Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Chiles Weg zum Sozialismus I. Welthistorische Bedeutung des chilenischen Experiments | APuZ 48/1971 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 48/1971 Artikel 1 Politischer Wandel durch Wahlen: Der Fall Uruguay Die Bedeutung von Wahlen in Lateinamerika am Beispiel der „demokratischen" Wiederwahl ehemaliger Diktatoren Chiles Weg zum Sozialismus I. Welthistorische Bedeutung des chilenischen Experiments

Chiles Weg zum Sozialismus I. Welthistorische Bedeutung des chilenischen Experiments

Boris Goldenberg

/ 44 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Bei dem Versuch, in Chile einen demokratischen Sozialismus zu verwirklichen, handelt es sich um ein Experiment von welthistorischer Bedeutung. Dieser Anspruch, der dem politisch-sozialreformerischen Unternehmen beizumessen ist, wird einsichtig gemacht, indem auf die Entstehung und Zusammensetzung der Volksfront verwiesen wird, die Salvador Allende an die Regierung brachte, und indem die Volksfront der dreißiger Jahre zum Vergleich herangezogen wird. Die wichtigsten Ereignisse des ersten Regierungsjahres Allendes werden in groben Zügen beschrieben: daraus ergeben sich Perspektiven für die weitere Entwicklung des für Chile angestrebten Sozialismus, damit zugleich aber wird auf die grundlegenden Schwierigkeiten hingewiesen, die sich bei den Reformmaßnahmen abzeichnen und bei dem Versuch eintreten werden, den Sozialismus im Rahmen einer repräsentativen Demokratie aufzubauen.

Der 4. November 1970 ist für Chile insofern ein historisch bedeutsames Datum, als dort an diesem Tag der Sozialist Salvador Allende das Amt des Präsidenten übernahm. Er tat dies im Namen einer Volksfront, die sich zum Ziel gesetzt hatte, den Kapitalismus zu überwinden, der Abhängigkeit des Landes vom ausländischen Kapital ein Ende zu bereiten und den Weg zum Sozialismus zu beschreiten, nachdem er — den Spielregeln der pluralistischen, repräsentativen Demokratie gemäß — an die Spitze des Staates gelangt war. Allende versprach, sich zur Erreichung seiner Ziele legaler Mittel zu bedienen und die Freiheit nicht aufzuheben. Damit wurde Chile zum ersten Land, in dem ein Modell verwirklicht werden soll, das auch die Kommunisten Italiens und Frankreichs anstreben, demokratisch, als Teil einer Volksfront an die Macht zu gelangen und einen demokratischen Sozialismus aufzubauen.

Solange freilich dieses Ziel nicht erreicht ist, ist Chile das einzige Land, in dem der Versuch unternommen wird, ohne Gewalt und Diktatur zu einem System zu kommen, das sich entscheidend von jenem unterscheidet, das wir etwa aus dem europäischen Osten kennen. Salvador Allende hat dies selbst in einer Botschaft ausgedrückt, die er Ende Mai 1971 an das Parlament seines Landes richtete: „Chile befindet sich heute vor der notwendigen Aufgabe, eine neue Art des sozialistischen Aufbaus zu beginnen: unseren revolutionären Weg, den pluralistischen Weg, zu beschreiten, der von den Klassikern des Marxismus vorausgesehen, bisher aber nirgends verwirklicht wurde. Die sozialen Denker haben angenommen, daß die am meisten entwickelten Länder, wahrscheinlich Italien und Frankreich, mit mächtigen marxistischen Arbeiterparteien diesen Weg durchlaufen würden Aber die Ge-schichte gestattet einmal mehr, mit der Vergangenheit zu brechen und ein neues Modell der Gesellschaft nicht nur dort zu erbauen, wo es theoretisch am wahrscheinlichsten schien, sondern wo die günstigsten konkreten Voraussetzungen entstanden waren. Chile ist gegenwärtig die erste Nation der Erde, die dazu aufgerufen ist, ein zweites Modell zum Über-gang in eine sozialistische Gesellschaft zu verwirklichen ... Ich bin dessen gewiß, daß wir sowohl über die erforderliche Energie als auch über die Fähigkeiten verfügen, die erste durch Demokratie, Pluralismus und Freiheit gekennzeichnete sozialistische Gesellschaft zu schaffen." Für die Klassiker des Marxismus war Sozialismus ohne Demokratie undenkbar. Die proletarische Diktatur betrachteten sie als eine verhältnismäßig kurze Übergangsperiode zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Ihrer Auffassung nach würde das Proletariat nur in einer hochentwickelten Wirtschaft und Gesellschaft siegen, dort, wo die Bedingungen für den Sozialismus herangereift waren. Die Weltgeschichte hat bekanntlich einen anderen Weg genommen: Revolutionäre, die unter dem Banner des Marxismus kämpften, kamen zunächst gerade in rückständigen Ländern an die Macht, die sich als „schwächste Kettenglieder" des kapitalistischen Weltsystems herausgestellt hatten. Diese Rückständigkeit machte den Aufbau eines demokratischen Sozialismus unmöglich. In gewissem Sinne wurde das, was man Sozialismus nannte, zum Ersatz für den Kapitalismus, statt dessen Nachfolger zu sein. Das, was viele als „bürokratische Entartung" des Sozialismus ansehen, war also die Folge der Rückständigkeit.

Nun ist Chile zwar kein hochentwickeltes Land: Nur ein Viertel seines Sozialprodukts wird von einer Industrie erstellt, in der die Kleinbetriebe überwiegen. Das Pro-Kopf-Einkommen der Chilenen wird auf nur 600 Dollar im Jahr geschätzt (das Spaniens auf etwa 800 Dollar) und seine landwirtschaftlich tätige Bevölkerung ist weit größer als die in modernen Industriestaaten. Aber andererseits leben weniger als 30 v. H.der Erwerbstätigen von der Landwirtschaft. Nur etwa 10 v. H.der Chilenen sind Analphabeten, und 90 v. H.der schulpflichtigen Kinder werden eingeschult (wenn auch sehr viele von ihnen nach wenigen Jahren wieder von der Schule fernbleiben). Chile verfügt über eine ungemein starke Mittelschicht und eine beachtliche Zahl von Universitätsabsolventen und Spezialisten aller Art Seit Jahrzehnten funktioniert hier eine pluralistische Demokratie mit einer Vielzahl von Parteien, einem Zweikammer-Parlament und einem jeweils für die Dauer von sechs Jahren frei gewählten Präsidenten an der Spitze des Staates. Seit langer Zeit gibt es hier eine freie Presse, ein unabhängiges Gerichtswesen, ein Heer, das darauf verzichtet hat, als besondere Kraft in die Politik einzugreifen, und eine Bürokratie, die zwar nicht gerade als besonders effizient gilt, die aber bis auf wenige Ausnahmen auch nur in sehr geringem Maße zur Korruption neigt.

Nicht weniger bedeutend ist die Tatsache, daß es in Chile seit langem keine „liberale Marktwirtschaft" gibt: 70 v. H. aller Investitionen entfallen auf die öffentliche Hand, und viele wichtige Betriebe gehören dem Staat, der die Gesamtwirtschaft auch kontrolliert. Ebenso wichtig ist — vom Standpunkt der Sozialisten aus gesehen —, daß der Staat trotz seiner Stärke von seiner Macht nur unzureichend Gebrauch gemacht hat. Der neue Wirtschaftsminister, Pedro Vuscovic, schrieb in einem, im März dieses Jahres erschienenen Artikel in der Zeitschrift Panorama Economico: „Es ist gerade die Existenz eines großen staatlichen Wirtschaftssektors und zugleich der Umstand, daß bisher die Möglichkeiten des Staates, die Wirtschaft zu leiten und zu kontrollieren, nicht voll ausgenutzt wurden, was . . . die chilenische Situation von derjenigen unterscheidet, die in anderen Ländern vorhanden war, in denen der Weg zum Sozialismus beschritten wurde.“

Dazu kommt, daß — nicht zuletzt als Folge der vom Staat betriebenen protektionistischen Wirtschaftspolitik — in der Industrie starke monopolistische Tendenzen vorhanden waren und sich somit einheimische Unternehmen entwickelten, die de facto den Markt beherrschten. Das schien einen weiteren und recht günstigen Ausgangspunkt für eine sozialistische Wandlung abzugeben, wie es SalvadorAllende in einem Gespräch mit Regis Debray ausdrückte, das er Anfang Februar 1971 führte: „Eines der Kennzeichen des chilenischen Kapitalismus ist sein stark monopolistischer Charakter. In der Industrie verfügen zum Beispiel weniger als 3 v. H. aller Unternehmen über mehr als 50 v. H. aller Ressourcen. Die Mehrzahl der Unternehmen wird überdies von einer Handvoll industrieller, kommerzieller und finanzieller Gruppen bestimmt, die ihre Herrschaft auch noch über andere Wirtschaftszweige ausüben. Der Staat hat eine lange Tradition der Intervention in die Wirtschaft. Er verfügt über zahlreiche eigene Betriebe, kontrolliert die Preise, die Versorgung, den Außenhandel und so weiter. Dank der Monopole und des Staatskapitalismus befinden wir uns somit im Vorzimmer des Sozialismus."

Natürlich war auch die Tatsache, daß Chile nur ein kleines Land ist, für den wirtschaftlichen Fortschritt ein Hemmschuh. Das Land bietet mit seinen knapp zehn Millionen Einwohnern nur einen unzureichenden Markt für sich entwickelnde Industrien. Außerdem war die chilenische Wirtschaft in ungemein hohem Maße vom Weltmarkt — und speziell von den Möglichkeiten des Kupferexports und den zu erzielenden Kupferpreisen — abhängig. Das müßte auch vom Standpunkt einer sozialistischen Zukunft als wichtig erscheinen, denn gewiß war in Chile, weniger noch als in anderen Ländern wie zum Beispiel Rußland, der Aufbau des Sozialismus in einem Land unmöglich.

Immerhin konnten die Schwierigkeiten durch engere Zusammenarbeit, vielleicht durch Arbeitsteilung mit anderen, zum Teil mit Chile im Andenpakt zusammengeschlossenen südamerikanischen Ländern und auch mit dem europäischen Ostblock vermindert, wenn auch nicht behoben werden, so daß sich aus diesen Faktoren kein Hindernis für den sozialistischen Aufbau zu ergeben brauchte.

Wenn so der Aufbau des Sozialismus als objektiv möglich erschien, warum betrachtete es die große Mehrheit der Chilenen (nicht nur die Parteien der Volksfront, sondern auch die Christdemokraten als notwendig, den sozialistischen Weg zu beschreiten? Die Antwort ergibt sich aus der Tatsache, daß das in Chile existierende Wirtschaftsund Gesellschaftssystem zu einer Fessel des Fortschritts geworden war. Chile erlebte seit vielen Jahren eine starke, von einer hohen Inflationsrate begleitete Stagnation. Das Pro-Kopf-Einkommen wuchs nur sehr langsam, obgleich die demographische Zuwachsrate unter dem lateinamerikanischen Durchschnitt lag. Die große Mehrheit des Volkes lebte in Armut. Die Zahl der Arbeitslosen und vor allem der Teil-und Unterbeschäftigten wuchs ständig, so daß etwa ein Viertel aller Erwerbsfähigen gar keine oder nur unzureichende Arbeitsmöglichkeiten hatte. In den Elendsvierteln der Großstädte sammelte sich eine marginale Bevölkerung, die im sozialen Produktionsprozeß nicht verwurzelt werden konnte. Die Lage auf dem Lande, wo der Großgrundbesitz vorherrschte, war ebenfalls äußerst unbefriedigend. Obwohl das Land sich selbst hätte ernähren können, mußten große Mengen von Lebensmitteln für wertvolle Devisen importiert werden.

Der Grund dafür lag nicht allein in der Vorherrschaft des Großgrundbesitzes auf dem Lande und einigen chilenischen kapitalistischen Gruppen in der Gesamtwirtschaft, sondern vor allem daran, daß Chile ein abhängiges Land war. Sein wichtigster Reichtum, das Kupfer, aus dessen Export etwa 80 v. H. aller Devisen stammten, befand sich in den Händen nordamerikanischer Firmen, die an der Gesamtentwicklung des Landes weit weniger interessiert waren als an hohen Gewinnen, die sie aus dem Lande zogen. Daraus erklärt sich, daß der Kampf gegen den Kapitalismus mit dem Kampf gegen den Imperialismus, daß das Streben nach sozialistischer Umgestaltung mit dem nach nationaler Unabhängigkeit zusammenfällt.

Das war — stark vereinfacht — die Lage Chiles, wie sie der großen Mehrheit der Chilenen erschien die deshalb auch immer stärker von antikapitalistischen und antiimperialistischen Ideen bestimmt wurde.

II. Unidad Populär Entstehung und Zusammensetzung

Im Jahre 1964 war der Christdemokrat Eduardo Frei mit absoluter Mehrheit zum Präsidenten gewählt worden. Er hatte versprochen, eine Revolution in Freiheit durchzuführen, das heißt, bei Aufrechterhaltung der Demokratie weitgehende, an die Wurzeln reichende Strukturreformen zu verwirklichen, die der ausländischen Vorherrschaft ein Ende setzen, die Macht des einheimischen Großkapitals einschränken, den Großgrundbesitz durch eine Agrarreform vernichten, die unterprivilegierten Massen mobilisieren und in die Nation integrieren und die Lage der Volksmehrheit im* Sinne größerer sozialer Gerechtigkeit verbessern würden. Frei hat sehr viel mehr geleistet, als die meisten seiner Gegner heute wahrhab-ben wollen, denn sie waren es, die zur Zeit seiner Regierung alles daran setzten, seine Tätigkeit zu sabotieren. Seine Reformen und die von ihm begonnene Mobilisierung großer Massen erschreckten jedoch die Besitzenden, ohne aber den Appetit der in Bewegung geratenen und von der „linken" Opposition vor-angetriebenen Unterschichten befriedigen zu können. Außerdem trugen seine mehr auf soziale Gerechtigkeit als auf die unmittelbare Hebung der Produktion und der Produktivität gerichteten Maßnahmen zur Stagnation das ihre bei.

In der Politik setzte daraufhin eine Polarisierung ein, die sich bei den Wahlen von 1970 gegen den Kandidaten der Christdemokraten, Radomiro Tomic, auswirkte, dessen Programm im übrigen weitaus radikaler war als das von Eduardo Frei vor sechs Jahren und das sich in vielen wichtigen Punkten mit dem Programm der Unidad Populär genannten Volksfront deckte, deren Kandidat Salvador Allende war. Allende hatte zuvor schon dreimal für die Präsidentschaft kandidiert. Er war Mitbegründer der 1933 entstandenen Sozialistischen Partei, Minister in einem Volksfrontkabinett, das Ende der dreißiger Jahre an die Macht gelangt war, dann Präsident des chilenischen Senats und zudem (obwohl ein Freimaurer) nicht nur Marxist, sondern Marxist-Leninist und erklärter Freund Fidel Castros. Bei den Wahlen von 1964 hatte Allende als Kandidat einer sozialistisch-kommunistischen Einheitsfront (FRAP) knapp 39 v. H. aller Stimmen erhalten und war nur deshalb unterlegen, weil die Mehrheit der konservativ eingestellten Chilenen für Eduardo Frei als das „kleinere Übel“ gestimmt hatten. Als Bannerträger der 1969 entstandenen Unidad Populär setzte Allende sich für den Sozialismus ein, versprach aber, die demokratischen Freiheiten zu erhalten.

Auch Allende trat also für eine Art von „Revolution in Freiheit" ein, die jedoch die von Eduardo Frei in dreifachem Sinne aufheben sollte: aufheben im Sinne von konservieren, negieren und höher heben.

Chile war in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts neben Frankreich und Spanien das dritte Land gewesen, in dem eine Volksfront entstanden war, die dann auch an die Regierung gelangte. Auch damals waren in der chilenischen Volksfront Kommunisten mit Sozialisten und Radikalen vereint gewesen — ähnlich wie das heute ist. Doch die Volksfront jener Zeit hatte einen defensiven Charakter. Sie war auf den Schutz der Demokratie gegen den Faschismus und nicht auf die Überwindung des Kapitalismus gerichtet An ihrer Spitze stand damals die Radikale Partei, die sich vor allem auf die Mittelschichten stützte und mancherlei Ähnlichkeiten mit der Radikal-Sozialistischen Partei der Dritten französischen Republik aufwies (die weder „radikal“ noch in irgendeinem Sinne „sozialistisch" war).

Die heutige Volksfront stellt demgegenüber ein Offensivbündnis gegen Kapitalismus und Imperialismus dar, das unter der Hegemonie von Parteien steht, die sich ausdrücklich zum Marxismus-Leninismus bekennen und sich in erster Linie auf Arbeiter und Angestellte stützen: die Kommunistische und die Sozialistische Partei.

Zu diesen beiden gesellte sich im Jahre 1969 die Radikale Partei sowie eine von den Christlichen Demokraten abgespaltene Gruppe, die sich Movimiento de Accion Populär (MAPU) nannte, und außerdem zwei kleinere Gruppen, von denen die eine „sozialdemokratisch" hieß, ohne auch nur das Geringste mit Sozialdemokratie im europäischen Sinne gemein zu haben. Schon dies weist darauf hin, wie gefährlich es wäre, in europäischen Kategorien befangen zu bleiben und die chilenischen Parteien nach Namen zu bewerten, die zwar europäisch klingen, in Europa aber in einem ganz anderen Sinne verwendet werden.

Die 1935 aus den Reihen der sozial-christlich denkenden Jungkonservativen hervorgegangene „Nationale Falange", die sich erst im Jahre 1957 in die Christlich-Demokratische Partei verwandelte, ist zwar mit den als christlich-demokratisch bezeichneten europäischen Parteien organisatorisch verbunden, vertritt aber seit Jahren einen im Kern sozialistischen „Kommunitarismus“ und lehnt daher Kapitalismus und Imperialismus ab.

Die Radikale Partei, die bereits mehr als hundert Jahre alt ist (obwohl sie ihren ersten Parteitag erst 1888 abhielt), entstand zwar als eine gegen Konservative und Liberale gerichtete radikal-demokratische und vor allem auch laizistische Partei der Ober-und Mittelschichten, proklamierte aber bald ihre besonderen Sympathien für die Arbeiterklasse und nahm sogar eine „sozialistische" Färbung an. Heute ist sie der Sozialistischen Internationale angeschlossen (was zu nichts verpflichtet), wo sie sich ziemlich weit „links“ von ihren Bruderparteien angesiedelt hat. Die meisten ihrer Führer liebäugeln mit dem Marxismus, wenn auch nicht notwendigerweise mit dessen leninistischer Prägung.

Sie war lange Jahre hindurch die stärkste Partei Chiles und hatte etliche Spaltungsprozesse zu überstehen. So entstand zum Beispiel nach 1964 eine weit rechts von ihr beheimatete zum Radikai-Demokratische Partei, die rechten Flügel der chilenischen Politik gezählt wird. Heute bildet die in ihrer stark Radikale Partei geschwächten Form den gemäßigten der Flügel Unidad Populär. Die im Jahre 1933 gegründete Sozialistische Partei ist aus der Vereinigung mehrerer Gruppen hervorgegangen, die sich nach dem Zusammenbruch einer kurzlebigen Sozialistischen Republik (1932) zusammen-schlossen und die alle zwar zum Marxismus tendieren, jedoch starke Einwände gegen die Kommunistische Partei hatten. Auch die Sozialisten haben etliche Spaltungen durchgemacht. Im großen und ganzen stehen sie heute eher links als rechts von den Kommunisten, die ihnen nicht nur allzu eng an die Sowjetunion gebunden und zu sehr bürokratisiert, sondern auch als zu „gemäßigt“ erscheinen, weil sie viel Rücksicht auf die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten und Parteien Chiles nehmen Lange Zeit hindurch hat sich die Sozialistische Partei gewehrt, eine neue Volksfront zu bilden, der auch bürgerliche Parteien, (das heißt genau: die Radikalen) angehören sollten und war für eine Einheitsfront der Arbeiter eingetreten, während die Kommunisten bemüht waren, nicht nur die Radikalen, sondern möglichst auch die Mehrheit der Christdemokraten für die Bildung einer gemeinsamen Front zu gewinnen. Auch die MAPU, die sich in ihrer Mehrheit erst im Verlauf des Jahres 1971 zum Marxismus-Leninismus durchrang, stand eher links als rechts von den Kommunisten und betrachtete Fidel Castro als einen ihrer Helden und Vorbilder. Sozialisten und MAPU unterhielten ferner recht freundschaftliche Beziehungen zu den „castristischen", auf den „gewaltsamen Weg“ eingeschworenen und nicht der Unidad Populär angehörenden Bewegung der Revolutionären Linken (MIR), die ihre Anhänger vor allem aus der Studentenschaft und den Bewohnern der städtischen Elendsquartiere erhielt. Rechts von der Koalition der Unidad Populär standen die Christdemokraten als stärkste Partei des Landes, und wiederum rechts von diesen die bereits erwähnte kleinere Radikal Demokratische Partei und die Nationale Partei, die im Verlauf der sechziger Jahre aus einem Zusammenschluß der ehemaligen Konservativen und der ehemaligen Liberalen hervorgegangen waren.

Bei den Wahlen vom September 1970 erhielt Salvador Allende mit etwas mehr als 36 v. H. aller Stimmen mehr als jeder seiner beiden Gegenkandidaten, aber weniger, als er 1964 auf sich hatte vereinigen können, als die Radikalen noch nicht für ihn eingetreten waren. Das erklärt sich zum Teil daraus, daß die Nationale Partei den Ex-Präsidenten Jorge Alessandri, einen parteipolitisch Unabhängigen, aufgestellt hatte, der im Lande weit über die konservativen Kreise hinaus großes Prestige genoß und etwa 35 v. H.der Wähler für sich gewinnen konnte. An dritter Stelle stand der Christdemokrat Tomi. Da keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit zu erreichen vermocht hatte, mußte das Parlament entscheiden. Nachdem Allende sich bereit erklärt hatte, seine demokratische Überzeugung erneut zu bekräftigen — und zwar in Form eines „Statuts der konstitutionellen Garantien", das in die Verfassung eingefügt wurde —, stimmten die christlich-demokratischen Abgeordneten geschlossen für ihn, so daß er am 4. November 1970 sein Amt antreten konnte.

III. Das Programm der Unidad Populär

Im Programm der Unidad Populär hatte man lesen können: „Chile ist ein kapitalistisches, vom Imperialismus abhängiges Land, das von Sektoren der Bourgeoisie beherrscht wird, die an das ausländische Kapital gebunden sind ... Die Volksregierung stellt sich zur Aufgabe, die Herrschaft der Imperialisten, der Monopole und der landbesitzenden Oligarchie zu beenden und den Aufbau des Sozialismus zu beginnen."

Die in ausländischen Händen befindlichen Unternehmen, aber auch die als Monopole gekennzeichneten chilenischen Firmen — angeblich 150 von den 35 000 Privatbetrieben — sollten enteignet und zusammen mit den bereits im Besitz des Staates befindlichen Unternehmen einen vergesellschafteten Sektor der Wirtschaft bilden, neben dem ein gemischtwirtschaftlicher Sektor entstehen und ein privatwirtschaftlicher weiterexistieren sollte, der freilich innerhalb der zu organisierenden zentralen Planwirtschaft zu funktionieren hätte. Die Agrarreform sollte energisch vorangetrieben, der Boden vor allem (aber nicht ausschließlich) an genossenschaftlich organisierte Landwirte übergeben werden, ohne daß jedoch irgendeine Zwangskollektivierung betrieben werden sollte Aus der Enteignung ausländischer Unternehmen sollte man aber nicht schließen, daß Chile in Zukunft etwa auf ausländisches Kapital und ausländische Direktinvestitionen grundsätzlich verzichten wollte. Der neue Wirtschaftsminister erklärte ausdrücklich auf einer Anfang 1971 zusammengetretenen Tagung der CEPAL (Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika): „Wir verschließen uns durchaus nicht der Teilnahme ausländischer Kapitalien.

Im Gegenteil — wir sind sehr an ihrem Beitrag interessiert, der nicht nur unsere eigene Kapitalbildung ergänzen, sondern uns auch die Assimilierung des technischen Fortschritts erleichtern und uns instand setzen soll, zu aktiven Teilhabern am wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt zu werden."

Die Aufhebung des Privateigentums an den entscheidenden Produktionsmitteln sollte — und das ist wichtig — nicht zu deren Verstaatlichung, sondern zu ihrer Vergesellschaftung führen. Das erläuterte Salvador Allende in seiner bereits zitierten Botschaft an das chile-nische Parlament: „Die Errichtung eines Sektors des gesellschaftlichen Eigentums ist nicht die Schaffung eines Staatskapitalismus, sondern mit dem Beginn des Aufbaus einer sozialistischen Struktur gleichzusetzen. Das gesellschaftliche Eigentum wird gemeinsam von den im Betrieb Beschäftigten und Vertretern des Staates verwaltet werden, die die Tätigkeit des Unternehmens mit der Gesamtentwicklung der Wirtschaft abstimmen sollen. Der gesellschaftliche Sektor soll nicht aus bürokratischen und ineffizienten, sondern aus höchst produktiven Betrieben bestehen, die an der Spitze der Wirtschaft des Landes marschieren werden.'

Gleichzeitig lehnte Allende es jedoch ab, etwas wie den jugoslawischen Weg zu beschreiten; denn es sollte weder Marktwirtschaft noch Autonomie der verschiedenen Unternehmen geben.

Wie aber sollte die politische Ordnung aussehen? Welche Veränderungen sollten von einer Volksfront-Regierung in Angriff genommen werden, um das, was die Marxisten als bürgerliche Demokratie ansahen, in eine andere, ebenfalls demokratische, aber dem Weg zum Sozialismus besser angepaßte institutioneile Ordnung zu verwandeln? Im Programm der Unidad Populär heißt es: „Die revolutionären Veränderungen, die das Land benötigt, können nur verwirklicht werden, wenn das chilenische Volk die Gewalt in seine Hände nimmt und sie tatsächlich ausübt .Was die politische Struktur betrifft, steht vor der Volksregierung die doppelte Aufgabe: die demokratischen Rechte und Errungenschaften der Werktätigen effektiver zu machen und zu vertiefen sowie die gegenwärtig bestehenden Institutionen zu verwandeln, um einen neuen Staat zu schaffen, in dem eben die Werktätigen und (sic!) das Volk die Macht tatsächlich ausüben ... Durch einen auf allen Ebenen zu vollziehenden Demokratisierungsprozeß und eine organisierte Mobilisierung der Massen wird von der Basis aus eine neue MachtStruktur gebaut werden. Eine neue politische Verfassung wird die massive Einverleibung (incorporaciön) des Volkes in die Staatsgewalt institutionalisieren."

An die Stelle des bestehenden Zweikammer-Parlaments sollte eine „Versammlung des Volkes“ treten als höchstes Organ der Staatsmacht. Die Volksvertreter würden ein imperatives Mandat haben, ständig der Kontrolle ihrer Wähler unterliegen und jederzeit abberufbar sein. Die Volksversammlung würde auch die Mitglieder des Obersten Gerichtshofes ernennen. Obgleich im selben Programm die demokratischen Rechte — auch die der Opposition — garantiert werden, das Prinzip der Gewaltenteilung bejaht und der politische Pluralismus festgelegt wird, schien die hier niedergelegte Konzeption der Demokratie nur schwer mit jener „repräsentativen Demokratie" vereinbar zu sein, die Chile seit langem kannte. Die neue Demokratie sollte ja in erster Linie — wenn nicht gar ausschließlich — den Werktätigen zugute kommen, also ausdrücklich nicht allen Staatsbürgern, obgleich der Zusatz „und das Volk" das Bild etwas unklar gestaltete. Während unter „Werktätigen" anscheinend nicht nur Arbeiter, Angestellte, Handwerker und Bauern verstanden wurden, sondern auch „Kleinkapitalisten", die zwar Arbeiter beschäftigen, aber auch selbst in ihren Betrieben mitarbeiteten, blieb unklar, inwiefern auch die sogenannte marginale Bevölkerung, die — wie oben erwähnt — nicht im Produktionsprozeß verwurzelt war und daher nicht als werktätig angesehen werden konnte, nun etwa unter den vagen Begriff „das Volk“ fallen würde.

Ebenso unklar war trotz mancherlei Erläuterungen, wie das Volk direkt die Macht ausüben sollte, was schwer mit dem repräsentativen Charakter einer Demokratie vereinbar war. Die Konzentration aller Macht in den Händen einer Volksversammlung, die ja auch die obersten Richter zu ernennen hatte, schien wiederum trotz allem dem Prinzip der Gewaltenteilung zu widersprechen, während das imperative Mandat der Volksvertreter und ihre ständige Abberufbarkeit offensichtlich aus Lenins Staat und Revolution übernommen waren. Ob und wie in einem solchen System die persönlichen Freiheiten des einzelnen, die Pressefreiheit und die anderen Grundrechte für alle bestehenbleiben könnten, erschien etwas problematisch. Was schließlich den politischen Pluralismus betrifft, so konnte dieser Begriff in mehr als nur einem Sinne interpretiert werden. Man darf schließlich nicht vergessen, daß in manchen „sozialistischen" Staaten, wie etwa in der DDR, offiziell mehrere Parteien zugelassen sind, obgleich nicht viele bereit sein dürften, das dort bestehende System als „pluralistisch" zu bezeichnen. Im übrigen hatte Präsident Allende selbst in seinem Gespräch mit Regis Debray darauf hingewiesen, daß zu einem späteren Zeitpunkt sehr wohl eine Einheitspartei der Revolution entstehen könnte: „Zu einem gewissen Zeitpunkt wird die Dynamik des revolutionären Prozesses die Voraussetzungen für eine Partei der Revolution hervorbringen. Es wäre jedoch utopisch, schon heute von einer solchen Einheitspartei zu sprechen. Später, wenn die Bedingungen ausgereift sind, wird sie sich vielleicht als notwendig herausstellen. Jetzt aber wollen wir innerhalb jener Realität wirken, die gegenwärtig existiert." Wieso die auf die repräsentative Demokratie eingeschworenen Radikalen sich mit den oben erwähnten Formulierungen des Programms einverstanden erklärten, ist nicht ohne weiteres zu verstehen.

Mag sein, daß die Vertreter dieser Partei meinten, es werde schließlich nicht so heiß gegessen wie gekocht, mag aber auch sein, daß sie — wie sehr viele Chilenen — mit dem bisherigen Funktionieren der Demokratie in ihrem Lande unzufrieden waren und nicht darauf achteten, daß hier sozusagen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet worden war. Denn ganz abgesehen davon, ob und inwieweit eine repräsentative Demokratie in einem unterentwickelten Land gut funktionieren kann, funktionierte sie in Chile tatsächlich so schlecht, daß sie zu einer Fessel für die Entwicklung geworden war, was auch die Regierung Frei am eigenen Leibe erfahren mußte. Der Pluralismus gegeneinander auftretender Pressionsgruppen, von denen jede nur an ihre eigenen und unmittelbaren Interessen dachte, verband sich mit dem Pluralismus der Parteien im Parlament und dem Amtsschimmel einer nicht gerade effizienten, zahlenmäßig aber starken Bürokratie, um den Fortschritt zu hemmen. Die Regierung Frei hatte unter anderem darunter gelitten, daß ihr die Oppositionsparteien im Parlament ständig ihre Pläne verwässerten und deren Durchführung auf die lange Bank schoben. So wurde das Agrarreformgesetz der damaligen Regierung erst 1967 vom Parlament verabschiedet. (Aus diesem Grunde klingen die Vorwürfe, Frei hätte statt 100 000 nur 28 000 Landarbeitern tatsächlich auch Land gegeben, recht abwegig, wenn sie von Seiten der damaligen „linken" Opposition erhoben werden.) Ähnliches geschah mit der unter Eduardo Frei begonnenen „Chilenisierung" des Kupferbergbaus. Schließlich war eine Verfas-sungsänderung angenommen worden, die die Möglichkeit eines Volksentscheids und einer vorzeitigen Auflösung des Parlaments vorsah — eine Waffe, die Allende nun brauchen konnte, nicht so sehr, um die repräsentative Demokratie zu reformieren, als vielmehr, um die bürgerliche Demokratie aufzuheben.

IV. Von der Regierungsübernahme zur Machtergreifung

An die Regierung gelangt zu sein, bedeutete für einen Marxisten wie Allende nicht, bereits die Macht erobert zu haben. Davon konnte erst gesprochen werden, wenn alle entscheidenden Positionen in Wirtschaft und Staat fest in den Händen der neuen Regierung lagen, wenn der Staatsapparat tatsächlich den Weisungen dieser Regierung gehorchen würde — und wenn den Gegnern des Sozialismus die Möglichkeiten entrissen waren, den Status quo ante wieder herzustellen. Die Unterscheidung zwischen Regierung und Macht war von zentraler Bedeutung und wies auf den grundlegenden Unterschied hin, der zwischen der nach dem Sieg der Volksfront entstandenen politischen Situation und allen Konstellationen bestand, die sich aus den bisher abgehaltenen Wahlen ergeben hatten. Denn früher war ja stets — ganz im Sinne der „repräsentativen Demokratie" — so verfahren worden, daß den jeweiligen politischen Gegnern die Möglichkeit belassen wurde, bei späteren Wahlen wieder an die Macht zu gelangen. Der Weg zum Sozialismus aber konnte nur beschritten und gesichert werden, wenn ein Weg zurück ausgeschlossen war. Daher mußte der neue Präsident sich'auf zwei grundlegende Aufgaben konzentrieren, die sozusagen parallel zu verwirklichen waren: Er mußte Maßnahmen ergreifen, die der Gesamt-wirtschaft, vor allem aber den unteren Schichten des Volkes zugute kamen (was die Popularität der Volksfront steigern würde); darüber hinaus mußte er von der Regierung aus die Machteroberung betreiben, also die Bastionen des potentiellen Gegners stürmen. Beides sollte im Rahmen der bestehenden Legalität vollzogen werden.

Was die Maßnahmen zugunsten der Volks-mehrheit betraf, so verfügte die neue Regierung zunächst einmal eine sehr beträchtliche Steigerung der Löhne bei gleichzeitigem Einfrieren der Preise für wichtige Konsumgüter. Sie beschleunigte den Prozeß der Agrarreform und ließ pro Tag einen halben Liter Milch an alle Kinder verteilen — eine Maßnahme, die demagogisch zu sein schien, es aber angesichts der weitgehenden Unterernährung der Kinder nicht war. Die Steigerung der Kaufkraft der Massen führte nicht zu einer Steigerung, sondern — wie von der Regierung vorausgesehen — zu einer Verminderung der Inflation. Das wurde nicht nur durch das Einfrieren der Preise bewirkt, sondern ergab sich daraus, daß die auf den Konsum der Massen ausgerichtete chilenische Industrie bislang nur zu 60— 70 v. H. ihrer Kapazität ausgelastet war und nun mit voller Kraft arbeiten konnte, ohne daß ihre Kosten beträchtlich gestiegen wären. Sogar die Gewinne der Unternehmer brauchten nicht geringer zu werden, da ja der Umsatz stieg. Tatsächlich war die industrielle Produktion von Konsumgütern elf Monate nach Allendes Regierungsantritt um ungefähr 10 v. H. gewachsen, während die Inflationsrate um etwa die Hälfte gesunken war und die Arbeitslosigkeit geringer wurde. Was die Agrarreform betraf, so hatte man sich die Enteignung von nicht weniger als 1000 großen und größeren landwirtschaftlichen Gütern für das Jahr 1971 zum Ziel gesetzt — eine Zahl, die nicht zuletzt auf Grund illegaler und von der Regierung nicht gebilligter Landbesetzungen beträchtlich überschritten wurde. Ende September wurde jedenfalls mitgeteilt, es seien bereits mehr als 1300 Güter enteignet worden.

Was den Angriff auf die „Bastionen der Bourgeoisie" betraf, so konnte er aus drei Gründen im Rahmen der verfassungsmäßigen Legalität geführt werden, ohne daß das Parlament neue Gesetze beschließen mußte: 1. weil verschiedene Gesetze auch verschieden interpretiert beziehungsweise in einem Sinn angewendet wurden, der den ursprünglichen Absichten der Gesetzgeber nicht entsprach; 2. weil auf dem Papier noch bestehende, inzwischen vergessene, aber nie ausdrücklich aufgehobene Gesetze der neuen Regierung als Instrument dienen konnten; 3. weil größere Unternehmen, wie zum Beispiel Aktiengesellschaften, durch einfache kommerzielle Transaktionen ihren Eigentümer wechseln konnten.

Die erstgenannte Möglichkeit hatte Allende in seinem Gespräch mit Debray erwähnt: „Die Gesetze, die das Volk diktiert (dicta), sind nicht jene, die die Bourgeoisie diktiert. So hatte die Bourgeoisie beispielsweise Gesetze erlassen, die die Besetzer von Grund und Boden nur mit leichten Geldstrafen belegte, während jene, die den ihnen verlorengegangenen Boden mit Gewalt wieder eroberten (recuperaban), schwer bestraft wurden. Mit anderen Worten: Das Gesetz bestraft nicht jene, die den Boden besetzen, sondern jene, die Boden wieder besetzen. Woher kommt das? Das kommt daher, daß Großgrundbesitzer Land, das Eingeborenen gehörte, besetzen konnten, und der Eingeborene, der dann seinen Boden wiederbesetzte, unter der ganzen Schwere des Gesetzes zu leiden hatte, während die Großgrundbesitzer solche Ländereien (straffrei) besetzen konnten. Die Gesetzgeber der Bourgeoisie hatten nicht daran gedacht, daß eines Tages das Volk die Gesetze anwenden könnte — ihre eigenen Gesetze gegen sie anwenden könnte. Was aber geschieht jetzt? Jene, die Ländereien besetzen, sind Eingeborene, zum Beispiel die Mapuche-Indianer, während die Großgrundbesitzer versuchen, sie mit Gewalt zurückzuerobern.''Was ehemals erlassene und nie aufgehobene Gesetze betraf, so gab es vor allem ein Dekret, das die kurzlebige sozialistische Republik des Jahres 1932 erlassen hatte. Diesem Dekret zufolge konnte der Staat einen Betrieb übernehmen, der nicht im Interesse des Volkes funktionierte und zum Beispiel weniger produzierte, als er hätte produzieren können Es war nicht schwer, die Arbeiter in einigen solcher Unternehmen dazu zu veranlassen, sich in einer Weise zu verhalten, daß die Voraussetzungen für die Anwendung dieses Dekrets gegeben waren. So konnten mehrere Großbetriebe sozusagen „auf kaltem Wege", wenn auch nur vorläufig, bis die legalen Möglichkeiten zur Enteignung geschaffen sein würden, „sozialisiert" werden.

Was schließlich den dritten der erwähnten Wege betrifft, so stellte es sich als möglich heraus, zum Beispiel die Mehrheit der Banken durch staatlichen Ankauf von Aktien in Staats-besitz zu überführen, wenngleich böse Zungen behaupteten, die ehemaligen Aktionäre hätten nicht immer aus freien Stücken verkauft, sondern dem Druck nachgegeben, der auf sie ausgeübt worden sei.

Obwohl die ersterwähnten Veränderungen zugunsten der breiten Volksmassen bereits ihre Auswirkungen sichtbar werden ließen, die zweiten, auf die Machteroberung ausgerichteten, sich erst in ihren Anfängen befanden, blieb die repräsentative Demokratie bestehen. Die demokratischen Freiheiten wurden nicht angetastet, der politische Pluralismus nicht aufgehoben, niemand aus politischen Gründen verhaftet.

V. Allendes Erfolge

Kein Wunder also, daß bei den Gemeindewahlen von Anfang April 1971 die Volksfront einen großen Erfolg verzeichnen konnte. Die Parteien der Unidad Populär erhielten nun etwa 50 v. H. aller abgegebenen Stimmen, wobei 23 v. H. auf die Sozialisten, mehr als 17 v. H. auf die Kommunisten, aber nur etwas mehr als 8 v. H. auf die Radikalen entfielen, was das Gewicht des gemäßigten Flügels innerhalb der Volksfront verminderte und bald zu einer Krise in der Radikalen Partei führen sollte. Audi die Christdemokraten, die mit einem Stimmenanteil von 26 v. H. noch immer die stärkste politische Einzelpartei des Landes darstellten, sollten wenige Monate nach den Wahlen eine neuerliche Abspaltung der Linken erleben, die zur Volksfront hinüberwechselten Das Prestige Präsident Allendes stieg im Verlauf der darauffolgenden Monate auch noch deshalb, weil er seine außen-politischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen vermochte. Zuerst wurden engere Beziehungen zum europäischen Ostblock geknüpft, die DDR anerkannt und die Beziehungen zu Kuba wiederaufgenommen, ohne daß es deswegen zu einer merkbaren Verschlechterung der Beziehungen Chiles zu den Staaten des „Westens" gekommen wäre. Darüber hinaus gelang es Präsident Allende, auch mit dem konservativen Präsidenten des benachbarten Argentinien, General Lanusse, zu einer befriedigenden, im Geiste der Freundschaft Übereinkunft zu gelangen. Er unternahm eine Reise nach Ecuador, Kolumbien und Peru, wo er von den jeweiligen Regierungen freundlich aufgenommen, von der Bevölkerung aber stets begeistert begrüßt wurde. Er kehrte am 4. September, dem ersten Jahrestag seiner Wahl zum Präsidenten, als Triumphator nach Santiago zurück. Hunderttausende säumten die Straße vom Flugplatz bis zum Präsidentenpalais und jubelten ihm zu. Sein Prestige schien einen Höhepunkt erreicht zu haben, der kaum noch zu übertreffen war. Schon einige Wochen vor seiner Reise, am 16. Juli, hatte das Parlament einstimmig, also auch mit den Stimmen der Nationalen Partei, das ihm vorgelegte Gesetz über die Verstaatlichung der in nord-amerikanischen Händen befindlichen Kupfer-firmen beschlossen. Drei Monate später sollte bekanntgegeben werden, ob und welche Entschädigungen gezahlt werden würden.

Was die zu zahlenden Entschädigungen betraf, so erhielt der Präsident das Recht, Berechnungen anstellen zu seit lassen, um die 1955 von den enteigneten Firmen erzielten Profite, eventuelle Extraprofite usw. festzustellen und alles, was die normalen Gewinnspannen überschritt, von der Entschädigungssumme abzuziehen. Ende September erklärte Allende, daß die zu enteignenden Firmen mehr als 770 Millionen Dollar Extraprofite erzielt hätten, die von den Buchwerten abzuziehen seien. Mitte Oktober veröffentlichte dann der Generalkontrolleur der Republik (vergleichbar etwa mit dem Präsidenten des Bundesrechnungshofes) seinen Entscheid, auf Grund dessen den Kupferfirmen so gut wie keine Entschädigung zugesprochen wurde. Als die zu erwartenden Proteste von nordamerikanischer Seite laut wurden, ging durch ganz Chile eine Welle patriotischer Begeisterung, da sich so gut wie alle Chilenen (auch die Angehörigen der Oppositionsparteien) hinter diesen Entscheid stellten. Das führte, wenn auch nur vorübergehend, zu einer gewissen Besänftigung der mittlerweile hart zutage getretenen politischen Gegensätze.

VI. Erste Schwierigkeiten

Trotz der großen Anfangserfolge Allendes begannen bald auch dunkle Wolken aufzutauchen, die den Erfolg des chilenischen Experiments verdüsterten. Zunächst machte sich auf der politischen Bühne, wie zu erwar-ten, eine wachsende Polarisierung bemerkbar. Während von Seiten der Volksfront verständlicherweise vor allem die rechte Opposition attackiert und auch verdächtigt wurde, mit Staatsstreich-Plänen zu spielen, wurde auf der äußersten Linken eine Opposition laut, der die Entwicklung zum Sozialismus nicht schnell genug ging. Diese äußerste Linke bestand nicht nur’ aus der MIR, sondern auch aus anderen, von der MIR abgespaltenen und noch radikaleren Gruppen mit terroristischen Methoden. Angehörige einer dieser Gruppen ermordeten im Juli einen prominenten christlich-demokratischen Politiker. Eine andere Gruppe wurde Anfang Oktober von der Polizei ausgehoben, bevor sie ihre Pläne verwirklichen konnte. An ihrer Spitze stand übrigens ein Mann, der einen hohen Posten in der Eisenbahnverwaltung innehatte und als Mitglied der Sozialistischen Partei bekannt war. Aber auch die MIR, die nicht zu Terrormaßnahmen griff, war darauf bedacht, die Revolution vorwärtszutreiben und aus jener Enttäuschung Kapital zu schlagen, die sich in den Kreisen bemerkbar machen würde, die auf Wunder gehofft hatten. Vor allem tat die MIR alles, um die Agrarrevolution voranzutreiben. Sie organisierte illegale Landbesetzungen und setzte die von der Mehrheit der Chilenen fast vergessenen indianischen Minderheiten der Mapuches in Bewegung.

Die rechte Opposition protestierte wiederum vor allem gegen die Übergriffe auf dem flachen Land, gegen die — nach ihrer Meinung — gesetzwidrigen Enteignungen von Betrieben und gegen die angeblich drohende Einschränkung oder Aufhebung der Pressefreiheit. Mitte September brachte die Nationale Partei eine Beschwerde gegen den Wirtschaftsminister vor das Parlament, der beschuldigt wurde, Unternehmen ohne gesetzliche Grundlage zu enteignen. Präsident Allende gelang es, die Christdemokraten dazu zu bewegen, sich bei der Wahl der Stimme zu enthalten, indem er versprach, dem Parlament bald einen Gesetzentwurf vorzulegen, in dem die drei im Programm der Volksfront erwähnten Wirtschaftssektoren klar definiert und jener monopolistische Sektor klar gekennzeichnet sein würde, der von der Sozialisierung betroffen wäre — ein Versprechen, das Ende Oktober eingelöst wurde.

Das Problem der Pressefreiheit und der Freiheit der Massenmedien tauchte • auf, als der Präsident selbst ungemein scharfe Angriffe auf die konservative Zeitung Mercurio gerichtet hatte und die Christdemokraten die Regierung beschuldigten, der von ihnen beeinflußten Fernsehstation der katholischen Universität die Mittel zu verwehren, um ein Netz von Sendern aufzubauen, das den Empfang ihrer Programme auch außerhalb der Hauptstadt ermöglichen sollte. Außerdem habe die Regierung einer von den Christdemokraten beeinflußten Rundfunkstation einige Frequenzen weggenommen, die einem neuen, von der Gewerkschaftszentrale geleiteten Sender zugesprochen worden seien. Angesichts der von beiden Seiten scharf geführten Polemiken ist mir eine Klärung der Sachlage nicht möglich. Aber es gibt bereits vor diesem Streit abgegebene Erklärungen von Anhängern der Regierungskoalition, die das Problem der Pressefreiheit anders interpretieren als das Programm der Volksfrontregierung. In seinem Gespräch mit Debray hatte Allende etwa gesagt: „Wir werden die in den Händen der Bourgeoisie befindlichen Kommunikationsmittel nicht schließen ... Wir werden veranlassen, daß jene, die in diesen Unternehmen arbeiten und sehen, daß deren Politik sich gegen die Volksregierung richtet, innerhalb der Betriebe Widerstand leisten."

Hier wurde ein Weg angedeutet, den Castro auf Kuba beschritten hatte und der sehr schnell zu einer Gleichschaltung der Kommunikationsmittel führte. Aber auch außer einer eventuellen Mobilisierung der Belegschaften standen der chilenischen Regierung noch ausreichende Mittel zur Verfügung, um den Einfluß ihr nicht genehmer Organe einzudämmen oder sie unter Druck zu setzen. Nur sie verfügte über ein Fernsehnetz, das sich über das ganze Land erstredete. Sie hatte bereits den größten chilenischen Verlag (Zig—Zag) übernommen, besaß eine eigene Tageszeitung und verfügte über eine beträchtliche Zahl von volksfronttreuen Presseorganen. Nur sie konnte bestimmte Subsidien zahlen oder verweigern, wie zum Beispiel die zahlreichen Inserate offizieller Stellen. Aufgrund der Kontrolle über Außenhandel, Banken und Kreditwesen hatte sie die Möglichkeit, die Lieferung von Papier zu lenken und unliebsamen Organen finanzielle Schwierigkeiten zu bereiten. Schließlich ging die Regierung Anfang Oktober daran, die größte chilenische Papierfabrik durch Aufkauf von Aktien in ihren Besitz überzuleiten. Daß die Pressefreiheit im ersten Jahr der Regierung Allende erhalten blieb, kann jedenfalls nicht als Garantie für ihr Weiterbestehen angesehen werden.

Kurze Zeit nach Beginn dieser Auseinandersetzungen wurde eine Korruptionsaffäre aufgedeckt, die sich unter der Regierung Frei ereignet hatte und in deren Mittelpunkt ein Mann stand, dem enge Beziehungen zur Regierung nachgesagt wurden. Die Volksfront-Presse begann daraufhin mit scharfen Angrif47 fen gegen Frei, auf die dieser mit ebensolcher Schärfe antwortete und vor allem die Kommunisten beschuldigte, mit Mitteln der Verleumdung ihre Vorherrschaft festigen zu wollen. Ende Oktober schien — wenn auch nur vorläufig — eine Beruhigung eingetreten zu sein. Diese erklärt sich nicht nur aus der Einstimmigkeit, mit der die Enteignung der Kupfer-gesellschaften akzeptiert wurde, sondern möglicherweise auch daraus, daß einige verantwortliche Politiker der Volksfront einzusehen begannen, daß sie mit ihren Angriffen den Bogen überspannt hatten und ihre Attak-ken nicht zu dem erwünschten Ziel, nämlich der Schwächung oder gar der Spaltung der Christdemokraten, geführt hatten. Der innere Zusammenhalt der Christdemokraten wurde durch diese Kampagne eher gefestigt, und zwei Wahlen, auf deren für sie positiven Ausgang die Volksfront großen Wert gelegt hatte, verliefen anders als erwartet: Im Colegio de Periodistas, der Kollektivorganisation, der fast alle Journalisten angehören, unterlag der Kandidat der Volksfront zugunsten eines Christdemokraten. Auch bei den Wahlen zum Verband der chilenischen Oberschüler (FESES) mußten die Volksfrontkandidaten eine Niederlage hinnehmen: 44 v. H. aller Stimmen fielen auf die Christdemokraten, 36 v. H. auf die Volksfront-Liste, 8 v. H. auf eine links von dieser stehende Revolutionäre Studenten-vereinigung und weitere Stimmen auf die Listen der Nationalen Front und Splitter-gruppen.

VII. Wirtschaftliche Perspektiven

Bedenklicher als solche rein aus der konkreten Lage erwachsenen und nicht sonderlich wichtig zu nehmenden Erfolge der Volksfront-gegner war die wirtschaftliche Situation des Landes. Gewiß wies die Industrieproduktion bis zum Oktober 1971 Steigerung aus, doch war die Zunahme 1971 kaum größer als in den Jahren 1965 und 1966 und stieß nun auf Schranken, die keineswegs leicht zu überwinden waren: Die Kapazitäten waren bereits voll ausgenutzt, und zudem hätte eine weitere Produktionssteigerung beträchtliche Importe erfordert. Die Agrarproduktion wiederum mußte unter der Agrarrevolution leiden, obwohl deren Folgen sich zunächst weniger katastrophal auswirkten, als man hätte erwarten können. Immerhin wird Chile vor der Notwendigkeit stehen, seine Nahrungsmittel-importe zu vergrößern. Bereits seit etwa Juli/August macht sich eine Verknappung der Konsumgüter bemerkbar. Dies führte zur Entstehung eines Schwarzen Marktes, was wiederum die optimistischen offiziellen Zahlen über die gesunkene Inflationsrate zweifelhaft erschienen ließ, denn der zu ihrer Berechnung verwendete Index war auf die offiziellen Preise gegründet und ließ die Schwarz-marktpreise außer acht. Die Regierung — bereits durch einen Lohnstreik beunruhigt, der im nationalisierten Kupferbergwerk El Salvador ausbrach und nur dank Konzessionen und durch persönliches Eingreifen des Präsidenten nach elftägiger Dauer beigelegt werden konnte — war entschlossen, gegen die wachsende Knappheit in der städtischen Versorgung etwas zu unternehmen. Präsident Allende rief zu gesteigerter Produktion auf, und das Problem der Verknappung war einer der wichtigsten Punkte auf einer Tagung der kommunistischen Führung Ende September und einer am 19. Oktober gehaltenen öffentlichen Rede des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei, Corvalän.

Zu besonderer Besorgnis aber gab der Kupfer-bergbau Anlaß: Hier konnten die ursprünglich gesteckten Ziele trotz Produktionssteigerung nicht erreicht werden; die Gestehungskosten waren gestiegen, und außerdem und vor allem war der Weltmarktpreis für Kupfer gefallen und würde — schon im Hinblick auf eine mögliche Beendigung des Vietnam-Krieges — auch so schnell nicht wieder ansteigen. Mit anderen Worten: Chile würde wesentlich weniger Devisen einnehmen, während seine Importbedürfnisse stiegen.

Schließlich aber mußte der Staat gerade angesichts der ständigen Ausweitung des öffentlichen Sektors der Wirtschaft seine Fähigkeiten als Manager unter Beweis stellen müssen. Ob er diese Aufgabe bewältigen würde, schien um so problematischer, als alle wichtigen Stellen im Staats-und Wirtschaftsapparat nun nach einem komplizierten Proporzsystem unter die in der Unidad Populär zusammengeschlossenen Parteien verteilt worden waren — eine an das Prinzip des demokratischen Pluralismus gemachte Konzession, die möglicherweise un-B günstige Folgen auf die Effizienz zeigen würde Die Verschlechterung der wirtschaftlichen Perspektiven konnte nicht ohne Auswirkung auf die Politik bleiben. Falls die allgemeine Lage sich 1972 ungünstig gestalten sollte, würde dies zu einem Sympathieschwund für die Volksfront-Regierung führen, der sich bei den für März 1973 angesetzten Parlamentswahlen in unheilvoller Weise manifestieren könnte. Die Position des Präsidenten würde dann sehr geschwächt sein, und an ein Plebiszit zugunsten der von der Volksfront vorgesehenen Verfassungsänderung wäre in einer solchen Lage kaum zu denken.

VIII. Das Problem der Demokratie

Die Volksfront sah alle diese Gefahren, und so war es kein Wunder, daß einige ihrer führenden Köpfe sich dafür einsetzten, die Revolution schon jetzt, noch bevor die wirtschaftliche Lage sich verschlechtert hatte, rasch voranzutreiben. Zu ihnen gehörte vor allem der Generalsekretär der Sozialistischen Partei, Senator Carlos Altamirano, der bereits vor 1970 die Gangbarkeit eines „friedlichen Weges" zum Sozialismus bezweifelt und sich ganz im Sinne Fidel Castros für den Weg der Gewalt ausgesprochen hatte. Er war erst nach Allendes Regierungsantritt zum Generalsekretär der Sozialisten gewählt worden. Ende August hatte Altamirano auf der 20. Nationalkonferenz der Sozialistischen Jugend eine bezeichnende Rede gehalten. In ihrem Verlauf wandte er sich sowohl gegen „ultralinke Abweichler“ in den Reihen der Sozialisten, die revolutionäre Aktionen voreilig durchführen wollten, als auch gegen jene „rechten Abweichler“, die, wie er sich ausdrückte, „sozialdemokratische Positionen" bezögen und „so naiv oder auch so feige seien" anzunehmen, man könne revolutionäre Wandlungen, die auf der Tagesordnung stehen, etwa auf der Grundlage einer Zusammenarbeit zwischen einander entgegengesetzten Klassen durchführen. Der chilenische Staat sei auch jetzt noch, das heißt zehn Monate nach dem Beginn der Volksfront-Regierung, ein Unterdrückungsapparat der Bourgeoisie. Er sei seinem Wesen nach auf die Erhaltung einer überlebten sozialen Ordnung ausgerichtet und durchaus ungeignet, der sozialistischen Entwicklung zu dienen. Der Generalsekretär jener Partei, der auch Präsident Allende angehörte, setzte sich also ganz im Sinne Lenins für ein „Zerbrechen des Staates" und — ohne sie ausdrücklich zu erwähnen — für eine proletarische Diktatur ein, die ja, vom Standpunkt des Marxismus gesehen, eine höhere Form der Demokratie darstellt.

Hier wurden einige weit über die Fragen der politischen Taktik hinausgehende Auffassungen vertreten, die das Gelingen des chilenischen Experiments unmöglich machen würden, aber auch grundlegende Probleme aufgeworfen, die man skizzieren muß, um die Möglichkeit einer Verbindung von Demokratie und Sozialismus untersuchen zu können.

Zunächst einmal hätte Altamirano, statt einige alte marxistische Klischees über den bürgerlichen Staat zu wiederholen (und so weit zu gehen, einen Staat, der gerade im Begriff war, die Bourgeoisie zu entmachten, als ein Werkzeug eben dieser Klasse zu charakterisieren), auch an jene Äußerungen von Marx und Engels denken können, in denen dem Staat ein Maß an Eigenleben gegenüber den ihm zugrunde liegenden gesellschaftlichen Klassen zugesprochen wird. Denn der chilenische Staat führte eben seit vielen Jahren ein solches „Eigenleben“ und stand — lange bevor noch unter Frei der Demokratisierungsprozeß einen solchen Höhepunkt erreicht hatte — unter dem Druck einander und entgegengesetzter Klassen Gruppen, zwischen deren entgegengesetzten Interessen er permanent Kompromisse zu erreichen trachtete

Bereits im Jahr 1957 hatte der Parteigenosse Altamiranos und gegenwärtige Außenminister Chiles, Clodomiro Almeyda, einen „Vision sociologica ehe Chile" betitelten Vortrag gehalten, in dem es unter anderem hieß: „Die Sozialpolitik der Regierung tendiert seit den zwanziger Jahren zu einer gerechteren Umverteilung des Nationaleinkommens — mit Hilfe eines unorganischen Systems sozialer einer Preiskon Gesetze, Sozialversicherung, -trollen usw., aus der insbesondere gewerkschaftlich organisierte Arbeiterparteien und die ständig größer werdende, politisch einflußreiche Mittelschicht Nutzen ziehen . .. Seit den zwanziger Jahren üben die Mittelschichten und die Arbeiterklasse einen ständig wachsenden Drude auf unsere rückständige Produktionsstruktur aus ... Da die chilenische Demokratie das freie der Parteien gestattet und Spiel Kraft verhält es jeder sozialen ermöglicht, -

frei in -nismäßig die nationale Politik einzu greifen, geschieht es, daß die entgegengesetzten Ansprüche verschiedener Gruppen einander so daß von ihnen die neutralisieren, keine Oberhand zu gewinnen vermag ... Das politische Gleichgewicht, in dem das Land seit Jahren lebt, findet seinen ökonomischen Ausdruck in einer grauenvollen Geldinflation, die die Bestrebungen des Volkes nach einer Verbesserung seiner Lage sterilisiert und die Versuche des Staates, unsere Wirtschaft voranzutreiben, vereitelt ... Der chilenische Staat wird zum Spielzeug all dieser Kräfte und Ten-denzen, unfähig, das Land großen Zielen entgegenzuführen und der nationalen Existenz einen einheitlichen Sinn zu geben."

Diese Ausführungen eines sozialistischen Politikers, der sich zum Marxismus bekannte, sind geeignet, die wirkliche Lage Chiles und die Problematik seiner Demokratie zu erhellen. Sie zeigen auch, wie wenig die Schwierigkeiten dieses Landes einfach aus dem Syndrom „Kapitalismus und Imperialismus" ableitbar sind, wie eine solche im Programm der Volksfront niedergelegte Vereinfachung das Problem verfälscht.

Die pluralistische, repräsentative Demokratie, wie wir sie in einigen entwickelten Industrie-ländern kennen, beruht auf Komprommissen zwischen einer Mehrzahl von sozialen Gruppen (nicht nur „Klassen" von denen jede ihre besonderen Interessen verficht. Dieses politische System war ein Spätprodukt der historischen Entwicklung und entstand, nachdem der gesellschaftliche Reichtum so stark gewachsen war, daß der Kampf der verschiedenen Gruppen um seine Aufteilung sich auf der Grundlage eines weitgehenden und allgemeinen Konsensus vollziehen konnte, ohne daß dadurch der wirtschaftliche Fortschritt allzu stark behindert worden wäre. Wo aber, wie in Chile, pluralistische Demokratie entstand, die bevor der gesellschaftliche Reichtum eine bestimmte Mindestgröße hatte, trat der erreicht Gegensatz zwischen dem wirtschaftlichen „Unterbau“ der Gesellschaft und ihrem politischen „überbau“ oftmals überdeutlich zutage. (Dieser Gegensatz erklärt sich teilweise auch aus jenem ideologischen überbau, der aus den entwickelten Ländern nach Chile importiert wurde und das Denken und Fordern so mancher Chilenen beeinflußte.) Wenn eine Vielzahl von Interessentengruppen, die über Macht verfügen, um einen wachsenden Anteil an einem nur allzu kärglichen Sozialprodukt kämpft, wird das notwendige Ziel der Steigerung dieses Sozialprodukts nur zu leicht dem seiner gerechteren Aufteilung geopfert, woraus sich eben Tendenzen zur Stagnation und Inflation ergeben. Das wird in besonderem Maße dann der Fall sein, wenn — wie ebenfalls in Chile — die institutionalisierte Demokratie mit Elementen eines Wohlfahrtstaates verbunden ist, der nur einem Teil der Bevölkerung zugute kommt und der von vielen Beobachtern als verfrüht angesehen wird. Salvador Allende, der immer wieder und mit Recht betont hat, es gelte vor allem, Produktion und Produktivität zu heben, mußte so unvermeidlich auf jene Hemmnisse stoßen, die aus der gewachsenen Wirklichkeit der chile-nischen Demokratie erwuchsen. Schon darum mußte es fraglich sein, ob und in welcher Form diese Demokratie erhalten werden konnte.

IX. Demokratie der Werktätigen?

Kaum geringer schien die Problematik einer etwa auf die Werktätigen beschränkten Demokratie zu sein. Die Marxisten der Vergangenheit hatten auch die proletarische Diktatur als eine Demokratie betrachten können, weil sie annahmen, daß die große Mehrheit des Volkes aus Proletariern bestehe, die gemeinsame Interessen hätten und sich dieser Interessen auch bewußt werden würden. Davon aber war in Chile nicht die Rede. Erstens gab es neben den eigentlichen „Werktätigen" eine große marginale Bevölkerung, die überhaupt nicht im Produktionsprozeß verwurzelt war. Zweitens gehörten zu den „Werktätigen" auch viele Kleinbürger und Bauern, die kaum am Sozialismus interessiert sein konnten, ganz abgesehen von den Kleinkapitalisten des Privatsektors der Wirtschaft, die manche auch zu den Werktätigen rechneten. Drittens betrachtete sich die Mehrheit der chilenischen Angestellten (und Beamten) nicht als Proletarier, sondern als Angehörige der Mittelschicht. Viertens aber konnte nicht einmal davon gesprochen werden, daß Sozialisten und Kommunisten etwa die erdrückende Mehrheit auch nur der eigentlichen Proletarier hinter sich hatten, die ihrerseits ja nur eine Minderheit der chilenischen Erwerbstätigen darstellten und von denen nur 15— 20 v. H. gewerkschaftlich organisiert waren. Fünftens schließlich gab es beträchtliche Interessenunterschiede auch innerhalb der Arbeiterschaft

Gerade in den Reihen der in den großen Kupferbetrieben arbeitenden Bergarbeiter hatte es seit langem eine gewisse Angst davor gegeben, Opfer der Sozialisierung zu werden: Auf Grund der verhältnismäßig hohen Löhne, die von den Nordamerikanern gezahlt wurden, und sonstiger Vergünstigungen waren diese Arbeiter tatsächlich gegenüber anderen proletarischen Gruppen privilegiert gewesen. Ähnliches galt auch für andere Arbeitergruppen, von denen die meisten weit mehr ihre eigenen Sonderinteressen verfolgten als die historischen Interessen des chilenischen Sozialismus zu vertreten. Wie stark wenigstens in einigen, recht wichtigen Unternehmen die „gemäßigten" politischen Kräfte waren, ging schon aus einigen Wahlen hervor, die im Verlauf des Monats August stattfanden. Gewiß, in der Grube El Salvador hatten die Christdemokraten nur einen von sechs gewählten Vertretern durchbringen können. Im größten Stahlwerk Chiles aber, in Huachipato, wo mehr als 5000 Betriebsangehörige gewählt hatten, waren von den zehn gewählten Vertretern zwei Christdemokraten, drei Radikale, zwei Sozialisten und zwei Kommunisten, während der zehnte sich als Trotzkist bezeichnete. Bei den Wahlen im großen Kupferbergwerk Chiquicamata standen 19 Kandidaten zur Wahl, von denen sechs gewählt wurden. Nur ein einziger von ihnen gehörte der Volksfront an, und er war Mitglied der Radikalen Partei und vereinigte zudem noch die geringste Stimmenanzahl auf sich. Vier der Gewählten waren Christdemokraten, und einer hatte sogar als Mitglied der Nationalen Partei kandidiert. Auch die Wahlen bei den Angestellten der Nationalbank erbrachten ein für die Volksfront ungünstiges Ergebnis.

Wie würden nicht nur die Intellektuellen, Kleinbürger und Bauern, von denen viele bereits eine Kollektivierung zu fürchten haben und Opposition zu dagegen manifestieren ihre begannen, sondern auch die Arbeiter sich verhalten, wenn die wirtschaftlichen Schwierigkeiten wüchsen, wenn es für sie alle gälte, die unmittelbaren Gruppeninteressen den historischen Interessen des chilenischen gesellschaftlichen Fortschritts zu opfern. Daß ihm gerade in dieser Hinsicht ein schwerer Weg bevorstand, war Präsident Allende seit langem klar: „Wie schwierig es ist, Genossen, einigen dieser Arbeitergruppen klar zu machen, welche Verantwortung sie auf dem Gebiet der Produktion haben! Was soll man dazu sagen, daß so viele von ihren Arbeitsplätzen fernbleiben, daß in einigen Betrieben vor allem an Montagen und Dienstagen 35— 40 v. H.der Arbeiter fehlen?"

Das hatte Allende bereits Ende Mai in einer Rede vor den Studenten der Universität Concepcion gesagt. Wie aber sollte unter solchen Bedingungen eine Selbstbestimmung des Proletariats verwirklicht werden — eines Proletariats, das in sich differenziert war, von dem ein beträchtlicher Teil nur Saisonarbeit kannte, während ein weiterer Teil in Kleinbetrieben mit handwerklichem Charakter beschäftigt war? Auch eine Selbstbestimmung konnte das Problem nicht lösen, ganz abgesehen davon, daß sie nicht einmal geplant oder erwünscht war. „Arbeiterselbstverwaltung" entsprach dem jugoslawischen Modell, das eine Marktwirtschaft einschloß. Allende aber wollte von diesem Modell nichts wissen und faßte sozialistische Wirtschaft als zentrale Planwirtschaft auf. Als Ende Oktober die Arbeiter von Chuquicamata damit drohten, einen Streik zu beginnen, um Lohnerhöhungen durchzusetzen, eilte Allende zu ihnen, um der Belegschaft ein System der Gewinnbeteiligung vorzuschlagen, das für alle nationalisierten Kupferbergwerke gelten sollte. Fraglich war allerdings, ob ein solches System materieller Anreize gut in die Gesamtpolitik der Regierung passen würde. In seiner Unterhaltung mit Regis Debray hatte er erklärt, die verstaatlichten Betriebe würden von gewählten Komitees der Belegschaft zusammen mit einem vom Staat eingesetzten Verwalter geleitet werden, dann aber erläuternd hinzugefügt: „Wir haben es für notwendig erklärt, daß die Arbeiter, Angestellten und Techniker prozentual an der Leitung der Betriebe beteiligt werden, was aber nicht bedeutet, daß diese Unternehmen über die Unabhängigkeit verfügen werden, Produktion Wir ihre zu bestimmen. sind und bleiben Anhänger einer zentralistischen Wirtschaft, und die Betriebe werden ihre Produktionspläne nach den Verfügungen der Regierung ausrichten. Darüber werden wir mit den Werktätigen diskutieren, ohne aber ihnen die Betriebe zu übergeben, damit sie dann produzieren, was sie wollen, und daraus persönlichen Nutzen ziehen."

Wer auf zentrale Planung Gewicht legt und eine Steigerung der gesellschaftlichen Produktion als vordringliche Aufgabe ansieht, wird unvermeidlich die Demokratie der Belegschaften klein-und die Leitung durch die Technokraten großschreiben müssen. Denn ebenso wie die einzelnen Berufsgruppen unter den Arbeitern an ihre eigenen Interessen denken, so werden sich auch die Gesamtbelegschaften der verschiedenen Betriebe zunächst einmal spontan (und das heißt: demokratisch!) egoistisch verhalten, sie werden versuchen, für den eigenen Betrieb und damit auch für sich selbst besondere Vorteile herauszuschlagen. Wie aber sollte sonst eine Demokratie der „Werktätigen“ funktionieren? Dies war eines der schwierigsten Probleme, deren Lösung in keinem Lehrbuch zu finden war, das aber im Verlauf des chilenischen Experiments unbedingt gelöst werden mußte.

X. Demokratie oder Effizienz

Lenin hatte einst in einer berühmten Kurz-definition erklärt, Sozialismus sei die Verbindung von Sowjets mit Elektrifizierung. Mit anderen Worten: Sozialismus ist Demokratie mit technologischem Fortschritt und wirtschaftlicher Effizienz. Immer wieder hatte es sich herausgestellt, daß es ungemein schwerfallen würde, beide Elemente miteinander zu vereinen, immer war die Spannung zutage getreten, die zwischen den zwei Grundtendenzen des sozialistischen Projekts — der technokratischen und der demokratischen — herrschte. Daß etwa in der Sowjetunion die „Sowjets" der „Elektrifizierung" zum Opfer gefallen waren, lag — wie mir scheint — durchaus nicht nur, vielleicht nicht einmal in erster Linie an der Rückständigkeit des Landes, in dem das erste sozialistische Experiment unternommen wurde. Manche Sozialisten Chiles mochten die Wurzeln der Schwierigkeiten in dem „unterentwickelten" Klassenbewußtsein der Proletarier ihres Landes und in den durch „bürgerliche“ Einflüsse (wie Egoismus, Materialismus usw.) bedingten gegenwärtigen Verhaltensweisen des chilenischen Volkes erblicken. Das aber hieße, daß erst die Umerziehung der Chilenen, die Schaffung eines „sozialistischen Menschen", eine künftige Demokratie ermöglichen könnte. Doch würde eine solche Umerziehung nicht nur lange Zeit in Anspruch nehmen, sie könne auch nur von oben bewirkt werden, durch einen permanenten Druck einer bewußten Minderheit auf eine weniger bewußte Mehrheit. Dann aber wäre gewiß eine Kombination der Demokratie jeder Art mit dem Aufbau des Sozialismus unmöglich. Nur eine herrschende Partei könnte mit einiger (recht zweifelhaften) Aussicht auf Erfolg eine solche Wandlung leiten, so daß sich schließlich auch in Chile an Stelle der Herrschaft des Proletariats die Herrschaft einer Minderheit über das Proletariat verwirklichen würde.

Ein Jahr ist gewiß keine hinlängliche Frist, um den Erfolg oder Mißerfolg eines sozialen Experiments zu beurteilen — sie mag höchstens dazu ausreichen, um einige Tendenzen sichtbar zu machen, die dessen Gelingen gefährden können. Obgleich im Verlauf dieses Jahres die repräsentative Demokratie funktioniert hat, waren doch die Spannungen zwischen dieser konstitutionellen Ordnung und den von Marxisten-Leninisten erstrebten Zielen gewachsen. Es mochte viele geben, die an der Zukunft nicht nur dieser Form von Demokratie, sondern jeglicher Demokratie zweifelten, und andere, die befürchteten, Allende könnte den Sozialismus der Demokratie opfern. Es mochte auch viele geben, die darauf hofften, eine sozialistische Revolution als Revolution in Freiheit verwirklicht zu sehen. Optimisten wie Pessimisten aber sollten gleichermaßen das Wort des englischen Historikers Brogan in ihre Stammbücher schreiben, der auf Grund einer Analyse vieler revolutionärer Entwicklungen geschrieben hat: „Keine Revolution führt jenes Programm aus, dessen Verwirklichung sie dem Volk versprochen hatte. Sie mag darüber hinausgehen oder dahinter Zurückbleiben. Gewiß aber wird sie vieles vollbringen, was ihre Führer weder versprochen noch gewollt hatten.“

Fussnoten

Fußnoten

  1. Um welche marxistischen Denker es sich handelt, sagte Allende nicht. Italien kann nicht als .. hochentwickeltes" Industrieland angesehen werden und die Stärke der kommunistischen Bewegung erklärt sich hier gerade aus den aus der relativen Unterentwicklung hervorgehenden sozialen Widersprüchen.

  2. Eduardo Frei bezifferte in seiner Abschiedsbotschaft an das chilenische Volk (Oktober 1970) das Pro-Kopf-Einkommen sogar auf 750 Dollar. Doch sei vor einer Überschätzung der Bedeutung solcher per-capita Angaben gewarnt — nicht nur, weil sie ungenau sind, sondern auch, weil ihr Aussagewert gering ist.

  3. Der Begriff „Mittelschicht" ist unklar. In Chile handelt es sich nicht nur (und nicht in erster Linie) um selbständige Handwerker und Händler, sondern vor allem um Angestellte, Beamte und „Akademiker", von denen wiederum sehr viele Berufe haben, die den Bedürfnissen einer sich entwickelnden Wirtschaft schlecht angepaßt sind und schon darum darauf aus sind, vom Staat angestellt zu werden.

  4. Zitat nach dem spanischen Original: „Allende habla con Debray", Sonderausgabe der chilenischen Zeitschrift Punto Final vom 16. März 1971.

  5. Bis 1970 sprachen die Christdemokraten nicht vom Sozialismus, sondern vom „Kommunitarismus“. Das Wort sozialistisch erschien — wohl zum ersten Mal — in einer Resolution des erweiterten Parteirats der Christlichen Demokratie vom Mai 1971. Dort heißt es: „Die christliche Demokratie ist eine revolutionäre Bewegung im weitesten Sinne dieses Wortes. Sie kämpft für die Überwindung des kapitalistischen Systems und die Schaffung einer neuen, kommunistisch-sozialistischen Gesellschaft, die von den permanenten Werten des Christentums inspiriert wird."

  6. Mir scheint, daß eine Rückführung aller chileni-

  7. An dieser Stelle soll ein Kuriosum der chile-nischen Geschichte erwähnt werden: Hier siegte im Jahre 1938 der Kandidat der Volksfront nur deshalb, weil gerade die an Hitler orientierten chilenischen Nationalsozialisten unter Gonzalez von Marees in letzter Minute ihre Anhänger und Freunde dazu . aufriefen, für diesen Kandidaten, Aguirre Cerda, zu stimmen, der mit 223 000 Stimmen gegen 218 000, die auf den konservativen Gegenkandidaten entfielen, gewählt wurde. Kurz vor den Wahlen hatten die chilenischen Faschisten einen Putschversuch unternommen, der rasch zusammenbrach und nach dessen Niederwerfung die chilenische Polizei zahlreiche, am Putsch-versuch beteiligte Studenten erschoß und Gonzalez von Marees in das Gefängnis brachte. Der Präsidentschaftskandidat der „Rechten“ war das prominenteste Mitglied der Regierung gewesen, die für diese Erschießungen verantwortlich gemacht wurde Daher auch die erwähnte Reaktion der Nazis zugunsten von Aguirre Cerda.

  8. Die sozialistische Partei war nie homogen gewesen und setzte sich lange Jahre aus „von einander verschiedenen, oft einander scharf bekämpfenden Tendenzen zusammen, deren Spektrum vom „Sozialdemokraten" bis zu den Trotzkisten reichte. Ihre zahlreichen Spaltungen — die nicht unwesentlich auch durch persönliche Gegensätze bedingt waren, aufzuzählen ist hier nicht am Platz. Betont werden muß aber, daß sie bis heute weit weniger homogen und weniger diszipliniert ist als etwa die Kommunistische Partei.

  9. Das Organisationsproblem der kommenden chile-nischen Landwirtschaft war nicht einfach. Das enteignete Land etwa den einzelnen Bauern zu geben, hätte die Produktivität gesenkt, abgesehen davon, daß ein solches Einzelbauerntum als Wurzel eines neuen agrarischen Kapitalismus den Sozialisten nicht sympathisch sein konnte. Die unter Frei geschaffenen Genossenschaften („asentamientos") stedcten in ihren Anfängen und hätten die Probleme der zahlreichen Tagelöhner, Unterpächter und anderer landloser Bauern nicht lösen können. Manche asentamientos hatten sich in kollektive Arbeitgeber verwandelt, die selbst Tagelöhner beschäftigten, was natürlich Sozialisten beunruhigen mußte. Die ab April/Mai 1971 entstehenden neuen „Centros de Reforma Agraria" schienen manchen russischen Kolchosen oder gar Sowchosen zu ähneln, was wiederum zu Protesten vieler Bauern führte, die auf alles, was wie „Zwangskollektivierung" aussah, allergisch reagierten.

  10. Das Decreto-Ley (Gesetzes-Dekret) Nr. 520 war bemerkenswerterweise erst in der zweiten, kaum mehr als sozialistisch zu bezeichnenden Phase dieser Republik, nämlich am 30. August 1932, erlassen worden. Einer seiner Paragraphen lautete, ein Unternehmen könnte enteignet werden, „falls der Produzent der Pflicht nicht nachkommt, in seinem Unternehmen dringend benötigte Artikel (articulos de primera necesidad) in jenen Mengen, jener Beschaffenheit und unter jenen Bedingungen herzustellen, die der Präsident der Republik festlegt" (sic!) (zitiert aus dem Artikel von Eduardo Novoa Monreal, Vias legales para avanzar hacia el socialismo, in: Mensaje, Santiago Nr. 197 — Marzo Aberil, 1971.

  11. Die Wahlergebnisse im einzelnen: Volksfrontparteien: Sozialisten 22, 9%/Kommunisten 17, 4°/Radikale 8, 2 °/o Sozialdemokraten 1, 4 " /'o 49, 9 0/0 Hierzu müßten aber auch die 1, 1 °/o Stimmen gerechnet werden, die auf die von den Sozialisten abgespaltene, nicht zur Volksfront gehörende, aber marxistisch-leninistisch eingestellte „Union Socia-lista Populat" abgeben wurden. (Die MAPU hatte keine Listen aufgestellt, da sie nicht als Partei konstituiert war.)

  12. Prominente Politiker der Regierungsparteien und Präsident Allende sahen diese Gefahren, denen aber nur schwer begegnet werden konnte, solange nicht nur die Volksfront aus mehreren — zum Teil sich noch durch Spaltungen vermehrenden — Parteien bestand, von denen eine jede Posten wünschte; vor allem auch, solange die alten Gewohnheiten nicht geschwunden waren, den Staat weniger als Zugochsen der Entwicklung, denn als Milchkuh anzusehen, die eine große Zahl von Menschen, die keine andere Arbeitsmöglichkeit fanden, versorgen sollte. Anfang August war es zur Spaltung zweier der Volksfront angeschlossenen Gruppierungen (und fast gleichzeitig zu einer weiteren Abspaltung von linken Christdemokraten) gekommen. Die prominentesten Mitglieder der MAPU verließen die von ihnen mitbegründete Organisation, da sie ganz unter den Einfluß leninistischer Ideen gekommen war und vereinigten sich mit den von der Christlichen Demokratie Abgespaltenen zu einer „Bewegung der christlichen Linken", die nun neben der MAPU als besondere Gruppe innerhalb der Volksfront wirkte. Auch die Radikalen spalteten sich. Einige der prominentesten Mitglieder — Senatoren und Abgeordnete — dieser Partei bildeten eine „Radikale und Unabhängige Linksbewegung“, gegen deren offizielle Beteiligung an der Volksfront der Rest der Radikalen, die den Namen „Radikale Partei“ behielt, Protest einlegte.

  13. Im allgemeinen zogen die gut organisierten Sparten, die über Pressionsgruppen verfügten, Vorteile aus diesen Kämpfen, die sich auf dem Rücken der schwächsten, am wenigsten organisierten Volksteile (Landarbeiter, Angestellte, Arbeiter kleiner Betriebe, „marginale" Bevölkerung etc.) abspielten. Andererseits muß auch vermerkt werden, daß die Vorteile der Oberschicht im allgemeinen größer waren als die der Mittel-und Unter-schichten. „Der Staat ist in wachsendem Maße unter die Kontrolle privater Interessen geraten. Die weitgesteckten ökonomischen Funktionen des Staates ... wurden weitgehend für die Verteidigung privater Interessen eingesetzt“, schrieb der chilenische Professor Osvaldo Sunkel 1964. (Change and Frustation in Chile, in: Obstacles to Change in Latin America, ed. C. Veliz, Oxford University Press, London 1965, S. 135).

  14. Zu den Auswüchsen des Wohlfahrtstaats gehörte auch das ungemein komplizierte, auf verschiedene Berufssparten aufgeteilte System der Sozialversicherung (sistema previsional), das ebenso ungerecht wie ineffizient war, an dem aber auch die Regierung Frei nicht gerüttelt hatte. In seiner im Mai 1970 an das Parlament gerichteten Botschaft hatte sich Präsident Frei in recht bitterem Ton über die den Fortschritt hindernde Aktivität der verschiedenen „Pressionsgruppen“ und das herrschende System der Sozialversicherung beschwert. Es gäbe, wie er sagte, in Chile einen neuen Typ von Feudalismus: „Jede Gruppe verlangt vom Lande mehr als das Land zu geben vermag. Jede versucht, auf Kosten anderer, die weniger gut organisiert sind, Vorteile zu ergattern und findet immer jemanden, der sich solcher Sektoreninteressen annimmt, die zum Nachteil des Gesamtinteresses durchgesetzt werden. ... Eine der schlimmsten Auswirkungen (dieser Übel) kann auf dem Gebiet der Sozialversicherung beobachtet werden. Deren Reform zu verwirklichen ist noch weit schwieriger, als die Agrarreform durchzuführen.“

  15. Die Frage, ob das chilenische Proletariat . klassenbewußt“ ist, kann solange nicht beantwortet werden, wie der Begriff des Klassenbewußtseins nicht klar definiert wird. Kämpferisches Auftreten für unmittelbare Interessen einzelner Belegschaften oder Berufssparten kann jedenfalls kaum als Beweis des „Klassenbewußtseins" angesehen werden — vor allem nicht von einem leninistischen

Weitere Inhalte

Boris Goldenberg, Dr. phil., geb. 1905 in Leningrad. Nach dem Studium der Soziologie, Neueren Geschichte und Philosophie an den Universitäten Berlin, Freiburg und Heidelberg 1929 Promotion; 1941— 1960 in Havanna; 1960— 1963 in London; von 1964 bis zur Pensionierung im September 1971 Leiter der Lateinamerika-Abteilung der Deutschen Welle, Köln. Veröffentlichungen u. a.: Lateinamerika und die kubanische Revolution, Köln-Berlin 1963; Gewerkschaften in Lateinamerika, Hannover 1964; Kommunismus in Lateinamerika, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1971.