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Die Grundrechte -ewiges Fundament oder wandelbare Satzung? Zur Grundrechtsdiskussion in der politischen Bildung | APuZ 1-2/1972 | bpb.de

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APuZ 1-2/1972 Die Grundrechte -ewiges Fundament oder wandelbare Satzung? Zur Grundrechtsdiskussion in der politischen Bildung Das Grundgesetz als Problem der Didaktik Artikel 1

Die Grundrechte -ewiges Fundament oder wandelbare Satzung? Zur Grundrechtsdiskussion in der politischen Bildung

Hans-Günther Assel

/ 35 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das Grundgesetz erscheint als „negative" Verfassung, weil es im Bewußtsein der Ablehnung der „wertneutralen" Haltung der Weimarer Demokratie und der totalitären Hybris des NS-Staates konzipiert wurde. Diese Abscheu vor den Fehlentwicklungen der Vergangenheit sollte der Erkenntnis dienen, daß sich nur eine wertbewußte und abwehr-bereite Demokratie im politischen Kampf zu bewähren vermag. In den Grundrechten bekundet sich ein bestimmtes Menschenbild. Bei aller notwendigen Gewährung personaler Freiheit, die im Grundgesetz hoch veranschlagt wird, bleibt die mitmenschliche Hilfspflicht und die Sozialbindung ein Kernanliegen der Verfassung. Die Grenzen der Wirksamkeit des Staates werden mit aller Klarheit gezogen, um den Menschen vor der Macht des Staates zu schützen. Grundrechte dürfen in ihrem „Wesensgehalt“ nicht angetastet werden. Die politische Bildung steht im Dienst der Entlarvung politischer Unrechtsordnungen. Sie tritt für den Schutz des Lebens und der menschlichen Würde ein, weil es ohne sie keine Freiheit und Gleichheit geben kann. Sie nimmt die Kritik ernst, die von einer Kluft von Norm und Wirklichkeit, von Verschleierungen und Manipulationen spricht. Deshalb nennt auch sie die Mißstände beim Namen. Sie tritt für die Freiheit der Kritik ein, ohne eine kritische Negationshaltung anzunehmen. Mit ihrer differenzierten Kritik setzt sie sich für unverzichtbare Werte ein. Es gehört zur politischen Aufklärungsarbeit zu zeigen, daß die Menschen stets in Gefahr sind, nicht nur fragwürdige Normen auszuwählen, sondern auch die als richtig erkannten Normen zu pervertieren.

I. Politik als normative Ordnungsaufgabe

Roloff:

Die Grundrechte als Problem der Didaktik S. 16

Die Politik hat sich als schöpferische Ordnungsaufgabe des Gemeinwesens zu verstehen. Sie kann daher einer Entscheidung für bestimmte Wertvorstellungen nicht ausweichen. Es ist ein müßiges Unterfangen, noch einem Wertfreiheitsprinzip das Wort zu reden und die Rolle des Wissenschaftlers von der des Politikers scharf zu trennen Der politische Wissenschaftler und Pädagoge kann ein solches getrenntes Rollenspiel nicht als „Tugend" bezeichnen, weil die bewußte Neutralität erhebliche Gefahren mit sich bringt Die Wissenschaft hat zweifellos der Erkenntnis zu dienen, aber sie darf sich nicht um eine klare Normentscheidung herumdrücken. Der häufig erhobene Vorwurf, man pervertiere, die Wissenschaft zur Ideologie, wirkt abwegig, wenn man die Gründe für seine Entscheidungen transparent und nachvollziehbar macht.

Nun gibt es Auffassungen, die größeren Nachdruck auf die Herrschaftsals auf die Ordnungsverhältnisse legen, weil damit die Kluft zwischen intendierter Ordnung und den wahren Lebensverhältnissen deutlich zum Ausdruck kommt. Nicht die abstrakte Verfassungsordnung, sondern die gelebte Wirklichkeit und die in Praxis verwandelte Theorie sei letztlich entscheidend. Das Selbstverständnis einer politischen Gesellschaft läßt sich aber nicht von den in der Herrschaftsordnung festgelegten Wertideen trennen. Es geht eben nicht darum, daß Macht und Herrschaft stabile Ordnungen gewähren, sondern, daß wir die Wertvorstellungen kennen und reflektieren, die zu einer „stabilen" Ordnung beitragen. Werte, und nicht allein die Macht, bilden den dominanten Faktor der Politikwissenschaft, weil alle politischen Ordnungen in ein Normensystem eingebettet sind

Die Kernfrage richtet sich zunächst darauf, welche Normen der politischen Gesellschaft ihre Sinnrichtung verleihen, denn es gibt qualitative Unterschiede, die zu klären sind. Für unseren Zusammenhang genügt der Vergleich von Weimarer Republik, Hitler-Reich und Bun-Ernst-August desrepublik Deutschland. Der Nachweis, daß bestimmte Grundwerte und Grundrechte für eine menschenwürdige Ordnung erforderlich sind, läßt sich durch eine vergleichende Darstellung erbringen. Alle Kämpfe, auch in unserer Geschichte, gingen letztlich um Ordnungsprinzipien, denn die politische Realität stellt stets wertbewußtes und werterfülltes Leben dar. Darum sind normative Einsichten zu gewinnen, um Entscheidungen zu treffen Will der Gesetzgeber eine menschenwürdige Ordnung errichten, so kann er sich nicht der Anerkennung von Menschenwürde, von Freiheit und Gleichheit, von Gerichtsschutz und sozialer Gerechtigkeit entziehen. Er dient dem Frieden, der Freiheit und dem Gemeinwohl nur dann, wenn er den Menschen zum Zentrum und Zielpunkt seines Handelns macht Schon hier befinden wir uns an einer Wegegabel aller Politik: ob der Mensch den Vorrang vor dem Staat wie auch der Gesellschaft und ihren Interessen erhält oder ob der Vorrang des Staates, wie es stets deutscher Tradition entsprach, die Freiheit des Menschen beeinträchtigt. Es kommt also auf das richtige Verhältnis yon Mensch und Staat, von Wert und Macht an Bei der Bestimmung dieses Beziehungsverhältnisses spielt das Mißtrauen eine erhebliche Rolle, und dieses Mißtrauen ist im Blick auf die historische Erfahrung nur zu begründet, weil der Entfaltung von Unabhängigkeitsgefühlen nicht zuletzt im Verlauf der deutschen Geschichte manche Hemmungen entgegengesetzt wurden.

II. Das Grundgesetz als „negative Verfassung"

INHALT I. Politik als normative Ordnungsaufgabe II. Das Grundgesetz als „negative" Verfassung III. Der „materielle" Gehalt der Grundrechte IV. Grundrechte und politische Bildung

Das Grundgesetz ist als bewußte Reaktion auf die Erfahrungen mit der NS-Diktatur und mit der wenig selbstbewußten Weimarer Demokratie entstanden Der totalitäre Staat Hitlers hatte den einzelnen in drastischer Form entmündigt. Wir können hier nicht die Herr-sdiaftspraktiken, die Grundzüge seiner Ideologie und sein Erziehungssystem analysieren Es genügt die Bemerkung, daß der einzelne in ein „völkisches Kollektiv" einbezogen wurde, in dem man ihn zum bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem Führerbefehl erzog. Der politische Befehl war Gesetz. Hitler erhob für sich den Anspruch, nicht nur „das oberste Regierungshaupt, sondern auch oberster Gesetzgeber und oberster Richter zu sein"

Nicht nur die Diktatur Hitlers bildete eine geschichtliche Erfahrungsquelle, sondern auch die nicht „abwehrbereite" Weimarer Demokratie. Besonders ihre „wertneutrale" Haltung rief erhebliche Gefahren hervor, weil ein gemeinsames geistiges Fundament angesichts des Werterelativismus nicht gefunden wurde. Sie erschöpfte sich „weitgehend in bloßen Funktionierensprinzipien, in die materiell jeder Inhalt eingehen konnte, z. B. nach dem Willen der Mehrheit auch der, diese Staatsform durch die Diktatur zu stürzen" Relativismus und Neutralität gaben den Feinden der Demokratie die Möglichkeit, mit der Verfassung die Verfassung außer Kraft zu setzen. Diese Haltung ließ sich auf die warnende Formel „Demokratie als Selbstmord" bringen.

Die historische Erkenntnis für den Grund-gesetzgeber mußte demnach eine doppelte sein: weder die Willkürgesetzgebung des Dritten Reiches mit ihrem „völkischen Recht" noch die rechtspositivistische, wertneutrale Haltung des Weimarer Staates hatten ein humanes Verhältnis von Mensch und Staat begründen können. Die Weimarer Demokratie konnte in der Zeit ihrer Agonie nicht verhindern, daß die Menschenrechte nicht mehr beachtet wurden Und der Hitler-Staat hatte von vornherein mit seiner überheblichen Rassenvorstellung dafür gesorgt, daß die Idee der Menschenrechte der Mißachtung verfiel

Diese Erfahrungen verlangten nach kritischer Reflexion, denn man wollte ein besseres Demokratieverständnis gewinnen, das man weder der Schwäche noch der Hybris verdächtigen sollte. Darum entschied sich der Grund-gesetzgeber,eine abwehrbereite und wertbewußte Demokratie zu schaffen, die manchen sogar als eine „militante" Demokratie erschien Das Wertbewußtsein des Grundgesetzgebers spiegelt sich in den Konsequenzen, die er aus den gemachten Erfahrungen zog: er stellte die Grundrechte voran, um ihren Rang deutlich zu machen. Darin kam nicht zuletzt das veränderte Staatsbewußtsein zum Ausdruck, denn über jeden Zweifel hinweg stand nun der Mensch an der Spitze der Werte-skala; ihm hatte der Staat zu dienen.

III. Der „materielle" Gehalt der Grundrechte

Die Grundrechte gehören zum Wertbekenntnis der politischen Ordnung; sie bringen zugleich ein bestimmtes Menschenbild zur Geltung. Das Grundgesetz, das sich als eine vorläufige Verfassung versteht, hat sich in den knapp formulierten Grundrechten, die noch vor dem organisatorischen Teil der Verfassung rangieren, besonders bewährt. Das Menschenbild des Grundgesetzes kann seine Gemeinschaftsbezogenheit nicht verleugnen Bei aller notwendigen Gewährung personaler Freiheit ist die mitmenschliche Hilfspflicht, wenn auch nicht in einer ausdrücklich formulierten Pflichtenordnung, so doch implizit mit aller Klarheit zum Ausdruck gekommen. Ähnlich wie in der Weimarer Verfassung stehen die rechts-und sozialstaatlichen Bestimmungen nebeneinander, und beide Gesichtspunkte treffen in der Eigentumsgarantie zusammen, die unter die soziale Pflichtbindung gestellt wird. Und auch das Sozialisierungsrecht (Art. — mit der Pflicht zur gerechten Entschädigung — macht deutlich, daß den sozialen Rechtsstaat (Art. 28, 1) und den sozialen Bundesstaat (Art. 20, 1) eine freiheitliche und soziale Ordnung miteinander verbindet 15).

Wegen dieser Zielsetzungen konnte es nicht genügen, nur eine „papierene" Erklärung der Menschenrechte und Rechte des Bürgers („Grundrechte") sowie einige „institutioneile Garantien" zu geben. Das Grundgesetz hält nicht nur „die Möglichkeit für die Schaffung einer sozialistischen Grundform des Staatswesens neben der einer privatwirtschaftlich bestimmten Sozialverfassung offen", sondern es verbürgt auch eine „Einhaltung der Grundrechte in Form einer wohlausgebildeten Kontrolle" der politischen Gewalten durch die Verfassungsgerichtsbarkeit

An der Spitze der Grundrechte steht das klare Bekenntnis zur Menschenwürde, die als „unantastbar" bezeichnet und die zu achten und zu schützen zur Pflicht der Staatsgewalt er-klärt wird. Hier ist der ideelle Ausgangspunkt für alle speziellen Grundrechte, wie sie in den Artikeln 2— GG zum Ausdruck kommen. Achtung vor der Menschenwürde heißt: die Anerkennung seines Eigenwertes und seiner Subjektivität. Der Mensch darf nicht von der Staatsgewalt zu einem instrumental verstandenen Objekt herabgewürdigt werden. Jede Diffamierung und Entrechtung, Verfolgung und Versklavung ist untersagt. Im Falle eines Konfliktes der Person mit dem Staat erhält die Menschenwürde den Vorrang. Damit soll die „Menschenwürde“ zum beherrschenden Prinzip nicht nur der Grundrechte, sondern für die gesamte Verfassung erhoben werden. Das Grundgesetz bekennt sich daher zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten" und erklärt alle Grundrechte für „unmittelbar geltendes Recht“.

An dieser Bestimmung läßt sich die „kopernikanische Wendung“ von Weimar zu Bonn demonstrieren. Nicht die Volksvertretung soll über den Bestand und den Inhalt der Grundrechte verfügen, denn dann könnten sie „nach Maßgabe der Gesetze" jederzeit neu geregelt werden. Sie sind auch nicht bloße Deklamation und Programmsätze, wie das im Grundrechtsteil der Weimarer Verfassung bei zahlreichen Grundrechten der Fall war, weil ihr Inhalt ohne nähere Konkretisierung oder Ausführungsbestimmung blieb 17). Man umging bewußt auch die komplizierte Abstufung der Grundrechte von Weimar Dieser Wandel läßt sich auf die Formel bringen: „Früher galten die Grundrechte nur nach Maßgabe der Gesetze, heute gelten die Gesetze nur nach Maßgabe der Grundrechte." Nur in den Fällen, in denen der Grundrechtsartikel den „Vorbehalt des Gesetzes" enthielt, konnte die Gesetzgebung Grundrechte einschränken. Wir begreifen diese Wendung, wenn wir sie als einen erneuten Durchbruch durch den Rechts-positivismus auffassen mit dem Inhalt, daß der Mensch Rechte besitzt, die kein Gesetzgeber verändern darf. Diese Rechte stehen über dem Staatsgesetz und sind seiner Kompetenz nicht unterworfen. Das ist der Wille des Grundgesetzgebers, der die Grundrechte von einer Einflußnahme der Volksvertretung, wenigstens in ihrem Kerngehalt, wie das der Art. 19 Abs. 2 GG ausdrückt unangetastet halten möchte. Die Grenzen der Wirksamkeit des Staates sollten mit aller Klarheit gezogen werden, um den Primat des Menschen und des Rechtes vor der Macht des Staates zu betonen. Der in der deutschen Tradition verankerte Primat des Staates mußte vor der überpositiven Rechtsauffassung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, weichen. Der große Wandel im Demokratieverständnis schlägt sich daher im Art. 79 Abs. 3 GG nieder, der ausdrücklich die beiden Artikel 1 und 20 schützt, indem er deren Änderung für „unzulässig" erklärt. Damit hat der Grundgesetzgeber materielle Grenzen für die Abänderung der Verfassung gezogen. Diese „Ewigkeitskiausel" beinhaltet den Schutz der „Menschenwürde“ sowie die Sicherung des demokratischen, republikanischen, bundesstaatlichen sowie des rechts-und sozialstaatlichen Prinzips. Damit verbietet sich nicht eine Neuregelung einzelner Grundrechte durch verfassungsänderndes Gesetz, wenn ihr Kernbestand dabei nicht angetastet wird. Alle Grundrechte sind jedoch in ihrem „Wesensgehalt" unabänderlich, weil von ihrem Vorhandensein die Rechtsstaatlichkeit im materiellen Sinne abhängig ist

Was damit gesagt ist: „In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angeta-stet werden."

Die Substanz der Grundrechte, ihr Kern oder der innere Gehalt bleiben vor jedem Eingriff geschützt, nur der äußere Bereich des Grundrechtes ist wandel-und regelbar. Es gibt jedoch Meinungsverschiedenheiten darüber, was unter dem „Wesensgehalt"

zu verstehen sei, da dieser Begriff vom Grundgesetzgeber nicht genau definiert wurde. Als Kriterium wird angegeben, daß der „Wesensgehalt" dann verletzt sei, wenn der „Nutzen des Grundrechtes" für seine Adressaten entfällt, wobei der „Nutzen für die Allgemeinheit" entscheidend sei. Gehört dieses Grundrecht zu den Menschenrechten, so sind in diesem Fall die Grenzen enger zu ziehen als bei den Rechten, denen der Verfassunggeber besonderen Grundrechtsschutz gab Man könnte auch noch strenger formulieren: Grundrechte, die als allgemeine Menschenrechte aufzufassen sind, sind davon überhaupt nicht berührt, weil diese als „zeitlos" anzusehen sind. Nur Grundrechte mit Gesetzesvorbehalt fallen unter Art. 19 Abs. 2 GG.

Wir halten fest, daß die Rechtssicherung für den Menschen und die Rechtsbindung für den Staat die grundlegende Maxime mit der Tendenz ist, daß sich der Staat seiner dienenden Funktion voll bewußt wird. Das Grundgesetz weiß sich im Einklang mit überpositiven Men-schenrechten Diese stehen höher als das Verfassungs-und Gesetzesrecht. Sogar mit der Möglichkeit eines verfassungswidrigen Verfassungsrechtes ist Zu rechnen, freilich nur als Ausnahmefall

Die mit qualifizierter Mehrheit abzuändernden Gesetze betreffen eigentlich nur das formelle Verfassungsrecht und jenen äußeren Kern der Grundrechte, von dem bereits gesprochen wurde. Damit sind hinsichtlich der Abänderlichkeit von Grundrechten nur geringe Möglichkeiten eingeräumt. Auch dort, wo von Einschränkungen der Grundrechte die Rede ist, hat das Gesetz behutsam vorzugehen. Das Gesetz darf nicht nur den Einzelfall bedenken, sondern es muß allgemein gelten (Art. 19 Abs. 1 GG).

Neben dem Grundsatz der Menschenwürde hat der Grundgesetzgeber seine Aufmerksamkeit dem allgemeinen Freiheitsrecht und einzelnen Teilfreiheitsrechten — wie der Glaubens-, Meinungs-und Versammlungsfreiheit — gewidmet. Dabei fällt auf, daß er an eine Reihe nicht nur bewährter, sondern auch neuer, zeitgemäßer Grundrechte dachte, wie z. B. an das Recht auf körperliche Unversehrtheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, das Kriegsdienstverweigerungsrecht, die Freiheit der Berufs-und Arbeitsplatzwahl, das Asyl-recht und den Schutz vor Staatenlosigkeit. Hier ist ein unverkennbarer Fortschritt sichtbar. Das Freiheitsrecht als Grundrecht kennt aber auch Einschränkungen: die Rechte der Mitmenschen, die Anerkennung der Verfassungsordnung und das allgemeine Sittengesetz. Das Grundrecht der Freiheit darf nicht zu Lasten anderer genutzt werden. Insofern entstehen Pflichten und Grenzen, die einzuhalten sind.

Theodor Maunz hat die „höchst stiefmütterliche Behandlung der Grundpflichten im Grundgesetz" beklagt Daß man keinen besonderen Pflichtenkatalog erstellte, lag zweifellos in der Grundtendenz, nicht den Eindruck zu erwecken, daß mit den Grundpflichten gegenüber dem Staat zugleich eine Anerkennung des Staates als Quelle der Grundrechte verbunden sei. Daß es Pflichten des Staatsbürgers gibt, kann aber nicht in Abrede gestellt werden. Man braucht nur an die Treueklausel in Art. 5 Abs. 3 Satz 2 GG zu denken, welche die akademische Lehrfreiheit nicht von der „Treue zur Verfassung" entbindet, was natürlich nicht besagt, daß damit jede wissenschaftliche Kritik — auch am Grundgesetz — grundsätzlich untersagt wäre Aber eine Schranke wird auch hier deutlich 28a).

Die Menschenwürde, das Recht des Mitmenschen, die Verfassungsordnung, die Treue-klausel und das Sittengesetz sind Beschränkungen, die der Dynamik des einzelnen, seiner Initiative und seinem Handeln auferlegt werden. Sie gelten für alle Grundrechte. Was dabei „als Sittengesetz zu gelten hat, bestimmen im Konfliktfall die Gerichte"

Neben den Freiheitsrechten kommt dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz erhebliche Bedeutung zu. Auch hier finden sich Konkretisierungen im einzelnen. Die Gleichheit stellt nach dem Grundgesetz ein Menschenrecht und ein demokratisches Recht dar. „In seiner Dynamik“, sagt Maunz, „reicht es nahe heran an den Grundsatz der Würde des Menschen." Jede Ungleichheit in der Rechtsprechung und in der Verwaltung gegenüber einzelnen Personen und Gruppen ist unzulässig. Mit anderen Worten: Jede Willkürhandlung wird strengstens untersagt. „Im Gleichheitssatz ist daher ein Rechtsprinzip aufgestellt", das „überpositiv gilt . . . Wie die Würde des Menschen, so enthält auch der Gleichheitssatz eine Einschränkung der inneren Souveränität des Staates."

Die Grundrechte enthalten auch Regelungen zur Kultur-und Wirtschaftsordnung. Die Entscheidung für eine bestimmte Ordnung bleibt aber offen. Die hier gefällten Einzelregelungen ergeben sich aus der freiheitlichen und sozialen Grundeinstellung: Glaubensfreiheit (Art. 4), Freiheit der Kunst, der Wissenschaft, der Forschung und der Lehre (Art. 5), Schutz der Familie (Art. 6). Die Erziehung der Kinder wird „als das natürliche Recht der Eltern" und als „zuvörderst obliegende Pflicht" bezeichnet. Diese Aufnahme in den Grundrechtsteil soll vor allem die „Ablehnung eines staatlichen Erziehungsanspruches" zum Ausdruck bringen. Dem Gesetzgeber steht zwar eine „Überwachung" zu, aber nicht „eine völlige Übernahme der Erziehung" Im Art. 7 überwiegen die Organisationsnormen, wobei eine Entscheidung über die Bekenntnisschule oder die Gemeinschaftsschule offen blieb. Dagegen enthält Art. 7 Abs. 2 und 3 Satz 3 echten Grundrechtscharakter, denn die Teilnahme am Religionsunterricht des Kindes obliegt den Eltern, und kein Lehrer braucht gegen seinen Willen Religionsunterricht zu erteilen.

Einige wenige Bemerkungen zur Wirtschaftsordnung sollen unsere Skizze zum materiellen Gehalt der Grundrechte abschließen. Dabei stehen die Koalitionsfreiheit und die Eigentumsfrage im Vordergrund. Art. 9 Abs. 3 stellt das Existenzgrundrecht für die Arbeiter-und Unternehmensorganisationen dar. Zugleich wird das Grundrecht auf Freiheit des Arbeitskampfes ausgesprochen und das Tarifvertragssystem geregelt und geschützt. Der Art. 14 garantiert das Eigentum und das Erbrecht, wobei die soziale Pflichtbindung des Eigentums dessen eigentlichen Sinn deutlich macht Aus dieser Haltung ist verständlich, daß Grund und Boden, Naturschätze und Pro-duktionsmittel — unter Auflage zur Entschädigung — in „Gemeineigentum" überführt werden können (Art. 15). Hier handelt es sich um bisher noch wenig ausgeschöpfte Möglichkeiten des Grundrechtsteils. Wer in den Grundrechten ein grundsätzliches Fundament erblickt, das man auch nicht einer Zweidrittelmehrheit der Volksvertretung zur Abänderung überantworten möchte, der muß sich auch mit aller Klarheit zur Möglichkeit der Umwandlung bestehender Wirtschaftsstruktur bekennen. Durch die Entschädigungspflicht bleibt der rechtsstaatliche Charakter bei der Enteignung und der Überführung in Gemeineigentum erhalten Nicht zuletzt an dieser Stelle des Grundrechtsteiles offenbart sich seine Dynamik für den Gesetzgeber.

Dabei ist eine Warnung auszusprechen, solche Möglichkeiten nicht als Hebel und Ansatzpunkt für eine Liquidierung des gesamten Systems zu mißbrauchen. Es gibt eine politische Tendenz, welche die Grundrechte deswegen tabuisieren möchte, weil sie den Eindruck einer Bedrohung des prinzipiellen Grundrechtsteiles hervorrufen will unter der Devise: Grundrechte contra Verfassungssystem Diese politische Tendenz sieht in jeder Einschränkung des nicht zu verändernden Grundrechtssystems einen selbstherrlichen Machtakt des Gesetzgebers. Ein Beispiel dafür bietet Art. 10 Abs. 2 GG, der nach erreichtem Uberwachungszwedc weder rechtliches Gehör noch Gerichtsschutz gewährt und insoweit rechtsstaatliche Bedenken auslöst

Andererseits steht eine abwehrbereite und wertbewußte Demokratie vor der Notwendigkeit, sich zu schützen und denen eine Verwirkung der Grundrechte anzudrohen, die offensichtlich diese im Kampf gegen die verfassungsmäßige Ordnung benötigen, um unbehelligt ihre Absichten zu realisieren So un-M) verbrüchlich jedermann diese Grundrechte zustehen und so unverzichtbar und unaufhebbar sie in ihren wesentlichen Teilen bleiben müssen, so gibt es auch hier eine Schranke die zur Achtung vor den Grundrechten beitragen und ihren Mißbrauch verhüten soll. Entscheidend bleibt, daß auch den Verfassungs-gegnem mit rechtsstaatlichen Mitteln begegnet wird. An dieser Problematik können sich leicht Kontroversen entzünden Der politische Kampf wird damit in der Demokratie nicht unterbunden, nicht in einem affirmativen Sinne kanalisiert, sondern es wird ein essentieller Bestand an Überzeugungen, ein unverzichtbares Minimum an gemeinsamer Grund-konzeption vorausgesetzt, die nicht aufs Spiel gesetzt werden darf Die wertbewußte Demokratie kann ein solches Fundament nicht preisgeben, wenn sie das bleiben will, was sie ist: die freiheitsbewußte und sozial verantwortliche Form politischer Gesellschaft, die Gewaltakte ihrem Selbstverständnis entsprechend ausschließt, aber dort nicht tatenlos zusieht, wo sie geschehen.

IV. Grundrechte und politische Bildung

Politische Bildung liegt im existentiellen Interesse jeder wertbewußten Demokratie. Sie erhielt daher nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches besondere Unterstützung, weil der junge demokratische Staat zur Bewußtseinserhellung der Heranwachsenden beitragen wollte. In der Entlarvung politischer Un-rechtsordnungen und ihrer Prinzipien sah man eine der Hauptaufgaben politischer Bildung. Aber auch die Besinnung auf die grundlegenden Werte, an denen sich der reflektierende und prüfende Staatsbürger nach freier Selbst-entscheidung orientierte, sollte nicht fehlen. Nicht zuletzt war in den Grundrechten ein Normenkatalog verankert der der Klärung und Analyse bedurfte.

Hier ging es zuerst um die Achtung des Rechtes auf Leben. Die personale Struktur der Menschen verlangte nach einer Existenz in Freiheit und Gleichheit. Allein diese Prinzipien garantieren der Gesellschaft eine Ordnung, die vor Eingriffen der Herrschenden und möglichen Fehlentwicklungen bewahrt bleibt. Der Schutz des Lebens und der menschlichen Würde fiel dem demokratischen System zu, wenn der einzelne seine Subjektqualität und seinen Eigenwert erhalten wollte, Selbständigkeit und Unabhängigkeit wachsen in der polaren Spannung von Freiheit und Gleichheit. Die Freiheit wäre wertlos, wenn der einzelne unter geistiger und materieller Existenzangst litte. Die Gleichheit als formales Prinzip bliebe bedeutungslos, wenn krasse Ungleichheitsver-Verhältnisse in der Realität weiterhin bestünden. Ein Leben, das geistig wie materiell bedroht ist und unter physischem und psychischem Druck steht, schließt die Menschenwürde aus. Deshalb erkannte man in ihr das fundamentale, nicht aufgebbare Prinzip. Ohne Menschenwürde gab es weder Freiheit noch Gleichheit

Aber was bedeuteten Freiheit und Gleichheit für das demokratische System? Diese Wert-prinzipien hat die politische Bildung auf ihre Kernvorstellung hin zu prüfen, denn sie gestalten die Grundrechte, die ein Stück menschlicher und politischer Erfahrung beinhalten. Wie der Verlauf der Geschichte der Grundrechte zeigt, mußten die Freiheits-und Gleichheitsrechte erst in langen Kämpfen erworben werden, und im Wandel der Zeit kamen neue Grundrechte hinzu 42a). Freiheit forderten die Unterdrückten, und Gleichheit verlangten die Unterprivilegierten. Wie ließen sich Freiheit und Gleichheit in einer konkreten Lebensordnung realisieren? Freiheit konnte leicht in Willkür und Gleichheit in Tyrannei Umschlägen. Daher gehört zur Freiheit die Selbstbindung, die Anerkennung gewisser, genau zu präzisierender Schranken, denn die Freiheit soll für alle Bürger gleich sein. Der Freiheitsanspruch des einzelnen gerät leicht in Widerspruch zur Freiheit seiner Mitbürger, zur freiheitlichen Ordnung und zum Sittengesetz. Besonders der Freiheitsanspruch des einzelnen kann mit den Forderungen der politischen Gemeinschaft kollidieren, weil damit Anspruch gegen Anspruch steht. Aber auch hier gibt es eine „absolute Grenze, nämlich die Würde des Menschen, seine Personenhaftigkeit, an der jede Freiheitsbeschränkung endet"

Radikale Gleichheitsforderungen tragen andererseits die Gefahr in sich, den einzelnen in ein Kollektiv einzugliedern, in dem er seine Subjektqualität verliert. Auch hier geht es um die vernünftige Konkretisierung eines unverzichtbaren Prinzips 43a). Da aber jede Gesell-mag. schäft in ungleiche Einkommensschichten zerfällt, müssen wenigstens gleiche Startbedingungen für die Entwicklung der Heranwachsenden geschaffen werden. Hierzu gehören eine auf Chancengleichheit gerichtete Bildungspolitik, eine auf materiellen Ausgleich hintendierende Sozialpolitik und eine Gesellschaftspolitik, die sich der Spannung von Freiheit und Gleichheit bewußt bleibt und sich davor hütet, die eine Norm gegen die andere auszuspielen

Das demokratische System beruht auf diesem Prinzipienverständnis, das mit Hilfe rationaler Analyse zu erörtern ist, denn ohne wissenschaftliche Reflexion entsteht keine Sicherheit in der Beurteilung der Vielfalt der Normen. Die politische Bildung stützt sich dabei auf das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit. Auch sie spürt, was Grundrechte zu bedeuten vermögen. Solange man Politikwissenschaft oder politische Bildung als eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln betrachtet, besteht die Gefahr, daß sie einen apologetischen, affirmativen und doktrinären Charakter erhält; es bleibt der Ideologieverdacht und der Vorwurf bestehen, sich für eine normative Dogmatik zu engagieren. Deshalb gehört es zum Grundsatz der Wissenschaftlichkeit, das Gebot kritischer Analyse zu beachten. Dabei ist es unvermeidlich, daß die maßgeblichen Prinzipien: das Recht auf Leben, die Würde des Menschen, Freiheit und Gleichheit, ja überhaupt das gesamte demokratische System in Frage gestellt werden, um den Anspruch des Systems an der Realität zu messen. Nur in der offenen Auseinandersetzung lassen sich Wertentscheidungen für bestimmte Prinzipien gewinnen, denn in der rationalen Erörterung werden Kriterien ermittelt, welche für die Wertdifferenzen von Ordnungen entscheidend sind. Wer das Verbot infallibler Instanz nicht respektieren will, enthüllt sein Interesse für eine Ordnung, die sich nicht in Frage stellen läßt. Hinter jeder infalliblen Instanz steht der normative Dogmatismus und das Frageverbot. Der kritische Rationalismus distanziert sich vom ideo-logischen Wertbewußtsein und jeder Verschleierung, denn aus reinem Machtbewußtsein bedient man sich gewisser Scheinwerte, die in Konkurrenz mit den erörterten Prinzipien treten

Am funktionellen Ablauf des politischen Geschehens und am politischen Stil lassen sich Normen testen, welche als konstitutiv für eine politische Gesellschaft gelten. Die Frage nach der Leistungsfähigkeit und Qualität der Normen darf von der politischen Bildung nicht unterdrückt werden, weil vom politischen Wertbewußtsein die Einstellung zur Macht, zum Recht und zur sozialen Gerechtigkeit beeinflußt wird. Dabei ist auf die strukturelle Verschiedenheit der Normen zu achten, denn es ist nicht gleichgültig, ob man die Normen für unabbänderlich oder für veränderlich und anpassungsfähig hält über den Bereich ihrer Gültigkeit und über ihren Verbindlichkeitscharakter ist zu reflektieren. Das demokratische System bekennt sich im Grundrechtsteil zu absolut gültigen Normen, zu Menschenrechten, die zur Sicherung menschenwürdiger Ordnung im Verfassungstext verankert wurden. Diese sind als „ewiges Fundament" zu betrachten. Sie stehen außerhalb von Kontroverse und Ermessen und bilden den Minimalkonsensus der politischen Gemeinschaft.

Martin Greiffenhagen hat hinsichtlich der politischen Erziehungsaufgabe bemerkt: ......der politische Pädagoge sollte kein höheres Ziel kennen, als seinen Schülern, vor aller Institutionenkunde, einen Begriff vom Inhalt dieses ersten Artikels (und der sich in ihm ankündigenden folgenden Grundrechte) zu geben. Und der allgemeine Pädagoge sollte wissen und lehren, daß personenhafte Würde des Schutzes und der Garantie des Gemeinwesens bedarf, das sich ihrer annimmt, indem es sie als höchsten Wert und Grundlage der eigenen Existenz anerkennt."

Einen Begriff vom Inhalt dieses Prinzips gewinnt der Heranwachsende, wenn ihm gezeigt wird, daß der einzelne seine Fähigkeiten nur in der freien Lebensordnung entwickelt, die auf sein eigenes Wohl ebenso Rücksicht nimmt wie auf das Wohl seiner Mitmenschen. Denn die Würde verlangt allseitige Anerkennung. Die rechtsstaatliche Sicherung des Einzelwohles ist daher der eine notwendige Schritt, der von einem zweiten, der sozialstaatlichen Absicherung der Gesellschaft, begleitet sein muß. Beide Schritte erweisen sich in einer modernen Industriegesellschaft als untrennbar, weil Würde und Freiheit einer materiellen Grundlage bedürfen. Wo in einer Gesellschaft der Mensch zum Feind des Menschen wird, weil er aus egoistischem Macht-und Interessestreben die Würde seines Mitmenschen bedenkenlos verletzt und Herrschaft über den Menschen ausübt, dort wird der Beherrschte in eine entwürdigende Objektstellung gedrängt

Ein Staat andererseits, der nicht dem Menschen dient und der ihm keinen gesicherten Raum individueller Entfaltung überläßt, weil er ihn bedingungslos in ein Kollektiv einspannt, hat als totalitär zu gelten. Ein solches Staatsbild steht den Grundrechten diametral gegenüber, weil es individuelle Freiheitsrechte mißachtet. Ernst Forsthoff hat ihn wie folgt beschrieben: „Der totale Staat muß ein Staat der totalen Verantwortung sein. Er stellt die totale Inpflichtnahme jedes einzelnen für die Nation dar. Diese Inpflichtnahme hebt den privaten Charakter der Einzelexistenz auf."

Diese entwürdigende Objektstellung des Menschen tritt vor allem in politischen Gesellschaften auf, welche den Staat, das Kollektiv jedenfalls über das Individuum stellen und damit eine Antithetik schaffen, die das Individuum in einen Gegensatz zur Gesellschaft bringt, wenn es nicht der bedingungslosen Einordnung folgt.

Das Problem betrifft auch den demokratischen Staat, wenn sich das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit verschiebt und wenn individuelle Rechte mit sozialen Pflichten kollidieren. Hier hat der Pädagoge jene von Hans Maier gegenüber Ernst Forsthoff vertretene Ansicht transparent zu machen, daß die Grundrechte nicht bei einer solchen „antinomischen Relation" von freiheitsverbürgender und sozialgewährender Programmatik stehen bleiben Individuelle Rechte und das Prinzip der Sozialverpflichtung spiegeln sich deutlich in den Grundrechten, so daß „der Verzicht auf soziale Gerechtigkeit unter den gegebenen Umständen ein Todesurteil über den Rechtsstaat schlechthin bedeuten" würde Es gehört mit zur Kritik am freiheitlichen Rechts-und Sozialstaat, wie er vom Grundgesetzgeber geschaffen wurde, daß ihm ungerechte Sozial-verhältnisse, die im eklatanten Widerspruch zu den Freiheitsrechten stehen, Vorgeworfen werden. Man weist auf dieses Mißverhältnis hin, um auszudrücken, daß alle Grundrechte zur Farce werden, wenn die menschliche Würde nur auf dem Papier steht. Auch mit dieser Kritik hat sich die politische Bildung auseinanderzusetzen 51a).

Der hier erhobene Vorwurf bezieht Sich auf die Konkretisierungen des „materialen" Gehaltes der Menschenwürde, die in der praktischen Lebensordnung noch zu wenig sichtbar wird. Auch die häufig vertretene Ansicht, die Grundrechte seien „kein abstraktes Programm menschlicher Entfaltung", sie seien „reaktiv" und negierten „historisch erfahrene oder als drohend empfundene Gefährdungen der mensch-liehen Würde" wird in Zweifel gezogen. Man erblickt darin vielfach nur ein Lippenbekenntnis oder eine verstiegene Idealisierung, die man als falsches Pathos entlarven möchte, weil damit viele Mängel in der konkreten Ordnung verdeckt werden. Unter dem Deckmantel von „unantastbaren" Prinzipien, wie dem Recht auf Leben und der Würde des Menschen, von Freiheit und Gleichheit, würden in Wahrheit ganz andere Tendenzen vorherrschen, die besonders von den Verfassern und Verfechtern der Kritischen Theorie in vielen Untersuchungen enthüllt werden. Die Demokratie erscheint hier auf dem Prüfstand ihrer Wertvorstellungen, die man häufig als „Leerformeln" abqualifiziert

Es wird vor allem auf die große Kluft von Verfassungsnorm und Wirklichkeit hingewiesen. Diese an sich natürliche Spannung, die überall zu konstatieren ist, weil es noch keinem System gelang, diese Spannungen aufzuheben, auch nicht in den sozialistischen Staaten, erregt bei uns ein besonders großes Unbehagen, denn das „Auseinanderklaffen" von Norm und Wirklichkeit gehört zu den vieldiskutierten Streitpunkten von heute. Mit Recht sagte Wilhelm Hennis: „Solche Ubiquität macht mißtrauisch. Sollte es sich vielleicht um ein populäres Scheinproblem handeln?"

Die Kritiker fordern, daß sich Norm und Wirklichkeit nach Möglichkeit weitgehend decken sollten: sie sprechen gern von Verschleierungen, von absichtsvollen Versäumnissen, von Manipulationen und repressiver Politik, wenn die Norm nicht ihren Anspruch erfüllt Sie bedienen sich des Schlagwortes vom „nichterfüllten Grundgesetz", weil seine Realisierung nach ihrer Meinung unterblieb Der politischen Bildung wird vorgeworfen, daß sie die Gebote der Grundrechte nicht genügend ernst nehme und sie nicht auf ihre Stichhaltigkeit hin untersuche. Sie bleibe in purer Heuchelei stecken, in einer Phraseologie, die den akuten Wertverfall verdecke.

Es gibt viele Argumente, dieser Auffassung zu widersprechen, denn mit einer exzessiven Kritik allein wird wenig gewonnen. Zum kritischen Bewußtsein gehört nicht zuletzt auch das richtige Maß der Kritik Diese er-schöpft sich nicht nur in einer bloßen Negationshaltung, wie es andererseits völlig verfehlt wäre, wollte man eklatante Mißstände nicht beim richtigen Namen nennen. Mit Schönfärberei und einer bloß affirmativen Haltung erhalten wir nicht jene nötigen Einsichten, die wir für ein waches Bewußtsein der Heranwachsenden brauchen, damit sie jene Spannung von Grundrechten und ihrer Verwirklichung durch zielstrebiges Handeln begegnen können. Kritische Fragen, die in diese Richtung gehen, sind ein wesentliches Moment der politischen Bildung. Dazu gehört auch die von Herbert Marcuse gestellte Frage, warum die Freiheit und das Glück der Menschen nicht in der Gesollte. genwart zunehmen, nachdem man über die objektiven Möglichkeiten dazu verfügt

Schon die Fragestellung enthüllt, daß auch die Kritiker sich für die Würde und den Wert des Lebens einsetzen und als „Apriori" ihrer Gesellschaftstheorie ansehen. Insofern stimmen auch sie zu, daß die menschenwürdige Ordnung die Aufgabe aller Politik ist. Nicht die Gültigkeit dieser Norm wird angefochten, sondern das Fehlverwalten der Menschen, die behaupten, dieser Norm zu dienen, sich jedoch nicht normgemäß verhalten Was in der exzessiven Kritik der Gegenwart nicht mit aller Klarheit zum Ausdruck kommt ist erstens, daß dem demokratischen System nicht der Vorwurf gemacht werden kann, sich für Fehlnormen zu entscheiden, denn es gibt keinen höheren Wert als die Menschenwürde, und zweitens stellt das Fehlverhalten des Menschen nicht allein ein Problem der Demokratie dar. Auch in anderen politischen Systemen ist die Kluft zwischen Norm und Wirklichkeit evident. Verschwiegen wird aber, daß allein demokratische Systeme über eine repräsentative Instanz verfügen, die zur Hüterin der Wertordnung bestellt ist, um jener „maladie eternelle" zu begegnen, die sich im Mißbrauch von Normen ausdrückt. Der Grundgesetzgeber hat das Verfassungsgericht geschaffen, um jeden Verstoß gegen die Grundrechte zu ahnden

Noch wichtiger für ein kritisches Bewußtsein wäre eine Erläuterung des Art. 90 GG, des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht, denn hier wird gezeigt, daß „jedermann" das Recht besitzt, Verfassungsbeschwerde zu erheben, falls die öffentliche Gewalt nur eines der Grundrechte verletzt. Viele Kritiker schweigen sich auch über den Artikel 19 Abs. 4 GG aus, den man als die „Krönung des Rechtsstaates" bezeichnet und der jedem einzelnen einen lückenlosen Rechtsschutz garantiert

Wer von den Kritikern verweist auf Gerhard Leibholz’ schönes Wort, daß „jedermann" der Hüter der Grundrechte sei? Leibholz betont mit Nachdruck, daß „dieser Jedermann', wie es etwa in der Hessischen Verfassung heißt, gegenüber verfassungswidriger Ausübung der öffentlichen Gewalt Widerstand zu leisten verpflichtet ist“

Es liegt am Verantwortungsbewußtsein der Staatsbürger, sich dieser Möglichkeiten zu bedienen und eine wachsame Rolle im Staat zu spielen, und es liegt an der politischen Bildung, solche Vorgänge für jedermann transparent zu machen Dem Staatsbürger wird nicht nur die Freiheit der Kritik gewährt, sondern auch das Recht zugestanden, sich gegen Willkürakte zu wehren. Wer kann mit Fug und Recht behaupten, daß in einem solchen System Selbst-in Fremdbestimmung, Subjektqualität in unterdrückende Objektstellung verwandelt werde? In welchem System wird der Macht des positiven Gesetzgebers die Entscheidungsverbindlichkeit eines „negativen“ Gesetzgebers gegenübergestellt? Wo wird der Grundsatz: in dubio pro libertate in so weitem Maße erfüllt? Das sind wichtige Fragen, die eine politische Bildung dem kritischen Bewußtsein vorlegen sollte. Jedermann hat das Recht, über die Menschenwürde zu wachen, von der Hans Carl Nipperdey sagte, daß sie die „letzte Wurzel und Quelle aller später formulierten Grundrechte und damit selbst das materielle Hauptgrundrecht“ sei Nur auf dieser Basis entstehen die lebenswerten Ordnungen der Zukunft. Auch viele Kritiker am demokratischen System stimmen dem zu und verneinen nicht, daß es Grundprinzipien als obersten Maßstab gibt

Dabei geht es nicht um ein Idealbild, sondern um ein Rechtsbewußtsein, das „Gesetzgebung, vollziehende Gewalten und Rechtsprechung als unmittelbares geltendes Recht bindet". „Dieses Prinzip muß also", betont Bußhoff, „unser ganzes staatlich-gesellschaftliches Leben durchdringen — wie weit das bisher erreicht ist, sei einmal dahingestellt." Die soziale Realität ist an diesem Prinzip zu messen, um „ihr Schlechtes namhaft zu machen und um die Menschen zu befähigen und zu animieren, schlechte Wirklichkeit zu verändern" Dies ist zweifellos eine Aufgabe politischer Bildung, die damit erst einen obersten Maßstab erhält. Sie hat jene uneingeschränkt zu entlarven, die gegen Würde, Freiheit und Gleichheit verstoßen, weil es sich um für jede politische Ordnung fundamentale Prinzipien handelt

Wenn es nicht gelingt, ein solches wertmäßiges Fundament zu legen und im Bewußtsein junger Menschen zu verankern, weil sie solche Werte für unglaubwürdig halten und verwerfen, geraten wir in eine Krise — auch in der politischen Bildung. Es gehört zur politischen Aufklärungsarbeit zu zeigen, daß der Mensch stets in der Gefahr steht, nicht nur Fehlnormen auszuwählen, sondern auch die richtig erkannten Normen zu pervertieren. Die Kodifikation der Grundrechte besagt noch nicht, daß damit ein normatives Uber-Ich entstanden ist, das für alle Zeiten den Mißbrauch ausschließt. Aber sie beinhalten einen materiellen Kern, der theoretisch bewußt gemacht und kritisch überprüft, sich zu einer Verhaltens-disposition zu entwickeln vermag, die zu glaubwürdiger Lebenspraxis werden kann. Auch die politische Bildung muß sich für ein wertmäßiges Fundament engagieren, um einen Impuls für eine Wertorientierung zu geben, die für jede personale Selbstverwirklichung erforderlich ist.

Jede politische Kultur und Gesellschaft verfügt über einen solchen Bezugsrahmen. Die Kategorie der Menschenwürde ist unaufgebbar für jede freiheitliche Demokratie, sie ist „ewiges" Fundament oder das Minimum, das als Konsensus für alle verpflichtend erhalten bleiben sollte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Hans-Günther Assel, Normen in der Politik. Eine kritische Betrachtung zum Wertfreiheitsprinzip Max Webers, in: Zeitschrift für Politik, 2. Heft, 1969, S. 216 ff.

  2. Vgl. Kurt Gerhard Fischer, Einführung in die Politische Bildung, Stuttgart 1970, S. 7 f., der bemerkt: „Parteilosigkeit angesichts einer Erziehungslehre für politische Pädagogen und Pädagogik verbietet sich von selbst, sie zu beanspruchen, wäre bloß schöner Schein, weil gesellschaftliche Normen und deren Wertung zweifach einfließen, einmal qua Politik, zum anderen qua Erziehung. Neutralität ist selbst ein Interessen-Standpunkt."

  3. Vgl. Hans-Günther Assel, a. a. O., S. 218.

  4. Vgl. dazu Kurt Gerhard Fischer, a. a. O., S. 91 ff., besonders S. 96, der unter Einsichten Urteile versteht, die aller Erfahrung vorausgehen und mit Recht daraus folgert: „Voraussetzungsloses Denken ist so wenig menschenmöglich wie werturteilsfreie Wissenschaft bzw. wertefreie Aussagen." Normative Einsichten sind für den Aufbau eines Konsensus nötig. Mit der „Idee des Konsensus", der „jenseits aller politischen Gegensätze den substantiellen und unbezweifelten Bestand der Staatsgemeinschaft anerkennt", wie Sigmund Neumann bemerkt (Der demokratische Dekalog: Staatsgestaltung im Gesellschaftswandel, in: Die Demokratie im Wandel der Gesellschaft, hrsg. von Richard Löwenthal, Berlin 1963, S. 19), soll ein freies Zusammenwirken ermöglicht werden. Wo immer diese Verbindlichkeit bestritten wird, ist die Demokratie in Gefahr und außerordentlich bedroht. Sie hat daher ihr Wertfundament für alle transparent zu machen.

  5. Vgl. Hans-Günther Assel, Ideologie und Ordnung als Probleme politischer Bildung, München 1970, S. 99 ff. Die grundlegende Funktion des „Gemeinwohls“ — häufig wegen der inhaltlichen Unschärfe als Begriff abgelehnt — besteht „im vernünftigen Ausgleich und in der Regelung von Differenzen, welche das Zusammenleben beeinträchtigen". Ohne solchen Ausgleich der individuellen und Gruppeninteressen und ohne die Konfliktregelung lassen sich Chancengleichheit und Gleichberechtigung nur schwerlich durchsetzen. Keine kollektivistische Gleichmacherei und keine totale Wohlfahrtsidee, aber auch kein ausschließliches Staats-und Gesellschaftswohl dienen — ebensowenig wie der egoistische Individualismus — dem „Gemeinwohl", das nur als gerechter Ausgleich von legitimen Interessen zu beschreiben ist. Kein einzelner und keine Gruppe sollen mit ihrer „Macht" die berechtigten Interessen der anderen schädigen. Das Gemeinwohl sorgt für eine Gesellschaft im Gleichgewicht, das auch mit dem sozialen Wandel nicht verlorengehen darf. Es verhindert Strukturdefekte, die zum Anlaß einer Krise werden könnten. Vgl. auch Bernhard Sutor, Didaktik des politischen Unterrichts, Paderborn 1971, S. 56 ff.

  6. Dieter Senghaas, Elemente politikwissenschaftlicher Analyse, in: Gesellschaft — Staat — Erziehung, 6. Heft, 1968, S. 357 f., bemerkt: „Für die Analyse ist Macht eine wichtige, in ihrer herkömmlichen Bestimmung gewöhnlich jedoch recht dürftige Kategorie.“

  7. Vgl. Paul Ludwig Weinacht, Zwanzig Jahre Grundgesetz — Probleme des Verfassungswandels, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 21/1969, S. 4, der bemerkt: „Man rechnet das Grundgesetz den . negativen Verfassungen'zu (C. J. Friedrich), weil es nicht aus der positiven Begeisterung für eine schönere Zukunft, sondern aus der negativen Ab-scheu . . . entstand.“

  8. Vgl. hierzu: Karl Dietrich Bracher, Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln, Berlin 1969: ferner Hans-Günther Assel, Die Perversion der politischen Pädagogik im Nationalsozialismus, München 1969.

  9. Gerhard Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, Karlsruhe 1958, S. 168.

  10. Günter Düring, Das Grundgesetz, München 1969, S. 17 (Einführung).

  11. Vgl. Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1962, S. 15, der die Demokratie definiert als „werterfüllte politische Ordnung mit dem Ziel, einen Zustand geordneter Freiheit für das politische Gemeinwesen zu sichern". Schon hier trat das Problem auf, eine geordnete Freiheit zu schaffen, die aber wegen der unbestreitbaren Mängel in der Verfassungspraxis ablehnende Kritik hervorrief.

  12. Vgl. Wolfgang Heidelmeyer, Die Menschenrechte — Idee, Gestalt und Wirklichkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 49/1968, S. 16, der dazu bemerkt, daß die Idee der menschlichen Gleichheit als „öde Gleichmacherei" verachtet wurde.

  13. Vgl. Günter Dürig, a. a. O., S. 17.

  14. Hans Schäfer, Bedarf unser Grundgesetz einer Gesamtrevision?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 14/1968, S. 5, bemerkt: „Das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und vor allem der Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden.“ Vgl. auch Hans Dichgans, Überlegungen für eine Totalrevision des Grundgesetzes, a. a. O., B 7/1970.

  15. Vgl-Hans Maier, Rechtsstaat und Grundrechte im Wandel des modernen Freiheitsverständnisses, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29/1966, S. 18 f.

  16. Wolfgang Heidelmeyer, a. a. O., S. 17. Das Bundesverfassungsgericht ist die Hüterin der Grundrechte, nicht die Volksvertretung. Diese Verlegung in die „dritte Gewalt" beabsichtigt: „Die Grundrechte sollen grundsätzlich über den Entscheidungen des Volkes und der Volksvertretung stehen.“ Vgl. Theodor Maunz, Deutsches Staatsrecht, München, Berlin 19511, S. 71. (18. Aufl. München 1971, S. 95).

  17. Von den 54 Artikeln des 2. Hauptteiles der Weimarer Verfassung: „Grundrechte und Grund-pflichten der Deutschen" fielen zahlreiche unter diese Gruppe: z. B. die Artikel 113, 119, 128, 130, 132 ff., 137, 145, 163, 165.

  18. Vgl. Alfred Voigt, Geschichte der Grundrechte, Stuttgart 1948, S. 137 ff., der vier Gruppen unterscheidet: Grundrechte, die nur durch verfassungsänderndes Gesetz neu zu regeln sind; Grundrechte, die im Fall des Notstandes durch Art. 48 WRV außer Kraft gesetzt werden konnten; Grundrechte, die durch einfaches Gesetz beschränkbar sind, und solche, die lediglich eine Deklamation darstellen.

  19. Günter Dürig, a. a. O., S. 15.

  20. Neben den Ausnahmen: „allgemeiner Gesetzes vorbehalt“ oder „spezieller Gesetzesvorbehalt" (vgl. Theodor Maunz, a. a. O., S. 111 ff.), kenntlich gemacht durch die Formel: „In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden“ oder durch das Wort „nur" angedeutet (vgl. Art. 8 oder Art. 11 GG), ist ferner auf den verfassungsimmanenten Gemeinschaftsvorbehalt und auf die Verwirkung von Grundrechten hinzuweisen, denn ein Grundrechtsgebrauch, der den Gemeinschaftsinteressen widerspricht, ist rechtswidrig (vgl. Art. 2 Abs. 1 GG). Wer die Grundrechte zum Kampf gegen die Verfassungsordnung mißbraucht (vgl. Art. 18 GG), kann diese Rechte verlieren. Vgl. Model/Müller, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, München 1971®, S. 38/39. Neben diesen Formen der Beschränkung gibt es keine weiteren.

  21. Die Interpreten des Artikels 79 Abs. 3 GG vertreten unterschiedliche Auffassungen. Vgl. Hamann/Lenz, Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Neuwied, Berlin 1970’, S. 540. Er sagt: „Art. 79, Abs. 3 sucht der verfassungsändernden Gesetzgebung eine Schranke aufzurichten; ob diese wirksam genug sein wird, um den materiellen Wesenskern des GG zu erhalten, hängt letzten Endes davon ab, wieweit das Bundesverfassungsgericht imstande sein wird, seine Rechtsprechung von politischen Zweckerwägungen freizuhalten . . ." Theodor Eschenburg, Staat und

  22. Hier wenden Kritiker ein, daß die Relativität der Geltung der Grundrechte schon verbal zum Ausdruck komme, weil „nur“ vom „Wesensgehalt" die Rede sei. Daher sei es nicht verwunderlich, daß die Fortschreibung des Verfassungstextes in der Richtung verlaufe, die als „permanente Einengung der Geltungs-Bandbreite gerade der Grundrechte angesehen werden muß" (so Kurt Gerhard Fischer auf der Tagung der Deutschen Vereinigung für politische Bildung in Hildesheim im Juli 1971).

  23. Vgl. Model/Müller, a. a. O., S. 150 f.; Hamann/Lenz, a. a. O., S. 324, betonen, daß damit nur diejenigen Grundrechte gemeint sind, die überhaupt der Disposition des Gesetzgebers unterliegen können, also nicht für überpositive (vorstaatliche) Grundrechte: „Diese sind überhaupt keiner Einschränkung durch die Gesetzgebung oder andere Gewalten zugänglich." Hier kommt zum Ausdruck, daß Art. 19 Abs. 2 GG nur für die staatlich geschaffenen Grundrechte gilt und auch nur für solche mit Geseztesvorbehalt.

  24. Vgl. Hamann/Lenz, a. a. O., S. 39, wo bemerkt wird: „Es ist heute nahezu einhellig anerkannt, daß das Verfassungsrecht den Normen des (ungeschriebenen) überpositiven Rechts untergeordnet und an sie gebunden ist. Daß dies auch der Auffassung des

  25. Vgl. Hamann/Lenz, a. a. O., S. 40.

  26. Theodor Maunz, a. a. O„ S. 79 (18. Aufl., S. 104).

  27. Theodor Maunz, a. a. O., S. 70 f. (18. Aufl., S. 107).

  28. Audi hier stoßen wir auf unterschiedliche Meinungen. Günter Dürig, a. a. O., S. 18, bemerkt dazu, daß hier die Lehrfreiheit nur „als Musterfall steht und mindestens alles, was öffentliche politische Meinung bildet (z. B. die Presse usw.) auch unter dieser Treueklausel steht". Dagegen Hamann/Lenz, a. a. O., S. 204: „Wer die Freiheit der Kunst oder Forschung auf die konkrete Verfassungsordnung vereidigen will, denkt konform mit einem System, das den . sozialistischen Realismus'oder den . dialektischen Materialismus'als verbindliche Richtungen dekrediert." Model/Müller, a. a. O., S. 79, begnügen sich mit dem Hinweis: „Für die Lehrfreiheit enthält Abs. 3 Satz 2 eine zusätzliche Schranke."

  29. Vgl. Theodor Eschenburg, a. a. O., S. 421 ff.; ferner: Klaus Ewald, Grundgesetz und Sittengesetz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 22/1971, S. 17 ff., der (S. 20) dazu bemerkt: „Nur dort, wo sich der einzelne in Widerspruch zu allgemein anerkannten sittlichen Normen verhält, die für die Bestandssicherung der Gemeinschaft notwendig sind, muß er hinter das Sittengesetz zurücktreten. Allein unter diesen Voraussetzungen ist ein Rückgriff auf das Sittengesetz im Grundgesetz zulässig, das die Autonomie der sittlich bestimmten Persönlichkeit zur Grundentscheidung erhoben hat." „Das Sittengesetz findet daher unter dem Grundgesetz nur als . ethisches Minimum'rechtliche Anwendung.“

  30. Vgl. Theodor Maunz, a. a. O., S. 90 (18. Aufl., S. 130).

  31. Theodor Maunz, a. a. O., S. 90 f. (18. Aufl., S. 130 ff.).

  32. Vgl. Hamann/Lenz, a. a. O., S. 210.

  33. Schon im Art. 153 WRV hieß es: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das gemeine Beste." Man sollte bei aller Polemik gegen die Eigentumsgarantie (institutionelle Garantie und subjektiv-öffentliches Grundrecht) nicht die Sozialbindung und die Möglichkeit der Enteignung übersehen, denn sie stellen sichtbare Schranken dar.

  34. Vgl. Theodor Maunz, a. a. O., S. 107 ff. (18. Aufl., S. 174 ff.).

  35. Vgl. Paul Ludwig Weinacht, a. a. O., S. 7, der dazu bemerkt: „Die seit der . Konsolidierungsphase'der Bundesrepublik eingetretenen Entwicklungen stellen — so sieht es die Gruppe um Abendroth, Kogon und H. Ridder u. a. — eine . Bedrohung'des Grundrechtssystems dar — insbesondere die Notstandsverfassung des Jahres 1968."

  36. Vgl. Günter Dürig, a. a. O., S. 16: „Der Preis, der damit für den Wegfall der . alliierten Vorbehalts-rechte'gern. Art. 5 Abs. 2 des Generalvertrages ... gezahlt werden soll, ist insofern rechtsstaatlich unerträglich.“ Er warnt aber vor einer „unkontrollierten Polemik" gegen die Notstandsverfassung, deren Fehler es sei, daß sie zu „gut gemeint normativ perfektionistisch ist".

  37. Die letzte Maßgeblichkeit für eine Verfassung beruht natürlich auf der Anerkennung durch die

  38. Vgl. Art. 2 Abs. 1, Art. 9 Abs. 2 und Art. 18, der alle Freiheiten und Rechte aufzählt, die bei Mißbrauch verwirkt werden. Besonders im Art. 18 handelt es sich um eine Staatsschutzbestimmung.

  39. Problematisch und daher stets kritikbedürftig bleibt die Abgrenzung von Staatsschutz und Grundrechten. Hier ergibt sich eine aktuelle Konflikt-problematik auch für die politische Bildung, die der eingehenden Klärung bedarf, weil jede Staatsgewalt dazu neigt — und zwar ohne Ausnahme —, die Selbsterhaltung des Staates über die garantierten Freiheiten zu stellen. Die Grenzen der Freiheit so zu bestimmen, daß die Würde des einzelnen nicht verletzt wird, aber auch die Gesellschaft keinen Schaden erleidet, stellt zweifellos eine schwierige Aufgabe für den politischen Erzieher dar.

  40. Vgl. Hamann/Lenz, a. a. O., S. 316, wo der Gedanke ausgesprochen wird, daß solche Bestimmungen dazu dienen, eine Beseitigung des demokratischen Rechtsstaates von „innen heraus her (zu) verhindern". Dabei darf die Problematik nicht übersehen werden, daß heute vielfach die demokratische Ordnung unter Ideologieverdacht gestellt und den Herrschenden der Mißbrauch der Grundrechte vorgeworfen wird. „In einer solchen Lage vermögen allein besonnenes, konfliktentschärfendes Handeln der Regierung und das Bemühen aller tragenden politischen Kräfte im Gemeinwesen um die Wiederherstellung des Generalkonsens zu helfen."

  41. Rudolf Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, Berlin 19682, S. 593 bemerkt: „Das Bonner Grundgesetz ist keine formale Ordnung um der Ordnung willen, sondern eine Ordnung im Dienste von Gerechtigkeit und Menschenwürde, und nur von dieser Voraussetzung her kann es richtig verstanden und angewendet werden.“

  42. Die Menschenwürde als das grundlegende Prinzip stellt zugleich eine Grundthematik dar, die zu einer übergreifenden Sinneinheit zu werden ver-

  43. Heinz Laufer. Die demokratische Ordnung, Stuttgart 1966, S. 66 ff., S. 72 ff., S. 74.

  44. Gerhard Leibholz, a. a. O., S. 130 f., weist auf dieses Problem des demokratischen Systemes hin: „Die bestehenden dialektischen Spannungen zwischen liberalen und sogenannten sozialen Grundrechten, zwischen Freiheit und Gleichheit enthebt uns nicht der Verpflichtung, in Freiheit einen Ausgleich zwischen den freiheitsbedrohenden sozialen Grundrechten und den liberalen Grundrechten zu suchen."

  45. Vgl. Hans-Günther Assel, Ideologie und Ordnung in der politischen Bildung, München 1970, S. 78 ff., S. 87 ff., S. 92 ff.

  46. Vgl. Heinz Laufer, a. a. O., S. 135 ff., der die Rechtsnormen wie folgt gliedert. Oberste Rechts-regel ist die Verfassung, über die hinaus es politische Prinzipien gibt. Wichtigste Rechtsregeln nach der Verfassung sind das Gesetz, die Rechtsverordnung und die Verwaltungsentscheidung. Rechtsnormen sollen ein verpflichtendes Handeln der Herrschenden bewirken, das Handeln vorausschaubar und berechenbar machen, wobei die Rechtsnorm als Maßstab für die Nachprüfbarkeit des Handelns gilt.

  47. Martin Greiffenhagen, Zur wissenschaftlichen Grundlegung der politischen Erziehung, in: Die politische Bildung an den Pädagogischen Hochschulen, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Heft 69, Bonn 1966, S. 29.

  48. Es gehört zur Aufgabe der politischen Bildung, an eine Operationalisierung der Fundamentalkategorie „Würde des Menschen" heranzugehen und damit eine präzise Inhaltsvorstellung nach der Forderung von Greiffenhagen zu ermöglichen. Sie kann dabei auf 4 Vorstellungskerne nicht verzichten: 1.freie Gestaltung des eigenen Lebens; 2. Beachtung der Privat-und Intimsphäre; 3. Schutz vor materiellen Nöten (Anspruch auf Daseinsvorsorge) ; 4. Schutz Vor Verfolgung, Ausbeutung, Vertreibung und Ausrottung.

  49. Ernst Forsthoff, Der totale Staat, Hamburg 1933, S. 42; vgl. auch Otto Koellreutter, Der deutsche Führerstaat, Tübingen 1934, S. 13 ff.: „Der Führerstaat trägt immer antiliberale Züge; und er kann auch niemals geprägt und gestaltet werden durch

  50. Vgl. Hans Maier, a. a. O., S. 18 f.; vgl. auch Heinrich Bußhoff, a. a. O., S. 106 ff., die diesen Gedanken aufnehmen. Vgl. ferner Gerhard Leibholz, a. a. O„ S. 130 f., der sich gegen den wirklichkeitsfremden Neoliberalismus ebenso wie gegen den Totalitarismus wendet.

  51. Vgl. Hans Maier, a. a. O., S. 19.

  52. Hans F. Zacher, Freiheitliche Demokratie, München, Wien 1969, S. 83 f.

  53. Vgl. Rudolf Engelhardt, Urteilsbildung im politischen Unterricht, Essen 1968, S. 49, der mit Recht auf das Dilemma aufmerksam macht, daß auch demokratische Systeme, die sich auf das Wert-prinzip . Menschenwürde'berufen, unmenschlich handeln können. Es gibt eben keine Ordnung, die vor dem Mißbrauch ihrer Prinzipien von vornherein gewappnet wäre. Daher darf man sich nicht mit der Auswahl der Prinzipien zufrieden geben, sondern muß darauf achten, daß sie die politische Praxis durchdringen.

  54. Wilhelm Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit. Ein deutsches Problem, Tübingen 1968, S. 5.

  55. So bemüht sich z. B. Ernst-August Roloff als Didaktiker, den Widerspruch von Norm und Wirklichkeit an exemplarischen Fällen, wie Pressefreiheit — Geheimnisschutz oder Kriegsdienstverweigerung — Staatsschutz sichtbar zu machen und dabei zu der Erkenntnis zu führen, daß die Staatsgewalt ihre Selbstbehauptung vor alle Freiheiten stellt. Der in den Grundrechten fixierte Anspruch sei „bei uns" noch nicht Realität, weshalb man sich vor jeder „realitätsfremden Idealisierung" hüten

  56. Vgl. Wilhelm Hennis, a. a. O., S. 22 ff. Um einige Beispiele anzuführen, sei auf Adolf Arndt, Das nicht erfüllte Grundgesetz, Tübingen 1960, auf Wolfgang Abendroth, Das Grundgesetz — Eine Einführung in seine politischen Probleme, Pfullingen 1966, und auf den Aufsatz von Arnheim Neusüß, Außerparlamentarische Opposition, in: Schoeps/Dannemann, Die rebellischen Studenten, München 1968, S. 60, verwiesen, wo es heißt: „Das Grundgesetz, dessen Modernisierung vom System immer barscher gefordert wird, gewinnt die Züge eines systemoppositionellen Manifests."

  57. Man sollte einmal eine Kritik des Kritikbegriffes schreiben. Weder eine loyale Kritik im Sinne einer Scheinkritik noch eine exzessive Kritik, die alles in Bausch und Bogen verdammt, kann in Wahrheit ein kritisches Bewußtsein hervorbringen. Vgl. dazu Hans-Günther Assel, Ideologie und Ordnung, a. a. O„ S. 78 ff., S. 80, S. 82, S. 85, S. 88 ff.

  58. Vgl. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied, Berlin 1968’, S. 12 f.

  59. Vgl. Heinrich Bußhoff, Politikwissenschaft und Pädagogik, Berlin 1968, S. 86 ff., der der Soziologie die Aufgabe zuweist, Fehler, Mängel, Versäumnisse der Politik und Erziehung festzustellen. Sie bietet das „Material" an, das Fehlziele und Fehlnormen klarer hervortreten läßt mit der Möglichkeit einer „sachgerechten Berichtigung“.

  60. Vgl. Gerhard Leibholz, a. a. O., S. 168 ff., S. 171 ff.; vgl. auch Heinz Laufer, a. a. O., S. 139, der bemerkt: „Rene Marcic hat als Krone der rechtsstaatlichen Demokratie die Verfassungsgerichtsbarkeit bezeichnet..." Vgl. Rene Marcic, Verfassung und Verfassungsgericht, Wien 1963.

  61. Vgl. Günther Dürig, a. a. O., S. 15, der von einem „imponierenden lückenlosen System der Frei-

  62. Gerhard Leibholz, a. a. O., S. 173; vgl. auch Heinz Laufer a. a. O., S. 140.

  63. Vgl. Rudolf Smend, a. a. O., S. 587, der zu der Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde bemerkt: „Hier erfährt der Einzelne von Lagen, in deren-gleich er auch selbst geraten könnte, an denen er sich virtuell beteiligt fühlt. Er erlebt, daß gegebenenfalls auch er persönlich unter Verfassungsschutz steht . . ." und „er erfährt . . ., daß er nicht nur ein Sandkorn in einer anonymen Massengesellschaft, sondern eine ganz persönlich in ihrer Würde grundgesetzlich geschützte Person ist."

  64. Vgl. Heinz Laufer, a. a. O., S. 140: Das Verfassungsgericht „wird zum negativen Gesetzgeber, wie Rene Marcic immer wieder hervorhebt, weil erst das vom Verfassungsgericht für gültig befundene Gesetz wirklich voll wirksam wird".

  65. Hans Carl Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Neumann, Nipperdey, Scheuner, Die Grundrechte, S. 12 (zitiert nach Theodor Eschen-burg, a. a. O., S. 418).

  66. So etwa Kurt Gerhard Fischer, Einführung in die Politische Bildung, Stuttgart 1970, S. 98: „Wer nämlich abstreitet, daß jede Gesellschaft eines Minimums gemeinsamer Grundüberzeugungen bedarf, daß ein rationaler, immer wieder zu prüfender Minimum-Consensus (Spinoza) unvermeidlich ist, liefert auch sich selbst der Gewalttätigkeit der jeweils Stärkeren aus."

  67. Heinrich Bußhoff, a. a. O., S. 108.

  68. Kurt Gerhard Fischer, a. a. O., S. 98.

  69. Vgl. Heinrich Bußhoff, a. a. O., S. 152, der bemerkt: „Denn ohne Achtung der Menschen-und Grundrechte ist heute und in Zukunft ein menschenwürdiges Leben überhaupt nicht mehr möglich. Das sollte die Pädagogik nicht mehr übersehen." Vgl. dazu die Kritik an Bußhoff von Kurt Gerhard Fischer, in: Gesellschaft — Staat — Erziehung, 1969, S. 409 ff., der von einer problematischen Gesamt-Konzeption spricht, weil der Affirmation das Wort geredet werde gegen eine Überwindung des Status quo. Vgl. auch Kurt Gerhard Fischer, a. a. O„ S. 96 ff., S. 99 f„ S. 111 ff., S. 121 ff., der sich gegen jedes systemkonforme Verhalten wendet und eine „den Verfassungsideen entsprechende Schulorganisation als conditio sine qua non"

Weitere Inhalte

Hans-Günther Assel, Dr. oec., Dr. phil., Honorarprofessor an der Pädagogischen Hochschule Nürnberg der Universität Nürnberg-Erlangen (Fachbereich: Politische Wissenschaft), geb. 1918 in Breslau. Veröffentlichungen: Weltpolitik und Politikwissenschaft. Zum Problem der Friedenssicherung, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Heft 77, 1968; Die Perversion der politischen Pädagogik im Nationalsozi-iismus, 1969; Ideologie und Ordnung als Probleme politischer Bildung, 1970. Zeitschriftenaufsätze: u. a. in der „Welt der Schule", Zeitschrift für Lehrer (Mitherausgeber), und in: „aus politik und Zeitgeschichte” (vgl. die Beiträge in: B 31/1969, B 15/1970).