zwischen Gruppe und Gruppenangehörigen. Die konkrete Erfahrbarkeit des „Wir", die sich im Leben kleiner Gruppen häufig vollzieht, ist hier weniger leicht zu realisieren. Wenn aber „die mögliche Entgegensetzung der eigenen Gruppe zu fremden Gruppen die Wir-Ge-fühle stärkt", wie Rene König unter Hinweis auf Lewis Cosers Kategorien der Eigenand Fremdgruppe bemerkt, so gilt das in ge192, wissen Weise für Groß-wie für Kleingruppen. Man stößt jedoch auf Grenzen vergleichender „Entgegensetzung" von Großgruppen wie Nationen in allen Sachbereichen, in denen Wertungen sehr relativiert werden müssen. Das gilt besonders für die geistig-kulturelle Sphäre. Anders ist es im Sport: er ermöglicht den Vergleich selbst von Großgruppen wie Nationen, da hier körperliche Leistungen gemessen werden. Besonders in den MKS-Sportarten sind die Meßergebnisse des Leistungsvergleichs objektiv und vor allem von großer Allgemein-verständlichkeit. Diese Allgemeinverständlichkeit bringt es mit sich, daß Jugendliche bewußtseinsmäßig schon in einem Alter am sportlichen Wägen des Wertes „ihrer" Nation beteiligt sind, in dem sie aufgrund eines niedrigen Wissensstandes, niedrigen Abstraktions-und Differenzierungsvermögens noch nicht über die Fähigkeit ver-fügen, um zu einem rationalen Urteil über den Wert der eigenen Nation -— etwa gesellschaftspolitisch, kulturell oder geschichtlich — kommen zu können. Würde man die Genese des nationalen Gruppenbewußtseins, das Individuen erkennen lassen, verfolgen, so wäre fraglos bei vielen festzustellen, daß die ersten Identifikationen durch den internationalen Sport herbeigeführt werden. Im Zeitalter des Rundfunks und des Fernsehens wird das sogar für Kinder im Vorschulalter möglich. Wie sehr junge Menschen zu solchen Identifikationen neigen, bestätigt auch ihre starke Tendenz, nationale Sportgrößen als ihre Vorbilder anzusehen. Die Untersuchungen, die das belegen, zeigen auch, daß diese Neigung bei jüngeren Schülerjahrgängen größer ist und dann abnimmt Unter Jugendlichen dürfte auch ein großer Teil der Käufer für die Bücher zu finden sein, die über nationale Sportidole informieren
Die Werturteile, die man über die nationalen Integrationseffekte des Sports fällt, werden immer stark von der Einschätzung beeinflußt sein, die man dem Wert des nationalen Gruppenbewußtseins für das menschliche Zusammenleben schlechthin beimißt. Aus historischer Erfahrung wissen wir, daß die positive Wertung von „Nationalbewußtsein" häufig von Herrschaftsinteressen bestimmt und insofern nicht ideologiefrei war. Andererseits ist „Nationalismus" auch als ein von Notwendigkeiten der Gesellschaftsgliederung und Identifikationsbedürfnissen der Individuen hervorgerufenes Phänomen gedeutet worden. So sieht beispielsweise Eugen Lemberg die Tendenz zum Nationalismus unter anderem darin begründet, daß „kaum ein Mensch" imstande sei, die Quelle der „Selbstrechtfertigung allein in sich selbst zu finden. Er sucht sie . . . im Dienst an einer Idee oder Gemeinschaft, die ihm wertvoller erscheint als er selbst, in jenem Dienst, der seinem Leben erst einen Sinn gibt." Darum bedürfe „der Mensch der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Er muß diese Gemeinschaft lieben und achten können. Er muß sie auch bei ihrer Umwelt geachtet und bewundert sehen."
Lemberg selbst weist auf wissenschaftliche Arbeiten hin, in denen derartige Identifikations-bedürfnisse nicht als ursprünglich vorhanden und unveränderbar angesehen, sondern auf Fehlentwicklungen im Sozialisationsprozeß von Individuen und gesellschaftlichen Gruppen zurückgeführt werden. Er bemerkt, daß es in der psychologischen und sozialpsychologischen Literatur „üblich geworden" sei, „ein solches Bedürfnis nach Sicherung und Bestätigung des Ich durch Zugehörigkeit zu einer Gruppe, als das Kennzeichen einer weniger vollkommenen, nicht souverän rationalen, einer ich-schwachen'Persönlichkeit darzustellen, als die Schwäche eines primitiven, minderwertigen Persönlichkeitstypus . . ."
Ohne zunächst auf die unterschiedlichen Wertungen der Identifikationsbedürfnisse von Individuen eingehen zu können, ist hier für den Sport zu vermerken, daß der einzelne auf mehreren Ebenen integriert werden kann. Er kann durch Identifikation mit Verein, Lokalgruppe und Nation das Bedürfnis nach „Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft" (Lemberg) befriedigen, und er mag. sich dabei auch als „autoritätsbedürftige Persönlichkeit" erweisen, die Autorität zu „leihen" versucht. Es ist aber die Frage, ob die gesellschaftliche Bedeutung dieser Integrationsvorgänge gleich zu beurteilen ist, wenn davon ausgegangen werden muß, daß zwischen Verein, Lokalgruppe und Nation erhebliche Unterschiede in den gesellschaftlich-politischen Rollen und Funktionen gegeben sind.
Diese Unterschiede drücken sich im Sportleben zunächst darin aus, daß in den Sportvereinen individuelle Handlungsmotive zusammenfließen. Beim wettkampfmäßigen Vergleich zwischen diesen Spontangebilden des Sports werden Identifikationsneigungen von Mitgliedern lokaler oder nationaler Gruppen — je nach Gruppenzugehörigkeit des sportlichen Gegners — ausgelöst. Hier besteht also durchaus ein organisches Verhältnis zwischen der Basis des Sports und einer näheren oder entfernteren Öffentlichkeit. Mit der Nation wird im Sport eine Gruppe vertreten, deren Entstehung nicht wie beim Verein auf sportliche, sondern auf außersportliche Faktoren zurückgeht. Während somit der Verein als ein durch sportliche Motive geschaffenes Gebilde in die Rolle kommen kann, Lokal-oder Nationalvertretung zu sein, bedeutet Sportverkehr zwischen Auswahlvertretungen von Nationen, daß eine Gruppe einen speziellen Sportbetrieb für ihre „Vertretungen" durchsetzen konnte, die ursprünglich mit dem Sport nichts gemein hat.
Es gibt kein zweites Beispiel, daß eine ihrem Ursprung nach so sportfremde Gruppe wie die Nation im Sportleben mit ähnlichem Gewicht Maßstäbe zu setzen vermag. Die besondere Gruppenqualität der Nation muß als wesentliche Ursache dafür angesehen werden, daß diese Rolle möglich wurde.
Nationalvertretung im Sport schließt zudem gleichzeitig ein, daß diese Form des Sport-betriebes in besonderem Maße politischen Interessen dienstbar gemacht werden kann, denn es darf nicht übersehen werden, daß nicht die Nation, sondern genauer „die staatlich organisierte Nation zum eigentlichen Konstruktionsprinzip" zunächst in Europa und später in immer größeren Teilen der Welt geworden ist. Hermann Heller bemerkt in seiner „Staatslehre": „Seit der französischen Revolution . . . haben sich die Nationen in immer wachsendem Maße als die stärksten staatsbildenden Kräfte erwiesen." Weiter sagt er, es könne „nie einen Staat ohne einen wirksamen, wenn auch keineswegs allgemeinen Gemeinschaftswillen (geben). Wie jede andere muß auch die staatliche Organisation sogar dauernd darauf bedacht sein, eine sie fundierende Willens-und Wertgemeinschaft durch Veranstaltungen aller Art, namentlich durch Einwirkungen auf die Schule und auf die öffentliche Meinungsbildung, mittelbar zu erhalten, auszubreiten und neu zu schaffen." — Die „Entgegensetzung" der eigenen Gruppe zu anderen, die sich im internationalen Sport vollzieht, trägt fraglos zur Fundierung jenes „Gemeinschaftswillens"
bei, den, wie Heller meint, kein Staat missen kann.
Eine erhebliche Versuchung, ihn zu einem Instrument staatlicher Herrschaft zu machen, liegt auch darin begründet, daß der Sport durch seine Allgemeinverständlichkeit eine umfassende Aktualisierung des „Wir" ermöglicht, zusätzlich aber dadurch, daß er als eine Sadie der Physis für die Gruppenangehörigen gleichsam wertneutral ist. Dadurch ist die Integrationswirkung auch bei nationalen Gruppen gegeben, die ansonsten politisch, sozial oder ideologisch stark differenziert sein mögen. „Kooperation und gemeinschaftliches Handeln", sagt Karl Mannheim, „sind in der Gesellschaft nur möglich, wenn die gleichen Dinge für jedes Mitglied der Gesellschaft das gleiche Erlebnis bedeuten." Der Sport bringt die Voraussetzungen mit, um selbst in der nationalen Großgruppe solche Erlebnisse zu gewährleisten. In hochentwickelten, komplexen Gesellschaftssystemen, in denen Herrschaft ständig durch desintegrative Prozesse gefährdet wird, bietet sich daher der integrierende Sport als Mittel der Herrschaftsbewältigung und -Sicherung an.
Sport als staatliches Interventionsobjekt Die Entwicklung zur tendenziell desintegrativen Prozessen unterworfenen Industriegesellschaft und zum Nationalstaat als dem Staatstypus, der mit dem „Nationalen" als dem Gemeinschaftlichen über einen bedeutenden Einigungsfaktor verfügt, fiel zeitlich weitgehend zusammen. Vom Jahrhundertbeginn an gewann gleichzeitig der organisierte internationale Sport stetig öffentliche Bedeutung. Diese Zusammenhänge brachten es mit sich, daß der internationale Sportbetrieb, vor allen Dingen die Olympischen Spiele als seine bedeutendste Veranstaltung, zum Objekt der Interventionen von Staatsführungen wurden, wenn internationale Sportverbände in der Frage von Mitglieds-oder Teilnahmeberechtigungen eine Gruppe als „Nation" definierten, die nach Meinung dieser Staatsführungen im Interesse der Sicherung staatsnationaler Einheit als „Nation" im Sport nicht existieren und auftreten sollte. Vor dem Ersten Weltkrieg kam es zu einem Streit um die Mitgliedschaft Finnlands und Böhmens im Internationalen Olympischen Komitee und um ihre Teilnahme mit eigenen Vertretungen an den Olympischen Spielen von 1912. Das Außenministerium Rußlands intervenierte beim IOC wegen der Teilnahme Finnlands, das Außenministerium Österreichs wegen der Teilnahme Böhmens Wenn es in dieser Zeit noch nicht häufiger zu derartigen Auseinandersetzungen kam, dann gewiß auch deswegen, weil die öffentliche Bedeutung des Sports, etwa auch aufgrund des mangelhaften Entwicklungsstandes der Kommunikationsmedien, noch so gering war, daß politische Interessen nicht stärker wachgerufen wurden.
Wenn nach dem Ersten Weltkrieg die Fragen von Mitglieds-und Teilnahmerechten eine geringere Rolle spielten, dann dürfte die Tatsache, daß sich das Nationalstaatsprinzip gerade im Gefolge dieses Krieges durchsetzte, mit dazu beigetragen haben. Die zeitweilige Ausschließung Deutschlands in Teilbereichen des internationalen Sports hatte bekanntlich andersartige Ursachen. Nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei durch Hitlers Okkupationspolitik im Jahre 1939 verhinderte der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, für die Olympischen Spiele 1940 klären zu müssen, welchen Status das „Protektorat Böhmen und Mähren" und die Slowakei haben sollten und durften.
Zu den politischen Ergebnissen des 2. Weltkrieges gehörte das Wiedererstehen der Tschechoslowakei, deren Status im internationalen Sport nun nicht mehr problematisch war. Statusprobleme schuf jetzt unter anderem die deutsche Situation. Die Lösung dieser Probleme durch endliche Vollmitgliedschaften für die Bundesrepublik wie für die DDR hat wie die Lösung der. „Fälle" Korea erkennen China lassen, daß nicht der Nachweis des Merkmals „Nation", sondern der Nachweis des Merkmals „Staat" für die Mitglieds-und Teilnahmerechte im organisierten internationalen entscheidend ist. Das kann auch,
sieht man von Zwischenlösungen taktischer Natur ab, kaum anders sein, weil eine allgemeinverbindliche Definition des „Nationen" -Status nicht möglich ist, durchaus aber eine allgemeinverbindlich-juristische dessen, was „Staat" ist. Ob Österreich am Tage vor dem „Anschluß" im Jahre 1938 eine „Nation" war, ob am Tage danach, ob es 1945 wieder eine wurde — das Urteil darüber unterliegt einer Vielfalt von Wertungskriterien, nicht aber das juristische Urteil über die jeweilige Existenz Österreichs als souveräner Staat. Es gibt zudem nach wie vor Länder, die mehrere Nationalitäten umschließen Die Satzungen der internationalen Sportverbände begünstigen keineswegs Prozesse der Verselbständigung dieser Nationalitäten durch eine Möglichkeit ihrer Beteiligung am internationalen Sport als „Nationen", sondern im Gegenteil ihre Integration in den jeweiligen Staat, was von dieser Seite aus Gründen der Herrschaftssicherung fast immer gewünscht wird.
Während Gefährdungen der Repräsentation von Nationalstaaten im internationalen Sport nach wie vor zu Konfliktsituationen zwischen den Betroffenen und internationalen Verbänden führen, wie das der Fall „Deutschland" nach dem 2. Weltkrieg verdeutlicht hat, gibt es andererseits keine Anzeichen dafür, daß für politische Konstruktionen wie für die Europäische Gemeinschaft, die über das Nationalstaatsprinzip hinausgreifen, sportliche Repräsentation überhaupt gesucht wird. In der Europäischen Gemeinschaft fehlt gleichsam mit dem „Souverän" ein Träger des Integrationsmotivs, den wir im Souverän der Nationalstaaten finden. In der Bundesrepublik, in der mit dem Bekenntnis zur Europäischen Gemeinschaft einerseits die alte Nationalstaatsidee in Frage gestellt worden ist, haben mehr als eine der den Staat repräsentierenden Regierungen in der sportlichen Eigenvertretung der DDR desintegrative Auswirkungen für die Nation gesehen. Es ist hinzuzufügen, daß es diese Regierungen waren, die auch die entscheidenden Verträge für die supranationalen europäischen Entwicklungen abgeschlossen haben. 1959 hielt es die Bundesregierung „mit der nationalen Würde für unvereinbar, daß die Mannschaft bei den Olympischen Spielen ein anderes Emblem als die deutsche Bundesflagge zeigt" Gemeint war die gesamtdeutsche Mannschaft für die Olympischen Spiele 1960. Bundeskanzler Adenauer empfahl 1961 das Fernbleiben von Sportlern der Bundesrepublik von internationalen Veranstaltungen, bei denen die gezeigt die DDR-Hymne DDR-Flagge und gespielt würden. „Es wäre mit einem gesunden Nationalgefühl", meinte er, „nicht zu vereinen, wenn in unserer Situation deutsche Sportler an einer Veranstaltung teilnähmen, bei der die Zonenflagge gezeigt wird . . .
Da die internationalen Verbände des Sports faktisch Verbände souveräner Staaten und nicht Nationalverbände zu Mitgliedern haben, war die Politik mehrerer Bundesregierungen, die Anerkennung der DDR zu verhindern, kaum irgendwo so erfolglos wie im Sport; umgekehrt war die Politik der DDR-Regierungen, eine Anerkennung ihres Staates herbeizuführen, kaum irgendwo so erfolgreich wie im Sport. Wenn dieser Tatbestand nicht noch früher und eindeutiger zutage trat, dann auch deswegen, weil in Zulassungsfragen der zahlenmäßige Anteil von Vertretern der verschiedenen politischen Weltlager in den Entscheidungsgremien eine Rolle spielte. Diese Gewichtsverteilung hatte es auch mit sich gebracht, daß der französische Wunsch nach Anerkennung eines „Nationalen Olympischen Komitees" des „Saarlandes" mit dem Recht, eine eigene Vertretung bei Olympischen Spielen haben zu dürfen, bereits 1950 vom IOC erfüllt wurde Grenzen der Rollenfreiheit Im ganzen muß festgehalten werden, daß in Fragen internationaler Sportvertretung in den Ländern der Europäischen Gemeinschaften national und nicht supranational gedacht und gehandelt wird. Die von de Gaulle initiierte und von seinen Nachfolgern weitergeführte Sportpolitik, die auf Sicherung des nationalen Prestiges durch Förderung des Leistungssports abzielte, hat eine zusätzliche Bestätigung dieser Erfahrung gebracht Wie wenig die Europäische Gemeinschaft neue Maßstäbe für die Vertretungsnormen im internationalen Sport gesetzt hat, läßt aber auch die Tatsache erkennen, daß im Sport des EWG-Raums Freizügigkeiten in der Berufsausübung nicht gewährt werden, die allen anderen Arbeitnehmern, die öffentliche Verwaltung ausgenommen, durch EWG-Verträge zugestanden sind. Artikel 48, II der Römischen Verträge spricht von „Abschaffung jeder auf Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen." Der Deutsche Fußball-Bund legt ebenso wie die Verbände anderer EWG-Länder mit einer Ausländer-Klausel fest, daß jeweils nur zwei Ausländer in den Mannschaften der Fußballvereine spielen dürfen. Die Europäische Kommission sieht in diesen Beschränkungen, die vor allem die Berufssportler in ihren Interessen treffen, einen Verstoß gegen die in den Römischen Verträgen fixierten Arbeitnehmerrechte
Die Begrenzung der Ausländer-Quote, die hier im Berufsfußball praktiziert wird, verweist auf eine Besonderheit der Verhältnisse im internationalen Sport, daß nämlich allein bei „Vertretung" nationaler Gruppen nachgewiesen werden muß, daß man dieser Gruppe auch entstammt. Im Primärbereich des Sports gibt es keinerlei Festlegungen, daß man etwa auch der Lokalgruppe entstammen muß, die man vertritt, sondern hier ist, besonders im Berufsfußball, zu beobachten, daß die Spieler aus den verschiedensten Regionen eines Landes kommen können. Wo noch Wettbewerbe zwischen Regionalvertretungen ausgetragen werden, wird ebenfalls nicht so verfahren, daß den Sportlern etwa landsmannschaftliche Herkunftsnachweise abverlangt werden. Man ist dort teilnahmeberechtigt, wo man das wünscht, und es gibt keine Beschränkungen, die den Staatszugehörigkeitsklauseln des internationalen Sports vergleichbar sind. „Das Recht, die Farben eines Landes bei den Olympischen Spielen zu vertreten", sagen die IOC-Bedingungen, „haben nur die Staatsangehörigen des jeweiligen Landes."
Vergleicht man die Schwierigkeit, eine neue Staatszugehörigkeit zu erwerben, mit den Möglichkeiten, innerhalb des nationalen Rahmens die Vereins-oder Gemeindezugehörigkeit zu verändern, so wird deutlich, daß auf den verschiedenen Ebenen den Sportlern sehr unterschiedliche Voraussetzungen der freien Übernahme von Vertretungsrollen zugestanden sind. Die für einen Sportler auf relativ wenige Jahre begrenzte Chance, angesichts der Hochleistungsforderungen im internationalen Sport dort eine Rolle spielen zu können, läßt ihm einen Wechsel der Staatszugehörigkeit angesichts der Langwierigkeit des Verfahrens gewiß inopportun erscheinen. Dadurch wird aber für den Sportler gleichzeitig die Möglichkeit eingeengt, sich gegenüber der nationalen Sportbürokratie zu verselbständigen. Mehrere internationale Verbände verhindern selbst für jene Sportler, die eine neue Staatszugehörigkeit erworben haben, eine zweite Teilnahme an bestimmten Wettbewerben, da nach ihren Satzungen ein zweites Mal für ein anderes Land nicht gestartet werden darf. Ausgenommen von dieser Regelung sind im allgemeinen Frauen, die durch HeiratBürgerinnen eines anderen Landes geworden sind.
Während also im Primärbereich des Sports außerordentlich „offene Gruppen" agieren, sorgen die Statuten des internationalen Sports, vor allem des Amateursports, für einen Antagonismus von weitgehend „geschlossenen Gruppen". Diese Wirklichkeiten müssen aber auch im Zusammenhang mit der Tatsache gewertet werden, daß von den Gruppen, die im heutigen Sportbetrieb vertreten werden, die nationalen Gruppen diejenigen sind, die durch Fremdheits-und oftmals Vorurteilsbarrieren voneinander getrennt sind. Gerade im internationalen Sport werden jedoch gruppenüberschreitende Vertretungen, wie sie im Primär-bereich des Sports selbstverständlich sind, verhindert. Würde man es den Vereinen überlassen, autonom darüber zu entscheiden, ob sie sich durch eine große Zahl von Ausländern in ihren Mannschaften vertreten lassen wollen, so würde ihr Vereinsinteresse sie in ähnlichem Maß zur Öffnung gegenüber diesen „Fremden" bewegen wie gegenüber den Angehörigen anderer Lokalgruppen oder Landsmannschaften. Ob eine solche Öffnung nicht stärker als ein nationaler Vertretungspurismus dem Sport den Charakter des Spiels erhält, wäre nebenher zu erwägen. In dieser Hinsicht mußte das Hereinnehmen des sportfremden Gebildes „Nation" in das Sportleben ebenso Folgen zeitigen wie hinsichtlich der Entwicklung der Vereinsautonomie. Die nationalen Sportbürokratien, die mit der Entwicklung des internationaler. stetig Kompetenzen hinzu-gewannen, konnten in allen am internationalen Sport beteiligten Ländern bis zu einem gewissen Grade damit rechnen, daß die von wahrgenommene der -ihnen Vertretung „höhe ren nationalen" Sportinteressen den Autonomiebestrebungen der sportlichen Grundgruppen entgegenzusetzen war. Sie konnten dabei der Unterstützung von großen der Teilen Öffentlichkeit sicher sein, da schon der allgemeine Erziehungsaufwand, der zugunsten einer Förderung nationalen Gruppenbewußtseins betrieben für Dominanz dieses Bewußtseins eine auch im Sportleben sorgt.
IOC ohne demokratischen Wahlmodus Fraglos wird also vom Grad nationalen Prestigedenkens im Sport, der in einem Land Gültigkeit bekommt, auch mitbestimmt, in welchem Maße der Sport eine private Lebensäußerung und eine Angelegenheit autonomer Gruppen bleibt und in welchem Umfang er seine Spielelemente zu erhalten vermag. Daß mit der Pflege des Sports außerhalb seines Primärbereichs auch eine Veränderung seines ursprünglichen Charakters vor sich geht, wird weiterhin auch daran erkennbar, daß der Einfluß der Jugend als der eigentlichen Trägerin des Sports um so mehr zurücktritt, je weiter entfernt von der Basis Entscheidungen über den Sport getroffen werden. Die Seniorität in nationalen und vor allem internationalen Entscheidungsgremien ist gewiß in mangelhaftem Konsens zum jugendgemäßen Primärsport wie in den andersartigen Intentionen mitbegründet, mit denen man dort dem Sport gegenüber-tritt Es ist weiterhin zu beobachten, daß sich in diesen Gremien die soziale Zusammensetzung des sporttreibenden Volkes nicht annähernd widerspiegelt, sondern daß eine außerordentliche Uberrepräsentation von Vertre-tern der Spitzen der Herrschaftssysteme besteht, was wie manches andere auf herrschaftspolitische Interessen am internationalen Sport hindeutet.
In diesem Zusammenhang ist besonders das Internationale Olympische Komitee zu nennen.
„Ein Komitee von sich untereinander wählenden Fürsten und Prinzen, Grafen und Baronen, Generälen und gebietet über den Industriellen Olympischen Gedanken", bemerkte einmal der französische Sportpublizist Joubert über dieses Gremium Die soziale Exklusivität des IOC wird unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß im Jahr 1964, in dem das IOC die bisher größte Zahl von Olympiasiegern unter seinen Mitgliedern aufwies, diese Olympiasieger entweder gesellschaftlichen Oberschicht ihres Landes entstammten oder aus typischen Herrensportarten kamen oder daß gar beides für sie zutraf Es handelte sich um den Niederländer General de Mortanges (Military-Reiter), den Franzosen Massard (Degenfechter), den Engländer Marquess of Exeter, vormals Lord Burghley, (400-m-Hürden), den Italiener Graf Thaon di Revel (Säbelfechten), König Konstantin von Griechenland (Segeln), den Schweden General Graf Dyrssen (Fünfkampf). — Es bleibt hinzuzufügen, daß neben der Unterrepräsentation der Jugend und des sporttreibenden „Volkes" auch eine unangemessen schwache Vertretung der Volkssportarten im IOC festgestellt werden kann und daß trotz eines hohen Anteils olympischer Frauenwettbewerbe keine Frau in diesem Gremium zu finden ist. Seit Gründung des IOC vor der Jahrhundertwende entschieden nicht Wahlakte von Sportlern über die Mitgliedschaft, sondern von Anfang an beriefen die „selbsternannten" Mitglieder neue Dieses Verfahren blieb bis heute unverändert bestehen. Im Laufe der Jahrzehnte sah sich das IOC in verschiedenen Ländern aufgrund politischer Umwälzungen, die sich dort vollzogen, Herrschaftssystemen sehr unterschiedlichen Charakters gegenüber. Der Wunsch, kooptiert zu werden, war bei den Herrschaftssystemen so durchgängig festzustel-len, daß auch hierin ein Indiz dafür gesehen werden kann, daß es in jeglichem Herrschaftsinteresse liegt, auf die Dauer an den Effekten der von diesem Gremium getragenen Sportveranstaltung beteiligt zu sein.
Trotz eines erheblichen Durchbruchs des Wahlprinzips, der sich allgemein in der Welt seit Gründung des IOC vollzogen hat, versucht das Gremium bis heute nicht, sich durch einen demokratischen Wahlmodus zu legitimieren. Es versucht auch nicht, sich dadurch eine Legitimierungsbasis zu verschaffen, daß es die Wirklichkeit des Sports in den Anteilen der Generationen, sozialen Schichten und Sportarten widerzuspiegeln bemüht ist. Seinen selbst-gewählten Aufgaben konnte es trotzdem ziemlich unbehelligt nachkommen, weil auf der Ebene, auf der es mit den Olympischen Spielen eine bestimmte Form des Sportbetriebs organisiert, die agierenden Sportler zwar das altersmäßige und soziale Mißverhältnis zu den Organisatoren verdeutlichen, aber diese Sportler doch gleichzeitig, nachdem sie ihren persön-
lichen Tribut an die Erfordernisse des Hochleistungssports entrichtet haben, von den exklusiv organisierenden Senioren ihre Rollen-chancen erhalten. Vor allen Dingen aber vermochte das IOC trotz schwacher Legitimierungsbasis sein Werk zu betreiben, weil es in den Gebietskörperschaften, für die es eine spezifische Betriebsform des Sports organisiert, im allgemeinen mit dem Wohlwollen der Herrschenden für dieses Werk rechnen kann. Die Olympischen Spiele laufen den jeweiligen Herrschaftsinteressen zumindest nicht zuwider, sie entsprechen ihnen im Gegenteil oft und werden daher protegiert. Störungen im Verhältnis zum IOC treten nach aller Erfahrung lediglich in Ländern auf, in denen es, wie die Beispiele Bundesrepublik, DDR, Saar, China und Korea in der jüngeren Vergangenheit zeigten, zu konkurrierenden Herrschaftsansprüchen und damit zu konkurrierenden Integrationszielen kommt.
Ein positives Verhältnis zu den Integrationseffekten des internationalen Sports ist in zunehmendem Maße in Ländern festzustellen, die nach Aufhebung von Kolonialherrschaft ihre Souveränität erhielten Besonders auf dem afrikanischen Kontinent finden wir Staaten, in deren Gebiet die einstige Kolonialmacht die Kontinuität zu nationaler Entwick-lung unterbrochen hatte und in denen heute, wie Lemberg bemerkt, über „verschiedene Stammessprachen oft sogar die Sprache der verhaßten Kolonialmacht als Mittel der nationalen Integration verwendet werden (muß) — Es ist anzunehmen, daß das Integrationsziel um so mehr auch über Beteiligung am internationalen Sportbetrieb zu erreichen versucht wird, je stärker die technologische Fortentwicklung in diesen Ländern auch die kommunikativen Voraussetzungen großer Effekte gewährleistet.
Das Beispiel der afrikanischen Länder läßt wie andere erkennen, daß eine Nutzung von Integrationswirkungen des internationalen Sports für politische Zwecke sich häufig dann vollziehen wird, wenn andere Voraussetzungen den für die „staatliche Organisation", wie Hermann Heller meint, lebensnotwendigen „Gemeinschaftswillen", zu gewährleisten unzureichend oder gar nicht gegeben sind. Unabhängig von gleichsam „staatsnationalen" Motiven jedoch, die zu Politisierungstendenzen im Sport beitragen, kann herrschaftspolitisch motiviertes Interesse am Sport auch entstehen, weil Sport, wenn er in bestimmte Formen gedrängt werden kann, die Emanzipation der Herrschaftsunterworfenen zu behindern vermag. Dabei muß gleichzeitig betont werden, daß auch ein staatliches Handeln zugunsten einer politischen Funktionalisierung des Massensports zugleich ein Handeln im Interesse der herrschenden Schichten der Gesellschaft sein kann. Wird mit Heller vorausgesetzt, daß es „kein selbständiges, von der Vielheit der bewirkenden Menschen losgelöstes Wesen des Staates" gibt dann darf er schon gar nicht losgelöst von der Wirksamkeit der herrschenden Schichten der Gesellschaft gesehen werden.
Francois Mauriac hat beim Zusammenbruch der IV. Republik im Jahre 1958 den Massensport als einen Faktor gewertet, der durch seine Ablenkungsmechanismen zum mangelhaften politischen Engagement der Massen beigetragen habe. „Keine Bastille wäre gestürmt worden", meinte er, „hätte es damals schon Boxen, Catch, Fußball, Rugby und Radsport gegeben." De Gaulle als Repräsentant der V. Republik, die in ihrer Verfassung die demokratischen Rechte des Volkes einengte, setzte bald eine umfassende Förderung des nationalen Leistungssports in Szene, so daß Mauriacs Annahme, der Sport binde das Bewußtsein des Volkes und erleichtere insoweit Herrschaft über das Volk, nun in der Weise auszuweiten* war, daß er staatsoffiziell in eine derartige Rolle gedrängt wurde.
Die Möglichkeit, sich mit einer sportlich starken Nation identifizieren zu können, bedeutet zunächst, daß die Unterprivilegierten wie bei Identifikationen mit anderen sportlich starken Kollektiven für die, wie Gerhard Vinnai formuliert, „Versagungen des Alltags", für die „narzißtischen Kränkungen", die ihnen die Gesellschaft zufügt, entschädigt werden Eine über den Sport betriebene Integration in die Nation bedeutet aber insofern noch mehr, als die Nation dem einzelnen heute, wie bereits betont, als „Staatsnation" gegenüberzutreten pflegt, als Gruppe eigener Art also, in der beispielsweise vom Staat über das „Monopol legitimen physischen Zwanges" (Max Weber) verfügt wird. Der Staat ist der Herrschaftskern der Gesellschaft, und hier wird weitestgehend verfügt, welchen Charakter ein Herrschaftssystem besitzt und welche politische Rolle dem einzelnen zugestanden ist. Je weniger den Bürgern gestattet wird, an sachlich bedeutsamen Entscheidungsprozessen beteiligt zu sein, um so nützlicher mag es erscheinen, ihnen ein Surrogat von Beteiligung anzubieten. Ihre Bereitschaft, sich mit derartig verkürzter politischer Teilhabe abfinden zu lassen, wird um so größer sein, je stärker sie durch Erziehung auf einen Nationalismus festgelegt worden sind, der irrational ist.
Der Sportnationalismus setzt eine solche Erziehung fort, denn er hat keinen rationalen Inhalt. Ihm gegenüber gelten daher die gleichen Vorbehalte wie gegenüber jedem Nationalismus, der den Menschen an die Nation zu binden versucht, ohne eine sachliche, an humanen Werten orientierte Begründung dafür zu geben. „Ist die . Masse'erst einmal an diesen Mythos fixiert", so geben Ursula und Rolf Schmiederer in Zusammenhang mit einer Analyse von Lembergs Nationalismustheorie zu bedenken, „und des politischen Denkens entwöhnt, so werden die Herrschenden den Inhalt schon bestimmen." — Den nationalen Leistungssport zu entwickeln, um Identifikations-, neigungen zu fördern, trägt schon deswegen zu einem sachlich inhaltslosen Nationalismus bei, weil Ergebnisse von sportlichen Leistungen nicht manifest, also Leistungen hier in nichts „Handgreifliches" überführt werden. In der Tatsache, daß Leistungen nicht manifest werden, erweist sich der Spielcharakter des Sports. Wenn in einem Herrschaftssystem versucht wird, den Wert der Nation den Massen durch Sport-erfolge nahebringen zu wollen, so ist die Verfälschung seines Spielcharakters zwar einer der Preise, die der Sport zu zahlen hat, aber es wird andererseits nichts gewonnen, was die Nation bei Anwendung rationaler Maßstäbe tatsächlich wertvoller erscheinen lassen könnte. Große Teile der Bevölkerung identifizieren sich jedoch durchaus mit dem fiktiven Wert. Sie sind integriert, ohne daß das jeweilige Herrschaftssystem ihnen rational begründete Werte ihres Gemeinwesens nahebringen muß und ohne daß es eine Integration dieser Bürger durch umfassendere Beteiligung an der Herrschaft zu vollziehen braucht. Der Sport-nationalismus verändert nicht das gesellschaftliche Sein der Integrierten, er trägt lediglich zu einem falschen Bewußtsein von Teilhabe an der Polis bei. Es ist auch anzunehmen, daß gerade Individuen aus jenen Gruppen der Gesellschaft gegenüber derartigen manipulativen Verfahren der Integration anfällig sind, denen Emanzipationschancen vorenthalten werden Eine mangelhafte Bestätigung des „Ich" durch die Gesellschaft pflegt, wie die Erfahrung lehrt, Kompensationsbedürfnisse auszulösen. „Wie eine unstabile chemische Verbindung“, bemerkt Eric Hoffer über die ichschwache, autoritätsbedürftige Persönlichkeit, „hungert er danach, sich mit allem zu verbinden, was gerade in seine Reichweite kommt."
Staatsidee und Sport In den verschiedenen Ländern allerdings, die sich am internationalen Sport beteiligen, sind sehr unterschiedliche Tendenzen festzustellen, wie man seinen integrativen Wirkungen begegnet. Während sie in manchen Ländern mit einer gewissen Indifferenz hingenommen werden, versucht man sie in anderen zu verstärken. Es ist keineswegs allein etwa durch den Charakter des jeweiligen Herrschaftssystems bestimmt, welche der beiden Tenden-zen vorherrscht, vielmehr spielen dabei mehrere Komponenten eine Rolle. Politische Traditionen, Herrschaftsprinzipien, Dauer und Legitimität eines Herrschaftssystems, Autonomiebestrebungen der sportlichen Grundgruppen, Ideologien, der Entwicklungsstand der Gesellschaft und manche weiteren Faktoren wirken mit.
In Deutschland konnte es nicht ohne Auswirkung auf die Einstellungen zum internationalen Sport bleiben, daß sie sich zum ersten Mal in einer Zeit artikulierten, in der ein historisch überständiges, autoritär-monarchisches Herrschaftssystem den Nationalismus schlechthin zu einem Instrument politischer Integration machte. In der kurzen Phase der Weimarer Republik war eine grundlegende Veränderung des Bewußtseinsstandes nicht zu erwarten. Es kam hinzu, daß dieses Bewußtsein nicht nur in der Auseinandersetzung politischer Kräfte innerhalb des Staates gebildet wurde, sondern daß die von außen betriebenen Sanktionen hinsichtlich der Teilnahmeberechtigung Deutschlands am internationalen Sport die nationalen Ressentiments erheblich förderten.
Diem urteilte damals beispielsweise über Frankreich, es habe in den „Sport der Welt nationalistische und politische Gedanken zwangsweise hineingepreßt", indem es „den sportlichen Rachefeldzug durch die Ausschlußverträge gegen die Mittelmächte nach dem politischen Friedenschluß begann" — Es liegt auf der Hand, daß die von außen kommenden Ziele und die politischen Reaktionen im Inneren es den demokratischen Kräften nicht leicht machten, ein ausgewogenes Verhältnis zum internationalen Sport herbeizuführen.
Die Nationalsozialisten, denen ein übersteigerter Nationalismus als Hebel zur Beseitigung des Weimarer Staates diente, versuchten in den Anfangsjahren der Partei Gesichtspunkte des „Selbststolzes" geltend zu ma-
Chen wenn es um die Frage der Beteiligung am internationalen Sport ging und nutzten so nationale Ressentiment, das durch die von das außen betriebenen Sportsanktionen verstärkt worden war. Im Jahre vor ihrer sogenannten «Machtübernahme" sprachen sie sich, wie Strickner in seiner Untersuchung über den Sportteil im Zentralorgan der NSDAP feststellt, mehr und mehr für eine „Beschickung zum Ruhme des Vaterlandes" aus Nach der Übernahme der Staatsmacht habe sich die Ein-----------
Stellung zu „Außenpolitik und Sport" sofort „völlig geändert". „Der Nationalsozialismus ist identisch mit der Regierung des Deutschen Reiches. Seine Führer sind die Träger einer Außenpolitik, die ein Reich voll Kraft und Ehre zum Ziel hat und die Stellung des Reiches als Weltmacht wiederherstellen will . . . Völker, die miteinander sportliche Wettkämpfe austragen, werden immer voreinander Achtung haben, da der Sieg als ein Beweis der Volks-kraft der betreffenden Nation ausgelegt werden kann. Der Sportkampf wird jetzt völlig als ein Kampf für Deutschland betrachtet." — 1934 gab Hitler mit seinem Befehl zum Bau des Reichssportfeldes gleichzeitig die Parole aus, eine der „Weltgeltung" der Nation entsprechende „Vertretung" bei den Wettkämpfen dadurch zu gewährleisten, daß „aus allen Gauen Deutschlands" die besten Kämpfer auszuwählen, zu „schulen und zu stählen" seien. Otto Nerz, der in der NS-Zeit mehrere Jahre als „Reichstrainer" des Deutschen Fußball-Bundes wirkte, bemerkte 1936 über die sich positiv entwickelnde Länderspielbilanz: „Schon vor 1934 hätten wir gerne dem Spiel der deutschen Nationalmannschaft eine bessere Note gegeben. Aber dies scheiterte aus all den Gründen, die im . System'— es war im Sport wie in der Politik — der Nachkriegszeit begründet waren. Starrköpfigkeit, Partikularismus, Vereinsfanatismus, Egoismus der Trainer (Ausländer), Einstellung der Sportpresse und dergleichen trugen ihr redliches Teil dazu bei, die Maßnahmen der Führung zur Erfolglosigkeit zu verurteilen. Die neue autoritäre Führung machte den Weg frei."
Insgesamt konnte sich angesichts der politischen Verhältnisse in Deutschland in der ersten Hälfte des Jahrhunderts nur schwer ein Sportverständnis entwickeln, das man gegen autoritäre Einflüsse abzuschirmen vermochte.
In England hat gewiß die Kontinuität demokratisch-liberaler Entwicklung dazu beigetragen, daß dort entsprechende Maßstäbe auch gegenüber dem Sport wirksam wurden De-mokratische Normen werden, soweit sie in einem Volke für eine gewisse Dauer Gültigkeit gewinnen, das Aufkommen eines Sport-nationalismus erschweren, wie ihn der NS-Staat hervorbrachte.
Damit ist allerdings kein lediglich formales demokratisches Prinzip gemeint. Vorbehalte gegen Manipulationen zugunsten der Förderung von Sportnationalismus pflegen dort laut zu werden, wo man Demokratie als Prozeß begreift. Die Weiterentwicklung der Demokratie und das Erfordernis ihrer Sicherung in schwierigen gesellschaftspolitischen Situationen setzen voraus, daß Emanzipation und Aufklärung der Massen in der Gesellschaft zunehmen. Einem solchen Demokratieverständnis pflegt — man denke etwa an die oben zitierte Äußerung Mauriacs — im allgemeinen der Intellektuelle nahezustehen, folgerichtig dann aber nicht einem Sport, der nicht Spiel bleibt, sondern zum Instrument der Massen-manipulation wird. Einen derartig verfälschten Sport negieren auch Gruppen, die sich Emanzipation zum Ziel gesetzt haben, wie die deutsche Arbeitersportbewegung vor 1933, Teile der Negerbewegung in den USA und, wie einige Publikationen erkennen lassen, die „Neue Linke" in der jungen Akademikerschaft der Bundesrepublik Gewisse Indizien dafür, daß emanzipatorische und etablierte Kräfte der Gesellschaft ein je unterschiedliches Verhältnis zum Sportnationalismus finden, haben auch jene Länder geliefert, in denen es politische Veränderungen durch große Volksbewegungen gegeben hat. In diesen Ländern wurden für eine gewisse Zeit die Effekte des internationalen Sportantagonismus gar nicht gesucht. Das gilt für die Sowjetunion, für die Volksrepublik China wie für Kuba. Die Beteiligung der Volksrepublik China am internationalen Sport wurde erneut für mehrere Jahre unterbrochen, als mit der Kulturrevolution Tendenzen zu Immobilität und Bürokratisierung in der gesellschaftlichen Entwicklung entgegengewirkt werden sollte. Nimmt man Israel hinzu, das in der bisherigen Phase seiner Entwicklung nur wenig Energie zugunsten von Repräsentation im internationalen Sport aufgewendet hat, so erscheint die Frage berechtigt, ob nicht das Erfordernis nach einem hohen Grad politischer Bewußtheit der Bevölkerung, das in den genannten Ländern unter bestimmten gesellschaftlich-politischen Entwicklungsbedingungen jeweils bestand, die Distanz zum internationalen Sport zeitweilig mit hervorgerufen hat. In diesen Phasen gesellschaftlicher Veränderung waren Ziele zu realisieren, die ein Engagement der Bevölkerung aufgrund rationaler Einsicht in politische Zielvorstellungen notwendig, Ablenkung und Irrationalität aber suspekt erscheinen lassen mußten.
In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, daß das Verhältnis zum internationalen Sport von vornherein in jenen sozialistischen Systemen anders war, die nicht durch Volksbewegungen entstanden sind, sondern am Ende des 2. Weltkrieges in Osteuropa unter dem Einfluß der Siegermacht Sowjetunion. Sie beteiligten sich sofort am internationalen Sport. Eine herrschaftspolitische Problematik besonderer Art ergab sich dabei in der DDR. Die „Organisierung und Aktivierung des gebietsgesellschaftlichen Zusammenlebens“ die ein Staat zu vollziehen hat, konnte hier nicht, wie etwa in Polen, Ungarn und anderen sozialistischen Ländern Osteuropas, auf dem Gebiet der historisch gewachsenen nationalen Gemeinschaft vorgenommen werden, sondern nur auf dem kleineren von zwei verbliebenen Teilgebieten der einstigen Nation. Vom Staat des größeren Teilgebietes wurde zudem, — vor allem mit dem Mittel der „Hallsteindoktrin" —, versucht, die Anerkennung der DDR als Staat durch andere Länder zu verhindern. Es dürfte in gewissem Maße mit den besonderen Existenzvoraussetzungen dieses Staates Zusammenhängen, wenn die politisch herrschenden Kräfte der DDR ihrer guten sportlichen Repräsentation eine Bedeutung beimessen, die die kommunistischen Herrschaftssysteme in Ungarn, Rumänien, der CSSR oder Jugoslawien nicht mit annähernd gleicher Intensität zu gewährleisten versuchen Die politische Position der DDR dem internationalen Sport gegenüber ist weniger ideologisch bestimmt, wie das durchaus für die alte Arbeitersportbewegung in Deutschland zutraf, sondern herrschaftspolitisch-pragmatisch in Richtung auf intensive Nutzung von Integrationseffekten. Neubeginn nach 1945?
In der Bundesrepublik waren nach 1945 einige Voraussetzungen dafür gegeben, daß demo-kratisch-liberale Grundsätze auch das Sport-verständnis bestimmen konnten. Die Neuorganisation des Sports war nach dem Ende des NS-Staates umfassend, und sie begann an der Basis. Damit war die Autonomie der sportlichen Grundgruppen weitgehend gewährleistet. Ihr Gewicht in der Organisationsstruktur des Sports begrenzte auch die Realisierungsmöglichkeiten von Zielen, die von übersteigerten Repräsentationsbedürfnissen im internationalen Sport gesetzt werden. Die auf die gleichen Bedürfnisse zurückgehende Tendenz, staatliche Protektion des nationalen Leistungssports zu wünschen, fand zunächst wenig Widerhall, weil das negative Beispiel des nationalsozialistischen Dirigismus, das im Bewußtsein der Öffentlichkeit nachwirkte, den demokratischen Vorstellungen über die Rolle des Staates Vorschub leistete. Da zudem die neue Verfassung festlegte, daß nur „Regierungen auf Zeit" die Staatsgeschicke leiten konnten, entstand bei diesen Regierungen kein so ausgeprägtes Interesse daran, die Förderung nationalen Leistungssports zur Legitimierung der eigenen Herrschaft zu nutzen, wie das bei dauerhafterer Identifikation von Regierung und Staat mit größerer Wahrscheinlichkeit der Fall ist. Ein Indiz dafür, daß Regierungsformen die Grade einer Politisierung des Sports beeinflussen können, lieferte die mit der V. Republik in Frankreich einsetzende Förderung des nationalen Leistungssports durch den Staat. Die neue Verfassung nahm Elemente zur Stabilisierung künftiger Regierungen auf, vor allen Dingen schuf sie ein Präsidialsystem, das Identifikationen von persönlichem oberstem Regierungsamt und Staat Vorschub leistete. Der Anreiz, den nationalen Sport zur Legitimierung der eigenen Herrschaft zu nutzen, dürfte unter solchen Verfassungsbedingungen größer sein als dort, wo eine geringere Identität zwischen Regierungsamt und Staat von Verfassungswegen gewollt wird.
Ein Hinweis auf die Einstellung, die die Bevölkerung der Bundesrepublik zu Fragen nationalen Sportprestiges besitzt, war aus einer Repräsentativumfrage zu gewinnen, die nach den Olympischen Spielen von 1968 durchge-
führt wurde Auf die Frage: „Sind Sie mit dem Abschneiden der Sportler aus der Bundes-
republik alles in allem zufrieden oder nicht zufrieden?", erklärten sich 51 ° zufrieden, 32 % unzufrieden, die übrigen gaben kein Urteil ab.
" In der gleichen Untersuchung wurde ge------------fragt, ob es im Hinblick auf ein gutes Abschneiden bei den Olympischen Spielen in München auf „Förderung unserer Spitzensportler" ankomme oder ob „möglichst viele", ohne an Spitzensportler und Olympische Spiele zu denken, gefördert werden sollten 22 % votierten für Förderung der Spitzensportler, 61 % wünschten eine allgemeine Förderung für möglichst viele, 17 0/0 gaben kein Urteil ab. Unter den Befragten mit einem Abschluß „Höherer Schulen" plädierten 18% für Förderung des Spitzensports, 72% für allgemeine Sportförderung.
Das untersuchende Institut schloß aus den Ergebnissen, daß der sportliche „Nationalehrgeiz" in der Bundesrepublik als „mäßig" zu bezeichnen sei Nach zwanzig Jahren der Existenz der Bundesrepublik war also in der Bevölkerung im ganzen ein Sportverständnis vorhanden, das demokratischem Verständnis entspricht. Stellungnahmen wichtiger Repräsentanten der nationalen Sportverbände über die wünschbaren Werthaltungen im Sport der Bundesrepublik haben Übereinstimmung mit diesem Verständnis erkennen lassen und haben dazu beigetragen, daß sie eine gewisse Geltung erlangten. DSB-Präsident Daume gab beispielsweise 1960 zu bedenken, daß „olympische Siege wenig aussagen über die Lebenskraft eines Volkes" Sein Nachfolger, Wilhelm Kregel, bezeichnete es ein Jahrzehnt später als bedeutungsvoll für die Turn-und Sportbewegung, „nicht dem Glanze der Medaillen verfallen zu sein, sondern den Blick auf das körperliche Brachland der breiten Massen gelenkt" zu haben.
Die gesellschaftlichen Kräfte, die eine Förderung des nationalen Leistungssports wünschen, fanden die Chancen zur Verwirklichung dieses Ziels verbessert, als die Ausgestaltung der Olympischen Spiele 1972 Orten in der Bundesrepublik übertragen wurde. Die Potenzierung der Prestigebedürfnisse, die im Austragungs-land jeweils zu erwarten ist, konnte ins Kalkül gezogen werden. Im Veranstalterland pflegt eine Atmosphäre zu entstehen, die es Repräsentanten des Sports wie auch der Politik, die durchaus über ein demokratiegemäßes Sportverständnis verfügen, schwer macht, sich dem von ihnen negativ beurteilten Trend zum Sportnationalismus zu widersetzen. Andere wiederum, die einen solchen Trend wünschen, ihn aber wegen ihrer Stellung in Sport und Politik aus Opportunitätsgründen nicht oder noch nicht zu sanktionieren vermögen, können bei Übernahme einer solchen Veranstaltung durchaus bestimmte Eigengesetzlichkeiten, die das Prestigedenken fördern, in Rechnung stellen. Sie genießen dabei den Vorteil, sich persönlich zugunsten solcher Entwicklungen nicht exponieren zu müssen.
Eine wichtige Rolle in der Entwicklung des nationalen Leistungssports der Bundesrepublik spielt die Stiftung Deutsche Sporthilfe, die 1967 gegründet wurde. „Wir haben", argumentierte ihr Vorsitzender, „von der Voraussetzung auszugehen, daß der Sport ein ausgezeichnetes Mittel zur nationalen Repräsentation ist." Er stellte anheim, es mehr oder minder zu „begrüßen, daß der Kampf, der Wettstreit und die Beurteilung des nationalen Ansehens sich in so starkem Maße auf den Sport verlagert hat. Als Tatsache bleibt jedoch, daß der Sport heute ein nationales Aushängeschild ist, daß die Gesellschaft sich im Sport und in ihren Spitzensportlern repräsentiert sieht und sich mit ihnen identifiziert. Ich meine nun, wenn die Gesellschaft den Spitzensportler geradezu für sich beansprucht und von ihm ständig Höchstleistungen erwartet, dann hat eben diese Gesellschaft auch die Verpflichtung, sich um die Spitzensportler zu kümmern."
Für „die Gesellschaft” ließ sich Ende 1968, wie die erwähnte Untersuchung ergab, empirisch kein verbreiteter Wunsch nach Förderung des Leistungssports zur Sicherung guter „nationaler Repräsentation" feststellen. „Die Gesellschaft" und ihre Schichten erwiesen sich in ihren Auffassungen als differenziert. Im gleichen Jahr konnte aber über das Kuratorium der Stiftung Deutsche Sporthilfe gesagt werden, daß seine „Liste einem Führer durch den Hochadel der bundesdeutschen Industrie gleicht" Von 88 Kuratoriumsmitgliedern waren lediglich 15 nicht der Industrie bzw. Wirtschaftsverbänden zuzuordnen, sondern der Politik (vor allem Bundes-und Landes-minister) und der Publizistik (Intendanten und Chefredakteure)
Während in Frankreich, um ein in seiner Gesellschafts-und Staatsordnung der Bundesrepublik etwa vergleichbares Land zu nennen, der Leistungssport durch Organe des Staates gefördert wird, ist in der Bundesrepublik der Einfluß von Staatsorganen bei der Verwirklichung dieser Absicht lediglich indirekt gegeben Allerdings kann nur bei Anwendung jenes engen Staatsbegriffs, der den Staat mit seinen Exekutivorganen gleichzusetzen pflegt, das über die Stiftung Deutsche Sporthilfe praktizierte Förderungsverfahren, wie das häufig geschieht, als „privat", das in Frankreich als „staatlich" bezeichnet werden. Wird die „Staatsgewalt" als die „Resultante aller politisch relevanten Wirkungen und Gegenwirkungen im Außen-und Innenverhältnis“ begriffen so kann die Praxis der Sportförderung zugunsten „nationaler Repräsentation", wie sie in der Bundesrepurblik betrieben wird, nicht als für die „Staatsgewalt“ irrelevant gewertet werden. Integration und Bindung des Bewußtseins der Massen, die durch Förderung des Sportnationalismus bewirkt werden, sind für die jeweiligen staatlichen Ordnungsverhältnisse nicht bedeutungslos. Die gesellschaftlichen Kräfte, die einen nationalen Leistungssport in der Bundesrepublik fördern, sind nicht allein durch die „OlympiaAtmosphäre" begünstigt, wie sie im Veranstalterland zu entstehen pflegt, sondern auch durch die Tatsache, daß das politisch immer noch nicht entspannte Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten sich auch im Sport-betrieb äußert Wenn sich der Vergleich, wie 1972, auf dem Boden der Bundesrepublik vollzieht, ist mit Reflexen des politischen Verhältnisses zu rechnen, wie sie bei „Begegnungen“ in einem dritten Land in gleicher Stärke nicht in Erscheinung treten Eine Rechtfertigung sportlicher „Aufrüstung" in der Bundesrepublik mit Hilfe dieser Reflexe läßt erkennen, daß im Sport in ähnlicher Weise, wie es in anderen gesellschaftlichen Bereichen häufig zu beobachten ist, die gesellschaftspolitisch zentrifugalen Kräfte in beiden Teilen Deutschlands durch Vertretung ihrer partiellen Interessen national desintegrativ wirken. Wenn „staatsoffiziell" jedoch das Ziel der Wiederherstellung der Nation verkündet wird, fördert ein solches Handeln den politischen Konflikt, da Integration propagiert und Desintegration praktiziert wird — und jeweils von den gleichen, sich „national" gerierenden gesellschaftlichen Kräften
Die Erfahrung, „daß Konflikte um so heftiger zu werden pflegen, wenn sie zwischen Nah-verbundenen ausbrechen" wird durch das Klima, das bei sportlichem Antagonismus zwischen der Bundesrepublik und der DDR spürbar wird, bestätigt. Daß die Förderer nationalen Leistungssports unter diesen Voraussetzungen einen gewissen Rückhalt für ihr Handeln finden, haben auch Teilergebnisse der bereits erwähnten Repräsentativerhebung über das Verhältnis der Bevölkerung zur „Sportförderung" erkennen lassen. „Personen mit Volksschule erklärten mit 50 : 29 Prozent, ein überflügeln der DDR im Sport sei nötig. Erwachsene mit höherer Schulbildung vertreten mit 35 : 51 Prozent die gegenteilige Auffassung."
Insgesamt kann also festgestellt werden, daß der Versuch, dem Gesichtspunkt guter „nationaler Repräsentation" der Bundesrepublik für die Zukunft im öffentlichen Bewußtsein mehr Geltung zu verschaffen, Voraussetzungen vorfindet, die diesem Versuch zumindest partiell Erfolgschancen versprechen. Fraglos unterscheidet sich damit die Bundesrepublik nicht von manchen anderen Ländern, in denen ebenfalls derartige Tendenzen im Sport vorherrschen. Gemessen an den demokratischen Wert-und Ordnungsvorstellungen jedoch, die in der Bundesrepublik verfassungsmäßige Gültigkeit haben, bedeutet die Förderung eines Sportnationalismus, daß aus den dargelegten Gründen nicht Emanzipation zugunsten zunehmender Realisierung demokratischer Herrschaft, sondern Manipulation zugunsten der Sicherung partieller Herrschaftsinteressen begünstigt wird.
Erklingt ein „nicht mehr endenwollendes Fanfarengeschmetter sportlicher Aufrüstung", wie Willi Daume als DSB-Präsident kritisch formulierte dann sind die Verfechter des Aufrüstungsziels letztlich auch dadurch im Vorteil, daß speziell von den Erfolgsgraden nationaler Gruppenvertretungen im Sport behauptet zu werden pflegt, sie würden mehr als nur einen sportlichen Wert der Gruppen ausdrücken Konkreter formuliert: daß sportliche Erfolge von Sportlern etwa aus Köln auf weitergehende als sportliche Fähigkeiten von Kölnern schließen lassen, wird schlechterdings nicht angenommen. Wenn das von der sportlichen Leistungsfähigkeit von Nationen behauptet und in gewissem Umfang auch geglaubt wird, dann nicht deswegen, weil die Qualität des zwischen Nationen gepflegten Sports anders ist als die des Spörls, der zwischen beliebigen Gruppen betrieben wird, sondern deswegen, weil die besondere Gruppenqualität der Nation es erleichtert, ein falsches Bewußtsein über die Qualität des internationalen Sports herbeizuführen. Unter diesen Voraussetzungen wird die Zwangsvorstellung genährt, daß nationale sportliche „Aufrüstung" notwendig sei. Aber diese Absicht ist dem Gegenstand nicht angemessen. Es mag angesichts des starken Konkurrenzverhältnisses, das heute noch eine Kooperation zwischen Nationen erschwert, ein gewisser Zwang bestehen, einer technologischen, wissenschaftlichen, bildungsmäßigen oder waffentechnischen „Aufrüstung" anderer Nationen folgen zu müssen. Was jedoch der sportlich „höchstgerüsteten" nationalen Gruppe am meisten schaden würde, wäre nicht sportliche „Aufrüstung" anderer nationaler Gruppen, sondern „Abrüstung". Während die Ergebnisse anderer, etwa technologischer Rüstungsleistungen eines Volkes manifest werden, was hier, wie schon bemerkt, als „handgreiflich" verstanden werden soll, trifft das für die Ergebnisse von Sportleistungen nicht zu. Insofern ist jeder Sport eben Spiel und insofern gibt es keinen Zwang zur Beteiligung an einem internationalen sportlichen „Rüstungswettlauf". Für sportlich hochgerüstete Nationen gilt das gleiche wie für einzelne Sportler — etwa den Boxweltmeister oder die potentielle Eiskunstlauf-Weltmeisterin, die nach dem Titelerwerb mit einem Profivertrag rechnen kann —, daß Nichtherausforderung durch andere für sie folgenschwerer ist als Herausforderung. Nichtbeteiligung am Spiel trägt den Vorwurf ein, Spielverderber zu sein. Nichtbeteiligung an einem internationalen Hochleistungssport dessen Wirklichkeit von politisch motivierten Prestigezielen anderer Nationen geprägt wird, würde bedeuten, daß deren politische Intentionen „verdorben" werden. Da es aller Erfahrung widerspricht, daß die Förderung politischer Interessen anderer Nationen zum Maßstab für „nationales" Verhalten gemacht wird, kann eine Beteiligung an internationaler sportlicher „Aufrüstung" nur aus eigenen politischen Interessen erklärt werden.
III. Rollen im internationalen Leistungssport
Vertretungsrollen, die Leistungssportler im internationalen Sportbetrieb für ihre Nation übernehmen, sind wegen der Wirkungen auf die Gruppenmitglieder auch dann als politisch bedeutsam zu werten, wenn der nationale Leistungssport nicht bewußt politisch funktionalisiert wird. Wird eine politische Funktionalisierung betrieben, so wäre es bei Geltung demokratischer Normen keine unbillige Forderung an den vertretenden Sportler, Minimal-reflexionen über das „cui bono" seiner Rolle anzustellen.
Neben den nationalintegrativen Wirkungen, die das Rollenbild des Hochleistungssportlers politisch färben, sind es in Ländern mit rassisch unterschiedlicher Bevölkerung zusätzlich die Effekte der Rassenintegration, die diesem Bild politische Konturen geben. Vertretungen lateinamerikanischer Länder beispielsweise spiegeln deren rassische Zusammensetzung wider, und es spricht alles dafür, daß bei den in ihrer nationalen Gruppenzugehörigkeit Vertretenen die Fähigkeit zu rassischer Integration auf diese Weise gefördert wird. Politisch bedeutungsvoller werden derartige Wirkungen jedoch in Ländern, in denen Rassendiskriminierung stärker als in den lateinamerikanischen Ländern die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt, also etwa in den USA. Wollen hier Angehörige der diskriminierenden Rasse am sportlichen Prestige ihrer nationalen Gruppe voll partizipieren, so sind sie immer wieder dazu gezwungen, sich mit den Erfolgen von Sportlern der diskriminierten Rasse zu identifizieren. Der Massensport dürfte daher auch hier zur rassischen Integration beitragen. Zudem stimulieren die sportlichen Leistungen von Angehörigen des schwarzen Bevölkerungsteils die Angehörigen der weißen Mehrheit recht häufig zu Identifikationen, da diese Leistungen das Maß übertreffen, das nach dem quantitativen Anteil an der Gesamtbevölkerung erwartet werden könnte.
Ein Teil der sportlichen Erfolge, zu denen Schwarze in den USA kommen, hat fraglos seine Ursache in ihren Bemühungen, die sozialen Benachteiligungen auf jenem Felde auszugleichen, auf dem mehr Gleichheit der Chancen gewährleistet ist als in anderen Bereichen der Gesellschaft. Im Bereich des Sports wird Überkompensation vollzogen. Persönlicher sportlicher Erfolg bildet zudem häufig die Voraussetzung für verbesserte Sozialchancen. Würde sich aber wirkliche gesellschaftliche Emanzipation einer zuvor diskriminierkn Rasse vollziehen, so verlöre der Leistungssport für ihre Angehörigen gleichzeitig einen
Teil seiner übersteigerten Bedeutung als Bereich, in dem eine Kompensation mangelhafter Sozialchancen gestattet wird. Ist also einerseits dem Sport zuzugestehen, daß er die Voraussetzungen zu rassischer Integration verbessert, so erzeugt er andererseits lediglich den Schein von Emanzipation für die Diskriminierten von Generation zu Generation neu, wenn in keiner der Generationen seine integrierende Wirkung auch von politisch-gesellschaftlicher Emanzipation der zuvor Benachteiligten begleitet wird. Mit anderen Worten: wenn die Wertschätzung sportlicher Erfolge von Angehörigen einer gesellschaftlichen „outgroup", die gegenüber anderen nationalen „outgroups" erzielt werden, nicht dazu beiträgt, daß diese Gruppe der eigenen Gesellschaft zur „ingroup" zu werden vermag, dann hat der Sport lediglich Ventilfunktion im Leben der Gesellschaft und trägt zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Uber-und Unterordnungsverhältnisse bei. Man kann den Unterprivilegierten Erfolge auf dem Felde des Sports gönnen, weil diese Erfolge ihre gesamtgesellschaftliche Situation nicht verändern, aber den Schein von Zugehörigkeit zu schaffen vermögen.
Während in den USA für den gesellschaftlich unterprivilegierten schwarzen Bevölkerungsteil im Sport ein Reservat sanktioniert ist, in dem Ersatzbefriedigungen gefunden werden können, tendierte die mit ähnlicher Rassenproblematik belastete Südafrikanische Union zu strikter Rassentrennung. Sie galt auch für Nationalvertretungen im Sport. Der amerikanische Sportmediziner, Professor Arthur M. Steinhaus, gab 1965 in Pretoria in einem Vortrag, den er vor dem südafrikanischen Sportbund hielt, zu bedenken, daß „der amerikanische Neger im Sport eines der wenigen Gebiete gefunden" habe, auf dem er „wirklich mit seinen weißen Mitbürgern konkurrieren" könne und daß er ein „Schulbeispiel" für folgende Erkenntnis darstelle: „Nehmen Sie irgendeine Gruppe von Menschen, die politisch, wirtschaftlich oder sonstwie unterdrückt wird, und geben Sie ihr nur ein Gebiet, auf dem sie mit dem Rest der Bevölkerung konkurrieren und in gleicher Weise Anerkennung und Erfüllung finden kann. Sie werden die Gelegenheit sofort ergreifen und sich auf diesem Spezialgebiet selbst übertreffen." Steinhaus schloß ein, daß „Südafrika zu den führenden Sportnationen der Welt" gehören würde, wenn die farbigen Sportler dort „gleichberechtigt mit den Weißen an internationalen Wettkämpfen teilnehmen''könnten.
Folgt man Steinhaus'herrschaftspolitischer Deutung der Rassenintegration im Sport, so wäre für Südafrika zu folgern, daß dort den Verfechtern der Apartheid eine „Humantechnik" der Herrschaftsausübung verfügbar ist, die, wenn sie aus Gründen rassenpolitischer Opportunität genutzt werden müßte, der Emanzipation einer diskriminierten Gruppe keineswegs größere Chancen eröffnet als bei der heutigen Politik der Trennung. Eine Unbekannte in einer solchen taktischen Kalkulation, wo sie auch immer unter den Bedingungen von Rassenvielfalt angestellt werden mag, wäre allerdings die Wirkung auf das Bewußtsein der Gesamtbevölkerung, die sich aus den Identifikationsneigungen gegenüber dem „Sieger" jeglicher Hautfarbe aus der eigenen nationalen oder auch lokalen Gruppe ergibt.
Die Rolle des Leistungssportlers, der aus der diskriminierten Rasse kommt, ist entsprechend zwiespältig. Er ist seinen Rassegenossen gegenüber legitimiert, solange seine Erfolge deren Integration und Emanzipation begünstigen. Er stößt aber bei ihnen auf Kritik, wenn der Sport die von Steinhaus beschriebene Ventilfunktion erhält, ihr Bewußtseinsstand aber gleichzeitig schon soweit entwickelt ist, daß sie die Manipulation durchschauen. In der „Black-Power" -Bewegung der Vereinigten Staaten ist diese kritische Position bereits deutlich artikuliert worden.
Die internationalen Verbände tragen durch Sanktionen gegenüber Ländern, die auf Rassentrennung in ihren Nationalvertretungen bestehen, dazu bei, daß absolute Positionen aufgegeben werden. Südafrika wurde wegen seiner Politik von fast allen Weltmeisterschaftsveranstaltungen und den Olympischen Spielen ausgeschlossen. Derartige Sanktionen ebnen den farbigen Sportlern den Weg in Nationalvertretungen, aber sie werden fraglos nicht primär um solcher Ziele willen angewandt. Vielmehr muß eine erhebliche Gefährdung des organisierten sportlichen Nationen-antagonismus und der vielfach aus herrschaftspolitischen Gründen erwünschten Effekte befürchtet werden, wenn der rassistische Affront zu weit getrieben wird. Angesichts des heutigen Maßes von Souveränität und Geltung, das die jungen Nationen der „Farbigen" erlangt haben, kann ohne ihr Einverständnis die Institution „internationaler Sport" nicht mehr erhalten werden. Ihre Interventionen können, wie in den Fällen Südafrika oder Rhodesien, nicht mehr ignoriert werden. Wenn es bestimmte „schwierige Probleme" für die Olympischen Spiele, wie ein namhafter Autor sport-theoretischerAbhandlungen bemerkte „in der guten alten Zeit" noch nicht gab, weil die Welt noch nicht in „ideologische und rassische Blöcke zerrissen war", so berücksichtigt, eine derartige Deutung der heutigen Schwierigkeiten nicht, daß am Beginn der Olympischen Bewegung die Herrschaftsposition des weißen Mannes in der Welt seinen ideologischen und rassistischen Positionen weit stärker internationale Verbindlichkeit garantierte als heute. Wir hätten es mit einer negativen politischen Nebenwirkung des internationalen Sports im europäisch-amerikanischen Raum zu tun, wenn die gegenwärtigen sportpolitischen Konflikte hier unreflektiert von der Tatsache gewertet werden sollten, daß die Emanzipationsbestrebungen von Völkern der „Dritten Welt" legitim sind. Diese Völker würden dann aus einer Position der Selbstgefälligkeit heraus permanent als die Kräfte der Störung und Verunsicherung empfunden werden.
Die Durchsetzung von Teilnahmeberechtigungen an internationalen Wettbewerben für Sportler, die gleichsam „staatsoffiziell" aus rassischen Gründen ausgeschlossen sind, sichert nicht nur die Zukunft solcher Wettbewerbe, sie sichert auch die Verwirklichung von Rollenchancen der Leistungssportler aus der diskriminierten Rasse. Derartige Chancen haben aufgrund von Forderungen des IOC gegenüber der NS-Führung jene deutschen Sportlerinnen und Sportler bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin erhalten, die einen einwandfreien „Ariernachweis" nicht erbringen konnten. Der Wunsch der Nationalsozialisten, die Durchführung der Spiele für Deutschland zu sichern, konnte dabei wohl als Druckmittel verwendet werden Wiewohl in dieser Situation und auf diesem Wege dem individuellen Interesse von Leistungssportlern entsprochen wurde, so stellt sich andererseits jedoch die Frage, ob sich ihre Rolle in Übereinstimmung mit den kollektiven Interessen ihrer Gruppengenossen im Lande, die sich unter den gegebenen politischen Bedingungen kaum zu artikulieren vermochten, befunden hat. Bereits 1935 waren die Nürnberger Gesetze erlassen worden, die „Nichtarier" einem inhumanen Sonderrecht unterwarfen Die „Black Power" -Demonstration der amerikanischen Leichtathleten Carlos und Smith bei den Olympischen Spielen in Mexiko, die zu ihrer sofortigen Entfernung aus der amerikanischen Olympiamannschaft führte, ist eines der wenigen Beispiele für die Bereitschaft von Leistungssportlern geblieben, die persönlichen Interessen der Solidarität mit den Emanzipationsbestrebungen der eigenen diskriminierten Gruppe unterzuordnen. Es darf wohl für die Zukunft erwartet werden, daß sich Leistungssportler der Rolleninterpretation, die ihnen die jeweils Herrschenden zugedacht haben, um so weniger verweigern weiter Leistungsschraube werden, je die im internationalen Sport angezogen wird. Die persönlichen Opfer, die angesichts der immer wer höher gesteckten Leistungsziele gebracht -den müssen, sind so groß, daß die Tendenz wachsen dürfte, den politisch-ethischen Widerspruch, der sich aus den Erwartungen der eigenen Gruppe ergibt, zu verdrängen. Leistungssportler, die vor allem Idole der Jugend sind, funktionieren dann so, wie die Herrschenden es wünschen: Anstrengung mit sondergleichen hebt man sich aus der unterprivilegierten Herkunftsgruppe heraus, gibt anderen ein Beispiel für die Möglichkeiten individueller Emanzipation durch „Leistung", rührt aber nicht an der bestehenden Herrschaftsstruktur.
Eskalation des Leistungsdenkens Die Leistungsanforderungen an Sportler, die auf die internationale Bühne wollen, müssen in dem Maße steigen, in dem die Zahl der Nationen wächst, in denen aus Gründen der . Selbstdarstellung" Talente gesucht und gefördert werden. Aber nicht nur die Zahl der Hochleistungssportler führt zur Steigerung des Leistungsdrills, sondern auch die jeweils erfolgreichste Methodik der Leistungsförderung. Man kann entweder aus einem Wettbewerb wegen der Unannehmbarkeit der Erfolgsvoraussetzungen ausbrechen oder man muß, wenn man Wert auf Erfolg legt, die Methodik der Erfolgreichen kopieren.
Es bedarf keiner „sportfremden" Stimmen, um auf die Problematik einer stetigen Steigerung des Leistungsdenkens, die für die Sportler entsteht, aufmerksam zu machen. Carl Diem bemerkte 1955 in einem Aufsatz unter dem Titel „Maßhalten": „Wie alle olympischen Siege zusammen nicht eine Stunde Krankheit wert sind, so sind sie erst recht nicht eine verdorbene Lebenslaufbahn wert. Wir dürfen die jungen Athleten der Zukunft nicht dem Sportehrgeiz opfern." Rücksicht auf die „Lebenslaufbahn" junger Sportler dürfte von den meisten Repräsentanten des Sports als notwendig erachtet werden. Aber es ist die Frage, ob diese Rücksicht gewährleistet bleibt, wenn man andererseits die Dynamik unbeachtet läßt, die durch nationales Prestigedenken im Sport ausgelöst wird.
Willi Daume hat von einer „Ausbildung von Höchstleistungssportlern, die in gewisser Weise einer Berufsausbildung ähnelt", gesprochen Ein anderer Kenner der Verhältnisse im Sport, Guido von Mengden, meinte: „Zu der höchsten Stufe führt im Regelfälle nur ein fünfjähriger, mit durchschnittlich 20 bis 30 Wochenstunden bemessener Aufwand, insgesamt also etwa 7500 Stunden der Ausbildung." Auf diese Seite der Problematik des Leistungssports soll hier nicht näher eingegangen werden, da kritische Stellungnahmen in der jüngeren Zeit publiziert worden sind Es erscheint uns aber der Überlegung wert, ob das für Leistungssport erforderliche Maß von Trainingsarbeit nicht zu mehr Entfremdung führt als die Industriearbeit, deren Affinitäten zum Leistungssport wiederholt dargestellt worden sind; wenn die Ergebnisse von „Arbeit" im Training nicht manifest werden. Mancher Sportler mag das Bewußtsein seiner Entfremdung verdrängen, weil ihm bei Erfolgen Aussichten zu sozialem Aufstieg winken. Aber deutet in den entwickelten Industrieländern ein solches Denken nicht auf ein Nachhinken des Bewußtseinsstandes hin? Haben sich hier nicht Bildungserfordernisse ergeben, die zumindest geistige Aufwendungen für Berufsqualifizierungen sinnvoll erscheinen lassen müssen? Immerhin ist ja im Boxsport bereits zu beobachten, daß junge Menschen zur Frage von „Aufwand" und „Ertrag" von Leistungen in dieser Sportart bereits ein anderes Verhältnis gefunden haben als in früheren Jahrzehnten Und müssen die in der letzten Zeit geäußerten Vorbehalte gegenüber dem Leistungssport, die vor allem aus der jungen Generation kamen, nicht gerechtfertigt erscheinen, da bei uns aufgrund des Entwicklungsstandes der Produktivkräfte sozialdarwinistische Ideologien vom „Kampf ums Dasein" doch wohl einen großen Teil ihrer gesellschaftlichen Grundlage verloren haben? Die Chance zur Selbstverwirklichung durch Spiel, wenn der Mensch nach dem bekannten Wort Schillers „nur da wirklich Mensch ist, wo spielt", hat heute bessere er gesellschaftliche Voraussetzungen als zuvor, weswegen sportliche Kampf-Ideologien zunehmend fragwürdig werden.
Unter solchen Aspekten sind auch Vorbehalte gegenüber der These am Platze, Leistungssportler seien gute Vorbilder für die Jugend. Kinder weisen eine starke Fähigkeit zur Identifikation mit der sportlichen Leistung auf. Ihnen gegenüber die Autorität von Leistungssportlern, die im allgemeinen ausschließlich durch körperliche Leistungsfähigkeit legitimiert ist, auf ein adäquates Maß hin zu relativieren, ist so notwendig wie schwierig. Durch diese Autoritäten kann eine frühe Festlegung auf einen einseitigen Leistungsbegriff erfolgen. Insoweit könnte das „Vorbild" des im lokalen Gruppenvergleich erfolgreichen Amateursportlers, der hinsichtlich seines Amateurstatus niemals einen „Olympischen Meineid" geleistet hat, pädagogisch wertvoller sein. Er hat häufiger eine Sozialisation vollzogen, die schon aufgrund eines ausgewogeneren Verhältnisses in den Aufwendungen für geistige und körperliche Bildung den gesellschaftlichen Erfordernissen gegenüber angemessener ist Im Zusammenhang mit der Erörterung der Problematik einer Leistungseskalation im internationalen Sport kann auch die besondere Situation der Frauen nicht unerwähnt bleiben. Bereits an anderer Stelle wurde darauf hingewiesen, daß die Rollenvielfalt der Spiel-sportarten der Männer ihnen nicht zur Verfügung steht, weil Spiel-Sportarten für Frauen vergleichsweise bedeutungsloser geblieben sind. Ihre Rollenchancen liegen stärker bei den MKS-Sportarten, die jedoch im Primär-bereich des Sports wenig Publikumszuspruch finden, dafür aber umso mehr im internationalen Sport. Die Leistungen, die im internationalen Sport erforderlich sind, gelten, wenn sie von Männern erbracht werden, durchaus als imposante Geschlechtssymbole von „Männlichkeit". Gelten sie-aber, wenn sie von Frauen erbracht werden, als Symbole der „Weiblichkeit"
Generell wird das Leistungsdenken im internationalen Sport fraglos durch besonderen Charakter der Olympischen Spiele begünstigt. Sie führen einmal durch ihren Vierjahresturnus Zielprojektionen zeitlich langfristigen mit entsprechender „Planung" der Leistungsförderung. Zudem fördern die vielen Sportarten im „Olympischen Programm", die nicht Volkssportarten sind, eine Tendenz zur „Talentsuche" und „Talentförderung", was in der gleichen Akribie in Volkssportarten nicht erforderlich ist, weil sich die Talente dort im umfangreichen Sportbetrieb häufiger „anbieten". In dem bereits zitierten Artikel Robert Kennedys, in dem er als damaliger Justizminister aus „nationalen Gründen" eine „amerikanische Überlegenheit bei Olympischen Spielen" für notwendig erklärte, forderte er ein „Entwicklungsprogramm", um „unpopuläre Sportarten" zu fördern. Er nannte unter anderem Radfahren, Kanu, Judo, Turnen, Nordische Kombination und Rodeln. „Bei Olympischen Spielen zählt eine Medaille in diesen Sportarten genausoviel wie eine im Basketball oder im 100-m-Lauf", sagte er zur Begründung
1963 hat das IOC eine „Rangliste der olympischen Sportarten" festgelegt, in der von 1. bis 10. aufgeführt sind: Leichtathletik, Schwimmen, Ringen, Kunstturnen, Gewichtheben, Hockey, Reiten, Fechten, Rudern, Boxen. — Zum Vergleich sei angeführt, daß Fußball an 18. Stelle genannt wird, eine Sportart, für deren bundesdeutschen Fachverband 1967 knapp 2, 5 Millionen Mitglieder genannt wurden und die auch in ihrem Primärbereich ei-125 nen großen Publikumszuspruch hat, daß an 12. Stelle „Moderner Fünfkampf" steht, für dessen Fachverband, wiederum in der Bundesrepublik, 300 Mitglieder für das gleiche Jahr angegeben wurden Diese Sportart ist im Primärbereich des Sports kaum registrierbar. An der Zusammenstellung fällt zudem auf, daß das IOC besonders den von mentalen Faktoren weitgehend unabhängigen, aber für globale Sportvergleiche geeigneten Sportarten hohe „olympische Ränge" zumißt. Winter-sportarten, für die aus physikalischen Gründen die Möglichkeit des globalen olympischen Nationenvergleichs nicht besteht, sind in der Liste gar nicht aufgeführt. „Schon Coubertin war gegen die Winterspiele", so bemerkte IOC-Präsident Brundage zur Begründung seiner eigenen Bedenken, „weil der Wintersport überall möglich ist." Brundage, der nicht 1274)
bei gleicher Gelegenheit erklärte, die Olympischen Spiele seien „kein Wettbewerb zwischen Nationen oder Ländern, sondern zwischen Individuen" und der gleichzeitig die „nationalistischen Exzesse" bedauerte, zeigt sich mit seiner Argumentation zur Rolle des Wintersports über die formalen Voraussetzungen des Vergleichs zwischen Nationen besorgt, keineswegs über Voraussetzungen des Wettstreits zwischen Individuen, die sich, sofern sie in Zentralafrika beheimatet sind und Schnee nicht kennen, kaum davon berührt fühlen dürften, daß norwegische und österreichische Individuen Olympiamedaillen im Skilaufen erwerben. Nur auf der Ebene eines sportlichen Antagonismus zwischen National-vertretungen, wie er bei Olympischen Spielen praktiziert wird, sind Fragen gleicher geographisch-metereologischer Voraussetzungen von Belang. Es wird auch am Rande nicht erwogen, auf das Ausfahren Deutscher Bobmeisterschaften zu verzichten, weil geographischmetereölogische Bedingungen die Bayern begünstigen und die Schleswig-Holsteiner ausschließen. Die Sportarten, die bei Olympischen Spielen zum Wettbewerbsprogramm gehören, sind überwiegend MKS-Sportarten. Den Verwaltern der Länderfonds, aus denen die finanziellen Mittel zur Förderung von Leistungssportlern entnommen werden, ermöglicht der MKS-Sport eine exaktere Nachprüfung der »Förderungswürdigkeit" von Sportlern als der Spielsport, was auch zu unterschiedlicher Abhängigkeit der Sportler von den Kontrollierenden führt. Die Leistungen potentieller Gegner bei Olympischen Spielen sind im —---------MKS-Sport bekannt, im Spielsport sind sie niemals genau fixierbar
Seit der Einrichtung eines Fonds zur Förderung des Leistungssports in der Bundesrepublik ist auch die Entwicklung zentral gelenkter Kontrollverfahren zu beobachten. Abschließend ist aber in Zusammenhang mit der Erwähnung von Folgewirkungen der zentralen Förderung darauf hinzuweisen, daß auch eine Wandlung der Einschätzung von Funktionen der Vereine erkennbar wird. Josef Neckermann, der wesentlichen Anteil an der Einrichtung der „Stiftung Deutsche Sporthilfe" hatte, mit deren finanziellen Mitteln Leistungssportler gefördert werden, empfahl ihre „Absicherung" gegen „die Gefahr, daß nun 35 000 Durchschnittsvereine mit ihren Forderungen auf uns zukommen". Die „Absicherung" sollte unter anderem dadurch geschehen, daß „wir in Zusammenarbeit mit den beteiligten Fachverbänden eine bestimmte Anzahl von leistungsfähigen Vereinen zu sogenannten Trainingszentren deklarieren" Solche Zielsetzungen führen dazu, daß leistungsfähige Sportler aus „Durchschnittsvereinen" herausgeholt und, nach Sportarten gesondert, dort konzentriert wer-den, wo die optimalen Bedingungen für eine weitere Leistungsförderung vorhanden sind. Häufig wird in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit der Bildung „leistungsfähiger Großvereine" gesprochen. Ob allerdings solche Verfahren, die mit ausschließlich rationellen Gesichtspunkten bestmöglicher Leistungsentwicklung zu rechtfertigen versucht werden, für die Sportbewegung und ihre nicht nur von nationalen Prestigefaktoren geprägten Ziele von Vorteil sind, muß bezweifelt werden, weil die Rationalisierungsprozesse bestimmte für die Sportbewegung vorteilhafte soziale Prozesse behindern.
Es konnten hier einige Nachweise dafür erbracht werden, daß in kleineren, organisch gewachsenen Gruppen jene sozialen Interaktionen stattfinden, die junge Menschen zu aktiver Sportbetätigung motivieren und auch Vereinsmitglieder und ein Sportplatzpublikum mobilisieren, wodurch der Sportbewegung ein wesentlicher Teil ihres in vielfältiger individueller Bindungsbereitschaft begründeten Kräftepotentials gesichert wurde.
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Horst Geyer, Dr. phil., geb. 1922, Studium der Soziologie und Geschichte, danach Tätigkeit in der Erwachsenenbildung. Veröffentlichungen zur Soziologie des Sports bisher im Wörterbuch der Soziologie und in wissenschaftlichen Zeitschriften.
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