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Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart | APuZ 49/1971 | bpb.de

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APuZ 49/1971 Artikel 1 Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart Der schwierige Konservatismus

Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart

Ernst-Wolfgang Böckenförde

/ 36 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das Auseinandertreten von , Staat'und . Gesellschaft'ist eine historisch bedingte reale Gegebenheit der politisch-sozialen Ordnung, die mit der Ausbildung des modernen Staates im neuzeitlichen Europa entstanden ist. Der sachliche Inhalt der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft ist nicht ein strenger Dualismus oder eine beziehungslose Trennung, sondern eine verfahrensmäßig und institutionell ausgeformte Wechselbeziehung zwischen Staat und Gesellschaft auf der Grundlage einer organisatorisch-institutionellen Unterscheidung. Diese Wechselbeziehung ist verschiedener Ausgestaltung fähig (autoritäres, demokratisch-liberales, institutionelles, totalitäres Modell). Im demokratischen Staat wird die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft nicht gegenstandslos; sie bewirkt vielmehr eine Begrenzung der demokratischen kollektiven Entscheidungsgewalt zugunsten der individuellen und gesellschaftlichen Freiheit. Auch die Zunahme und Ausrichtung der Staatstätigkeit auf die Regulierung gesellschaftlicher Abläufe im Zeichen des Sozialstaatsauftrags der Verfassung bedeutet nicht notwendig eine Aufhebung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft. Es kommt hier entscheidend auf die Zielsetzung und Maßbestimmung an, unter der diese staatliche Tätigkeit erfolgt. Jedoch führt die zunehmende Identifikation von Staat und Wirtschaft in der Gegenwart dazu, daß der Staat in eine abhängge Komplementärfunktion zum industriell-wirtschaftlichen Prozeß gerät und die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft sich insoweit aufhebt. Die Entwicklung treibt auf einen inneren Widerspruch zwischen dieser Komplementärfunktion einerseits und den sozialen Gewährleistungsaufgaben des Staates andererseits zu.

Es gilt heute als herrschende, wenn nicht gar allgemeine Meinung, daß die Trennung von , Staat'und . Gesellschaft'im Zeichen der modernen Demokratie und der Entwicklung zum Sozialstaat praktisch überholt sei und theoretisch ihre Rechtfertigung verloren habe An die Stelle der dem 19. Jahrhundert zugehörigen Trennung sei eine notwendige Verbindung und Vermischung von Staat und Gesellschaft getreten: Es gebe, empirisch gesehen, keine sogenannte staatsfreie, das heißt sich selbst regulierende Gesellschaft mehr, vielmehr sei die gezielte staatliche Intervention in gesellschaftliche Abläufe und deren Regulierung von bestimmten politisch-sozialen Zielsetzungen her eine gewohnte und notwendige Erscheinung, und umgekehrt könne, theoretisch-normativ gesehen, im Zeichen des demokratischen Prinzips der Staat nicht mehr als von der Gesellschaft losgelöst und ihr gegenüber eigenständig, sondern nur als deren Funktion und eine Form der „Selbstorganisation der Gesellschaft“ angesehen werden Mit dieser letzteren Kritik verbindet sich nicht selten ein ausgesprochener oder unausgesprochener Ideologieverdacht gegenüber jenen, die heute noch an der Trennung von Staat und Gesellschaft als einem verfassungstheoretischen und verfassungsorganisatorischen Prinzip festhalten: dies sei der Versuch einer Restauration einer gesellschaftstranszendenten staatlichen Autorität, die demokratisch illegitim sei

Angesichts dieser Lage soll im folgenden versucht werden, zur Frage der Berechtigung und möglichen Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft in unserer gegenwärti-gen Verfassungsordnung einige prinzipielle Überlegungen beizutragen. Zu diesem Zweck wird zunächst nach den historischen Grundlagen und Voraussetzungen der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft gefragt, das heißt, aus welchen historisch-politischen Gegebenheiten heraus diese Unterscheidung entstanden ist und in welcher Weise sie sich entwickelt hat (I.); sodann ist zu erörtern, was die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als verfassungsorganisatorisches Prinzip inhaltlich be-Gerd-Klaus Kaltenbrunner Der schwierige Konservatismus .... S. 19 sagt und besagen kann und welcher Ausgestaltung sie fähig ist (II.); auf dieser Grundlage läßt sich dann ermitteln, ob und inwieweit die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft unter den Voraussetzungen einer demokratischen Staatsstruktur (III.) und angesichts des modernen Sozialstaats (IV.) Bestand haben und welche Bedeutung ihr dabei zukommen kann. Schließlich ist nach den Auswirkungen der zunehmenden Identifikation von Staat und Wirtschaft auf das Verhältnis von Staat und Gesellschaft zu fragen (V.).

Dieser Beitrag wird 1972 in erweiterter Fassung in der Festschrift für Wolfgang Hefemehl „Rechtsfragen der Gegenwart“ im Verlag Kohlhammer veröffentlicht.

I. Die historischen Grundlagen der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft

Die Unterscheidung von , Staat'und . Gesellschaft'ist keine allgemeine, für beliebige geschichtliche Epochen gültige Gegebenheit, sondern eine verfassungsgeschichtlich entstandene und bedingte Sie ist einerseits nicht das Erzeugnis bloßer Theorie, also ein abstraktes gedankliches Modell ohne Beziehung zur geschichtlichen Wirklichkeit, anderseits kann von einer Unterscheidung oder irgendwie gearteten Trennung von Staat und Gesellschaft nur unter bestimmten, angebbaren Bedingungen der politisch-sozialen Ordnung, und solange diese Bedingungen fortbestehen, gesprochen werden. Das führt zu der Frage, welches die historischen Bedingungen sind, die zur Herausbildung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft in der politisch-sozialen Wirklichkeit geführt haben. 1. Die politische Ordnung des Mittelalters und auch noch die Landesherrschaft der frühen Neuzeit sind dadurch gekennzeichnet, daß in ihr vielfach zerstreute und je begrenzte eigenständige politische Herrschaftsbefugnisse bestehen, ohne daß sich darüber eine umfassende, letztentscheidende politische Herrschaftsgewalt erhebt Die Unterscheidung, das Auseinandertreten von , Staat'und . Gesellschaft'wird dadurch vorbereitet, daß diese vielfach zerstreuten politischen Herrschaftsbefugnisse zunehmend bei einer Person bzw. Instanz konzentriert und dort planmäßig zu einer einheitlichen und umfassenden politischen Her. Schaftsgewalt organisiert und ausgebaut werden; Gerichts-und Jurisdiktionsbefugnisse, insbesondere das sich ausweitende Gesetzgebungsrecht, die Ausübung von Hoheitsrechten, der Befehl über Polizei und Heer u. a. m. werden dem Anspruch und stufenweise der Realität nach (allein) Sache des Lan.desherrn bzw. Monarchen und der von ihm Beauftragten, sie können von anderen Personen nur in seinem Namen, als von ihm delegierte (und damit begrenz-und rücknehmbare) Befugnisse ausgeübt werden Auf diese Weise entsteht aus der herrschaftlich-politisch durch-formten und geschichteten Gesellschaft (societas civilis cum imperio) des Mittelalters und der frühen Neuzeit auf der einen Seite die einheitliche und umfassende, gegenüber ihren individuellen Trägern organisatorisch verselbständigte Staatsgewalt, auf der anderen Seite die einheitliche neue Gesellschaft (societas civilis sine imperio) der dieser Staatsgewalt Unterworfenen Die Französische Revolution vollendet hier nur, was die absoluten Monarchen erstrebten, und wechselte dabei den Träger der einheitlichen -Staatsgewalt aus Der junge Karl Marx hat diesen Vorgang sehr klar gesehen und beschrieben. „Die alte bürgerliche Gesellschaft", heißt es bei ihm, „hatte unmittelbar einen politischen Charakter, das heißt, die Elemente des bürgerlichen Lebens, wie z. B.der Besitz oder die Familie oder die Art und Weise der Arbeit, waren in der Form der Grundherrlichkeit, des Standes und der Korporation zu Elementen des Staats-lebens erhoben . . . Die politische Revolution ..., welche den politischen Staat als allgemeine Angelegenheit, das heißt als wirklichen Staat konstituierte, zerschlug notwendig alle Stände, Korporationen, Innungen, Privilegien, die ebenso viele Ausdrücke der Trennung des Volkes von seinem Gemeinwesen waren ... Sie zerschlug die bürgerliche Gesellschaft in ihre einfachen Bestandteile, einerseits in die Individuen, anderseits in die materiellen und geistigen Elemente, welche den Lebensinhalt, die bürgerliche Situation dieser Individuen bilden. Sie entfesselte den politischen Geist, der gleichsam in die verschiedenen Sackgassen der feudalen Gesellschaft zerteilt, zerlegt, zerlaufen war...“

2. Mit der Konzentrierung und dem organisatorischen Ausbau der bis dahin zerstreuten politischen Herrschafts-und Entscheidungsgewalt ergibt sich zugleich der bei Marx angedeutete Umbau der alten . Gesellschaft'. Denn diese Konzentrierung bedeutet, daß die zahlreichen Zwischengewalten und Statusordnungen der alten Gesellschaft Stück um Stück abgebaut und eingeebnet, ihres herrschaftlich-politischen Charakters entkleidet werden. Die einzelnen werden zunehmend aus der herrschaftlich-politischen Einbindung in die konkreten Herrschafts-und Lebensordnungen der alten Gesellschaft (Grund-, Stadt-, Kirchen-[Kloster-]Herrschaft) freigesetzt; es bleibt — und tritt dadurch besonders hervor — die Herrschaftsbeziehung Monarch (Landesherr) — Untertan, die eine unmittelbare wird und sich, im Zuge der gedanklichen Verselbständigung der . staatlichen'Herrschaftsbefugnis gegenüber der Person des Monarchen, zur Beziehung Staat—Untertan umformt. Das Prinzip, das zur Verwirklichung drängt, ist folgendes: Nicht mehr bestimmte einzelne sollen über andere einzelne Herrschaftsgewalt ausüben, nicht ein Stand (Adel) über einen anderen (Bauern), sondern nur der Träger der umfassenden staatlichen Gewalt einheitlich gegenüber allen; im übrigen ist der einzelne .frei', das heißt frei von anderer als staatlicher Herrschaftsgewalt. Das entspricht der Sozialtheorie und Staatsbegründung des Vernunftrechts, die die ursprüngliche Freiheit und Gleichheit des Individuums als Prämisse setzt und über den Individuen nur eine, und zwar einheitliche Ent-scheidungs-und Ordnungsgewalt begründet, der alle in gleicher Weise unterworfen sind

Diese Umbildung der Gesellschaft macht aus den Ständen, die bis dahin herrschaftlich-politische Bildungen und gegeneinander abgeschlossene Rechtsklassen waren, soziale Schichten. Soweit sie noch einzelne Herrschaftsrechte behaupten, wie z. B.der grundbesitzende Adel in Preußen die gutsherrliche Gerichtsbarkeit bis 1848 und die gutsherrliche Polizei bis 1878, sind sie . privilegierte'Untertanen, mit Vorzugsrechten gegenüber den anderen. Der Maßstab, von dem aus ihre Stellung nunmehr als Privileg erscheint, ist der der rechtlichen Gleichheit, und zwar sowohl in der Unterordnung aller einzelnen unter die eine Staatsgewalt als auch in der Unabhängigkeit der einzelnen im Verhältnis zueinander: die „Subjekt" -stellung im doppelten Sinn.

Auf diese Weise entsteht die neue, dem Staat als der Organisation der einheitlichen politischen Herrschaftsund Entscheidungsgewalt gegenüberstehende Gesellschaft der .freien'und rechtlich gleichen einzelnen und ihrer Gruppierungen. 3. Der organisatorische Ausbau der einheitlichen Staatsgewalt bringt nicht nur eine Konzentrierung und Erweiterung der politischen Herrschaftsrechte zu einer umfassenden politischen Entscheidungsgewalt und die Verselbständigung und . Objektivierung'dieser Entscheidungsgewalt gegenüber der Person und dem Belieben des Monarchen er bringt auch eine Bindung und Begrenzung dieser Ent-scheidungsgewalt. Das ist die andere, nicht selten übersehene Seite der Entwicklung. Diese Bindung und Begrenzung erfolgt durch die Aufstellung und Verbindlichmachung grundlegender Staatszwecke; diese Staats-zwecke begleiten di'e Errichtung und den Ausbau der Staatsgewalt von Anfang an Sie sind es, die das „Um-willen" des Staates ausmachen, die die Unterwerfung der einzelnen unter die sich konzentrierende staatliche Macht und Entscheidungsgewalt sinnvoll begründen und den Staat als Institution der Allgemeinheit von einer zufälligen Machtzusammenballung unterscheiden. Es ist die Funktion dieser Staatszwecke, die Ziele und die Reichweite der organisierten staatlichen Entscheidungsgewalt gegenüber den einzelnen und der freigesetzten Gesellschaft zu bestimmen und zu begrenzen. Der einzelne und die Gesellschaft sollen dem Zugriff des Staates, seiner Organisierung und Aktualisierung individueller Verhaltensleistungen nicht total, das heißt in jeder Hinsicht, sondern nur in bestimmter Hinsicht und bestimmten Bereichen, eben jenen, die für die Erreichung der Staatszwecke notwendig sind, unterworfen sein. Was jenseits dessen liegt, bleibt in einem spezifischen Sinn vor-staatlich, von staatlicher Organisierung und Aktualisierung frei: die Freiheitssphäre der Individuen und der Gesellschaft. Ihren Niederschlag findet diese Bestimmung und Begrenzung der staatlichen Entscheidungsgewalt in den individuellen Freiheitsrechten, am nachdrücklichsten in der französischen Erklärung der Menschen-und Bürgerrechte vom 4. 8. 1789 Sie sind Richtmaß und Ausgrenzung für die Freiheit der Individuen, aber auch für die Freiheit der Gesellschaft als der Individuen in ihrem sozialen Zusammenhang 4. Mit der Herausbildung des Sich-Gegenüber-stehens von , Staat'und . Gesellschaft'ergibt sich ferner (zugleich) das Problem des Anteils der Gesellschaft an der staatlichen Entscheidungsgewalt und ihrer Ausübung. In ihrer Entstehung war die Gesellschaft zunächst von der staatlichen Herrschaftsorganisation und den sie tragenden Schichten streng gesondert. Der Staat setzte die Individuen und die Gesellschaft in die bürgerliche Freiheit, er erhielt sie darin durch die Schaffung und Gewährleistung der neuen allgemeinen Rechtsordnung, aber die einzelnen und die Gesellschaft erlangten keine politische Freiheit, das heißt keinen Anteil an der beim Staat konzentrierten politischen Entscheidungsgewalt und keine institutionalisierte Möglichkeit der aktiven Einflußnahme auf sie. Der Staat als Herr-Schaftsorganisation stand gewissermaßen in sich selbst, das heißt soziologisch getragen von Königtum, Beamtentum und Heer, teilweise auch dem Adel und war als solcher von der durch das Bürgertum repräsentierten Gesellschaft organisatorisch und institutionell . getrennt'.

Diese Verhältnisbestimmung und Zuordnung von Staat und Gesellschaft entsprach der Phase des Spätabsolutismus und frühen Konstitutinnalismus, vor allem in Deutschland. Aber sie bezeichnete nur eine bestimmte historische Phase, nicht das Prinzip dieser Zuordnung. Schon die französische Erklärung der Menschen-und Bürgerrechte, Art. 6 ging davon aus, daß die staatliche Gesetzgebungs-Gewalt als das wesentliche Ordnungs-und Lenkungsmittel des Staates für die Gesellschaft, not-wendig gebunden sei an die Zustimmung des Volkes bzw. von ihm gewählter Repräsentanten. Das bedeutete die Forderung und Anerkennung der Einflußnahme auf den Staat bzw. das. sogenannte Staatshandeln durch die Gesellschaft und aus der Gesellschaft heraus. In die gleiche Richtung zielten die konstitutionellen Verfassungen, indem sie das Erfordernis der Zustimmung der Volksvertretung zu allen Gesetzen bzw. zu solchen, die „Freiheit und Eigentum der Bürger" betreffen, festlegten und ebenso die frühliberale und nachhegelsche Staatslehre, die die bestimmende Teilnahme der Bürger an der gesetzgebenden Gewalt zu einem wesentlichen Begriffsmerkmal des Gesetzes selbst zählte An die Stelle einer strikten Trennung im Sinne des vielbe-rufenen „Dualismus" von Staat und Gesellschaft trat eine verfahrensmäßig und institutionell ausgeformte Wechselbeziehung zwischen Staat und Gesellschaft auf der Grundlage ihrer organisatorisch-institutionellen Unterscheidung. Welche konkrete Ausgestaltung diese Wechselbeziehung je nach der politischen und verfassungsrechtlichen Lage annehmen konnte und daß sie den Übergang zur demokratischen Staatsform keineswegs ausschloß, hat dann bereits 1850 L. v. Stein in seiner . Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich', in der er die allgemeine Entwicklung in Europa am paradigmatischen Beispiel Frankreichs voraus-greifend analysierte, dargetan

II. Der Inhalt der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als verfassungsorganisatorisches Prinzip

Die Betrachtung der historisch-politischen Grundlagen der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft und des geschichtlichen Entwicklungsgangs, in dem sie sich herausgebildet und ihre nähere Ausgestaltung erfahren hat, läßt erkennen, daß der Inhalt der Unterscheidung und Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft nicht eine strikte . Trennung', geschweige denn Beziehungslosigkeit oder Unverbundenheit zwischen beiden Größen sein kann. Das wird durch systematische Überlegungen noch weiter bestätigt.

1. Der Staat ist, wie andere politische Ordnungsgebilde auch, seinem Wesen nach keine substantielle Einheit, auch kein . Gemeinwesen', wie eine heute verbreitete Kennzeichnung lautet, sondern eine Organisation, genauer: eine organisierte Wirkeinheit Das besagt, daß er seine Einheit und Realität nicht in einem (hypostasierten) einheitlichen Willen oder einer sozialpsychischen Erlebniseinheit hat, sondern in einem organisierten Handlungs-und Wirkungszusammenhang. Als organisierte Wirkeinheit entsteht der Staat da-durch, daß einzelmenschliches Wirken durch leitende Organe zusammengefaßt, einheitlich gelenkt bzw. ausgerichtet und aktualisiert wird. Er kann also nicht unabhängig von menschlichen Personen gedacht werden, die im eigentlichen Sinn seine „Träger“ sind, das heißt, die den organisierten Handlungs-und Wirkungszusammenhang, als der er sich darstellt, durch ihr planendes, entscheidendes, ausführendes Handeln aktualisieren und verwirklichen. Diese menschlichen Träger kommen indessen selbst aus der Gesellschaft bzw. aus einer bestimmten Schicht oder Gruppe der Gesellschaft. Sie können zwar, indem sie sich ihre staatliche Aufgabe und Rolle, nämlich die Angelegenheiten der Allgemeinheit zu besorgen, ganz zu eigen machen, ihre gesellschaftliche Gebundenheit und Interessenlage „überschreiten", sich dazu in ein Verhältnis der Distanz setzen aber sie hören nicht schon eo ipso auf, auch Glieder der Gesellschaft zu sein. Es besteht immer die Möglichkeit und Gefahr, daß sie die staatlichen Herrschafts-und Entscheidungspositionen nicht nur im Sinne der notwendigen allgemeinen Angelegenheiten, sondern auch (oder primär) zugunsten partikulärer, gesellschaftlich-gruppenmäßiger Ziele handhaben und aktualisieren Auf der anderen Seite ist der Staat, als organisierte politische Entscheidungseinheit, in seiner Tätigkeit funktional auf die Gesellschaft bezogen. Er nimmt für die Gesellschaft eine notwendige, ihren Bestand bedingende Erhaltungs-, Sicherungs-und auch Veränderungsfunktion wahr indem er Verfahren und Instanzen zur friedlichen Konfliktregelung bereitstellt (Rechtsschutz und Rechtsdurchsetzung), indem er durch Gesetze die Rahmen-ordnung festlegt und garantiert, innerhalb deren die freie, staatlich nicht gelenkte Tätigkeit und Entfaltung der Gesellschaft sich abspielen kann, indem er Gefahren für den Bestand und die Sicherheit der Gesellschaft durch eingreifende oder vorbeugende (planend-ko-ordinierende) Maßnahmen abwehrt. Staat und Gesellschaft sind also nicht zwei je geschlossene, voneinander isolierte Verbände oder Gemeinwesen der Staat ist vielmehr die politische Entscheidungseinheit und Herrschaftsorganisation für eine Gesellschaft (oder, wenn man will, „über" ihr); er steht notwendiger und mannigfacher Wechselbeziehung mit dieser, ohne darum aufzuhören, von ihr organisatorisch und funktional unterschieden und gesondert zu sein. Diese organisatorische Zusammenfassung und Verselbständigung der politischen Entscheidungsfunktionen, ihre relative Herauslösung aus gesellschaftlicher Unmittelbarkeit ist es gerade, die einerseits die innerstaatliche Friedenseinheit möglich macht, andererseits die wirksame funktionale Reduzierung und Zweckausrichtung aller politischen Entscheidungsgewalt zugunsten der individuellen Freiheit. Erst im totalitären System, wenn dem staatlichen, das heißt herrschaftlich-politischen Zugriff auf individuelle Verhaltensbereiche und die Verhaltensaktualisierung der Individuen keine Grenze mehr gezogen ist, ihm nichts mehr im eigentlichen Sinn voraus-liegt, fallen Staat und Gesellschaft ineinander und kommt es zur sog. „Identität" von Staat und Gesellschaft; sie bedeutet zugleich das Ende der individuellen Freiheit. 2. Damit wird deutlich, daß die vielfache Kritik an der Unterscheidung und Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft weitgehend von falschen Voraussetzungen ausgeht. Diese falschen Voraussetzungen beruhen einmal auf der Auffassung, daß es sich bei der Unterscheidung und Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft um eine solche von zwei Verbänden oder Gemeinwesen handelt zum anderen darauf, daß unterstellt wird, der notwendige Inhalt dieser Unterscheidung und Gegenüberstellung sei eine strikte Trennung und Unverbundenheit Das führt dann dazu, daß eine bestimmte Phase in der konkreten Ausgestaltung des Beziehungsverhältnisses von Staat und Gesellschaft, nämlich die des Spät-absolutismus und frühen Konstitutionalismus, mit der Unterscheidung und Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft überhaupt gleichgesetzt wird. Da die Voraussetzungen jener Phase heute in der Tat entfallen sind, wird demzufolge die Unterscheidung und Gegenüberstellung im ganzen für überholt erklärt. Die Blickverengung des Ausgangspunkts läßt übersehen, welche institutioneilen Freiheitssicherungen dabei mit für überholt erklärt werden, weil sie durch die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft bedingt sind

Exkurs: In der modernen Soziologie, insbesondere soweit sie systemtheoretisch geprägt ist, hat sich der Sprachgebrauch durchgesetzt, den Staat als ein „Untersystem“ der Gesellschaft zu bezeichnen, und zwar als dasjenige Unter-system, dessen Funktion die Produktion politischer Entscheidungen und deren Durchsetzung ist (Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 15 ff.). Hier wird der Begriff „Gesellschaft" weiter gefaßt, nämlich als das Gesamt zwischenmenschlicher Beziehungen. Von diesem Ausgangspunkt, der für die Soziologie als Wissenschaft von sozialem Handeln seinen Sinn hat, ist es dann folgerichtig, vom Staat als einem Teil oder Untersystem der Gesellschaft zu sprechen. Die Unterscheidung und Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft als staatstheoretisches und verfassungsrechtliches Problem, die hier interessiert, ist damit denn auch weder widerlegt noch erledigt; sie wird nur in einem anderen Begriffsrahmen diskutiert (etwa bei Luhmann, a. a. O., S. 17—24). Um terminologischen Mißverständnissen zu begegnen, wäre dieses Problem in der soziologischen Begriffssprache dahin zu formulieren, daß im Zuge einer bestimmten geschichtlichen Entwicklung die poli-tisch-soziale Ordnung der Gesamtgesellschaft in der Weise ausgebildet wird, daß alle politischen Entscheidungsfunktionen bei der Organisationseinheit „Staat" zusammengefaßt und gegenüber anderen Handlungssystemen relativ verselbständigt werden und daß diese Organisationseinheit Staat durch die allein ihr zukommende verbindliche Regulierungs-und politische Entscheidungsfunktion, die auf die anderen Handlungssysteme (Wirtschaft, Kultur, Religion usf.) bezogen ist und sie steuert, diesen Handlungssystemen, das heißt der Gesellschaft i. e. S. nicht gleichgeordnet ist, sondern auf einer anderen Ebene gegenübersteht, weshalb diese Gesellschaft auf den staatlichen Entscheidungsprozeß jeweils Einfluß zu gewinnen sucht. 3. Das Ergebnis der vorangegangenen Überlegungen läßt sich dahin formulieren, daß die Herausbildung der Unterscheidung und das Sich-Gegenübertreten von Staat und Gesellschaft notwendigerweise ein je nach konkreter Ausgestaltung verschiedenartiges, immer aber vorhandenes und wirksames Beziehungsverhältnis zwischen beiden konstituiert. Dieses Beziehungsverhältnis ist zu bestimmen als eine Wechselbeziehung (dialektischer Art) auf der Grundlage einer organisatorischen Unterscheidung und Trennung. Der Staat (als organisierte Wirkund Entscheidungseinheit) gibt und erhält der Gesellschaft ihre (Rechts-) Ord-nung, wirkt in sie hinein und erbringt Leistungen für die Gesellschaft. Die Gesellschaft, das heißt die Individuen als einzelne und in ihren Gruppierungen, ist daher notwendigerweise an der Art der Festlegung und dem Inhalt staatlicher Entscheidungen interessiert. Daraus ergeben sich Aktionsprozesse aus der Gesellschaft auf den Staat hin. Die Gesellschaft, genauer: gesellschaftliche Gruppen oder Wirkbereiche suchen auf die staatlichen Entscheidungsorgane Einfluß zu nehmen, sie sich dienstbar zu machen oder mit eigenen Vertrauenspersonen zu besetzen, um dadurch die staatliche Entscheidungsgewalt und Wirkmacht zugunsten ihrer Interessen zu aktualisieren. Umgekehrt ist der Staat, genauer: die staatliche Organisationseinheit für ihr Wirken, nicht zuletzt für die Effektivität der in ihr getroffenen Entscheidungen, auf die Leistungen und Leistungsbereitschaft der Gesellschaft angewiesen Sie bedarf, um mächtig zu sein, durchaus eines Konsenses in der Gesellschaft für ihre Maßregeln und Entscheidungen. Das notwendige Maß dieses Konsenses ist unterschiedlich, je nach der durch die Staatsform bedingten Ausgestaltung der Wechselbeziehung zwischen Staat und Gesellschaft und nach der Bewußtseinslage in der Gesellschaft; es ist in der Diktatur geringer als in der Demokratie, aber entbehren kann diesen Konsens kein Staat Die leitenden staatlichen Organe einschließlich der sie jeweils tragenden Gruppen suchen daher Einfluß in die Gesellschaft hinein zu nehmen, um deren Leistungsbereitschaft zu erhalten oder zu erhöhen und dadurch die (eigene) staatliche Wirksamkeit zu verteidigen oder zu befestigen; in dem Maße dies gelingt, verstärkt oder erhält sich das Aktionsfeld für staatliche Entscheidungen.

Auch die Realisierung der geistigen und ethischen Gehalte des Staates, in denen die staatliche politische Entscheidungsgewalt letztlich ihre Begründung und Rechtfertigung findet, unterliegt dieser Art Wechselbeziehung; sie ist nicht mit der staatlichen Organisationseinheit ein für allemal, gewissermaßen von selbst, gegeben. Sie wird dadurch bewirkt, daß die jeweiligen Träger der staatlichen Entscheidungspositionen, die selbst in gesellschaftlichen Bezügen stehen bzw. aus ihnen kommen, sich in die Zweckausrichtung und Verantwortlichkeit staatlicher Ämter und Befugnisse hineinstellen, und daß ihr davon getragenes Handeln bei den einzelnen und in der Gesellschaft Widerhall findet in einem lebendigen Engagement für die allgemeinen, d. h. allen gemeinsamen Angelegenheiten. 4. Erkennt man diese spezifische Eigenart des Beziehungsverhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft, so zeigt sich, welches die Grundfrage für seine konkrete Ausgestaltung ist. Sie liegt in der (verfassungsrechtlichen) Festlegung der Art, verfahrensmäßigen Gestaltung und Begrenzung der Einflußnahme aus der Gesellschaft auf den Staat hin, also insbesondere der Organisation und Ausgestaltung des Prozesses der politischen Willensbildung und staatlichen Entscheidung, sowie der Art, Ausgestaltung und Begrenzung der staatlichen Ein-flußnahme und Durchführung staatlicher Entscheidungen in die Gesellschaft hinein. Es ist dies zugleich die Grundfrage der Staats-und Verfassungsform. Diese Festlegung bzw. Ausgestaltung kann, führt man die vielfältigen Variationsmöglichkeiten auf einige Grund-muster zurück, erfolgen im Sinne einer offenen Wechselbeziehung zwischen Staat und Gesellschaft, im Sinne eines einseitig determinierten Beziehungsverhältnisses der Gesellschaft zum Staat hin oder im Sinne eines einseitig determinierten Beziehungsverhältnisses des Staates in die Gesellschaft hinein.

Je nach dem maßgeblichen Grundmuster lassen sich verschiedene Typen oder Modelle der Ordnung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft unterscheiden Das autoritäre Modell zielt auf die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der politischen Entscheidungssphäre des Staates von Einwirkungen aus der Gesellschaft; die staatliche Herrschaftsorganisation wird gegenüber der Gesellschaft als in sich selbst stehend abgesondert, d. h., die den Staat tragende Gruppe steht nicht in Konkurrenz um die Ausübung staatlicher Herrschaftsmacht. — Das demokratisch-liberale Modell geht von einer geregelten Teilnahmemöglichkeit aller an der politischen Willensbildung und einem offenen Zugang zu den staatlichen Entscheidungspositionen aus, ungeachtet der festgehaltenen Grenzen staatlicher Einwirkung auf die Gesellschaft. — Das institutioneile Modell, eine Zwischenform zwischen autoritärem und demokratisch-liberalem Modell, sucht die staatliche Wirkeinheit in konkreten Institutionen zu verkörpern, die nicht von der Gesellschaft streng abgesondert, sondern Institutionen der Vermittlung (Hegel) sind, wie z. B. Beamtentum, berufsständische Korporationen, gemeindliche Selbstverwaltung und auch (aber nicht allein) die Volksvertretung. — Das totalitäre Modell schließlich bedeutet die Aufhebung der Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft; es enthält einerseits eine unbegrenzte Ausdehnung der staatlichen Zuständigkeit, um den herrschaftlich-politischen Zugriff auf das soziale Ganze und das Individuum in allen seinen Lebensäußerungen zu ermöglichen, und macht andererseits den Staat zum reinen Instrument oder Vollzugsorgan einer gesellschaftlichen Gruppe, der Partei, wodurch der Charakter des Staates als übergreifende Organisation, seine Ausrichtung auf die Allgemeinheit aufgehoben wird.

III. Die Unterscheidung von Staat Gesellschaft in der Demokratie

Ungeachtet der bisherigen Überlegungen stellt sich das Problem der Unterscheidung und Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft in der Demokratie, genauer: in einem demokratisch organisierten Staat in besonderer Weise. Nach dem demokratischen Prinzip, wie es auch das GG in Art. 20 II 1 festlegt, muß sich alle staatliche Entscheidungsgewalt auf das Volk zurückführen; sie muß sich vom Volk her konstituieren, durch periodische Wahlen in die staatlichen Entscheidungsorgane oder Entscheidungen des Volkes selbst, und dem Volk gegenüber legitimieren, durch eine Verantwort-lichkeits-und Kontrollbeziehung zum Volk selbst oder von ihm konstituierter Organe. Da aber das Volk, konkret betrachtet, nicht . neben'oder , vor'der Gesellschaft existiert, sondern insgesamt genommen (auch) die Gesell-und schäft ist, welchen Sinn und welche Notwendigkeit soll dann die Unterscheidung und Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft noch haben? Muß sie nicht zu einer Relativierung des demokratischen Prinzips, einer Begrenzung oder sogar teilweisen Aufhebung der jeweiligen Maßgeblichkeit des Volkswillens führen? 1. Die Aufrechterhaltung der Unterscheidung und Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Staat bedeutet nicht die Aufhebung des demokratischen Prinzips, wohl aber eine gewisse Begrenzung und Einbindung desselben zum Zwecke der Sicherung der individuellen und gesellschaftlichen Freiheit. Die demokratische, sich vom Volk her konstituierende Herrschaftsund Entschei-dungsgewalt wird auf diese Weise eingebunden in eine Vermittlung: Einerseits wird die demokratische Willensbildung und Mitwirkungsfreiheit für die Entscheidungen der Organisationseinheit Staat durchgeführt, der Staat wird .demokratischer'Staat, auf der anderen Seite wird die Begrenzung und Funktionsreduzierung der Staatsgewalt im Hinblick auf die individuelle und gesellschaftliche Freiheit, die in der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft angelegt ist, beibehalten. Die Freiheit wird also . doppelt genäht': Zur politischen Freiheit der Mitwirkung und Mitbeteiligung aller an den Entscheidungen der Staatsgewalt tritt hinzu die bürgerliche Freiheit der einzelnen und der Gesellschaft vor bestimmten Zugriffen der Staatsgewalt überhaupt. Eben diese Konstituierung und zugleich Einbindung des demokratischen Prinzips um der doppelten Sicherung der Freiheit willen ist es, für die sich das Grundgesetz entschieden hat, wenn es die Demokratie als rechtsstaatliche, freiheitliche Demokratie verfaßt (Art. 20 II und 28), die Grundrechte auch für den Gesetzgeber verbindlich macht (Art. 1 III) und ihren Kerngehalt für unantastbar erklärt (Art. 19 II, 79 III)

Wird demgegenüber die Funktionsreduzierung des Staates unter Berufung auf den demokratischen Charakter der staatlichen Entscheidungsgewalt aufgegeben, so reduziert sich die Freiheit auf die demokratische Mitwirkungsfreiheit. Denn eine Allzuständigkeit der demokratischen staatlichen Entscheidungsgewalt, eben weil sie demokratisch ist, bedeutet zugleich, daß die Einbeziehung des einzelnen und der Gesellschaft in die staatliche Entscheidungsgewalt total wird. Demokratie heißt dann, daß alle über alle alles beschließen können es gibt nur noch eine (Mitwirkungs-) Freiheit im demokratischen Prozeß, nicht mehr eine Freiheit gegenüber dem demokratischen Prozeß. Das Ergebnis ist die totale Demokratie, in der der einzelne voll und ganz Glied des demokratischen Kollektivs ist, und die eben darum notwendigerweise einen totalitären Charakter annimmt.

An dieser Stelle zeigt sich die Ambivalenz des Begriffs „Demokratisierung" Demokratisierung kann eine sinnvolle politische Forderung sein, wenn sie bedeutet, daß die demokratische Struktur der staatlichen Entscheidungsgewalt verbessert und daß gesellschaftliche Machtpositionen, die die Freiheit anderer oder den demokratischen Staat selbst gefährden, demokratischer Kontrolle unterstellt werden müssen. Bedeutet sie hingegen, daß alle Bereiche gesellschaftlicher Freiheit einer .demokratischen’ Bestimmungsgewalt partieller Kollektive unterstellt werden müssen, um so die Gesellschaft einerseits vom Staat , frei‘ zu machen und andererseits in sich zu demokratisieren, so ist sie eine Wegmarke zum Totalitarismus. Sie löst dann eben jene Konzentrierung der politischen Entscheidungsgewalt bei der staatlichen Organisation auf, die eine notwendige Bedingung zur Sicherung individueller Freiheit ist, gerade um sie gegenüber den Lenkungs-und Vereinheitlichungsansprüchen partieller gesellschaftlicher Kollektive zu gewährleisten. 2. Die praktisch-verfassungsrechtliche Bedeutung der Beibehaltung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft auch im demokratischen Staat liegt nicht allein in der Begrenzung der staatlichen Entscheidungsgewalt als solcher; sie zeigt sich ebenso im Hinblick auf die Organisationsformen der politischen Willensbildung. Geht man davon aus, daß Staat und Gesellschaft in der Demokratie „ineinanderfallen", der Staat „Selbstorganisation der Gesellschaft" wird, so wird die politische Willensbildung, prinzipiell gesehen, weder ein „staatlicher“ noch ein „gesellschaftlicher“, sondern ein einfachhin „öffentlicher“ Vorgang, wodurch beliebige Reglementierungen durch den Staat und beliebige Einfluß-und Autonomieansprüche durch gesellschaftliche Bildungen und damit eine fortschreitende Parzellierung der einheitlichen politischen Entschei-dungsgewalt legitimiert werden Erscheint sie hingegen als ein Vorgang aus der vom Staat unterschiedenen und seinem Zugriff prinzipiell vorausliegenden Gesellschaft auf den Staat hin, so verbieten sich staatliche Einflußnahmen auf diesen Prozeß, die über die Gewährleistung der Rahmenordnung als notwendige Regelung gesellschaftlicher Freiheit hinausgehen. Die politischen Parteien können nicht, ungeachtet ihrer politischen Funktion und ihres Hineinwirkens in die staatliche Organisation, selbst Organe des Staates werden, sondern bleiben notwendigerweise in einer besonderen Zwischenstellung zwischen Gesellschaft und Staat: Aktionsorgane aus der Gesellschaft, soweit sie politisch aktiv wird, auf den Staat hin und in ihn hinein oder, um an ein Wort Lenins anzuknüpfen, „Transmissionsriemen" zwischen Gesell-schaft und Staat Ebenso können die Verbände, als freie Bildungen innerhalb der Gesellschaft, nicht staatlich gelenkt und kann ihr Aktionsfeld nicht eingeengt werden, es sei denn zur verfahrensmäßigen Regulierung von erstrebten Einflußnahmen auf den staatlichen Entscheidungsprozeß, um diesen von Pressionen demokratisch nicht legitimierter Instanzen freizuhalten. Endlich bleiben Gewährleistungen wie Pressefreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung, Vereins-und Versammlungsfreiheit als Bereiche individueller und gesellschaftlicher Freiheit, ungeachtet ihrer eminenten Bedeutung und Funktion für den politischen Willensbildungsprozeß, dem gezielten Zugriff staatlicher Organe, etwa unter Berufung auf eine erstrebte demokratische Funktionserhöhung dieser Grundrechte, verschlossen

IV. Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im Sozialstaat

Führt somit das demokratische Prinzip keineswegs mit Notwendigkeit zu einer Aufhebung der Unterscheidung und Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft, so bleibt die Frage, ob eine solche Aufhebung nicht aus einem andern Grund, nämlich dem Übergang vom bürgerlichen Rechtsstaat zum modernen Sozialstaat, bereits eingetreten ist oder eintreten muß. Kann die zunehmende Steuerung der wirtschaftlichen und sozialen Abläufe durch den Staat, die wachsende staatliche Re-gulierungs-, Ausgleichs-und Verteilungsgesetzgebung zum Zweck der Relativierung sozialer Spannungen und der sozialen Ungleichheit, das sich stets erweiternde Angebot lebenswichtiger Dienst-und Vorsorgeleistungen durch den Staat etwas anderes besagen, als daß die organisatorische Unterscheidung und Trennung von Staat und Gesellschaft fortschreitend unterlaufen wird und sich damit selbst aufhebt?

Die Frage scheint schnell beantwortet, doch die Antwort bedarf genauer Überlegung. Denn die sozialstaatliche Zunahme der Staatstätigkeit, insbesondere die Bereitstellung lebenswichtiger sozialer Leistungen durch den Staat und die soziale Intervention des Staates in gesell-schaftliche Abläufe hinein, ist als solche kein Gegenprinzip zur Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, sondern ihr sachlich und sy-stematisch zugeordnet Die (bürgerliche) Gesellschaft hat ihre vom Staat gewährleisteten tragenden Ordnungsprinzipien, ihre „Verfassung" gewissermaßen, in der Rechtsgleich-heit, der Erwerbsfreiheit und der Garantie des erworbenen Eigentums. Aus der Aktualisierung dieser Prinzipien, die die natürliche und wirtschaftliche Ungleichheit zur vollen, nur durch die gleiche Freiheit des anderen begrenzten Entfaltung freisetzen, ergibt sich mit Notwendigkeit die besitzbestimmte soziale Ungleichheit und, in deren rechtlicher Verfestigung und Fortschreibung durch die Garantie des Eigentums, ein klassenmäßiger Antagonismus in der Gesellschaft. Wird dieser, in der Gesellschaft aus ihrer Verfassung heraus angelegten Entwicklung freier, d. h. vom Staat nicht gehinderter Lauf gelassen, so wird die staatlich gewährleistete und geschützte rechtliche Freiheit und Gleichheit für eine immer wachsende Zahl von Menschen zur leeren Form: Die dem Prinzip nach freieste, auf der Gleichheit des Rechts beruhende Gesellschaft entläßt aus sich die materielle Unfreiheit Der Staat ist daher ganz im Sinne der ursprünglichen Zuordnung von Staat und Gesellschaft, gemäß seiner Funktion als Garant der freien Gesellschaft und ihrer Grundverfassung, zur Intervention, zum gezielten Einsatz seiner hoheitlichen Regulierungsmacht gehalten, um die Gesellschaft vor ihrer Selbstzerstörung zu bewahren Das gleiche Prinzip, demgemäß die Gesellschaft zunächst von herrschaftlich-politischen und korporativen Bindungen freigesetzt, in die Entfaltung ihrer Erwerbsstruktur entlassen wurde, erfordert nun, in einer fortgeschritteneren Phase der Entwicklung dieser Gesellschaft, den sozial aktiven, in die Mechanismen angeblich funktionaler Selbst-regulierung intervenierenden Staat. Der Staat muß der sozialen Ungleichheit, die sich angesichts der Dialektik von Freiheit und Gleichheit auf dem Boden der Gesellschaft immer wieder produziert, entgegenwirken, sie durch sozialen Ausgleich und soziale Leistungen relativieren, um dadurch die individuelle und gesellschaftliche Freiheit und die rechtliche Gleichheit real zu erhalten. „Die Freiheit ist eine wirkliche erst in dem, der die Bedingungen derselben, den Besitz der materiellen und geistigen Güter, als die Voraussetzung der Selbstbestimmung, besitzt."

Nicht anders verhält es sich mit dem durch die industriell-technische Entwicklung eingetretenen Verlust des „beherrschten Lebensraums" das heißt der Autarkie des einzelnen in seinem Lebensbereich. An seine Stelle ist, um die prägnante Formulierung Dieter Suhrs zu gebrauchen, der „soziale Lebensraum" getreten Die daraus resultierende vermehrte rechtliche Regelung individueller Lebensbeziehungen bedeutet aus sich keine Aufhebung individueller und gesellschaftlicher Freiheit durch den Staat, sondern entspricht der Notwendigkeit, die Freiheit der einzelnen und der Gesellschaft nunmehr in den immer dichter gewordenen Sozialbezügen und Sozialleistungen, statt wie früher ihnen voraus, wirksam zu erhalten

Im Hinblick auf die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft ist beide Male nicht entscheidend, daß staatliche Intervention, sozialer Ausgleich durch den Staat und vermehrte rechtliche Regelung der individuellen und gesellschaftlichen Lebensvorgänge stattfinden, sondern welchem Prinzip sie folgen und welchen Grenzen sie dementsprechend unterliegen. Das ist, unter anderen Voraussetzungen, schon von L. v. Stein gesehen worden Es kommt darauf an, ob die Gesellschaft den Charakter des an sich Vorausliegenden behält oder unter Berufung auf die notwendige sozialstaatliche Aktivität von vornherein das soziale Ganze dem staatlichen Lenkungsund Regulierungsanspruch unterstellt wird. Der Umschlag tritt dann ein, wenn diese Maßregeln nicht mehr jeweils ihre Begründung und Begrenzung in der Erhaltungs-und Gewährleistungsfunktion des Staates für die Gesellschaft und ihre Ordnung finden, das heißt zur Sicherung und im Rahmen der Grundverfassung der Gesellschaft erfolgen, um auch die sozialen Voraussetzungen zur Verwirklichung der Freiheit für alle zu schaffen, sondern weitergreifenden politischen Zielen, wie etwa der Übernahme des wirtschaftlich-sozialen Prozesses in unmittelbare staatliche Lenkung folgen. In diesem Fall verliert die Gesellschaft gegenüber dem Staat den Charakter des an sich Voraus-liegenden, das seinem Zugriff nur begrenzt und im Hinblick auf bestimmte Zwecke unterliegt, und wird in ihm aufgehoben. Entscheidend ist also die Maßbestimmung für die soziale Verwaltung des Staates; sie entscheidet über den (offenen oder verdeckten) Umschlag in der Zuordnung von Staat und Gesellschaft

Das Grundgesetz hat solchem Umschlag in die Ununterscheidbarkeit von Staat und Gesellschaft vorbeugen wollen; es hat dem Sozialstaat nicht einfach freies Feld eröffnet, sondern — bewußt — Rechtsstaat und Sozialstaat nebengeordnet, das heißt in ein Verhältnis rechtlicher Verknüpfung und wechselseitiger Begrenzung gestellt Die auf Daseinsvorsorge, sozialen Ausgleich und soziale Umverteilung zielenden sozialstaatlichen Aktivitäten, zu denen Gesetzgeber und Verwaltung ermächtigt und aufgerufen sind dispensieren nicht von den Anforderungen des Rechts-staats, insbesondere seinen Freiheitsverbürgungen für Individuen und Gesellschaft; sie müssen sich in den Rahmen rechtsstaatlicher Gewährleistungen und Begrenzungen einfügen. Das Grundgesetz hat ebenso wie für die Realisierung des demokratischen Prinzips auch für die staatliche Antwort auf die . soziale Frage', die es als verfassungsrechtliches Gebot statuiert, die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft fest-und offengehalten. Aber ist diese damit auch schon wirklich?

V. Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft angesichts der zunehmenden Identifikation von Staat und Wirtschaft

Hier gilt es, einen Vorgang näher ins Auge zu fassen, der mit dem Übergang zum (rechtsstaatlich gebundenen) Sozialstaat nicht identisch ist, jedoch mit ihm in einem engen sachlichen Zusammenhang steht, dabei aber erheblich weiter ausgreift: die zunehmende Identifikation von Staat und Wirtschaft. 1. Diese zunehmende Identifikation hat ihren Grund einmal im industriell-technischen Prozeß selbst, der im gegenwärtigen Expansionsstadium aus seiner immanenten Funktionalität heraus und um seiner Produktivität willen in immer weiter greifende Planungszusammenhänge hineindrängt, um potentiellen Störungsfaktoren im Hinblick auf Produktion und Absatz wegen deren immens wachsender Kosten-dimension zu begegnen Dieser Planungszusammenhang bedarf der Abstützung durch entsprechende Planungs-und Steuerungsvorgänge im staatlichen Bereich, um die relative Verläßlichkeit der wirtschaftlichen Planungsdaten zu sichern, insbesondere der staatlichen Nachfrageregulierung und Marktkrisenverhütung (Konjunktursteuerung) je in Antwort auf den Zyklus der immanenten Wirtschaftsentwicklung.

Zum anderen ergibt sich diese Identifikation aus den neuen sozialstaatlichen Staatsaufgaben. Der Staat soll heute, über den sozialen Ausgleich und die Schaffung der sozialen Voraussetzungen zur Verwirklichung der rechtlichen Freiheit hinaus, umfassende soziale Sicherheit, wachsenden Wohlstand und gesellschaftlichen Fortschritt gewährleisten Diese Erwartung an den Staat ist gegenwärtig allge-mein und begründet in hohem Maße seine Legitimität. Will der Staat diese Ziele, wenn auch nur in Annährung, erreichen, so setzt das ein wachsendes Sozialprodukt voraus. Der Staat ist daher notwendigerweise in hohem Maße an der Wirtschaft interessiert und mit ihr identifiziert. Er muß, um seiner eigenen Aufgaben willen, eine Erhaltungsfunktion für den wirtschaftlichen Prozeß und Progreß übernehmen. Das führt, auch von dieser Seite, zur Nachfrageregulierung und Krisenvorbeugung durch den Staat, das heißt zur staatlichen Global-steuerung des wirtschaftlich-sozialen Prozesses und einer entsprechenden Gesamtplanung.

Diese Steuerungsfunktion durch den Staat kann nicht hoheitlich, durch unmittelbares Gebot oder Verbot erfolgen, sie ist in einem System der freien Wirtschaft nur in Anpassung an die immanenten Steuerungsmittel des wirtschaftlichen Prozesses möglich. Es werden bestimmte und fortschreitend immer weitere Bereiche des wirtschaftlich-sozialen Verhaltens (Investitionen, Konsum, Spartätigkeit) in einen staatlichen Planungszusammenhang und eine darauf bezogene Uberdetermination durch vom Staat ausgehende marktstrategische Datensetzung (Investitionsanreize durch Steuererleichterung, Sparförderung durch Prämiensystem, Konsumdrosselung durch steuerlichen Kaufkraftentzug usf.) einbezogen. Die Mittel, deren sich der Staat dabei bedient, sind solche der Steuerpolitik, Haushaltspolitik, Geldpolitik und Zuteilungspolitik. Sie treffen die einzelnen meist nicht unmittelbar mit Gebot oder Verbot, sondern indirekt, durch Anreize, Erleichterungen, vermehrte oder geminderte Zuteilungen; sie entziehen sich daher nahezu ganz der rechtsstaatlichen Formtypik und Kontrolle Gleichwohl vollzieht sich hier ein fortschreitendes Unterlaufen der Grenzlinie zwischen Staat und Gesellschaft, die auch und primär eine Grenzlinie zugunsten der individuellen Freiheit ist.

In welcher Weise hier Staat und Gesellschaft ineinander übergehen, zeigt die von H. J.

Arndt herausgestellte dreifache Funktion des Parlaments im Verhältnis von Staat und Wirtschaft. Vermöge seines Gesetzgebungs-und Budgetrechts ist das Parlament 1. Träger der globalen Einkommens-und Verteilungspolitik durch Steuer-und Zuteilungsgesetze — hier steht es der Gesellschaft und ihren Interessen in sozialstaatlicher Regulierungsund Ausgleichsfunktion (s. oben IV.) gegenüber; es tritt 2. über die Festlegung der staatlichen Ausgaben und damit der staatlichen Nachfrage am Markt als Teilnehmer am Wirtschaftsprozeß auf, und zwar kraft der Größenordnung des staatlichen Haushalts als marktmächtiger, den Wirtschaftsablauf entscheidend beeinflussender Teilnehmer; ihm obliegt 3. die erwähnte Globalsteuerung des wirtschaftlichen Prozesses, wofür indes keine besonderen, eigenständigen Mittel zur Verfügung stehen, sondern die Mittel zu 1. und 2. eingesetzt werden müssen, nun zwar nicht nach der eigenen Sachlogik dieser Aufgaben, sondern aus einer Uber-Determination zum Zwecke der Global-steuerung heraus. Es liegt im Sinne dieser Uberdetermination, daß z. B. Einkommen, Verdienst, Vermögensbildung, soweit sie vom staatlichen Haushalt bzw. staatlichen Gesetzen abhängen zunehmend nicht mehr allein aus ihrer eigenen Sachlogik, sondern ebenso, wenn nicht primär aus ihrer Funktionsbeziehung zur Regulierung der Gesamtnachfrage (verantwortbare Erhöhung der Kaufkraft; Beispiels-wirkung für Tarifverhandlungen in der Wirtschaft) bestimmt werden, und daß private Unternehmertätigkeit, wenn sie eine bestimmte Größenordnung erreicht, in eine öffentlich relevante umschlägt mit der Maßgabe, daß Verluste und mangelnde Liquidität (Henschel, Krupp) „sozialisiert", das heißt vom Staat übernommen bzw. ausgeglichen werden

(Was natürlich zu der Frage herausfordert, mit welchem Grund dann die Gewinne weiter . privatisiert'bleiben.) 2. Die hier angedeutete Entwicklung könnte die Vorstellung vom Moloch Staat entstehen lassen, der Wirtschaft und Gesellschaft zunehmend in sich einbezieht und beherrscht. Es ist jedoch für die gegenwärtige Identifikation Staat und Wirtschaft kennzeichnend, daß der Staat in eine Dienstfunktion gegenüber dem industriell-wirtschaftlichen Prozeß gerät. Es wächst zwar die Weite seiner Aufgaben, aber in gleichem Maße wächst die Schwäche seiner eigenen Entscheidungsmacht Bei seiner Re-gulierungsund Steuerungsfunktion ist er nicht in der Position des „höheren Dritten", der selbst die Zügel in der Hand hält, sondern Träger einer Komplementärfunktion für den industriell-wirtschaftlichen Prozeß Er setzt nicht seinerseits die für die Entwicklung und Regulierung des wirtschaftlichen Prozesses maßgeblichen Daten, sondern handelt reaktiv auf die aus dem wirtschaftlichen Prozeß ihm gegenüber autonom sich ergebenden Daten und Tendenzen. Subjekt des sogenannten globalen Steuerungsprozesses ist nicht der Staat, sondern der industriell-wirtschaftliche Prozeß selbst; der Staat ist ihm gegenüber . Erfüllungsgehilfe', leistet die Ausfallbürgschaften’, um sein immanentes, auf Wachstum, Produktivität und Ertrag ausgerichtetes Funktionieren zu gewährleisten. Daß diese Kennzeichnung keine polemische Übertreibung ist, wird durch nichts so deutlich wie die Situation der öffentlichen Investitionen. Die öffentlichen, genauer: staatlichen und kommunalen Investitionen sind, im gegenwärtigen System der Identifikation von Staat und Wirtschaft, prinzipiell nachrangig gegenüber den sogenannten privaten, das heißt wirtschaftsimmanenten und gewinnorientierten Investitionen. Dies gilt ohne Rücksicht auf ihre objektive Dringlichkeit für die Allgemeinheit. Sie können in größerem Umfang nur dann angebracht, das heißt als Steigerung der Staatsausgaben effektuiert werden, wenn der industriell-wirtschaftliche Prozeß aus sich selbst rückläufig ist und einer anregenden Nachfrage-ausweitung bedarf. Hält dieser sich aus seinen eigenen Antriebskräften auf der Höhe des Booms oder angemessener Expansion, so hat der Staat kraft seiner Erhaltungsfunktion seinen eigenen Anteil am Markt, und das sind die öffentlichen Ausgaben, als Mittel der gegensteuernden Stabilisierung einzusetzen, das heißt, er muß Enthaltsamkeit üben, um die Konjunktur nicht weiter anzuheizen. Seinerseits hat der Staat indessen keine Möglichkeit, die immanenten Antriebskräfte des wirtschaftlichen Prozesses, zu denen neben den Investitionsentscheidungen der Wirtschaftssubjekte nicht zuletzt auch die Vorverfügung über die Verteilung des Sozialprodukts im Rahmen der Tarifautonomie gehört, zu kontrollieren; er muß sie als ihm gegenüber autonom gesetzte Daten hinnehmen Die Subjekt-Stellung des industriell-wirtschaftlichen Prozesses als solchen, der selbst keiner verbindlichen Verantwortung für die Allgemeinheit unterliegt, wird hier offenbar; der Staat hat die Gewährleistungsfunktion für dessen aus seinen immanent-autonomen Antrieben heraus grenzenlose Selbstentfaltung 59).

Anderseits, oder besser: zugleich wird vom Staat erwartet, daß er in wichtigen Bereichen die Aufgaben der Daseinsvorsorge übernimmt und sich als Träger des gesellschaftlichen Fortschritts ausweist: Er soll eine Vielzahl öffentlicher Einrichtungen, deren die Allgemeinheit bedarf (Schulen, Krankenhäuser, Spielplätze, Altenheime usf). bereitstellen, er soll von sich aus die Entwicklung und Verbesserung der Infrastruktur, auf deren Grundlage erst der industriell-wirtschaftliche Prozeß sich .frei'entfalten kann, betreiben, er soll schließlich einen wachsenden Anteil an den allgemeinen Sozialkosten des industriell-wirtschaftlichen Prozesses (Umweltsicherung, Verkehrssicherung und -erweiterung etc.) übernehmen. Damit ist der innere Widerspruch, den das gegenwärtige System der Identifikation von Staat und Wirtschaft in sich enthält, offenbar: Einerseits wird dem Staat sowohl die Verantwortung für die Regulierung der Gesamtnadifrage (Konjunktursteuerung) als auch die für Daseinsvorsorge und gesellschaftlichen Fortschritt übertragen; anderseits bleibt ihm eine verbindliche Einflußnahme auf die Entscheidung über Investitionen und Investitionsprioritäten sowie über die tarifvertragliche Vorverteilung des Sozial-produkts, die beide unüberholbare Daten für Konjunkturentwicklung, Zielausrichtung der Wirtschaftsproduktivität und möglichen staatlichen Ausgaberahmen setzen, verschlossen. Der Staat soll, kurz gesagt, geben, ohne zu nehmen. Die Kernfrage des gegenwärtigen Verhältnisses von Staat und Wirtschaft ist damit die, ob der Staat Konjunktursteuerung und Vorsorge für den gesellschaftlichen Fortschritt wirksam leisten kann, wenn ihm das Recht der Investitionslenkung (bei allen Folgen, die damit impliziert sind) und der verbindlichen Einflußnahme auf die Tarifautonomie der Sozial-partner vorenthalten wird. Diese Frage kann nur dann nicht verneint werden, wenn hinreichende Gründe die Annahme rechtfertigen, daß das industriell-wirtschaftliche System aus sich selbst in der Lage ist, eine Investitionslenkung und Investitionsprioritäten, die sich an den Belangen der Allgemeinheit orientieren, hervorzubringen, und ebenso eine Selbstregulierung der Tarifautonomie. Entspricht dem die bisherige Erfahrung?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Auffassung hat sich nicht nur bei Politikwissenschaftlern, sondern auch bei Juristen zur communis opinio verdichtet. Vgl. aus jüngster Zeit statt anderer: Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19704, S. 8 ff.;

  2. So Hesse, a. a. O., (Nr. 1), S. 8.

  3. Vgl. etwa O. H. v. d. Gablentz, Staat und Gesell-

  4. Die älteren Lehrbücher der Rechts-und Verfassungsgeschichte haben wie den Staatsbegriff auch die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als eine allgemeine, über die verschiedenen geschichtlichen Epochen hinweg gültige und verwendbare vorausgesetzt; vgl. etwa H. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1. 2, 19062; Schröder — v. Künßberg, Lehrbuch der Deutschen Rechtsgeschichte, 1932 Schwerin-Thieme, Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, 1949; aber auch noch H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1: Frühzeit und Mittelalter, 1952, 19622. Die prinzipielle Kritik dazu ist von Otto Brunner, Land und Herrschaft, zuerst 1939, 3. Aufl. 1943, S. 124 ff., vorgebracht worden; vgl. ferner E. -W. Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder, 1961. — Ebenso werden in der marxistischen Theorie die Begriffe und die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, ursprünglich aus der Analyse der eigenen geschichtlichen Gegenwart entwickelt, zu einem allgemeinen sozialwissenschaftlichen Kategoriensystem verabsolutiert, das für alle sozialgeschichtlichen Formationen zwischen Urkommunismus und klassenloser Gesellschaft Gültigkeit hat.

  5. Siehe dazu jetzt die die versprengten neueren Forschungsergebnisse systematisch zusammenfassende Darstellung bei Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1, S. 178— 201 und 155— 177; früher schon Otto Brunner, a. a. O., (Nr. 4), S. 160 ff.

  6. Vgl. das Auftreten des einheitlichen Begriffs der . Landeshoheit'(ius territoriale), der seiner Tendenz nach umfassenden Charakter hatte im Westfälischen Frieden, IPO Art. V, 30 und Art. VIII, 5 1 die Begründung und Ausformung der suprema potestas’ des Herrschers in der Staatstheorie des 16. — 18. Jh. — Dazu immer noch O. v. Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der natur-rechtlichen Staatstheorien, 1929 4, S. 143 ff., und die abschließende Kodifikation dieser Entwicklung in preußischen ALR von 1794, §§ 1— 4 II 13. Ein zusam menfassender Überblick über die Entwicklung bei G. Oestreich in: Gebhardt-Grundmann, Handbuch der deutschen Geschichte, 1970 %, §§ 91, 100— 104, 108

  7. Otto Brunner, Die Freiheitsrechte in der altständischen Gesellschaft, in: ders., Neue Wege der Ver fassungs-und Sozialgeschichte, 1968 2, S. 187ff E. Angermann, Das Äuseinandertreten von Staat und Gesellschaft im Denken des 18. Jahrhunderts, in: ZPol 1963, S. 89 ff.; neuestens M. Riedel, Zur Theorie und Geschichte des Begriffs . Bürgerliche Gesellschaft’ zwischen Aristoteles und Hegel, 1970

  8. Die Kontinuität zwischen absoluter Monardhie und Revolution unter diesem Aspekt ist schon von Tocgueville, L'ancien regime et la Revolution (Ausg. J. P. Mayer, Paris 1950), Teil I, 2, II, 5u ° herausgestellt worden.

  9. Frühschriften, hrsg. v. Landshut, 1953, S. 196 ff.; dort auch die folgenden Zitate.

  10. Vgl. dazu F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1967 2, S. 267 ff.; H. Conrad, Individuum und Gemeinschaft in der Privatrechtsordnung des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, 1956, insbes. S. 16 f., 22 ff.; Carl G. Suarez, Vorträge über Staat und Recht, 1960, S. 464— 68.

  11. Das Vehikel dieser Objektivierung und Verselbständigung, die, wie H. Heller, Staatslehre, S. 132, richtig feststellt, zum Ausschluß von Eigentum an Herrschaftsund Verwaltungsmitteln und der Privatnützigkeit von Hoheitsrechten führt, war der Amtsgedanke. Er trug auch die Verselbständigung der Herrschaftsbefugnisse zur . persona moralis'und, in einer weiteren Phase, die Ausbildung einer gegenüber dem Herrscher selbständigen Staatsperson; vgl. dazu jetzt auch H. Quaritsch, a. a. O., (Nr. 5), S. 471 ff., insbes. 479 f.

  12. Dies ist eine der wesentlichsten Leistungen der vernunftrechtlichen Staatslehre, die damit nicht nur Widerhall im allgemeinen Bewußtsein, sondern im 18. Jahrhundert prinzipiell auch an den Fürsten-höfen fand. Wegweisend schon, ungeachtet der absolutistischen Komponente seiner Staatstheorie, Thomas Hobbes, Elementa philosophica de cive, 1647, c. XIII, 6; J. Locke, Two treatises on Government, T. 2, Nr. 124 ff.; I. Kant, Metaphysik der Sitten, T. 2, Anm. A nach § 49; der praktische Niederschlag in §§ 1— 2 II 13 ALR.

  13. Insbes. in Art. 2, der als . but final” des Staates die Gewährleistung der unveräußerlichen Menschenrechte aufstellt, in Art. 4, 6 und 17 (Garantie des Eigentums). Auch die Grund-oder Bürger-rechte der (früh) konstitutionellen Verfassungen haben diese gegen die staatliche Exekutive gerichtete Begrenzungsfunktion; vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1, 1963 2, § 21.

  14. Die Ausrichtung dieser Freiheit erfolgt durch die Französische Revolution und die bürgerliche Freiheitsbewegung in einer spezifischen Weise, die den Charakter der Gesellschaft als Erwerbsgesellschaft begründet; vgl. L. v. Stein, Gegenwart und Zukunft der Rechts-und Staatswissenschaften Deutschlands, 1876, S. 141; ders., Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, Ausg. Salomon, 1921, Bd. 1, S. 415H

  15. Kennzeichnend dafür die Funktionsbeschreibung des Adels (§ 1 II 9) und des Beamten (§ 68 II 11) als Staatsstände und das Verschwinden des Königtums unter dem Begriff . Staatsoberhaupt'im preußischen ALR. Vgl. auch R. Koselleck, Staat und Gesellschaft in Preußen, in: Staat und Gesellschaft in Vormärz, hrsg. v. W. Conze, 1970 2 S. 79 ff.

  16. . La loi est l'expression de la volonte generale Tous les citoyens ont le droit de cancurrir personnellement ou par leurs repesentants ä sa forma tion ... ”

  17. Vgl. E. R. Huber, a a. O„ (N. 13), S. 346 f.; Dietrich Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961, S. 123 ff.

  18. Dazu E. -W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1958, S. 130 f. Der staatstheoretische Gehalt dieses konstitutionellen Gesetzesbegriffs ist am nachdrücklichsten von L. v. Stein, Die Verwaltungslehre, Bd. 1, 1, 2. Aufl. 1869, S. 85 f„ formuliert worden.

  19. Geschichte der sozialen Bewegung, a. a. O., Bd. 3, S; 111— 210 (Die Lehre von der Republik).

  20. Hermann Heller, Staatslehre, 1934, S. 228 ff.; dort auch zum folgenden.

  21. Das war — in seinen großen Tagen — die zwar nicht absolut, aber doch in vergleichsweise hohem Ausmaß verwirklichte herausragende Leistung des Beamtentums.

  22. Eine prägnante Analyse dieses Zusammenhangs bei J. Fijalkowski, Artikel . Herrschaft', in: Evangelisches Staatslexikon, Sp. 758.

  23. M. Draht, Der Staat der Industriegesellschaft, in: Der Staat Bd. 5, 1966, S. 274 ff.

  24. So Ehmke, Staat und Gesellschaft als verfassungstheoretisches Problem, in; Staatsverfassung und Kirchenordnung, Festgabe für Rudolf Smend, 1962, S. 25 f.

  25. Ehmke, a. a. O.

  26. Dieses — auch sonst verbreitete — Mißverständnis bei Hesse, a. a. O., (N. 1), S. 8 f., und Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 1970 4, S. 135, 138.

  27. Siehe dazu insbes. unten Abschnitt III.

  28. Heller, a. a. O., (N. 20), S. 237, 238 f.

  29. Soziologisch gesehen ist ein entscheidender Faktor für das Maß des erforderlichen Konsenses die besondere Leistungsbereitschaft der sog. Exekutionsstäbe, die in einem besonderen Organisationsund Beziehungsverhältnis zu den leitenden Staats-organen stehen. Ist diese (letztlich freiwillige) Leistungsbereitschaft groß, können die leitenden staatlichen Organe eine vergleichsweise weitgehende Herrschaftsanspannung ohne Rücksicht auf vorhandenen Konsens riskieren. Vgl. zum Problem Fijalkowski, a. a. O., (N. 22), Sp. 757 f.

  30. Das Kurzlehrbuch der . Allgemeinen Staatslehre’ von R. Zippelius (2. Aufl. 1970) enthält zu dieser wichtigen Grundfrage einer gegenwärtigen Staatslehre so gut wie nichts.

  31. Eine Konkretisierung dieser Entscheidung stellt der Begriff der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung” dar, wie ihn das BVerfG entwickelt hat, vgl. BVerfGE 2, 1 (12 f.); 5, 85 (140 f.); ferner auch BVerfGE 17, 306 (313 f.) zu der aus dem Rechtsstaatsprinzip fließenden Freiheitsvermutung zugunsten des Bürgers.

  32. Eben darauf läuft die Gesellschaftsvertragsfor-mel bei Rousseau, Contrat social I, 6 hinaus: „Chaeme de nous met en commune sa personne et taete sa puissance sous la supreme direction de la volonte generale; et nous necevons encore diac-gue membre comme partie indivisible du tout". Vgl. auch Julien Freund, Der Grundgedanke der politischen Philosophie von J. J. Rousseau, in: Der Staat 7 (1968), S. 1 ff.

  33. Aus der jüngsten Auseinandersetzung siehe einerseits: W. Hennis, Demokratisierung. Zur Problematik eines Begriffs (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes NRW — Geisteswissenschaften, Heft 171), 1970; H. Maier, Vom Getto der Emanzipation, in: Hochland 62. Jg., 1970, S. 390 ff.; anderseits Ulrich K. Preuß, Zum staatsrechtlichen Begriff des öffentlichen, 1969, S. 166 ff., 184 ff.; H. v. Hentig, Die Sache und die Demokratie, in: Die Neue Sammlung, 9 (1969), S. 101 ff. — Aus der älteren Literatur s. vor allem Franz Neumann, Zum Begriff der politischen Freiheit, in: ders., Demokratischer und autoritärer Staat, 1967, S. 100— 142, insbes. 130 ff.

  34. So Hesse, a. a. O., S. 8, eine Formulierung der Weimarer Zeit aufnehmend.

  35. In dieser Richtung werden die Folgerungen ausdrücklich entwickelt bei Ulrich K. Preuß, a. a O. (N. 33), §§ 9— 13.

  36. Das geltende Parteienrecht, wie es im Parteigesetz von 1967 seinen Niederschlag gefunden hat, ist ein Ausfluß dieser Zwischenstellung und sichert sie normativ ab. Die Parteien gehören von ihrer Entstehung, der Innenorganisation und dem Mitgliedschaftsrecht her in den Bereich der Gesellschaft, unterstehen insoweit grundsätzlich dem Pri-

  37. Die entscheidende Bedeutung, die darin für die Grundrechtsinterpretation liegt, ist offenbar. Siehe — für die Pressefreiheit des Art. 5 GG — E. Friesenhahn, Die Pressefreiheit im Grundrechtssystem des Grundgesetzes, in: Recht und Rechtsleben in der sozialen Demokratie. Festgabe für Otto Kunze, 1969, S. 21 ff.; Hans H. Klein, Öffentliche und prvate Freiheit. Zur Auslegung des Grundrechts der Meinungsfreiheit, in: Der Staat 10 (1971), S. 145ffi für die Versammlungsfreiheit Fritz Ossenbühl, Versammlungsfreiheit und Spontandemonstration, in: Der Staat 10 (1971), S. 53 ff.; anderseits Dietel, A. und Kurt Gintzel, Demonstrations-und Versammlungsfreiheit, 1968 [dazu D. Merten in: Der Staat 9 (1970), S. 274 ff. ].

  38. Grundlegend dazu immer noch L. v. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung, a. a. O. (N. 14), Bd. 1, S. 123 f„ 131 ff.

  39. L. v. Stein, a. a. O. (N. 14), Bd. 2, 72 ff.

  40. Art. 2 der Erklärung der Menschen-und Bürger-rechte erklärt zum Zweck des Staates „la conversa-tion des droits naturels et imprescriptibles de " homme". L. v. Stein formuliert als Prinzip des Staates, wie es in der Französischen Revolution gesetzt wird, die „Erhebung aller einzelnen zur vollsten Freiheit zur vollsten persönlichen Entwicklung" (a. a. O. [N. 14], Bd. 1, S. 35).

  41. L. v. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung, a. a. O. (N. 14), Bd. 3, S. 104.

  42. Ernst Forsthoff, Verfassungsprobleme des Sozialstaats, 1967 2.

  43. Dieter Suhr, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, in: Der Staat 9 (1970), S. 67 ff. (83— 87).

  44. Dazu Suhr, a. a. O., S. 85 f.

  45. L. v. Stein, Handbuch der Verwaltungslehre, Bd. 3, 1887 3, Stein entwickelt hier Begriff und Inhalt der „sozialen Verwaltung", vgl. insbes. S. 34 ff., 45— 48, 82— 86.

  46. Eine solche Maßbestimmung ist nicht möglich ohne eine an den verbindlichen Staatszielbestimmungen orientierte Lehre von den (notwendigen, möglichen und unzulässigen) Staatsaufgaben, die nach wie vor ein Desiderat der Staatsrechtslehre darstellt. Ansätze dazu bei Hans J. Wolff, Verwaltungsrecht I, 1971 8, § 11, S. 53 ff.

  47. Siehe E. -W. Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs. Festschrift für Adolf Arndt, 969, S. 68— 71; ein beachtlicher Konkretisierungsversuch dieser Nebenordnung bei D. Suhr, a. a. O. (N. 43), S. 87 ff.

  48. Das Sozialstaatsprinzip als Auftrag an Gesetzgeber und Verwaltung kehrt in der Judikatur des BVerfG kontinuierlich wieder; vgl. Werner Weber, Die verfassungsrechtlichen Grenzen sozialstaatlicher Forderungen, in: Der Staat 4 (1965), S. 430 ff.; seitdem noch BVerfGE 22, 187 (204).

  49. Siehe dazu J. K. Galbraith, Die moderne Industriegesellschaft, 1968, S. 76 ff., 332— 355. Die Struktur dieses Prozesses entspricht dem von H. Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, 1956, entwickelten Modell „Sekundäres System, vgl. daselbst S. 79 ff.

  50. Schon die Präambel der Weimarer Verfassung proklamierte den Staat als Träger des gesellschaftlichen Fortschritts.

  51. Dazu jetzt die Referate von K. H. Friauf und H. Wagner, Staat und Wirtschaft, in: VVDStRL 27 (1968), S. 1 ff., 47 ff.

  52. Eine Ausnahme besteht für Steuerregelungen, die den einzelnen unmittelbar treffen. Sie sind jedoch kraft des bislang unangefochtenen Prinzips, daß Steuer keine Enteignung ist, vom rechtsstaat-liehen Gewährleistungssystem freigestellt; vgl. Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechts-staats, in: ders., Rechtsstaat im Wandel, 1964, S. 52/53.

  53. H. J. Arndt, „Staat" und „Wirtschaft": Studium generale 21 (1968), S. 712— 733, insbes. 719ff.

  54. Also für die Beamten sowie die Angestellten und Arbeiter des öffentlichen Dienstes, teilweise auch für Alters-und Sozialrentner.

  55. Offensichtlich hatte der Schlieker-Konzern 1961 diese „Umschlags" -größe noch nicht erreicht; auch bei ihm handelte es sich, wie bei Krupp, um Liquiditätsschwierigkeiten, nicht um einen . Bankrott’; die Konkursquote im Konkursverfahren betrug 100’/o. Welches ist das zugrunde liegende Rechts-prinzip für das staatliche Handeln im einen, das staatliche Nichthandeln im andern Fall?

  56. In der Weimarer Zeit wurde dafür von Carl Schmitt die Kennzeichnung (quantitativ) „totaler Staat aus Schwäche" geprägt.

  57. E. Forsthoff, Von der sozialen zur technischen Realisation, in: Der Staat 9 (1970), S. 151 ff.; ders., Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S. 43 ff.

  58. Das ist nicht eine Meinung oder Ansicht, sondern ergibt sich mit notwendiger Konsequenz aus der Zielsetzung (§ 1: gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht = sozialstaatliches Quadrilemma) und den Mitteln (antizyklische Haushaltspolitik und Haushaltsvollzug; Konjunkturausgleichsrücklage bzw. Mehrausgaben; Kreditlimitierung; befristete Steuererhöhungen) des Stabilitätsgesetzes in Verbindung mit der Entscheidungsfreiheit der Wirtschaftssubjekte (Art. 2 I, 12 GG) und der verfassungsrechtlidi abgesicherten Tarifautonomie (Art. 9 III GG). Die staatliche Einwirkungsmöglichkeit reicht hier nur bis zur (rechtlich unverbindlichen) „Konzertierten Aktion" (§ 3 StabG); konjunkturregulierende Steuererhöhungen sind politisch nur in ganz besonderen Ausnahmefällen, nicht als Regelinstrument einsetzbar. 59) Was im Grunde nur eine logische Konsequenz ist, wenn der Staat als Selbstorganisation oder bloße Funktion der Gesellschaft begriffen wird, ohne einen allgemeinen Inhalt.

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Ernst-WolfgangBöckenförde, Dr. jur., Dr. phil., o. Professor an der Universität Bielefeld, geboren am 19. September 1930 in Kassel. Veröffentlichungen u. a.: Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus, Berlin 1958 (Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 1); Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder, Berlin 1961 (Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 1); Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung. Eine Untersuchung zum Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1964 (Schriften. zum Öffentlichen Recht, Bd. 18); Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat, München 1967; zahlreiche Aufsätze in Zeitschriften und Sammelwerken etc., u. a.: Lorenz v. Stein als Theoretiker der Bewegung von Staat und Gesellschaft zum Sozialstaat, in: Festschrift für Otto Brunner, Göttingen 1963, S. 248—-277; Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: Festschrift für Adolf Arndt zum 65. Geburtstag, Frankfurt/M. 1969, S. 53— 76.