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Das Grundgesetz als Problem der Didaktik | APuZ 1-2/1972 | bpb.de

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APuZ 1-2/1972 Die Grundrechte -ewiges Fundament oder wandelbare Satzung? Zur Grundrechtsdiskussion in der politischen Bildung Das Grundgesetz als Problem der Didaktik Artikel 1

Das Grundgesetz als Problem der Didaktik

Ernst-August Roloff

/ 44 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Artikel 1 des Grundgesetzes — „Die Würde des Menschen ist unantastbar" — ist als Fundamentalnorm der Verfassung zugleich oberster Wert für die politische Erziehung. Die Grundrechte — Art. 2 bis 17 — bilden als Merkmale der „Würde des Menschen" den verbindlichen Bezugsrahmen für das gesamte Erziehungswesen, sind als solche aber keine zeitlosen (absoluten) Werte, sondern relativ zu einer bestimmten historisch-sozialen Situation, in diesem Falle Ausdrude der durch den Nationalsozialismus verursachten Lage. Schule als Teil der staatlichen Gewalt rechtfertigt ihre Existenz in der Bundesrepublik durch den Auftrag, die „Würde des Menschen" zu achten und zu schützen. Diese Würde verwirklicht sich durch Inanspruchnahme der garantierten Freiheitsrechte bis zur Bestimmung des Menschen über sich selbst, das heißt in einem Prozeß, in dem das Risiko das Konflikts mit den Kräften der Fremdbestimmung (Herrschaft) erheblich ist. Diese möglichen Konflikte müssen Gegenstand des politischen Unterrichts sein. Auch der Lehrer kann durch seine Verpflichtung auf das Grundgesetz in Konflikt zu Erwartungen und Anordnungen der Schulverwaltung oder des Dienstherrn geraten. Auch dem Schüler steht das „Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit" zu; ihn zur Ausübung seiner Rechte und zu Entscheidungen zu befähigen, ist das Prinzip politischer Erziehung. Die Grundrechte können deshalb kein geschlossen abzuhandelndes Thema für den Unterricht sein, sondern ständig gegenwärtige Orientierungsnorm, wobei ihr antimonischer Charakter und der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit, z. B. beim Begriff „Sozialstaat", deutlich werden sollten.

I. Zur Genese einer Kontroverse

Als die Besatzungsmächte im Sommer 1945 damit begannen, die Schulen wieder funktionsfähig zu machen, wiesen sie ihr die Aufgabe zu, „mitzuwirken am Aufbau einer wahren Demokratie ... Es muß wieder der einzelne Mensch in seiner Bedeutung, seinem Wert, seinen liechten und Pflichten gesehen werden" wie es die Amerikaner in den ersten Richtlinien für Bayern ausdrückten. Im Januar 1946 schlossen sich alle „Unterrichtsminister der Länder der amerikanischen Besatzungszone" prinzipiell dieser Zielvorstellung an: „Die Schule hat die Aufgabe, den Schüler im Rahmen der Demokratie zu den Grundforderungen der Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde, zur Liebe zu Volk und Vaterland und zur Achtung vor allen Völkern und Rassen zu erziehen.“ Man maß der Erziehung eine beträchtliche Bedeutung zu, wenn die amerikanische Erziehungskommission, die als Entscheidungsträger im Bereich der Bildungspolitik fungierte, im September 1946 nachdrücklich bemerkte: „Das einzige und beste Werkzeug, um noch im gegenwärtigen Geschlecht in Deutschland die Demokratie zu erreichen, ist die Erziehung" (Borcherding, S. 66).

Damit war die politische Funktion der Schule deutlich genug bestimmt: Deutschland sollte innerhalb einer Generation die Demokratie erreichen, womit zweifellos das Demokratieverständnis der USA gemeint war und deren Begriff von Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde; Zentralwerte, die als Verhaltensnormen jedem einzelnen Angehörigen dieser Ordnung als verbindlich vermittelt werden sollten — und zwar durch die Schule.

Der Zentralwert „Würde des Menschen" wurde daher noch vor der Formulierung der Grundrechte im Grundgesetz für die Bundesrepublik verbindliches, oberstes Erziehungs’) ziel. Man kann sogar sagen: Weil es das war, wurde die „Würde des Menschen" die alle Staatsgewalt verpflichtende und rechtfertigende höchste Norm für die politische Macht. Aus Artikel 1 des Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt") folgt, wie Mangoldt-Klein und anderen Kommentatoren begründen, daß die in den Artikeln 2 bis 17 GG formulierten Grundrechte in ihrer Gesamtheit als die für diesen Staat gültige Definition von „Würde des Menschen" zu betrachten sind: Weil sie de facto sehr wohl antastbar ist, wie das gerade beseitigte Herrschaftssystem des Nationalsozialismus in grauenvoller Weise bewiesen hatte, darum sollten die „nachfolgenden Grundrechte" alle Staatsgewalt binden, und zwar als unmittelbar geltendes (d. h. positives) Recht. Damit wollten die Schöpfer des Grundgesetzes ihr politisches Bekenntnis ausdrükken, nämlich als ein „Zeugnis für die Stärke des Gegensatzes zwischen dem Geist der neuen Staatsordnung und demjenigen des im Mai 1945 vernichteten Regierungssystems“, wie Mangoldt-Klein kommentieren, womit gesagt sein soll: daß „Würde des Menschen" im Grundgesetz gerade so — nämlich durch die Formulierungen der Artikel 2 bis 17 — definiert wurde, ist Ausdruck des politischen Willens zu einer neuen Ordnung, die sich in diametralem Gegensatz zum Nationalsozialismus verstehen und verstanden wissen wollte.

Wenige Jahre nach der Konstituierung der Bundesrepublik schrieb Joachim Fernau in seiner kritischen , Fibel der Demokratie': „Das Grundgesetz beginnt mit einem wunderschönen Satz. Er hinterläßt eigentlich mehr ein Gefühl als eine präzise Vorstellung, und zwar ein angenehmes Gefühl. Jedoch Kant würde sagen, es fehlen leider alle Definitionen." Diese Kritik übersieht zwar, daß die Definitionen — wie gesagt — keineswegs fehlen; sie trifft aber insofern zu, als Artikel 1 Abs. 1 für sich genommen eine Leerformel ist, ein Postulat mit stark emotionalem Charakter und als Rechtsnorm für die Ausübung von Macht ungeeignet. Das bedeutet: Unter anderen Bedingungen, bei anderen historischen Erfahrungen und unter anderen Herrschaftsverhältnis-sen wären die Formulierungen der Artikel 2 bis 17 auch in anderer Weise denkbar und vermutlich auch anders ausgefallen. Allein ein Vergleich der Grundrechtsbestimmungen im Grundgesetz mit den entsprechenden Formulierungen in der Weimarer Verfassung liefert hinreichend Belege für die Hypothese, daß die konkrete und justiziable Definition von „Würde des Menschen" historisch und gesellschaftlich relativ ist.

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt vor allem in den Entscheidungen vom 23. Oktober 1951 und 17. August 1956, daß „Würde des Menschen" als oberster Wert für Staat und Gesetz zu gelten hat und mithin eine einzelne Verfassungsbestimmung nicht aus sich allein heraus ausgelegt werden kann, sondern „auf ihre Vereinbarkeit mit den elementaren Verfassungsgrundsätzen geprüft" werden müsse In der Rechtsprechung zu den Artikeln 2 bis 17 wird also permanent der Bereich abgegrenzt, der als „Würde des Menschen" unantastbar sein soll; das bedeutet, daß diese Norm sich ständig im Konflikt realisieren und behaupten muß.

Wenn diese Hypothese richtig ist und „die tatsächlich geübte Antastung der Menschenwürde als ein Unwert erfahren wird, die rechtlich gesollte Nichtantastung der Menschenwürde als ein Wert“, gibt es, wie Werner Maihofer folgert nicht in irgendeinem absoluten „Reich der Werte“ einen festumris-senen Wert „Menschenwürde", sondern dann ist er eine „relative Norm für die Erhaltungs-und Entfaltungsbedingungen des Menschen“. Wenn ferner die Voraussetzung gegeben ist, daß die konkret definierte „Würde des Menschen" als „das Fundament des Normengefüges unserer Verfassung" verstanden werden muß und damit zugleich der oberste Wert für die politische Erziehung ist — denn auch die Schule ist eine staatliche „Gewalt" und an die Grundrechte gebunden —, dann heißt das: die Würde des Menschen wird durch Erziehung verwirklicht.

Daß das Grundgesetz und die so verstandene Staatsordnung den verbindlichen Bezugsrahmen für das gesamte Erziehungswesen bilden, hat der Deutsche Ausschuß für das Erziehungs-und Bildungswesen in der Einleitung zu seinem „Gutachten zur politischen Bildung und Erziehung" vom Januar 1955 anerkannt: „Politische Erziehung und Bildung wird bestimmt durch die politische Wirklichkeit, von der sie getragen wird, und durch die Ideen, denen sie dient. Der institutionelle Rahmen ist in der Bundesrepublik Deutschland durch das Grundgesetz gegeben. Es ist auf den Menschenrechten und den bürgerlichen Freiheiten aufgebaut."

Es überrascht daher nicht, daß das Thema „Die Grundrechte im Unterricht" im Mittelpunkt des ersten Heftes einer „Zeitschrift für Gemeinschaftskunde und politische Bildung" stand, die 1956 unter dem Titel „Freiheit und Verantwortung" von Günter Frede, Felix Messerschmid und Otto Seitzer herausgegeben wurde Seitzer, damals in der Schulverwaltung des Kultusministeriums von Baden-Württemberg tätig, behandelte das Thema für die Volksschule, Wolfgang Hilligen, damals Rektor einer Mittelschule und kurz vor der Ernennung zum Schulrat, für die Mittelschule und Max Thiel für die Berufsschule. Diese Aufteilung beinhaltet eine Auffassung von der Funktion der Schule, die am deutlichsten in dem Beitrag von Hilligen erkennbar wird: Unterrichtsgegenstände und -ziele werden für die verschiedenen Schularten unterschiedlich festgelegt, weil die Schüler als Absolventen einer bestimmten Schulart entsprechende Stellungen in der Gesellschaft einnehmen werden. Nach Hilligen werden z. B. Mittelschüler „als Vermittelnde zwischen Planenden und Ausführenden" tätig sein, so daß sich die Auseinandersetzung mit den Grundrechten auf diese Position hin orientiere, aber „aus guten Gründen", bemerkt Seitzer in seinem Beitrag, sei in den Stoffplänen der Regierung die Behandlung von Grundrechten auch in den Volksschulen vorgesehen. Wenn weiter davon ausgegangen wird, daß Gymnasiasten ein anderes Grundrechtsverständnis erfahren sollen als Berufsschüler, so wird deutlich, daß sich didaktische Konzeptionen in einer Weise an gesellschaftlichen Strukturen orientieren sollen, die auf Rollenfixierung in einer Klassengesellschaft abzielt. Die Funktion der Grundrechte ergibt sich aus ihrer Bedeutung für das Demokratie-und Staatsverständnis, dem Seitzer, Hilligen und Thiel mit folgenden Prinzipien exemplarisch Ausdruck gaben: 1. Die Grundrechte werden — im Sinne eines liberalen Staatsverständnisses — primär als Abwehrrechte des Staatsbürgers gegenüber Machtmißbrauch und Willkür der Staatsgewalt aufgefaßt. Fast alle Kommentatoren sind sich jedoch darüber einig — und das Bundesverfassungsgericht hat es immer wieder bestätigt —, daß sie nicht nur Abwehrrechte sind, sondern zugleich staatsbegründende objektive Elemente der gesellschaftlichen Ordnung; keine vergebene objektive Wertordnung, sondern materiale Bestimmungen, die nur soweit normative Kraft haben, als sie nach dem Willen der Staatsbürger als verbindlich anerkannt und dadurch realisiert werden, wie Konrad Hesse dargelegt hat Dessenungeachtet meint Seitzer, der Unterricht über die Grundrechte solle „die jeder staatlichen Gewalt gesetzten Schranken in Herz und Kopf der Jugendlichen aufrichten, damit diese einst, wenn sie mitverantwortliche Bürger geworden sind, imstande und willens sind, jeder Überschreitung dieser Schranken sich zu widersetzen“ (S. 34). „Der künftige Bürger soll erfahren, was er darf und wo die Grenzen seines Freiheitsraumes liegen" (S. 36). 2. Entgegen der erklärten Voraussetzung des Grundgesetzes, daß die Menschenrechte unveräußerlich und mithin vorgegebene, wenn nicht gar angeborene Rechte sind, verbind Seitzer damit unbegründet die „Erkenntni daß mit den Grundrechfen auch Pflichten ft alle verbunden sind, die sie in Anspruch nel men" (S. 35). Abgesehen davon, daß dies i Widerspruch zum Verständnis der Grum fechte als Abwehrrechte steht, wird hierm eine Zielnorm in die politische Didaktik eir geführt, die aus dem Grundgesetz eher ä Verbot denn als Gebot abzuleiten ist. Um s bemerkenswerter ist, daß sie in sich verschä: fenden Formulierungen in die Didaktik daue haft Eingang fand. In einem Band „Menscher rechte und Menschenpflichten" der „Arbeit: hefte für den politischen Unterricht" wir gesagt: „Daß den Grundrechten auch Grune pflichten entsprechen, wollen viele Mensche nicht recht einsehen" (S. 23). In dem Lehrbuc „Der junge Staatsbürger" wird daraus bereit die „Gehorsamspflicht gegenüber dem Staat'die man erst erfüllen müsse, um die garantiei ten Freiheitsrechte in Anspruch nehmen z können. Die Perversion der erklärten Absich des Verfassungsgebers findet ihre Duldun durch die politischen Entscheidungsträgei wenn solche Lehrbücher von den Ministeriei genehmigt werden. 3. Die Lehre von den Grundrechten wird i das ideologische Denkschema der „Totalitaris mus" eingeordnet, das als Integrationsideolo gie des Antikommunismus in der Zeit des Kal ten Krieges fungierte: „In einem totalitäre! Staat (Polizeistaat) ist niemand davor sicher ohne Angabe von Gründen und ohne Gerichts urteil monate-und jahrelang festgenommer zu werden. In einem Rechtsstaat ist die Frei heit der Person ein besonderes wichtiges Rech des Bürgers“, lehrt Seitzer (S. 44). Noch deut licher Max Thiel: „Die Menschenrechte sine unser Schild gegen den Ansturm der Gefah ren, die uns aus der Vermassung, dem Faschismus, dem Nationalsozialismus und den Bolschewismus drohen“ (S. 57). Es wird den Schüler suggeriert, daß die Menschenrechte allein schon dadurch gesichert sind, daß es diesen unseren Staat gibt und folglich eine Bedrohung nur von außen kommen kann. Auf diese Weise kann aus den Grundrechten sogar die Pflicht zur militärischen Verteidigung abgeleitet werden, unbeschadet des Artikels 4 Abs. 3 GG. Nur Hilligen deutet an, daß Gefährdungen der Grundrechte auch innerhalb unseres eigenen Systems durch die Machtanwendung seiner Entscheidungsträger möglich sind, wenn er als Ziel für die Behandlung der Grundrechte im Unterricht angibt, „die Voraussetzungen aufzuzeigen, unter denen diese (unsere) Ordnung erhalten bleiben und gedeihen kann". Seine Beispiele — Maßnahmen des Stadtgartenamtes oder Verweigerung eines Kinderspielplatzes — zeigen allerdings die unpolitische Dimension der hier konzipierten „Sozialkunde".

Man muß sich vergegenwärtigen, daß die Zeit, in der das Gutachten des Deutschen Ausschusses für das Erziehungsund Bildungswesen und die Zeitschrift „Freiheit und Verantwortung" erschienen, für die Konsolidierung der Bundesrepublik eine entscheidende Phase war: Noch in der ersten Legislaturperiode des Bundestages war mit der Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes die Integration des DGB in die politische Ordnung erreicht worden; nach dem überzeugenden Wahlsieg der CDU/CSU von 1953 konnte die Regierung Adenauer durch Eintritt in die Nato und den Aufbau der Bundeswehr die Souveränität der Bundesrepublik erreichen und zugleich diplomatische Beziehungen zur UdSSR aufnehmen. Im gleichen Zuge beantragte und erwirkte sie das Verbot der SRP und der KPD, eine Maßnahme, die die politische Bedeutung der Lehre vom „Totalitarismus" deutlich macht.

Diese Entwicklung fand ihren Niederschlag in der Konkretisierung der Aufträge an die politische Erziehung in den Schulen, vor allem in den Empfehlungen der Konferenz der Kultusminister zur „Ostkunde an Schulen und Hochschulen" vom 16. Dezember 1956. „Das gesamte Erziehungs-und Bildungswesen der Deutschen muß den Aufgaben gerecht werden, vor die unser Volk durch den Einbruch des Sowjetsystems in Mitteleuropa, durch die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa und durch die Spaltung Deutschlands ... gestellt worden ist."

Zielte diese Empfehlung aus dem Jahre 1956 auf die Stärkung des Willens zur „Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit" sowie auf die Erhaltung des Bewußtseins, daß die von Staaten des Ostblocks besetzten Gebiete deutsch bleiben müssen, so reagierten die Kultusminister auf den Bau der Mauer in Berlin mit den „Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus im Unterricht" vom 5. Juli 1962 noch deutlicher: „Die Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus gehört zu den wesentlichen Aufgaben der politischen Bildung unserer Jugend. Die Lehrer aller Schularten sind daher verpflichtet, die Schüler mit den Merkmalen des Totalitarismus und den Hauptzügen des Bolschewismus und des Nationalsozialismus als den wichtigsten totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts vertraut zu machen" ... „Bei der Darstellung des kommunistischen und des nationalsozialistischen Totalitarismus sind ihre verwerfliche Zielsetzung und ihre verbrecherischen Methoden deutlich zu machen ... Im Unterricht über den Bolschewismus ist dem Schüler der weltweite Anspruch untl die damit verbundene Gefahr für die Menschheit zu zeigen."

Ungeachtet der Tatsache, daß in der Wissenschaft der von Z. Brzezinski, C. J. Friedrich und Hannah Arendt entwickelte Totalitarismus-Begriff, der hier zur Anwendung im Unterricht empfohlen wird, inzwischen fragwürdig geworden ist — etwa durch die Forschungsergebnisse von P. C. Ludz, M. Greiffenhagen u. a. —, erfüllt er eine politisch-ideologische Funktion: die Erzeugung eines Gut-Böse-Schemas, das die völlige Identifikation mit dem eigenen System, der Demokratie, ermöglichen und das Bewußtsein schaffen soll, daß es identisch sei mit Freiheit und Menschenwürde. In zahlreichen Lehrbüchern werden noch jetzt die Grundrechte in dieser Gegenüberstellung aufgeführt.

In den fünf Jahren, die zwischen den beiden Erlassen bzw. Richtlinien liegen, hatte sich allerdings die politische Wirklichkeit in einigen entscheidenden Dingen geändert. Insbesondere war in der Ära Kennedy-Chruschtschow die Spannung zwischen den beiden Großmächten in der Weise gelöst worden, daß z. B. die Kuba-Krise ebenso wie der Bau der Berliner Mauer politisch als das definitive Abstecken der Machtsphären interpretiert werden mußte, zumal seit 1960 der ideologische Konflikt zwischen China und der Sowjetunion immer deutlicher machtpolitischen Charakter annahm. Innenpolitisch hatten die beiden Legislaturperioden von 1957 bis 1965 mit dem Trend zum Zwei-(Drei-) Parteien-System die beherrschende Rolle der CDU/CSU befestigt.

Im Herbst 1962 machte die Affäre um den „Spiegel" schlagartig einer weiten Öffentlichkeit bewußt, daß die garantierten Grundrechte unter Umständen auch gegen die Inhaber der politischen Macht in unserem Staate zur Geltung gebracht werden müssen und daß sie nicht nur von außen gefährdet sind.

Unter diesem Eindruck entwickelte sich eine kritische Didaktik, die ihren wirksamsten Aus-druck fand in der „Didaktik der politischen Bildung" von Hermann Giesecke (1965). Wenn hier die Konfliktanalyse zum didaktischen Prinzip erhoben wird, so schlägt sich darin die Tatsache nieder, daß die politische Wirklichkeit in der Bundesrepublik zunehmend durch bis dahin verdrängte, unterdrückte oder verschleierte Binnenkonflikte bestimmt wurde. Das Verlangen nach verantwortlicher Teilhabe an der politischen Entscheidung konnte nicht länger mit dem Hinweis darauf abgewehrt werden, daß in unserem Staate die Grundrechte absolut gesichert und nur von außen bedroht seien, weshalb die militärische Sicherung des Staates gegenüber dem Kommunismus Vorrang haben müsse. Gieseckes Didaktik, in der „Konflikt“ als „Auseinandersetzung zwischen Menschen 1'in engem Zusammenhang mit „Menschenwürde“ gesehen wird, verlangte, im politischen Unterricht nicht „die Normen der Grundrechte abstrakt vorzuführen", sondern als „Maßstab konkreter Politik" Verstehen zu lernen. Am Maßstab der in den Grundrechten konkretisierten „Würde des Menschen" habe politische Didaktik, so meinte Giesecke, politische Aktionen darauf hin zu prüfen, „in welcher Weise sie auf die davon betroffenen Menschen einwirken" (S. 114).

Gieseckes Didaktik löste eine Kontroverse aus, die angesichts der Entwicklung in den Jahren 1967 bis 1969 (Notstandsverfassung, Studentenunruhen in aller Welt, CSSR, Vietnam usw.) keineswegs rein akademischen Charakter besitzt, sondern noch heute von brisanter und aktueller politischer Relevanz ist: In seinem Buch „Politikwissenschaft und Pädagogik" (Berlin 1968), das übrigens fast zur gleichen Zeit erschien wie Klaus Mollenhauers „Erziehung und Emanzipation", setzte sich Heinrich Bußhoff kritisch mit Giesecke auseinander und ging dabei davon aus, „daß der Grundrechtsteil unserer Verfassung neben der politischen zugleich die Axiomatik heutiger Pädagogik sei" (S. 116). Er gesteht zu, daß politische Erziehung immer bezogen ist auf die politische Ordnung, in der sie gültig ist, und folgert daraus, daß sie in der Bundesrepublik auf die Prinzipien bezogen ist, die im Grundrechtsteil unserer Verfassung niedergelegt sind. Nur von den Grundrechten her sei daher „eine prinzipielle Einsicht in die Struktur unserer politischen Ordnung" zu gewinnen, weil sie sowohl die „Bedingungs-, Funktions-und Ordnungselemente der politischen Ordnung"

seien als auch „die Grundkategorien politischer Bildung, aber auch ihre Inhalte" (S. 154). Kurt Gerhard Fischer hat in einer Rezension dieses Buches in der Zeitschrift „Gesellschaft— Staat—Erziehung" (H. 6/1969, S. 409 f.) Bußhoff vorgeworfen, er rede „einer rein affirmativen Politischen Bildung das Wort", wenn er meine, „aufgrund der historischen Bedingtheit ist Entwicklung nur im Anschluß an Bestehendes möglich". Wenn man diesen Grundsatz mißachte, schloß Bußhoff, müsse man „die historische Entwicklung verneinen und die Revolution fordern". Das aber befürchtet Bußhoff, wenn man in der Didaktik den Konflikt als zentrale Kategorie des Politischen betrachte und zum Prinzip der politischen Bildung erhebe. In einer „Entgegnung auf Fischers Besprechung meines Buches . Politikwissenschaft und Pädagogik " (GSE H. 3/1970, S. 179 ff.) fordert Bußhoff Fischer zu einer klaren Antwort auf die Frage auf: „Sollen die Grundrechte in Rücksicht auf politische Bildung prinzipiell in Frage gestellt oder außer Kraft gesetzt werden? Gibt es für die heutige Zeit andere Richtlinien (Zielvorstellungen), die an ihre Stelle gesetzt werden sollten? ’

Fischer antwortete darauf (in Heft 4/1970, S. 260 ff.) mit Condorcet, daß die Menschenrechte keine vom Himmel herabgekommenen Tafeln seien, „die man anbeten und an die man glauben muß", sondern nur in einer bestimmten historisch-politischen Situation gültige und den Zeitverhältnissen unterworfene Kategorien, was Bußhoff insoweit zugesteht, als er die konkrete Formulierung der Grundrechte in unserer Verfassung „nur in ihrer jeweiligen sozial-politischen Gebundenheit" für verstehbar hält. Fischer hält ihm jedoch entgegen, daß er trotzdem Normen wie „Mündigkeit", „Gemeinwohl", „Gültigkeit“, „Stimmigkeit" u. a. so weit inhaltlich festlegt, daß er ihnen tatsächlich den Charakter zeitlos gültiger Werte zuerkennt. Fischer antwortet daher auf die ihm gestellte Frage: „Infragestellen der geltenden und um Geltung ringenden Normen in unserer Gesellschaft, den Widerspruch zwischen Verfassungstext und gesellschaftlicher Praxis zu hinterfragen auf die wirklich herrschenden normativen Systeme und Normen hin; dies erscheint mir etwas anderes als das von Bußhoff Postulierte und von Notwendigkeit für Politische Bildung heute.“ (S. 261)

Inzwischen hatten die politischen Entscheidungsträger ihre Erwartungen an die politische Bildung noch einmal klar formuliert, und zwar in die Antwort der Regierung der Großen Koalition auf Anfragen aller drei Fraktionen vom 23. September 1968: Es dürfe nicht länger „eine harmonisierende, verklärende Darstellung der Demokratie gegeben" werden, die Begriffe wie „Interesse, Konflikt und Macht" ausklammere; sie müsse sich „um die Entwicklung eines selbstverständlichen Staatsbewußtseins bemühen. Dieses Staatsbewußtsein wird verstanden als Bekenntnis zum Grundgesetz .. . Staatsbewußtsein bedeutet also für die politische Bildungsarbeit die Bejahung unserer demokratischen Staatsform, ihrer geistigen Grundlagen sowie der ihr zugrunde liegenden Auffassung von der Würde des Menschen.“

Die Regierung läßt keinen Zweifel daran, „daß Kritik für das Funktionieren einer demokratischen Ordnung notwendig ist", aber man dürfe nicht nur ein negatives Bild des staatlichen Lebens zeichnen. „Bejahung der Grundwerte der freiheitlichen Demokratie" bleibt der unverrückbare Auftrag an die politische Erziehung. Der Schule ist es aufgegeben, die „Würde des Menschen" in der Weise zu realisieren, daß sie durch ihre pädagogische Praxis mitwirkt, eine Gesellschaft zu konstituieren, in der „menschenwürdige" Verhältnisse herrschen. Die Schule erfüllt in dieser Hinsicht ihren Auftrag, wenn sie dem Schüler in immer eindringlicherer Weise die ihm eigene menschliche „Würde" bewußt macht.

II. „Würde des Menschen" — Fundamentalnorm der Didaktik

Die vorstehenden Ausführungen lassen sich in folgenden Voraus-Setzungen zusammenfassen:

1: Die Garantie der Menschenwürde in Artikel 1 des Grundgesetzes ist zwar „Fundamentalnorm unserer Verfassung und Grundnorm unserer Rechtsordnung" (Werner Maihofer), aber nicht Bestandteil des zum positiven Recht erklärten Grundrechtskatalogs.

2. Die Gesamtheit der „unmittelbat" geltenden Grundrechte ist die justiziable und opetationa-

lisierbare Definition von „Würde des Menschen", die der Verfassunggeber für diesen Staat Und diese Gesellschaftsordnung vorge-

nommen hat.

3. Da die politischen Entscheidungsträger das Bekenntnis zu dieser Form der Grundrechte als dem Minimalkonsensus zur Erhaltung dieser Ordnung erwarten, sind sie der gültige Bezugsrahmen für die Schule und oberster Leitsatz der politischen Erziehung.

Auch der Schule als Teil der Herrschaftserd-nung ist es aufgegeben, die Würde des Menschen zu achten Uhd zu schützen, da sich ihre Existenz erst durch diese Verpflichtung des Staates rechtfertigen läßt. Ihre Aufgabe, dem Individuum zu einer unter den gegebenen Be= dingungen optimalen Verwirklichung seiner personalen Würde zu verhelfen, kann daher nur so verstanden werden: den heranwachsenden Staatsbürger zur radikalen Beanspru1) chung der ihm garantierten Freiheiten und des Rechts auf „freie Entfaltung seiner Persönlichkeit" zu befähigen, m. a. W.: ihm zu seiner Selbstbestimmung zu verhelfen. Dieser Selbstbestimmung stehen Kräfte entgegen, die als Fremdbestimmung die „Würde des Menschen"

beeinträchtigen und die freie Entfaltung der Persönlichkeit behindern: „Sieht man die Menschenwürde prinzipiell im Sichselbstgehören und übersichselbstverfügen des Menschen: seiner Personalität, dann ist sicher all das Antastung und Mißachtung der Menschenwürde des einzelnen, ebenso wie einzelner Gruppen in der Gesellschaft, aber auch der Gesellschaft im ganzen, was diese Selbstbestimmung des Menschen grundsätzlich in Frage stellt."

„Würde des Menschen" hat demnach einen subjektiven uhd einen objektiven Aspekt uhd meint 1.den Prozeß der zunehmenden Selbst-Und damit den Abbau von Fremdbestimmung (irrationale Herrschäft) ;

2. die Schaffung einer gesellschaftlichen und politischen Ordnung, die die so verstandene Würde des Menschen ermöglicht, — negativ ausgedrückt: „Abschaffung aller Verhältnisse, auch von solchen in der außerstaatlichen Sphäre, welche die Menschenwürde zu beeinträchtigen geeignet sind."

„Würde des Menschen" realisiert sich also in dem mindestens potentiell permanenten Konflikt mit der Wirklichkeit von Macht-undHerrschaftsausübung, auch in der Familie, die — entgegen der Zuordnung von Maihofer — keineswegs zur „außerstaatlichen Sphäre" zu rechnen ist, weil es eine solche m. E. überhaupt nicht gibt, nicht zuletzt aber in der Schule, im Konflikt mit institutionellen „Autoritäten". Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit wird schon durch das Grundgesetz selbst eingeschränkt, nämlich durch „die Rechte anderer", „die verfassungsmäßige Ordnung" und „das Sittengesetz“ — Schranken, die der Definition und Konkretisierung bedürfen. Insbesondere die unbestimmte Norm „Sittengesetz", die als Begrenzung des Rechts auf freie Entfaltung des Individuums anerkannt wurde, zeigt, daß die Grundrechte, bzw. ihre Inanspruchnahme, auf Konflikte mit der Gesellschaft hin angelegt sind.

Es ist nachweisbar und z. B. durch den politischen Unterricht deutlich zu machen, daß jede Staatsgewalt dazu neigt, den Notwendigkeiten der Staatsraison den Vorrang vor den garantierten Freiheiten zu geben: „Antastungen der Menschenwürde werden gern mit dem Hinweis auf Notwendigkeiten der physischen (in Kriegen), moralischen (gegenüber Versuchungen zu gesellschaftlich verbotenem Verhalten) oder wirtschaftlichen Sicherung der ihnen Ausgesetzten gerechtfertigt, in Form des Zwangs zum Waffendienst, der Zensur oder der Autonomiebeschränkung von Konsumenten, Unternehmern, aber auch Arbeitnehmern."

Damit hat Behrendt die unter dem Aspekt der Menschenwürde relevanten Inhalte des politischen Unterrichts bezeichnet: es sind alle Konflikte, die durch die Tendenz der politischen Entscheidungsträger entstehen, Autonomieansprüche durch den Hinweis auf höhere Werte oder ihre eigene größere Einsicht zurückzuweisen. Politische Erziehung muß demgegenüber bestrebt sein, die „Furcht vor der Freiheit" (Erich Fromm) durch den Mut zum eigenen Urteil und zur eigenen Entscheidung zu überwinden.

Das eklatanteste Beispiel für die Gefährdung der Grundrechte *) durch angebliche Notwendigkeiten der staatlichen Sicherheit ist die Ergänzung des Artikels 10 GG durch eine „Notstandsbestimmung“, die das garantierte Brief-und Postgeheimnis nahezu völlig aufhebt: „Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlichen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, daß sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und daß an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt." Damit ist das als „unverletzlich" bezeichnete Brief-, Post-und Fernmeldegeheimnis für einen Betroffenen auf keine Weise, zumindest nicht auf dem Rechtswege, als grundgesetzlich geschütztes Rechtsgut durchzusetzen. Wenn aber Art. 19, 2 GG gebietet: „In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden", so drängt sich die Frage auf, was die Ergänzung zu Art. 10 vom „Wesensgehalt* des Grundrechts noch übriggelassen hat.

In der Bundesrepublik hat spätestens die „Spiegel-Affäre" einer breiten Öffentlichkeit bewußt gemacht, daß manche Inhaber der staatlichen Macht die Meinungs-und Informationsfreiheit als mögliche Gefährdung der Sicherheit empfinden. Ähnliches wiederholte sich in den USA, als die Regierung die Veröffentlichung der sog. McNamara-Studie über den Krieg in Vietnam unterbinden wollte. Im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht, das Jahre nach dem Vorfall das Vorgehen der Staatsmacht gegenüber dem „Spiegel“ für rechtens erklärte, wies der Supreme Court die Eingriffe der Regierung sofort zurück. Auch hier blieb die Frage unbeantwortet, was der „Wesensgehalt" dieses Grundrechtes sei, der „in keinem Falle" angetastet werden dürfe. Unmittelbar betroffen sind die Schüler von derartigen fundamentalen Konfliktmöglichkeiten durch das Recht auf Verweigerung des Kriegs-dienstes mit der Waffe (Art. 12 a, 2 GG). Die SPD hatte sich für die Aufnahme dieses Rechts in den Katalog der Grundrechte eingesetzt mit der erklärten Absicht, künftig unreflektiertem Gehorsam und unkritischer Erfüllung einer militärischen Dienstpflicht entgegenzuwirken. Jahrzehntelang argumentierte diese Partei mit dem Recht auf Kriegsdienst-verweigerung gegen die Wehrpolitik verschiedener Regierungen, bis schließlich ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister, beunruhigt durch die steigende Zahl derjenigen, die dieses Grundrecht in Anspruch nehmen, die Erwartung ausdrückte, die Schule möge zu einer „positiven Einstellung zur Bundeswehr und der Anerkennung ihrer Notwendigkeit und Funktionsfähigkeit zur Freiheitsund Friedenssicherung“ betragen *). Im Widerspruch zum Grundgesetz und zu höchstrichterlichen Entscheidungen ging er in diesem Fall davon aus, „daß es sich um eine vom Grundgesetz als Ausnahme gewollte Schutzbestimmung handele, während das Grundgesetz als Regel die allgemeine Wehrpflicht. . . aufgestellt hat"

Da Lehrer dem Grundgesetz ebenso verpflichtet sind wie amtierende Minister, bringt die Erwartung des Ministers sie in einen Konflikt, den sie zugunsten der Grundrechte und mithin gegen die Erwartungen und Forderungen der Regierung entscheiden müssen, wenn sie die Schüler über ihre garantierten Freiheiten informieren und zu ihrer Inanspruchnahme befähigen wollen.

Auch dieses Beispiel führt auf die zentrale Frage nach dem „Wesensgehalt" der Grundrechte, der nicht angetastet werden darf. Da das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus der garantierten Freiheit des Gewissens abgegeleitet ist, kann man davon ausgehen, daß zum Wesen dieses Grundrechtes in jedem Falle das Gewissen gehört, dessen Entscheidungen, dem „Wesen" des Gewissens gemäß, durch Rechtsnormen und -exegese weder beweis-noch widerlegbar sind. Wenn ein Anerkennungsverfahren solche Beweise verlangt, berührt es möglicherweise den „Wesensgehalt", wenn es einen solchen überhaupt gibt In diesem Falle ist die Einsicht unabweisbar, daß die konkrete Formulierung eines Grundrechts relativ, d. h. auf eine bestimmte historisch-politische Situation bezogen ist, der es politisch-rechtlich entspricht; denn die Verfassung der Bundesrepublik ist die einzige der Welt, die die Grundrechte zum unmittelbar geltenden Recht erklärt und in sie ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung aufgenommen hat. Der Verfassunggeber wollte nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus dem einzelnen Staatsbürger und seinem Gewissen überlassen, „ob er einen solchen Befehl (zu töten) für sich gelten lassen will oder in anderer Weise dem Lande dienen will“, wie der SPD-Sprecher Dr. Eberhardt vor dem Hauptaus-schuß des Parlamentarischen Rates dem FDP-Abgeordneten Professor Dr. Heuss gegenüber erklärte, der nachdrücklich dafür eintrat, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht als ein vor-oder überstaatliches Grundrecht in die Verfassung aufzunehmen — wodurch einmal mehr erkennbar wird, daß es politische Entscheidungen gewesen sind, die die Grundrechte zu Verfassungsnormen erhoben haben.

Der Konfliktcharakter der Grundrechte wird exemplarisch erkennbar an dem fundamentalen und aporetischen Widerspruch, der der Institution Schule innewohnt: Als Teil der Herrschaftsordnung dient sie zu deren Stabilisierung und Erhaltung, als Mittel zur Verwirklichung der Würde des Menschen ist sie aber der Raum, in dem das Individuum Selbstbestimmung gewinnen soll; sie ist also Instrument von Herrschaft und des Abbaus von Herrschaft zugleich. Schließlich ist eine weitere Antinomie, die das Schulwesen kennzeichnet, durch das Grundgesetz normativ fixiert: Artikel 6 erkennt „Pflege und Erziehung der Kinder" als „das natürliche Recht" der Eltern an, aber abgesehen davon, daß er das Recht zugleich in eine Pflicht umwandelt, über deren Erfüllung der Staat wacht, stellt Artikel 7 das gesamte Schulwesen unter die Aufsicht des Staates, womit der Ausschluß der elterlichen Rechte und Pflichten aus entscheidenden Bereichen der Erziehung und Sozialisation sanktioniert ist, auch die Abwehr des Anspruchs auf Mitbestimmung von Elternvertretungen in der Schule oder gegenüber den Kultusministerien.

Wenn politischer Unterricht die Würde des Menschen zu verwirklichen, zu achten und zu schützen helfen soll, so muß der Lehrer für sich die Frage beantworten, die das Grundgesetz implicite stellt: Von wann ab hat eigentlich der Schüler ein „Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit", von wann ab besitzt auch ein Kind „Würde", die der Lehrer zu schützen hat? Das schließt die Frage ein, von wann ab ein Heranwachsender fähig ist, die ihn in seiner persönlichen Existenz und „Würde" unmittelbar berührenden Entscheidungen selbst zu fällen und zu verantworten. Lehrer, die Richtlinien ausführen und permanent über den Schüler entscheiden, sollen ihn allmählich der Fremdbestimmung, d. h.der Führung durch den Lehrer, entheben und damit die ihnen übertragene Macht zu ihrer eigenen Überwindung benutzen. Ähnliches gälte dann sinngemäß für die Erziehungsfunktion der Eltern. Dieser Prozeß der Selbstüberwindung von Erziehung ist nur in der Form möglich, daß der Heranwachsende in kontinuierlicher Erweiterung seines Entscheidungsraums lernt, die seiner „Würde" entsprechenden Freiheitsrechte zu beanspruchen. Damit ist „Würde des Menschen" zur Fundamental-norm der Didaktik geworden, der ein Curriculum für den politischen Unterricht unterworfen ist.

III. Die Grundrechte als Unterrichtsprinzip

Wenn der Vorwurf, den Richard F. Behrendt gegen das Bildungssystem erhebt, berechtigt ist, — daß nämlich der „weitverbreitete Mangel an wirklichem Willen zur individuellen Freiheit" ein eklatantes Versagen der Schule zeige — so darf man darin doch kein totales Verdikt über die Tätigkeit der Lehrer sehen. Wie Ernest Jouhy in einem bemerkens-werden Aufsatz über die „Demokratisierung der Schule“ näher ausgeführt hat liegt der antinomische Charakter der Schule in der Tatsache begründet, daß „Entscheidungen über Lernziele und Didaktik von der Kräftekonstellation der Kirchen, Parteien und Verbände abhängen", von Fremdbestimmungen also, die die Erziehung zur Mündigkeit ebenso gefährden wie etwa die Erwartung „der Wirtschaft" hinsichtlich Leistungsfähigkeit, Tüchtigkeit und Erfolg.

Jouhy fordert von der Schule, das Kind so zu erziehen, „daß seine potentiellen Menschenrechte effektiv werden". In demselben Sinne fordert Norbert Schausberger einen mündigen Menschen, „der für den jeweiligen Inhaber der Macht . unbequem'werden kann, ja vielleicht sogar sein soll. . . (und der) bereit ist, Widerstand zu leisten gegen jede die Autonomie bedrohende Beschränkung politischer Art oder gegen jede psychische oder manipulative Überwältigung" Ähnlich stellen Wolfgang Hilligen und seine Mitautoren ihre didaktischen Bemühungen unter die Frage: „Wie können Menschen freier werden, frei bleiben und noch mehr an Freiheit (Emanzipation) hinzugewinnen?" Wenn diese Frage unmittelbar auf die Schule bezogen ist, so muß die Beantwortung davon ausgehen, daß der Prozeß der Emanzipation in zunehmender Freiheits-, d. h. Grundrechtsfähigkeit besteht und sich u. a. im Raum der Schule abspielt: Im Laufe seiner Schulzeit wird der Schüler durch eine Reihe von Grundrechten unmittelbar „betroffen", deren Inanspruchnahme ihm Entscheidungsmöglichkeiten und damit Freiheitsraum eröffnet; denn keineswegs gelten Grundrechte, z. B. das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, erst für den mündigen bzw. voll geschäftsfähigen Erwachsenen. Der eigentliche Gegenstand des politischen Unterrichts, der Selbstbestimmung („Würde des Menschen“, „Emanzipation“) zum Ziel hat, sind die Entscheidungsbereiche, die sich dem Heranwachsenden zunehmend öffnen und die ihm durch das Grundgesetz selbst aufgegeben sind.

Konsequent angewandt verlangt dieses Prinzip die zunehmende Beteiligung der Schüler an der Bestimmung und der Kritik der Inhalte und Ziele des Unterrichts, die — wie vorausgesetzt werden muß — der Fremdbestimmung unterliegen und nicht der freien Entscheidung des» Lehrers. Jouhy hat in dem zitierten Aufsatz die Ansicht geäußert, daß spätestens von ihrem 15. Lebensjahr ab den Schülern bei Auseinandersetzungen um konkrete Probleme der Organisation von Unterricht und Mitbestimmung in der Schule bewußt werde, daß an die Schule Leistungsanforderungen seitens der gesellschaftlichen Produktivkräfte gestellt werden. Dann sei, so folgert er, der Augenblick gekommen, von dem an die Schüler die Gestaltung des Unterrichts mitbedenken und mitbestimmen sollten. Gegenüber der vorherrschenden Praxis wäre das schon fast revolutionär, aber insofern pädagogisch dringend geboten, als in diesem Alter für jeden einzelnen Schüler die vom Grundgesetz garantierte Freiheit der Berufswahl aktuell wird.

In diesem entscheidenden Augenblick der „Betroffenheit" muß der politische Unterricht die Problematik dieser relativen Freiheit in all ihren Dimensionen erschließen, von den Rollen-und Leistungserwartungen der Gesellschaft, insbesondere der Wirtschaft, über die Frage nach den tatsächlichen Chancen und dem wirklichen Ausmaß an Freiheit, das Problem der Mitbestimmung und des Anspruchs auf Verfügungsgewalt über Produktionsmittel bis hin zur Eigentumsordnung und dem Sozialstaatspostulat der Verfassung.

An dieser Stelle spätestens stößt der politische Unterricht auf den Widerspruch zwischen dem Recht auf Eigentum gemäß Art. 14 und der Möglichkeit der Vergesellschaftung von Produktionsmitteln nach Art. 15 des Grundgesetzes, dessen Kompromißcharakter daran ebenso sichtbar wird wie die Tatsache, daß die Entwicklung der gesellschaftlichen Kräfte-verhältnisse in der Bundesrepublik vom Sozialstaat weg-und zur Restauration konservativ-liberaler Herrschaft hingeführt wurde Es läßt sich weiter zeigen, daß die Norm „Würde des Menschen" im Verständnis des Grundgesetzes nicht nur durch die Prinzipien der Freiheit und der Gleichheit vor dem Gesetz definiert wird; diese Grundrechtsnorm wird auch durch einen bestimmbaren Begriff von Eigentum konkretisiert, der nicht nur in Artikel 14 explizit Grundrechtscharakter hat, sondern auch in anderen Grundrechtsartikeln implizit anerkannt und geschützt ist, z. B. in den Artikeln 5 (Pressefreiheit), 6 (Familie) und 9 (Koalitionsfreiheit), aber auch in den Artikeln 10, 12, 13 und 15. Insbesondere das Recht jedes einzelnen Arbeitnehmers, „zur Wahrung und Förderung der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen" Vereinigungen zu bilden (was für alle Berufe gilt, so daß jeder Schüler bei seiner Berufswahl von ihm betroffen ist), wirft die Frage nach dem Verhältnis von Arbeit und Kapital auf.

Der Artikel 14 des Grundgesetzes schließt das Recht auf Eigentum an Produktionsmitteln ein, mithin auch die Möglichkeit, andere Menschen von sich abhängig zu machen und damit Eigentum als Herrschaftsinstrument zu benutzen. Während sich nach liberaler Lehre die Würde des Menschen erst durch Eigentum vervollständigt — man denke an die klassische Studie von Max Weber über den Zusammenhang zwischen Calvinismus und Kapitalismus —, realisiert sie sich nach sozialistischer Vorstellung erst durch Abschaffung der Herrschaft von Menschen über Menschen, also durch Beseitigung des Eigentums an Produktionsmitteln. In den Zusammenhang von individueller Freiheit der Berufswahl und -ausübung und den tatsächlichen gesellschaftlichen Machtverhältnissen gehört mithin auch die Alternative sozialistischer Ordnungen. Es ist das Kernproblem politischer Ordnungen, die sich heute sozialistisch nennen, ob mit der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln tatsächlich die Herrschaft abgebaut, Entfremdung überwunden und Selbstbestimmung der Produzenten erreicht werden kann.

Die theoretischen und praktischen Auseinandersetzungen innerhalb sozialistischer Systeme, z. B. Polen oder Jugoslawien, die Lehren von „Revisionisten" wie Adam Schaff, Roger Garaudy, Leszek Kolakowski oder Gajo Petrovic und schließlich die tiefgreifenden Differenzen zwischen den großen kommunistischen Staaten gehen daher den Schüler unmittelbar an, wenn er im Begriff ist, seine Position in dieser Gesellschaftsordnung zu beziehen. Der Entscheidungsbereich Berufswahl erschließt, wie diese Andeutungen zeigen sollten, alle wesentlichen Dimensionen unserer sozialen und politischen Ordnung, und bietet für mindestens ein ganzes Schuljahr ausreichend Lernziele und -inhalte, die die Operationalisierung und Aufgliederung in Teil-schritte erlauben und eine Fülle von methodischen Möglichkeiten enthalten, vom kritischen Umgang mit Filmberichten über die gegenwärtige Arbeitswelt bis zur ideologiekritischen Auseinandersetzung mit dem „Arbeitsethos", von Betriebsbesuchen bis zur Auseinandersetzung etwa mit der Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien usw. Darüber hinaus verweist die Problematik der gesellschaftlichen Stellung und der wirtschaftlichen Funktion der Frauen auf die politische Dimension der Gleichberechtigung und letztlich auch auf die soziale und politische Funktion der Sexualmoral. Die Priorität derartiger Unterrichtsthemen scheint theoretisch zu überzeugen, fordert aber den erfahrenen Lehrer zu der Frage heraus, ob man die Einsicht in diese Probleme von einem fünfzehnjährigen Schüler erwarten könne, noch dazu in der Hauptschule, die fast aller überdurchschnittlich intelligenten Schüler entraten muß. Ist andererseits heute ein Schüler, der nach neun Jahren Schulpflicht einen Beruf wählt, tatsächlich in der Lage, auf Grund der in der Schule gewonnenen Einsichten diesbezügliche Stellungnahmen selbst zu treffen und zu verantworten? Oder aber: ist die Schule nicht in der Lage, ihm diese Einsichten zu vermitteln? Wenn nicht: warum „versagt" sie? Hat ein Fünfzehnjähriger (noch) nicht die seelischen und geistigen Voraussetzungen zum Gebrauch seiner Vernunft? Wäre das der Fall, dann wäre die garantierte Freiheit der Berufswahl für ihn eine Überforderung, er wäre nicht „berufsmündig" und damit in diesem Falle nicht grundrechtsfähig.

Im Band 9 der erwähnten Schriftenreihe der niedersächsischen „Landeszentrale für politische Bildung" zu den Grundrechten antwortet Eberhard Menzel auf die Frage, ob die Freiheit der Berufswahl auch für den Jugendlichen gelte, bedingungslos positiv: „Es besteht nämlich kein Zweifel darüber, daß auch Minderjährige grundrechtsfähig sind und daß gerade das Grundrecht der Berufsfreiheit (insbesondere der freien Berufswahl) davon keine Ausnahme macht. (S. 35) Aber er hat doch erhebliche Zweifel, ob der Jugendliche in dem Alter, in dem in der Regel die Entscheidung fällt, dazu wirklich schon fähig ist. Bei einem Abiturienten, meint er, könne man das „wegen seines reiferen Alters" wohl annehmen, dagegen sei die Berufsmündigkeit zu einem früheren Zeitpunkt noch nicht so hinreichend sicher, daß sie nicht wenigstens teilweise noch zum Bereich der elterlichen Entscheidungsrechte zu rechnen sei. Diese Annahme führt zu einer schwerwiegenden Konsequenz; denn sie bedeutet, daß das Elternrecht (gern. Art. 6) bis zu einem nicht näher bestimmbaren Reifegrad des Heranwachsenden Vorrang vor Artikel 12 genießt, obwohl Artikel 12 eine gerade auch für den Jugendlichen gedachte Konkretisie-rung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ist.

Maßgebende Verfassungsjuristen, auf die sich Menzel beruft, interpretieren die Bestimmung des Artikels 12 so, daß eine das ganze Leben so einschneidend bestimmende Entscheidung wie die Wahl des Berufs nicht von den Eltern beansprucht werden dürfe 2S). Daraus müßte aber die Konsequenz gezogen werden, daß diese Entscheidung erst dann verlangt werden kann, wenn der einzelne dazu fähig ist: „Erziehung kann daher nicht Berufswahl enthalten, sondern soll die Fähigkeit vermitteln, selbst dieser Entscheidung zu treffen.“ Das bedeutet wiederum, daß die Berufswahl ein Entscheidungsbereich ist, den das Grundgesetz 23 dem Heranwachsenden und zugleich der Set überantwortet, die ihn in die Lage verset muß, dieses Recht in Selbstverantwort wahrzunehmen. Er gehört daher unabweis zu den zentralen Aufgaben und Gegenstäni der Schule, und zwar für alle Schüler, und heißt in die Pflichtschulzeit.

Wenn mit dem Entscheidungsbereich „Ben wähl" der Abschluß der Pflichtschulzeit, a der Inhalt etwa der Klassen 9 der Sekund stufe I bezeichnet ist, so setzt der erfolgrei Versuch einer praktischen Durchführung angedeuteten Konzepts voraus, daß Entsd dungsfähigkeit durch den gesamten voran gangenen Erziehungsprozeß bereits erworb d. h. an Ernstfällen geübt worden ist. We man erst in der 9. Klasse Entscheidungsfäh keit zugesteht, kann der Versuch eher bedei lieh sein als zur Autonomie beitragen. Vi mehr müssen Entscheidungsfähigkeit und N bestimmung bereits vom ersten Schultag als Ziel jedes Lernprozesses angestrebt w den.

Die Erziehung in der Schule vollzieht sich i ter der Anlinomie zwischen Elternrecht u Staatsschulprinzip, die der Form nach zugt Sten des Staates, dem Inhalte nach aber 2 gunsten der in der Gesellschaft und damit der Familie vorherrschenden Normen entschi den wird. Der Eintritt in die Schule beru nicht auf einem freien Willensentschluß d Kindes, sondern wird vom Staat durch Gese erzwungen. Die Eltern dürfen sich weder d Schule noch die Lehrer ihrer Kinder aussuche sie stehen als Eltern der Schule als eine Stück „Staat" ohne unmittelbaren Einfluß g genüber; die Schule ist für die Kinder der B ginn der vorherrschenden Bestimmung ihn Lebens durch den Staat, der ihren Tagesal lauf regelt, Bewußtseinsinhalte vorschreit Verhaltensgewohnheiten anerzieht, bewerb und soziale Positionen zuweist. Aus dieser t talen Fremdbestimmung durch Staat und G Seilschaft soll die Schule den Weg zur Autc nomie des Individuums finden; sie soll all Entscheidungen über den Schüler allmählie und zielbewußt von ihm treffen lassen. Un das heißt: vom ersten Tage an muß das Kim in der Schule erfahren, warum es in die Schull gehen, etwas lernen muß, warum so und nid anders, warum z. B.der Staat durch Gesetz alle Kinder (bzw.deren Eltern) dazu zwingt. Min destens Aufklärung über das, was ist, kam das sechsjährige Kind verlangen, wenn es voi Entscheidungen des Staates betroffen ist. De mündige Staatsbürger sollte bei jedem Gesett das ihn betrifft, diese Aufklärung verlangen.

IV. Stufen der Selbstbestimmung

Da die vom Grundgesetz garantierten Entscheidungsmöglichkeiten auf bestimmte Entwicklungsstufen, z. T. auf bestimmte Lebensalter bezogen sind, lassen sie sich auch den entsprechenden Schulstufen als Gegenstände des politischen Unterrichts zuordnen.

Wenn z. B. in mehreren Bundesländern den Klassen 5 und 6 die Aufgabe zugewiesen worden ist, für jedes Kind die seinen Anlagen, Interessen und Fähigkeiten am besten entsprechende Schullaufbahn zu ermitteln — etwa in Form einer besonderen Förderoder Orientierungsstufe —, so ist hiermit eine weitere Stufe der freien Entfaltung der Persönlichkeit erreicht. Wieder wird der jetzt zehn-bis elfjährige Schüler in einer besonderen Weise durch die Artikel 2, 6, 7 und 12 des Grundgesetzes betroffen; und er hat Anspruch darauf, an der für seine Zukunft äußerst wichtigen Entscheidung beteiligt und über seine Möglichkeiten gründlich informiert zu werden. Das bedeutet auch, ihm die Funktion der Schule einsichtig zu machen, das ihm hier und später zur Verfügung stehende Bildungsangebot zu erläutern, Anforderungen und Leistungskriterien im Umgang mit der Sache selbst zu entwickeln.

Der Schüler weiß ohnehin, daß der Lehrer nicht nur lehrt, sondern vor allen Dingen beurteilt, nämlich seine Leistungen und sein Verhalten; er weiß, daß der Lehrer gebunden ist, daß es Richtlinien, Schulräte und ein Kultusministerium gibt; er vermag einzusehen, daß die Schule Kosten erfordert, daß diese Institution folglich von irgend jemandem finanziert wird, daß die Eltern ihre Interessen in Elternvertretungen wahrnehmen, daß hier Kirchen, dort Parteien, ein andermal vielleicht Gewerkschaften oder andere gesellschaftliche Kräfte ein Wort mitreden, wenn es um Schule und Bildung geht. Wann ist der Augenblick gekommen, diese Zusammenhänge durchsichtig zu machen, wenn nicht in der Zeit, in der diese Einwirkungen erfahren werden? Wenn Schüler in diesem Alter sich selbst und die Determinanten ihres Weges soweit kennenlernen, daß sie ihre Interessen weitgehend selbst einzuschätzen lernen, gewinnen sie ein Stück Selbstbestimmung. Es gründet sich auf das Vertrauen, daß Zehn-bis Zwölfjährige tatsächlich diesen Grad von Rationalität erreichen können; denn das Ziel ist nicht allein die Entscheidungsfähigkeit, sondern zugleich die Rationalität, d. h. die Fähigkeit, eine Entscheidung zu begründen.

Mit 14 Jahren darf der Schüler, jedenfalls in einigen Bundesländern, über seine Teilnahme am Religionsunterricht entscheiden, ein Recht, das unmittelbar aus der im Artikel 4 garantierten Glaubens-und Gewissensfreiheit abgeleitet ist. Da es hierbei um den Kernbestand dessen geht, was das Grundgesetz als „Würde des Menschen" der Staatsgewalt zu achten und zu schützen auferlegt, darf die Schule sich nicht darauf beschränken, den Schülern mitzuteilen, es stehe ihnen fortan frei, am Religionsunterricht teilzunehmen, der nach dem Grundgesetz ordentliches Unterrichtsfach an allen Schulen ist. Vielmehr muß der Unterricht durch eine gründlich durchstrukturierte Unterrichtseinheit die Komplexität dieses Entscheidungsbereichs analysieren, als Grundlage für die zu treffende persönliche Entscheidung.

Der Entscheidungsbereich Glaubens-und Gewissensfreiheit ist ein permanentes Konflikt-feld, das hinreichend Gegenstände für den politischen Unterricht bietet, von soziologischen über psychologische bis hin zu staatsrechtlichen, historischen und philosophischen Problemen, (z. B. die Rolle der Kirchen und Religionsgemeinschaften in unserer Gesellschaftsordnung). Er verlangt vom Lehrer nicht nur ein erhebliches Maß an Sachkenntnis, sondern auch an Zurückhaltung und Objektivität, die persönliche Entschiedenheit nicht ausschließt.

Wenn dem Schüler z. B. bewußt wird, daß seine Konfessionszugehörigkeit zumeist das Resultat biographischer und sozialer Tradition ist, die meistens nicht reflektiert wird, so mag er sich dafür entscheiden, das zu akzeptieren oder seine Religionsgemeinschaft zu verlassen — für beides gibt es überzeugende Gründe, die Respekt verlangen. Die bewußt vollzogene Entscheidung schließt die Voraussicht über mögliche Folgen ein: Wer z. B. in einem kleinen Ort mit einer relativ homogenen Konfessionsgruppierung aus dieser austritt, muß mit Nachteilen rechnen; er verliert als Kaufmann vielleicht Kunden, und kein Staatsanwalt oder Verfassungsgericht kann sie ihm unter Berufung auf die grundgesetzlich garantierte Freiheit des Glaubens zurückbringen. Die Fülle der möglichen Beispiele macht deutlich, daß „die Freiheit des Glaubens, des Ge27 wissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“ immer nur relativ, d. h. auf eine ganz bestimmte Gesellschaftsordnung und eine konkrete historisch-kulturelle Situation bezogen ist. In Wahrheit geht es nämlich nicht darum, daß ein einzelner Mensch glauben darf-was er für wahr hält, sondern es geht um die Normen für das Verhalten, für das, was er tun und unterlassen muß. Und hierfür setzt jede Gesellschaftsordnung Toleranzgrenzen, und sei es durch „das Sittengesetz", das dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit hier besonders enge Schranken setzt.

Das gilt für den Entscheidungsbereich Wehrpflicht in noch stärkerem Maße, da jeder männliche Staatsbürger mit Vollendung des 18. Lebensjahres wiederum durch Artikel 4 des Grundgesetzes betroffen wird, der ihm im Absatz 3 das Recht gewährt, aus Gewissens-gründen den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern. Es ist aus der Entstehungsgeschichte dieses Grundrechtes nachzuweisen, daß nach dem Willen des Verfassunggebers nicht nur die Entscheidung gegen, sondern auch und gerade für den Wehrdienst auf das individuelle Gewissen gegründet sein sollte

Ebenso wie diese Thematik gehört auch der Entscheidungsbereich Ehe und Familie in die Sekundarstufe II als unverzichtbarer Bestandteil eines Gesamtcurriculums für den politischen Unterricht, da wiederum alle jungen Menschen mit der Erreichung der Ehemündigkeit eine Entscheidung mit weitreichenden persönlichen und sozialen Konsequenzen treffen müssen; denn die Auseinandersetzung dient gleichzeitig der Vorbereitung auf die Wahrnehmung des Elternrechts. Erneut geht es um die Stellung, um die Emanzipation der Frau, um den Zusammenhang zwischen Sexualität und ihrer Reglementierung bzw. Unterdrük-kung, um die Bedeutung der Verfassungsnorm also, die Ehe und Familie, gern. Art. 6, Abs. 1, unter den „besonderen Schutz der staatlichen Ordnung" stellt. Auch diese Grundrechtsbestimmung erfüllt eine ideologische Funktion, weil sie nur eine ganz bestimmte Form von Ehe und Familie schützt, nämlich die institutionalisierte monogame Gemeinschaft, die be25) stimmte gesellschaftliche und gesetzliche Be dingungen erfüllt, eine auf institutionalisierte Sexualität beruhende wirtschaftliche und so ziale Lebensgemeinschaft begründet und dami eine wirtschaftliche und politische Funktior erfüllt

Selbst wenn Rene König mit der Feststellung recht hat, „daß offensichtlich die Familie aud als Machtsystem älter ist als der Staat, unc zwar um mindestens 100 000 Jahre älter'(S. 54), so kommt eine historische Betrachtung nicht an der von Hermann Conrad formulier ten Erkenntnis vorbei, daß „erst der individua listisch ausgerichtete bürgerliche Liberalismus des 19. Jahrhunderts ... die überlieferte Ein heit der Einzelfamilie zerschlagen (hat) * (S. 11). Das noch heute gültige Bürgerliche Gesetzbuch von 1896 kennt daher weder eine Gemeinschaft der Ehegatten noch eine solche der Familie als Rechtsgut, sondern nur Ehegatten als Individuen, die durch die Eheschließung in ein bestimmtes Rechtsverhältnis zueinander treten. Das Grundgesetz erhob dagegen Ehe und Familie als Institution zu einem der höchsten Rechtsgüter, indem es ihnen den besonderen Schutz verspricht, woraus gefolgert werden kann, daß ihn andere Gemeinschaften nicht in gleichem Maße genießen.

Während z. B. Haensch behauptet: weine Politik, die diese Familie stärken und fördern soll, ist eine repressive Politik", begründet König die Hypothese, daß „der Staat als Feind der Familie auftritt", weil er stets die Tendenz habe, sich von der Familie, die als Herrschaftssystem schon so lange vor ihm bestand, zu befreien und ein eigenes System der Herrschaft zu errichten. Ganz sicher aber ist die Familie nicht — oder nicht mehr — „die Sphäre der Privatheit, der der Staat als Öffentlichkeit gegenübersteht", wie König im Sinne der liberalen Staats-und Gesellschaftslehre meint vielmehr ist sie als wichtigster Sozialisationsfaktor immer auch von erheblicher politischer Bedeutung.

Die Auseinandersetzung mit der noch weit hin herrschenden Moral — nach der der Zwei der Ehe ausschließlich die Erzeugung und Aufzucht von Kindern ist, vor-und außerehelicher Geschlechtsverkehr, der nur dem Lustgewinn dient, aber verwerflich und Sünde sei — zielt auf eine Überwindung irrationaler Verhaltensnormen, die die Selbstbestimmung durch die Ideologisierung von sittlichen Normen erschweren oder ganz verhindern.

V. Schlußbetrachtung; Fehlkonzeptionen

Der vorstehend skizzierte Ansatz für eine didaktische Konzeption des politischen Unterrichts schließt aus, die Grundrechte als geschlossene Unterrichtseinheit zu behandeln und einer bestimmten Klassenstufe zuzuweisen. Sie steht damit im Widerspruch zu den meisten Lehrbüchern und Richtlinien, die das Thema in den Zusammenhang mit den Institutionen unserer Verfassung zu stellen pflegen. Die „Betroffenheit" durch einzelne Grundrechte in relevanten Entscheidungssituationen als Prinzip zielt weiter auf die Überwindung der noch weithin vorherrschenden affirmativen Tendenzen. Gemeint sind vor allem die folgenden: 1. Die Leugnung des Widerspruchs zwischen Norm und Wirklichkeit, durch die der Eindruck vermittelt wird, der in der Verfassung formulierte Anspruch auf die Geltung der Grundrechte sei schon die Realität. Diese Tendenz hängt zumeist mit dem Schwarz-Weiß-Schema der Totalitarismus-Ideologie sowie der Lehre zusammen, die Grundrechte seien zeitlos gültige (absolute) Werte

2. Die behauptete Korrespondenz von Grundrechten und Pflichten: „Nur wer bereit ist, diesen Pflichten nachzukommen, kann auf seine Grundrechte pochen", wie es im Lehrbuch: „Der junge Staatsbürger. Politik und Recht“ (1963) heißt (S. 199) und schon in dem oben erwähnten Lehrbuch von Binder-Frede-Kollnig-Messerschmid im Widerspruch zum Grundgesetz gefordert wurde. Diese Pflicht-Ethik steht dem Prinzip der Selbstbestimmung entgegen. 3. Die „Entpolitisierung" der Grundrechte durch die fiktive Unterscheidung zwischen Privatsphäre und öffentlichem (politischem) Raum. Sie entstammt der liberalen Staatslehre, nach der die Grundrechte nur Abwehrrechte gegen „Übergriffe" des Staates seien. Obwohl dieses Grundrechtsverständnis nach übereinstimmender Interpretation zahlreicher Staatsrechtler und nach höchstrichterlicher Rechtsprechung überholt ist, herrscht es in vielen Lehrbüchern vor. Die Tendenz ist bedenklich, denn sie kann bewirken, daß politische Aktivitäten solange nicht wahrgenommen werden, wie diese die scheinbar private Sphäre nicht berühren. Durch Vertrauen auf die Lauterkeit der Machtausübung werden die Teilhabe am Entscheidungsprozeß und die Reflexion über die eigene Situation verhindert, irrationale Herrschaft wird nicht frag-würdig

Die Anwendung des hier skizzierten Prinzips zwingt zu einer Reihe von Konsequenzen, die zu strukturellen Veränderungen des Unterrichts und schließlich der Schule führen: 1. Die didaktische Strukturierung der „Entscheidungsbereiche“, d. h. ihre Gliederung in Lerneinheiten, ist bei einer Wochenstunde „Sozialkunde" wenig sinnvoll. Sie erfordert zeitliche Konzentration und fachliche Integration, etwa in der Form, daß ein Projekt auf mehrere Wochen angelegt wird und dafür etwa ein ganzer Vormittag in der Woche zur Verfügung steht, um außerschulische Vorha28) ben zu realisieren und Zusammenarbeit mehrerer Fachlehrer zu ermöglichen. Eine durchgreifende Änderung der Fächerung und der Stundenplangestaltung ist daher unausbleiblich. 2. Die Vielfalt zu erarbeitender Problembereiche und zu erreichender Lernziele erfordert ein differenziertes methodisches Instrumentarium, durch das vor allem die entsprechenden Verhaltensweisen erlernt werden können. Es reicht von der Einzelarbeit an literarischen Dokumenten etwa über verschiedenartige Gruppenaufgaben bis zum Umgang mit den verschiedenen Medien der Massenkommunikation und zu außerschulischen Aktivitäten. Dabei wird das traditionelle Lehrbuch nur noch ein Informationsträger -unter mehreren, vielleicht sogar weitgehend funktionslos sein. 3. Die zunehmende Mitwirkung der Schüler an der Lernzielbestimmung und an der Auswahl der relevanten Gegenstände und Methoden bis hin zur Bestimmung des Zeitpunktes der Bearbeitung, entsprechend dem Grade der „Betroffenheit" und der Motivation, veränder die Funktion des Lehrers und das Verhältni Schüler-Lehrer in Richtung auf kooperative an statt autoritäre Verhaltensweisen.

Diese letzte Konsequenz setzt die Bereitschal der Lehrer voraus, das Ausmaß an Freihei und Selbstbestimmung, zu dem sie die Schüle befähigen sollen, für sich selbst zu beanspr chen und durchzusetzen, die autoritäre Züg in der Organisation des Schulwesens z beseitigen. Ein Lehrer, der bei einem solche Versuch in Konflikt mit der Obrigkeit geri — und er scheint bei jedem ernsthaften Ver such unvermeidlich zu sein —, begegnet dabe zumeist zu seiner Überraschung einem Argu ment, das Lehrer Schülern gegenüber zu ge brauchen pflegen, wenn sie deren Ansprüche keine anderen überzeugenden Gründe entge gensetzen können: Sie hätten noch viel z wenig Lebens-, Berufs-, Unterrichts-oder son stige Erfahrung, sie wüßten daher auch nicht daß die meisten Menschen weder willens nod fähig sind, selbst zu entscheiden . ..

Bei den vorliegenden Beiträgen handelt es sich um z. T. überarbeitete und ergänzte Vorträge, die an 3. Juli 1971 in Hildesheim im Rahmen einer Veranstaltung der Deutschen Vereinigung für politische Bit düng, Landesgruppe Niedersachsen, gehalten wurden. Aus der Gegensätzlichkeit der vertretenen Posi tionen geht hervor, daß es sich dabei um ein Streitgespräch handelte. Im Hinblick auf die dementspre chend gelegentlich überspitzt formulierten Thesen erschien es der Redaktion ratsam, die Referate durd die nachfolgende Dokumentation zu ergänzen.

DOKUMENTATION In dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 1970 über die Verfussungsmäßigkeit de Grundgesetzergänzung zu Art. 10 GG und dem hierauf beruhenden Gesetzes zu Art. 10 GG — „Abhöi gesetz“ — wird dargelegt.

Nach Art. 10 Abs. 2 GG n. F. dürfen Beschränkungen des Briefgeheimnisses sowie des Post-und Fete meldegeheimnisses nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden. Dient die Beschränkung der Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung de Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, daß sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt win und daß an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organ: und Hilfsorgane tritt. Entsprechende Regelungen enthält das Gesetz zu Art. 10 GG. Nach Ansicht der Mehl heit des Bundesverfassungsgerichts ist die Grundgesetzänderung zu Art. 10 GG nicht verfassungswidrig da sie mit den Grundprinzipien des Art. 79 Abs. 3 GG in Einklang stehe. Dabei sei insbesondere zu be rücksichtigen, daß ein für eine „streitbare Demokratie", wie sie die Bundesrepublik Deutschland darstell: unerläßlicher Verfassungsschutz nur dann wirksam arbeiten könne, wenn seine Überwachungsmaßnahme: grundsätzlich geheim seien und auch einer Erörterung innerhalb eines gerichtlichen Verfahrens entzöge: blieben. Insoweit würden die individuellen Grundrechte der Betroffenen in übergeordnetem staatliche: Interesse eingeschränkt. Ein Verstoß gegen die durch Art. 79 Abs. 3 GG mit Unantastbarkeitsgaranti-versehene Menschenwürde liege nicht vor, da die in Art. 10 Abs. 2 GG n. F. vorgesehenen Grundrechts einschränkungen nicht Ausdruck der Verachtung des Wertes seien, der dem Menschen kraft seines Per sonseins zukomme. Dies gelte nicht nur für den Ausschluß der Benachrichtigung von den vorgenon menen Beschränkungsmaßnahmen, sondern auch für die Ersetzung des Rechtsweges durch ein quas parlamentarisches „Ersatzverfahren“. Unter diesen Umständen sei auch das Gesetz zu Art. 10 GG, de die Grundgesetzergänzungen in Art. 10 Abs. 2 GG n. F. näher konkretisiere, insgesamt verfassungsredl lieh nicht zu beanstanden. Lediglich § 5 Abs. 5 des Gesetzes zu Art. 10 GG sei — unter Berücksichtigum des Verfassungsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit — insoweit für nichtig zu erklären, als die Unte richtung der Betroffenen über Beschränkungsmaßnahmen auch ausgeschlossen wird, wenn sie ohne Ge fährdung des Zweckes der Beschränkung erfolgen kann.

Demgegenüber vertreten drei Richter des Bundesverfassungsgerichts in einem Sondervotum die Auffasun daß die Grundgesetzergänzung zu Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG mitArt. 79 Abs. 3 GG nicht vereinbar un daher nichtig sei. Denn hierdurch würden die für unantastbar erklärten Grundsätze der Art. 1 und 20 G berührt. Die beiden vorgenannten Normen seien die Eckpfeiler der grundgesetzlichen Ordnung. In Abweichung von der Mehrheitsmeinung sei die in Art. 1 GG verankerte Menschenwürde nicht erst dann betroffen, wenn dies Ausdruck des Wertes sei, der dem Menschen kraft seines Personseins zukomme. Es genüge vielmehr, wenn in einem Teilbereich der Freiheitssphäre des einzelnen die Achtung der Menschenwürde ganz oder zum Teil außer acht gelassen werde. Dies treffe für die in Art. 10 Abs. 2 GG n. F. vorgesehenen möglichst heimlichen Eingriffe in die Privatsphäre des Bürgers zu. Ähnliches gelte für das in Art. 20 GG niedergelegte Rechtsstaatsprinzip. Dieses schließe die rechtsstaatliche Forderung nach möglichst lückenlosem gerichtlichen Schutz gegen die Verletzung der Rechtssphäre des einzelnen durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt ein. Ein solcher gerichtlicher Schutz werde aber durch Art. 10 Abs. 2 n. F. und die entsprechenden Regelungen des Gesetzes zu Art. 10 GG ausgeschlossen. Denn ein Geheim-verfahren, in dem die Betroffenen nicht gehört würden und sich nicht verteidigen könnten, biete keinen ausreichenden Rechtsschutz; für das parlamentarische „Ersatz" -Organ sei auch nicht die Unabhängigkeit und Freiheit von Weisungen zwingend vorgeschrieben. Auch in einer „streitbaren Demokratie" könne Staatsraison vorrangiger Wert sein. * In dem Weißbuch 1971/1972: Zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Entwicklung der Bundeswehr, im Auftrage der Bundesregierung, herausgegeben vom Bundesminister der Verteidigung, heißt es zur Wehrpflicht:

Der Auftrag der Bundeswehr ist im Grundgesetz fixiert. Wer über die Verfassung unseres Landes unterrichtet, darf an diesem Verfassungsauftrag nicht vorbeigehen. Dies gilt um so mehr, als der Staat von den jungen Bürgern den Wehrdienst fordert. Schon in der Lehrerausbildung haben Fragen der Landesverteidigung keinen festen Platz. Oft fehlt den Pädagogen die Sachkenntnis. Die Lehrbücher für Gemeinschaftskunde enthalten fast nichts oder Unzulängliches über diese Fragen. Der Bundeskanzler hat am 19. November 1970 die Ministerpräsidenten der Bundesländer in einem Brief darauf hingewiesen, daß „Fragen der Verteidigung im Rahmen der Friedenssicherung im Sozialkundeunterricht und in den Lehrbüchern in den einzelnen Ländern unterschiedlich, teilweise auch unzureichend behandelt werden. Das gilt auch für den Auftrag und die Stellung der Bundeswehr in unserer Demokratie. Ebenso wie meines Erachtens die Notwendigkeit einer auf Erhaltung und Frieden gerichteten Politik im Sozialkundeunterricht verständlich gemacht werden sollte, muß beim jungen Menschen Verständnis geweckt werden für die Notwendigkeit einer ausreichenden Verteidigung als Voraussetzung jeder Entspannungspolitik." (S. 86) zur Kriegsdienstverweigerung:

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 26. Mai 1970 zur Dienstpflicht eines Soldaten, der einen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer stellt, folgende Grundsätze formuliert: Die vorläufig aufrechterhaltene Dienstbeanspruchung für die Dauer des Anerkennungsverfahrens ist mit Sinn und Inhalt des gewährten Grundrechts vereinbar, weil diese Inanspruchnahme den Kern der Kriegsdienstverweigerung unberührt läßt und die vorläufige weitere Dienstleistung dem Soldaten deshalb zugemutet werden kann . . . Zumutbar ist dem Soldaten diese vorläufige Dienstleistung auch deshalb, weil die Befreiung von der allgemeinen Wehrpflicht ein Ausdruck des Toleranzprinzips ist, dem auch das Verhalten des Berechtigten entsprechen muß, wenn es sich nicht um den Kernbereich seiner Freiheit handelt, sondern um formale Randpositionen. Ein Kriegsdienstverweigerer wird durch das Verlangen, im Frieden bis zur rechtskräftigen Anerkennung Waffendienst zu leisten, nicht gezwungen,, entgegen seiner Gewissensüberzeugung in einer Kriegshandlung einen anderen zu töten. (S. 85)

„Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden." Zentraler Zweck dieses Grundrechts, im Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes normiert, ist nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Mai 1970, „die Gewissensposition gegen den Kriegsdienst mit der Waffe zu schützen und den Kriegsdienstverweigerer vor dem Zwang zu bewahren, töten zu müssen". (S. 86) Die Gerichte stellen fest, die innere Ordnung der Streitkräfte müsse so beschaffen sein, daß die Bundeswehr ihren Verfassungsauftrag erfüllen könne. An diesem Auftrag messen die Gerichte die Rechte und Pflichten des Soldaten. Das Bundesverfassungsgericht hat am 26. Mai 1970 entschieden:

Die Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr haben verfassungsrechtlichen Rang, da Artikel 12 a Absatz 1, Artikel 73 Nr. 1 und Artikel 87 a Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes die Wehrpflicht zu einer verfassungsrechtlichen Pflicht gemacht und eine verfassungsrechtliche Grundentscheidung für die militärische Verteidigung getroffen haben.

. . . Die eigenmächtige Dienstverweigerung von Soldaten bedeutet eine erhebliche Unsicherheit und damit eine Gefahr für die ständige und jederzeitige volle Einsatzbereitschaft der Streitkräfte. Mit der Schwächung der Einsatzbereitschaft wird unter Umständen die Sicherheit des Staates gefährdet. (S. 83)

Der Bundeskanzler erklärte vor dem Deutschen Bundestag am 26. März 1971: „Wir müssen mit Sorge die innere Abwendung eines Teils der heranwachsenden Generation von den Pflichten sehen, die ihr von Staat und Gesellschaft abverlangt werden. Ich glaube, daß dies eine vorübergehende Erscheinung ist. Aber das Ansteigen der Zahl der Militärdienstverweigerer kann die Regierung nicht unbeteiligt lassen. Wir müssen deshalb die Anstrengungen um mehr Wehrgerechtigkeit stärken und denjenigen entgegentreten, die das unbestrittene Recht der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen zu ganz anderen Zwecken ausnützen." (S. 88 f.)

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ubergangsrichtlinien für die Bayerischen Volksschulen“ vom Oktober 1945, zit. n. Karl Borcherding, Wege und Ziele politischer Bildung in Deutschland, München 1965, S. 65.

  2. Zit. nach K. Borcherding, a. a. O., S. 65. Hervorhebungen vom Verf.

  3. Duisburg 1953, S. 43.

  4. Zit. nach G. Bender, Das Bonner Grundgesetz im Spiegel ausgewählter Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Frankfurt 1968, S. 5 und 9 f. In der Entscheidung vom 17. 8. 1956 heißt es u. a.:

  5. Werner Maihofer, Menschenwürde im Rechtsstaat, in: Die Würde des Menschen I. Untersuchungen zu Artikel 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, Hannover 1967 (Schriftenreihe der niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung).

  6. Zit. nach K. Borcherding, a. a. O., S. 72.

  7. Freiheit und Verantwortung, 1. Jg., Heft 1, Juni 1956, S. 33— 58.

  8. Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts für die Bundesrepublik Deutschland, Karlsruhe 1967.

  9. Zit. nach Borcherding, a. a. O., S. 90 bzw. 99 ff.

  10. Vgl. Bruno Seidel u. Siegfried Jenkner (Hrsg.), Wege der Totalitarismus-Forschung, Darmstadt 1968.

  11. Zit. nach „Laufende Mitteilungen zum Stand der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland”, hrsg. von Friedrich Minssen, Jahresband 1968, S. 24 ff.; vgl auch Bundestagsdrucksache v/3297, S. 3 f.

  12. Werner Maihofer, a. a. O., S. 53.

  13. Werner Maihofer, a. a. O., S. 41.

  14. Richard F. Behrendt, Menschenwürde als Problem der sozialen Wirklichkeit. Die Würde des Menschen II (s. Anm. 5), S. 24.

  15. Brief des Bundesministers der Verteidigung an die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft vom 9. Juni 1971, in: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung, Nr. 8/71, S. 10 u. 12.

  16. Diese zentrale Problematik des Wesensgehalts ist Gegenstand einer sehr bedeutsamen wissenschaftlichen Kontroverse zwischen Eike von Hippel (Grenzen und Wesensgehalt der Grundrechte, Berlin 1965) und Hartmut Jäckel (Grundrechtsgeltung und Grundrechtssicherung, Berlin 1967). Während Hippel die Wesensgehaltsklausel als unjustiziable Leerformel durch das Prinzip der Güterabwägung ersetzt sehen möchte (das in der Rechtsprechung auch tatsächlich angewandt wird), hält Jäckel ein substantielles Minimum für jedes Grundrecht für gegeben, dessen Bestand als Institute durch Art. 19 geschützt werde.

  17. Richard F. Behrendt, a. a. O., S. 29.

  18. Ernst Jouhy, Demokratisierung der Schule, ein widerspruchsvoller Prozeß, in: Gesellschaft — Staat — Erziehung, H. 2/1970, S. 83— 93.

  19. Norbert Schausberger, Politische Bildung als Erziehung zur Demokratie, Wien, München 1970, S. 107 f.

  20. W. Hilligen, sehen beurteilen handeln. Neubearbeitung von 1969, S. 303. Vgl. auch Friedrich Roth, Sozialkunde, Düsseldorf 1968; K. G. Fischer, Einführung in die politische Bildung, Stuttgart 1970; Rolf Schmiederer, Zur Kritik der politischen Bildung, Frankfurt 1971.

  21. Vgl. dazu W. Abendroth, Das Grundgesetz, Pfullingen 1967; Hans-Hermann Hartwich, Sozialstaatpostulat und gesellschaftlicher Status quo, Opladen 1970; Werner Sörgel, Konsensus und Interesse, Stuttgart 1969.

  22. Eberhard Menzel, Die rechtliche Gewährleistung der Berufsfreiheit, in: Die Freiheit der Berufswahl. Schriftenreihe der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Hannover 1967, S. 36.

  23. Vgl. H. Mangoldt/Fr. Klein, Das Bonner Grundgesetz, Berlin-Frankfurt/M. Bd. 2 19578, S. 358; W. Hamel, Das Recht der freien Berufswahl, in: Deutsches Verwaltungsblatt, 1958, S. 37.

  24. Eberhard Menzel, a. a. O.

  25. Die politische und didaktische Problematik dieses Themas habe ich in einem Unterrichtsmodell über „Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung" dargestellt in: Die demokratische Grundordnung = Politische Bildung, Heft 1/1969.

  26. Vgl. dazu Dietrich Haensch, Repressive Fanu lienpolitik. Sexualunterdrückung als Mittel de: Politik, Reinbek 1969 (rororo 8023); im allgemeineren Zusammenhang auch: Niklas Luhmann Grundrechte als Institution, Berlin 1965; ferne; R. König, Staat und Familie in der Sicht des Soziologen, in: Der Schutz der Familie, Bd. 8 der Schriftenreihe der niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Darin auch der im folgender zitierte Beitrag von Hermann Conrad.

  27. In dem Lehrbuch: Der junge Staatsbürger. Grundzüge der Sozialkunde (Diesterweg Verlag, 3. Aufl. S. 4) wird z. B. gesagt, unter „Menschenrechten" verstehe man zwar zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern nicht genau dasselbe, „insgesamt aber dürfen wir annehmen, daß das Bild des Menschen, wie es das Abendland aus antiker, christlicher und germanischer Wurzel (sic!) entwickelt und in der Zeit der Aufklärung vollendet hat, bleibend und wahr ist". Dieses Lehrbuch beweist auch die Existenz des behaupteten Zusammenhanges mit den genannten Tendenzen. Die Lehrbücher von K. G. Fischer und W. Hilligen lehnen dagegen diese idealisierende und ideologisierende Darstellung der Grundrechte deutlich ab.

  28. Alle genannten Tendenzen sind paradigmatisch und verdichtet zu erkennen in einer vor Jahren im Auftrage der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildung produzierten Tonfilm-Serie über die Grundrechte. Schon der erste Streifen mit dem Titel „Die Würde des Menschen ist unantastbar", zeigt die beabsichtigte Verhaltensmaxime: Wer ehrlich und anständig („unbescholten") ist, eine gute Ehe führt, regelmäßig und pünktlich arbeitet, Steuern zahlt und gute freunde hat, braucht sich bei uns vor Willkür staatlicher Macht nicht zu fürchten. Eine 1971 vom ZDF ausgestrahlte Folge von 5-Minuten-Filmen über die Grundrechte zeigte dieselbe Tendenz, die in einem tieferen Sinne der „Würde des Menschen" widerspricht, zumal sie sich der manipulierenden Technik des Films rücksichtslos bedient.

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Ernst-August Roloff, Dr. phil., Dipl. -Psych., Wiss. Rat und Professor für die Wissenschaft von der Politik an der Universität Göttingen; geb. 1926; Studium der Germanistik, Geschichte und Psychologie; bis 1966 Lehrer an einem Gymnasium in Braunschweig; 1968 Habilitation an der Wirtschaftsund Sozialwiss. Fakultät in Göttingen. Veröffentlichungen u. a.: Bürgertum und Nationalsozialismus 1930— 1933, Hannover 1961; Braunschweig und der Staat von Weimar, Braunschweig 1964; Begabung — was ist das eigentlich?, Essen 1966; Was ist und wie studiert man Politikwissenschaft?, Mainz 1969; Exkommunisten, Mainz 1969; Erziehung zur Politik, Einführung in die politische Didaktik, 1. Band, Göttingen 1972. Aufsätze in verschiedenen Zeitschriften.