Die Bedeutung von Wahlen in Lateinamerika am Beispiel der „demokratischen" Wiederwahl ehemaliger Diktatoren
Ernst-J. Kerbusch
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Zusammenfassung
In den westlichen Demokratien wird nur allzu leicht davon ausgegangen, daß die Durchführung von freien Wahlen — d. h. Wahlen, bei denen prinzipiell alle Wahlberechtigten sowohl wählen als auch gewählt werden können — bereits als Beweis für die Existenz eines demokratischen Regierungssystems angesehen werden kann. Die Analyse einiger Wahlen in Lateinamerika zeigt demgegenüber, daß diese Annahme für Entwicklungsländer oft falsch ist. Auch ehemalige Diktatoren, die keinen Hehl daraus machen, daß sie auch in einer neuen Regierungsperiode die demokratischen Spielregeln nicht unter allen Umständen einzuhalten gedenken, haben durchaus eine Chance, aus solchen Wahlen als Sieger hervor-zugehen. Das gilt sowohl für Länder mit langer demokratischer Tradition wie Chile als auch für solche, die Jahrzehnte hindurch von Diktaturen regiert worden sind, wie z. B. Venezuela. Dabei spielt der Erfolg oder Mißerfolg während einer früheren Regierung nur eine sehr untergeordnete Rolle. Das gilt besonders dann, wenn es ihnen gelungen ist, durch Programme, die gezielt die Situation benachteiligter Bevölkerungsschichten (insbes.der Industriearbeiterschaft) verbesserten, eine rasch wachsende Gruppe in der Wählerschaft davon zu überzeugen, daß von ihnen mehr zu erwarten ist als von den „unfähigen und untätigen“ demokratischen Regierungen. Eine Veränderung dieser Situation, in der die Gegner der Demokratie demokratisch an die Macht kommen, ist kaum zu erwarten, solange die Mehrzahl der Bevölkerung in Verhältnissen lebt, die geringfügige materielle Verbesserungen als wichtiger erscheinen lassen als abstrakte „bürgerliche Freiheiten“ (von denen sich mangels Ausbildung auch nur wenige Wähler einen rechten Begriff machen können). Eine Veränderung könnte nur die totale Erneuerung des sozio-ökonomischen Systems der Länder Lateinamerikas bringen. Die aber ist, da sie auf Kosten der — weitestgehend identischen — politischen und ökonomischen Eliten gehen müßte, kaum zu erwarten. Deswegen besitzen Demagogen wie Vargas, Perön, Rojas Pinilla und Perez Jimenez weiterhin auch in freien Wahlen gute Chancen, legal an die Macht zu kommen — mit der Gefahr, daß nach ihrem — zu erwartenden — Scheitern nur noch die revolutionäre Umwälzung als Alternative verbleibt.
I. Zur Beurteilung von Verfassungen und Wahlen in Lateinamerika
Diktaturen sind in Lateinamerika seit der Unabhängigkeit der ehemaligen spanischen und portugiesischen Kolonien eher die Regel als die Ausnahme gewesen. Dennoch hat es nur selten nichtkonstitutionelle Regierungen gegeben, da auch Diktatoren stets großen Wert darauf legten, ihre Regierungen durch Verfassungen zu legimitieren Der nikaraguensische Diktator Anastasio Somoza (1936— 1956) erließ z. B. gleich drei Verfassungen und eine umfangreiche Verfassungsreform (1939, 1948, 1950 und 1955) Und erst in jüngster Zeit ließ der paraguayische Diktator Alfredo Strößner eine neue Verfassung ausarbeiten (1967) Ähnliches wie für die Verfassungen läßt sich von Wahlen sagen, deren bloße Existenz nicht selten von außenstehenden Beobachtern bereits als Beweis für einen „Demokratisierungsprozeß" angesehen wird — wie z. B. im Falle der Wiederwahl Strößners in Paraguay im Februar 1968. Erst später — spätestens bei den Auseinandersetzungen zwischen Strößner und der Katholischen Kirche Paraguays — wurde deutlich, daß sich Paraguay trotz neuer Verfassung und Abhaltung von Wahlen keineswegs auf dem Wege zur Demokratie befand. Es ist in Lateinamerika keineswegs selten, daß sich Diktatoren in „freien Wahlen" in ihren Ämtern bestätigen lassen. Wahlen erscheinen in solchen Fällen kaum weniger als Farce als in kommunistischen Ländern, in denen die Re-gierungen in der Regel mit über 99 % der Stimmen bestätigt werden. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß man aus optischen Gründen hin und wieder eine — von Anfang an chancenlose — Opposition zuläßt oder, wie in Brasilien 1964, zu diesem Zweck eigens gründet Wahlen sind also keineswegs der Beweis für Demokratie und müssen ganz besonders in Lateinamerika mit Vorsicht beurteilt werden Auf der anderen Seite wird ein Phänomen häufig übersehen, dessen Interpretation Beobachtern mit westlicher Demokratie-vorstellung sehr schwerfällt: Die Anhängerschaft ehemaliger Diktatoren bleibt häufig auch nach deren Sturz erhalten und vermag auf lange Sicht ein politischer Faktor zu bleiben, der in einigen Fällen an Stärke von keiner anderen geschlossenen Gruppe erreicht wird. Das gilt in gleicher Weise für die Führer von sogenannten „nationalpopulistischen Bewegungen" wie für ehemalige Militärdiktatoren, denen es gelungen ist, sich eine Machtbasis in bestimmten Bevölkerungsgruppen (außerhalb des Militärs) zu schaffen.
Die Stärke solcher Gruppen reicht in manchen Fällen aus, um auch aus völlig freien Wahlen als Sieger hervorzugehen. Die Tatsache, daß Diktatoren, denen Machtmißbrauch und Korruption nachgewiesen wurden und deren Wirtschaftspolitik ihre Länder an den Rand des ökonomischen Ruins geführt hatte (was nicht einmal von ihren eigenen Anhängern bestritten wird), sich in freien Wahlen durchzusetzen vermögen, muß in der Tat überraschen. Traditionell erklärt man dieses Phänomen in Lateinamerika mit dem „Caudillismo", der politischen und ökonomischen Dominanz einer Führerpersönlichkeit. Das Führerprinzip hat sich in den Unabhängigkeitskämpfen zu Beginn des 19. Jahrhunderts herausgebildet und war zu dieser Zeit notwendige Voraussetzung militärischer Erfolge. Da in fast allen lateinamerikanischen Staaten das gesamte 19. Jahrhundert und lange Perioden des 20. Jahrhunderts durch Bürgerkriege und Revolten gekennzeichnet waren, hat sich der Caudillismo bis in die heutige Zeit erhalten; die traditionelle Gefolgschaft einem Caudillo gegenüber hat sich teilweise auch auf die Führer demokratischer Parteien übertragen. Aber der Caudillismo allein vermag das Phänomen der demokratischen Wiederwahl ehemaliger Diktatoren nicht voll zu erklären: Der Peronismus z. B. ist in Argentinien auch ohne Pern — also ohne einen Caudillo — die stärkste politische Kraft geblieben. Eine Interpretation dieses interessanten Phänomens müßte vor allen Dingen zwei wichtige Fragen an einigen typischen Beispielen zu klären versuchen: 1. Wer wählt ehemalige Diktatoren oder ihre Bewegungen? 2. Welche Erwartungen (oder auch nur Versprechungen) sind für diese Wahlentscheidungen bestimmend?
Erst nachdem diese Fragen geklärt sind, kann eine dritte Frage zu beantworten versucht werden:
3. Wie können diese Erwartungen erfüllt werden, und gibt es „demokratische Institutionen“ (im westlichen Sinne), die dieser Aufgabe gewachsen wären?
Die letzte Frage wird besonders schwierig zu beantworten sein, zumal die meisten bisherigen Versuche offensichtlich als gescheitert betrachtet werden müssen. Was Gino Germani den Übergang von der „repräsentativen Demokratie mit erweiterter Beteiligung" zur „repräsentativen Demokratie mit totaler Beteiligung" nennt hat seine Bewährungsprobe (noch) nirgendwo in nennenswertem Umfange bestanden.
Die beiden ersten klassischen „nationalpopulistischen Bewegungen" (Germani), denen die Übernahme der Macht gelang, waren der „getulismo" in Brasilien und der „peronismo" in Argentinien. Bei allen Parallelitäten weisen sie doch einige so bedeutsame Unterschiede auf daß es nicht möglich ist, sie einfach als zwei Ausprägungen des gleichen Phänomens zu kategorisieren.
Schon der Weg zur Macht war bei Vargas und Perön höchst verschieden, obwohl bei beiden das Militär eine entscheidende Rolle spielte. Außerdem verzichtete Vargas — einmal an der Macht — auf die Abhaltung weiterer Wahlen bis zu seinem Sturz im Jahre 1945, während Perön, an der Erhaltung einer „demokratischen Legitimation" interessiert, sich nach seinem Wahlsieg von 1946 im Jahre 1951 für weitere fünf Jahre bestätigen ließ. Vargas war Gouverneur des einflußreichen Staates Rio Grande do Sui gewesen, bevor er — selbst Zivilist — 1930 mit der Unterstützung der Armee Präsident wurde, obwohl er die Wahl gegen Julio Prestes, den Gouverneur von Säo Paulo, verloren hatte %). Nadi einer Revolution des Staates Säo Paulo, der sich nicht nur durch die Annullierung der Wahl von Prestes, sondern auch durch das nicht eingehaltene Versprechen einer Verfassungsreform betrogen sah, wurde 1934 eine neue Verfassung ausgearbeitet und Vargas für weitere vier Jahre zum konstitutionellen Präsidenten gewählt. In eine Diktatur im eigentlichen Sinne verwandelte sich das Regime erst, als Vargas — erneut mit Unterstützung der Armee — 1937 die für das folgende Jahr fälligen Wahlen aussetzte und den „Estado Novo" begründete. Der „Estado Novo" beseitigte den traditionellen Föderalismus und ordnete die Bundesstaaten vollständig der Zentralregierung unter, die anstelle der freigewählten Gouverneure vom Präsidenten ernannte Interventoren einsetzte
Bis zum Sturz Vargas'im Jahre 1945 wurden keine Wahlen mehr abgehalten. Der Ausgangspunkt des „getulismo" war offensichtlich keine „nationalpopulistische Bewegung", sondern das Ergebnis einer Auseinandersetzung zwischen den reichen Südstaaten Brasiliens (Säo Paulo, Minas Gerais und Rio Grande do Sui) um die politische Vorherrschaft. Erst Vargas'Suche nach weiterer Unterstützung ließ in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre den „getulismo" entstehen. Wie später Perön sicherte sich Vargas die Unterstützung der Arbeiterschaft dadurch, daß er ihr zur Integration in das politische System des Landes verhalf, indem er einige Minimalforderungen erfüllte: Mindestlöhne, Arbeitslosenkompensation, Unterstützung der Industrialisierung durch die Regierung, Schaffung neuer Arbeitsplätze. Nadi europäischem Standard ging sicher keine dieser Maßnahmen weit genug, um ein System sozialer Sicherheit zu begründen, das diesen Namen verdiente; unter brasilianischen Verhältnissen bedeuteten sie jedoch eine entscheidende Verbesserung der Daseinsbedingungen der im Zuge der Industrialisierung rasch anwachsenden Industriearbeiterschaft
Gleichzeitig gelang es Vargas, sich Unterstützung über seinen Heimatstaat hinaus zu verschaffen, indem er sich um eine Verteilung der neuen Industrie auf möglichst viele Staaten bemühte. Der dünn besiedelte Norden blieb davon allerdings weitgehend ausgenommen. Der Vorwurf wachsender Korruption — von der Vargas selbst jedoch stets ausgenommen wurde — und zu langsames ökonomisches Wachstum bereiteten den Sturz des Vargas-Regimes vor. Die alten ökonomischen Eliten sahen ihre Position zunehmend verschlechtert. Die Lasten durch die Sozialmaßnahmen stiegen, ohne daß ein entsprechendes wirtschaft-liches Wachstum die Einbußen wieder ausgeglichen hätte. Je bedrohlicher die Position von Vargas wurde, desto mehr versuchte er, sich der Unterstützung durch die (von seinen Anhängern organisierte) Arbeiterschaft zu versichern.
Diesen Bemühungen stand das Militär zunehmend skeptisch gegenüber und forderte 1945 den Rücktritt des Präsidenten. Vargas beugte sich den Forderungen der Militärs ohne Widerstand. Er hatte zwar die Unterstützung der Arbeiterschaft nicht verloren — sie war im Gegenteil in den letzten Jahren seiner Regierung zunehmend größer geworden —, aber der Enthusiasmus hatte abgenommen, da die hochgeschraubten wirtschaftlichen Erwartungen in keiner Weise erfüllt worden waren und auch die Korruptionsvorwürfe die Regierung zunehmend belasteten. Die Armee ließ 1945 Neuwahlen durchführen, aus denen der farblose Kandidat des Partido Social Democrätico, Euricio Dutra, den Vargas nur halbherzig unterstützt hatte, als Sieger hervorging 1946 wurde eine neue Verfassung erarbeitet.
Bei den Wahlen von 1950 kehrte Vargas jedoch zurück. Als Kandidat der Arbeiterpartei, des Partido Trabalhista, gewann er erneut die Präsidentschaft und blieb dabei mit fast 4 Millionen Stimmen (48, 7 %) nur knapp unter der absoluten Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Der Kandidat der stärksten Oppositionspartei, der Union Democrätica Nacional, Eduardo Gomes, blieb mit 29, 7 0/0 weit abgeschlagen. Der Hauptanteil der Stimmen für Vargas kam aus den industriellen Zentren Säo Paulo, Minas Gerais und dem Distrito Federal Während seiner zweiten Präsidentschaft suchte Vargas deswegen die enge Zusammenarbeit mit den Bevölkerungsschichten, denen er den größten Stimmenzuwachs verdankte: den Gewerkschaften und der schlechtverdienenden und schnell anwachsenden Industriearbeiterschaft der Großstädte im Süden des Landes. 1954 waren es erneut Korruptionsvorwürfe und der Vorwurf einer Verbindung des Präsidenten mit einem Mordversuch auf Carlos Lacerda, einen seiner hartnäckigsten politischen (und publizistischen) Gegner, die das Militär veranlaßten, zum zweiten Mal den Rücktritt des Präsidenten zu fordern. Aber diesmal weigerte sich Vargas unter Verweis auf seine demokratische Legitima-tion. Als er keinen Ausweg mehr sah, beging er Selbstmord und kam damit einem gewaltsamen Eingriff des Militärs zuvor.
Mit Vargas'Tod war der „getulismo" jedoch noch keineswegs zu Ende. Sein — erneut demokratisch gewählter — Nachfolger Juscelino Kubitschek war — ebenso wie dessen Vizepräsident Joäo Goulart — enger Mitarbeiter von Vargas gewesen. Erst 1960 schien mit der Wahl von Janio Quadros die Bewegung den Todesstoß erhalten zu haben, aber Quadros'überraschender Rücktritt nach nur 7-monatiger Präsidentschaft brachte einen weiteren Vargas-Anhänger an die Macht: den erneut zum Vizepräsidenten gewählten Joäo Goulart, der nun mit allen Mitteln versuchte, eine Linksregierung, gestützt auf die organisierte Industrie-Arbeiterschaft, aufzubauen Ein Dreijahresplan seines Wirtschaftsministers Celso Furtado sah vor allem höhere Besteuerungen der wohlhabenden Bevölkerungsschichten und stärkere staatliche Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen, insbesondere in den Außenhandel, vor, enthielt aber keineswegs „revolutionäre Vorstellungen", wie z. B. Enteignungen im agrarischen oder industriellen Bereich.
Die Reaktion der Militärs ließ nicht lange auf sich warten: 1961 wurde eine Parlamentarisierung des Regierungssystems zur Entmachtung des Präsidenten erzwungen und 1964 folgte schließlich, als Goulart auf demagogische Weise eine plebiszitäre Basis zu suchen begann, nachdem er die Zustimmung der Militärs endgültig verloren hatte, der Sturz des Präsidenten durch die „brasilianische Revolution". Die Zerschlagung der alten Parteien und die politische Entrechtung fast aller ihrer Politiker zeigen sehr deutlich, daß die Militärs fürchten, bei freien Wahlen könnten erneut Männer der Vargas-Schule den Sieg davontragen. Sowohl Vargas als auch seine Nachfolger hatten ihre sozialreformerischen Zielsetzungen für wichtiger gehalten als die Einhaltung formell demokratischer Spielregeln. Und die Mehrzahl der brasilianischen Wähler schätzt offenbar eine Verbesserung ihrer sozio-ökonomischen Position höher ein als demokratische Prinzipien.
Politiker, denen es gelingt, die Arbeiterschaft davon zu überzeugen, daß sie bereit und fähig sind, Reformen durchzuführen, die das Los der Arbeiterschaft entscheidend verbessern (Steuer-, Agrar-, Erziehungsreformen!), haben ohne Zweifel in Brasilien auch dann eine Chance in demokratisch „sauberen“ Wahlen an die Macht zu gelangen, wenn sie auf alles demokratische Beiwerk verzichten.
III. Der Peronismus: auch nach dem Sturz des Diktators stärkste politische Kraft Brasiliens
Oberst Juan Domingo Peröns Weg zur Macht in Argentinien ist nur mit der Situation Argentiniens zu Beginn der vierziger Jahre dieses Jahrhunderts zu erklären. Nachdem in Argentinien 1916 die Mittelklassen durch den Wahlsieg Hipölito Yrigoyens die Macht übernommen hatten, wurden sie 1930 durch den ersten Militärputsch seit 70 Jahren gestürzt Von 1930— 1943 herrschten Koalitionsregierungen aus Militärs und den alten, 1916 aus der Macht verdrängten konservativen Parteien. Diese Parteien waren eng mit den kommerziellen Interessen Großbritanniens verflochten; sie wurden deswegen 1943 von den mit den Achsenmächten sympathisierenden Militärs gestürzt, als sie für 1944 den pro-britischen Großgrundbesitzer Robustiano Patron Costas zum Präsidentschaftskandidaten nominierten Oberst Perön war zunächst Staatssekretär im Verteidigungsministerium und dann Chef des Sekretariats für Arbeit und soziale Sicherheit der neuen Regierung. In dieser Position begann er, sich einen Rückhalt in der Arbeiterschaft zu schaffen, indem er die Gewerkschaften intensiv förderte. Die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften stieg zwischen 1943 und 1954 auf ein Vielfaches. Bislang rivalisierende Gewerkschaftsgruppen schlossen sich unter dem Druck Peröns, der 1944 auch zum Kriegsminister und Vizepräsidenten aufgestiegen war, zusammen. Peröns Sekretariat für Arbeit und Soziale Sicherheit -be gann dann eine Arbeitsund Sozialgesetzgebung in die Wege zu leiten und erzwang schließlich kollektive Verhandlungen über Löhne und Gehälter; Konflikten fungierte bei das Sekretariat als Schiedsrichter, und Peröns Schiedssprüche fielen immer zugunsten der Arbeiterschaft aus, die bald glaubte, daß Perön weit mehr Verdienste um die Verbesserung ihrer Einkommen und ihrer Arbeitsbedingungen hatte als ihre Gewerkschaftsführer
Die Popularitätskurve Peröns stieg bis 1945 steil an, und eine Gruppe von Militärs unter Führung von General Avalos versuchte, den zu mächtig gewordenen Konkurrenten auszuschalten. Perön wurde verhaftet und auf der Insel Martin Garcia interniert. Für eine solche Aktion war es jedoch bereits zu spät: Peröns spätere Frau, Eva Duarte, mobilisierte mit Hilfe einiger Perön treu ergebener Gewerkschaftsführer — insbesondere des Führers der Schlachthofarbeiter Cipriano Reyes — die Massen der „Descamisados", der Hemdlosen, deren Situation sich unter Perön wesentlich verbessert hatte, die bei einer gewaltigen Demonstration in Buenos Aires die sofortige Freilassung Peröns forderten Die schwache Militärregierung beugte sich dem Diktat der Massen und ordnete die Freilassung Peröns an. Perön verzichtete auf seinen militärischen Rang und auf seine politischen Ämter und widmete sich ganz der Wahlkampagne für die Präsidentschaftswahl von 1946. Zu seiner Unterstützung organisierten sich seine Anhänger in einer Arbeiterpartei. Alle anderen politischen Parteien des Landes schlossen eine antiperonistische Koalition, die Union Democrä-tica, die den Radikalen Jose Tamborini nominierte Peröns Wahlsieg war mit 55 °/o keineswegs überwältigend, aber in Anbetracht der Tatsache, daß sich alle traditionellen politischen Kräfte des Landes gegen ihn zusammengeschlossen hatten, sehr deutlich. Auch im Parlament erhielt er in beiden Kammern große Mehrheiten
Mit diesen Mehrheiten wäre eine erfolgreiche demokratische Regierung durchaus denkbar gewesen. Perön zog es jedoch vor, zunächst seine Position in der Arbeiterschaft weiter zu festigen, um den erforderlichen Rückhalt für eine Diktatur sicherzustellen. Am Ende der Herrschaft Peröns hatte sich die Mitgliedschaft der Gewerkschaften 300 000 von auf fast 6 Millionen verzwanzigfacht Nachdem Perön so seine Herrschaft gefestigt hatte, schienen ihm viele der alten Gewerkschaftsführer, die ihm zur Macht verhülfen hatten, gefährlich zu werden. Sie wurden abgesetzt, deportiert oder ins Gefängnis geworfen, weil sie eine eigene Machtstellung in der Arbeiterschaft besaßen, die sie nicht Perön verdankten. 1949 ließ Perön eine neue Verfassung verabschieden, die bis zu seinem Sturz im Jahre 1955 in Kraft blieb und viele seiner Handlungen legitimierte, die der geltenden Verfassung von 1853 widersprachen.
Peröns Herrschaft hat nicht nur den organisatorischen Zusammenschluß der Arbeiterschaft Argentiniens zustande gebracht, sondern auch eine unverkennbare Verbesserung der Lebensbedingungen der unteren Schichten Diese Errungenschaften, zu denen in der Sicht seiner Anhänger auch Wohnungsbauprogramme, spektakuläre Verwaltungsbauten (objektiv unwirtschaftliche) Industrieanlagen usw.
gehörten, gerieten durch die peronistische Wirtschaftspolitik, die die Landwirtschaft, den eigentlichen Reichtum des Landes, zugunsten einer überstürzten Industrialisierung vernachlässigte, bald in Gefahr. Auch seine Nationalisierungspolitik — vor allem der Aufkauf der in englischer Hand befindlichen Eisenbahnen — konnte trotz aller Popularität dieser Maßnahmen von Argentinien ökonomisch nicht verkraftet werden. Zudem griff Peron zu immer härteren diktatorischen Maßnahmen, um seine Regierung zu sichern. Die Pressefreiheit wurde aufgehoben, Richter, die sich seinen Forderungen nicht beugten, abgesetzt, verhaftet oder des Landes verwiesen; seinen Gegnern wurde jegliche politische Betätigung verboten. Perns Wiederwahl im Jahre 1951, bei der sich alle bedeutenden politischen Gegner längst im Exil befanden, kann keineswegs mehr als demokratisch bezeichnet werden. So zeigte sich bei seinem Sturz 1955, für den seine wachsenden Diskrepanzen mit der Katholischen Kirche und Teilen des Militärs verantwortlich waren, alle Welt zufrieden über das Ende einer Gewaltherrschaft, die zudem Argentinien in die schwerste ökonomische Krise seiner Geschichte gestürzt hatte. Mit dem Sturz Peröns war jedoch der Peronismus noch keineswegs beseitigt. Zur großen Überraschung aller Beobachter stimmten bei den ersten demokratischen Wahlen nach dem Sturz des Diktators mehr als 2 Millionen Wahlberechtigte für Perön, indem sie seinem Aufruf folgten, weiße Stimmzettel abzugeben. Die „Partei der weißen Stimmzettel" wurde damit die stärkste Partei des Landes.
Die Stimmen der wichtigsten Parteien bei den argentinischen Parlamentswählen von 1957
Wie groß der Einfluß des gestürzten Diktators immer noch war, zeigte sich dann bei den Präsidentschaftswahlen des Jahres 1958. Perön änderte seine Anweisung an die argentinischen Wähler, da der UCRI-Kandidat, Arturo Frondizi, ihm die Gewähr für eine Berücksichtigung des Peronismus bei der Regierung zu geben schien. Deswegen empfahl er die Stimmabgabe für Frondizi, mit dem Resultat, daß der Kandidat des 1951 noch klar unterlegenen UCRI einen überwältigenden Wahlsieg über den Kandidaten des UCRP, Ricardo Baibin, erzielte. Frondizis 42 °/o der Stimmen (gegen Balbins 25 °/o) sind nur durch die Stimmen der Peronisten zu erklären.
Bei den Kongreßwahlen von 1960 gaben jedoch wieder über 24 0/0 der Wähler weiße Stimmzettel ab. Nachdem Perön Frondizi seine Unterstützung wieder entzogen hatte, fiel dessen UCRI wieder auf den 3. Platz zurück.
Die Stimmen der wichtigsten Parteien bei den Kongreßwahlen 1960
Dennoch glaubte sich Frondizi 1962 stark genug, gegen den Willen der Militärs die Peronisten zu den Provinzwahlen wieder zuzulassen — mit dem Ergebnis eines überwältigenden Wahlsieges der Peronisten mit 31, 9 °/o aller abgegebenen Stimmen. UCRP und UCRI waren mit 19, 9 und 24, 5 °/o der Stimmen klar abgeschlagen. Die Peronisten gewannen damit in 9 der 22 Provinzen des Landes die Gouverneurswahlen. Die Militärs waren jedoch nicht willens, dieses Ergebnis hinzunehmen; insbesondere der Wahlsieg eines peronistischen Gouverneurs in Buenos Aires war für sie nicht akzeptabel. Zwar annullierte Frondizi die Ergebnisse in fünf von den Peronisten gewonnenen Provinzen, doch reichte das den Militärs bereits nicht mehr aus: Frondizi wurde noch im gleichen Jahr zum Rücktritt gezwungen. Bei den 1963 angesetzten Neuwahlen schienen die Peronisten sich zu spalten — nur noch ein Teil der Wähler hielt sich an die Aufforderung Peröns, weiße Stimmzettel abzugeben — und etwa 25% der Stimmen für die Peronisten entfielen auf neoperonistische Parteien, die ihre Unabhängigkeit vom Führer in Madrid mit ihrer Kandidatur demonstrierten. Weiße Stimmzettel und neoperonistische Parteien waren jedoch erneut mit 23, 7 % der Stimmen fast so stark wie die siegreiche UCRP, deren Kandidat Arturo Illia mit 24, 9 ’/o der Stimmen zum Präsidenten gewählt wurde
Der Peronismus hatte noch immer nichts von seiner Attraktivität eingebüßt. Auch Illia glaubte — insbesondere nachdem viele peronistische Wähler 1963 den Anweisungen Peröns nicht gefolgt waren — die Peronisten wieder zulassen zu können. Resultat war ein neuer überwältigender Wahlsieg der Peronisten, die mit 35 °/o der Stimmen bei den Kongreßwählen von 1965 ihr bestes Ergebnis seit dem Verbot der Partei erzielten — 10 Jahre nach dem Sturz des Diktators. Die Dominanz der Peronisten im Kongreß, die die Regierung Illia weitgehend lähmte, führte schließlich 1966 zu erneutem Eingreifen der Militärs, die den Präsidenten stürzten, den Kongreß auflösten und alle Parteien verboten. Auch heute sind die Peronisten nach wie vor die stärkste geschlossene politische Gruppierung in Argentinien. An dem Versuch, diese Tatsache zu negieren, sind auch die beiden Militärregierungen Ongania und Levingston gescheitert, und der neue Machthaber, General Lanusse, scheint gerade dabei zu sein, dieser Tatsache in Zukunft Rechnung zu tragen Wie erklärt es sich nun, daß der Peronismus auch mehr als 15 Jahre nach dem Sturz des Diktators noch immer die stärkste politische Kraft Argentiniens ist? Die heutigen Anhänger Peröns scheinen Szulc's Urteil über die peronistische Regierung als einer „Diktatur fast völlig ohne positive Aspekte“ jedenfalls nicht zu teilen. Offensichtlich haben die unteren Bevölkerungsschichten in Argentinien noch nicht vergessen, daß es Perön war, der ihre Integration in die Gesellschaft ermöglicht hat. Daran können auch der Nachweis der Korruption aufgedeckte Skandale und der wirtschaftliche Niedergang, den der Peronismus verschuldete nichts ändern.
IV. Die Wahlchancen ehemaliger Militärdiktatoren
Getulismus und Peronismus werden in der Regel den populistischen Bewegungen in Lateinamerika zugerechnet Ihre Verankerung in den Bevölkerungsgruppen, die erst mit Hilfe der Bewegung in die nationale Gesellschaft integriert wurden (und dabei ein Minimum an sozialer Sicherheit erhielten), ist in Brasilien und Argentinien nach wie vor weitgehend unabhängig von der Person des politischen Führers erhalten geblieben
Aber nicht nur Führer solcher populistischer Bewegungen (mit ideologischen Fundierungen wie Nationalismus, Industrialisierung, gerechte Verteilung des Reichtums etc.), sondern auch Militärdiktatoren „klassischer Prägung" haben es in Lateinamerika nicht selten vermocht, auch in „freien demokratischen Wahlen" beträchtliche Stimmenzahlen zu -er Beispiel Wie zielen. Ein frühes war 1952 die -derwahl des Exdiktators Carlos Ibanez in Chile. Chile ist das Land mit der längsten demokratischen Tradition in Lateinamerika. Seit 1831 gab es nur zwei gewaltsame Machtwech-sei: 1891, als Präsident Balmaceda gestürzt wurde und das präsidentielle System des Landes einem parlamentarischen weichen mußte und 1924, als ein Militärputsch zur Wiedereinführung des präsidentiellen Systems führte Die Herrschaft der Militärs dauerte von 1924 bis 1931, und der zweite Präsident dieser Periode war General Carlos Ibanez, der 1927 den Rücktritt des Präsidenten Emiliano Figueroa erzwungen hatte. Ibanez, der sich zunehmend autoritärer gebärdete wurde 1931, nachdem es ihm nicht gelungen war, die größer werdende ökonomische Krise zu überwinden, in der sich Chile im Sog der Weltwirtschaftskrise befand, durch einen von den öffentlichen Bediensteten, Lehrern und Studenten initiierten Bummelstreik zum Rücktritt und zum Verlassen des Landes gezwungen Mit Beginn der Volksfront-Regierungen unter der Führung des Partido Radical (1938— 1952) wurde Ibanez erneut politisch aktiv tätig, und zwar innerhalb des Partido Agrario Laborista, einer Abspaltung der alten Liberalen Partei. Bereits 1942 errang er 44 °/0 der abgegebenen Stimmen, unterlag damit aber gegen den Volksfront-Kandidaten Juan Antonio Rios. 1952 kandidierte er erneut und erreichte mit 45, 2 % der Stimmen gegen drei weitere Kandidaten die relative Mehrheit.
Das Wahlergebnis kam vor allem durch den Zerfall der Volksfront zustande, die der letzte radikale Präsident Gabriel Gonzales Videla durch das „Gesetz zum ständigen Schutz der Demokratie" aus dem Jahre 1948, mit dem die Kommunistische Partei verboten worden war, selbst zerstört hatte Der Kandidat der Radikalen Partei, Pedro Alfonso, erreichte mit fast 20 °/o immerhin noch ein Achtungsergebnis, das nur knapp unter dem Ergebnis der Parlamentswahlen des Jahres 1949 (dem besten Ergebnis, das die Radikalen bis zu diesem Zeitpunkt je erreicht hatten) lag. Das widerspricht der Annahme Johnsons, der Sieg von Ibanez sei auf die Desertion der mit der Volksfront unzufriedenen Mittelschichten von der Radikalen Partei zurückzuführen gewesen Viel-mehr scheint die uneffektive Verwaltung der Volksfront-Regierungen viele Wähler der Links-Parteien davon abgehalten zu haben, den beiden mit der Volksfront identifizierten Kandidaten Alfonso und Allende ihre Stimme zu geben. Gerade die Wähler der Linken müssen also Ibanez gewählt haben und damit einem Kandidaten ihre Stimme gegeben haben, der die traditionell herrschenden wohlhabenden Schichten des chilenischen Südens verkörperte. Nur so ist das überaus schlechte Abschneiden des gemeinsamen Kandidaten von Sozialisten und Kommunisten, Salvador Allende, zu erklären, denn bei den Parlamentswahlen von 1949 hatten allein die sozialistischen Parteien fast 10 °/o der Stimmen erhalten
Ibanez wurde, obwohl er nicht die zur Wahl erforderliche absolute Mehrheit der Stimmen erhalten hatte, nach der politischen Tradition Chiles vom Kongreß zum Präsidenten gewählt Die von der Wählerschaft offenbar erwartete höhere Effizienz der Regierung Ibanez blieb jedoch aus. Ibanez, bei seiner Wahl bereits 75 Jahre alt, hatte nicht mehr die Dynamik, die seine Diktatur zwischen 1927 und 1931 gekennzeichnet hatte. Zudem fehlte ihm die Unterstützung im Parlament, nachdem die Volkssozialisten, die Ibanez'Koalitionsangebot zunächst angenommen hatten, bereits sechs Monate später die Koalition verließen Wie sehr seine Wahl eine „Persönlichkeitswahr'gewesen war, zeigte sich bei den Parlamentswahlen im Jahre 1953: sein Partido Agrario Laborista erhielt nur 15, 1 °/o der Stimmen — bis 1961 hatte sich die Partei völlig aufgelöst. Ohne parlamentarischen Rückhalt mußte seine Regierung erfolglos bleiben — 135 Minister wechselten sich während seiner Amtszeit im Kabinett ab und nichts von dem, was sich die Wähler von ihm versprochen hatten, wurde verwirklicht
In einer ähnlichen Situation wie Chile 1952 befand sich Kolumbien im Jahre 1970. So wie sich in Chile die Volksfront-Regierung als un-fähig erwiesen hatte, die versprochenen Reformen durchzuführen, war in Kolumbien 1970 die Koalitionsregierung aus den beiden traditionellen Parteien des Landes, die soge-nannte Regierung des „Frente Nacional", auf dem Tiefpunkt ihrer Popularität angelangt Das System des Frente Nacional, das durch ein Abkommen zwischen Vertretern der beiden traditionellen Parteien 1957 in Spanien mit dem Ziel, den Diktator Gustavo Rojas Pinilla zu stürzen, geschaffen worden war, sah vor, daß sich Liberale und Konservative für 16 Jahre in der Präsidentschaft abwechselten und die Mandate im Kongreß und alle anderen politischen Ämter zu gleichen Teilen auf die beiden Parteien aufgeteilt wurden. Dieses System der großen Koalition hatte die Erwartungen der Wählerschaft in keiner Weise zu erfüllen vermocht, zumal das wirtschaftliche Wachstum des Landes durch den außergewöhnlich starken Bevölkerungszuwachs wieder wett-gemacht worden war. 1970 begann die letzte Regierungsperiode unter dem System des „Frente Nacional", und die Konservative Partei hatte nach der Verfassung das Recht, den Präsidenten zu stellen. Die fehlende Geschlossenheit der Partei führte dazu, daß sich vier Kandidaten um die Präsidentschaft bewarben, unter ihnen Ex-Diktator Gustavo Rojas Pinilla, der Führer der oppositionellen Allianza Nacional Populär (ANAPO), die, da die Verfassung nur zwei Parteien zuläßt, gleich als Untergruppe beider Parteien auftrat und auch innerhalb beider Parteien erhebliche Stimmen-und Mandatsgewinne erreichte. Die Zersplitterung der Konservativen ruckte einen Rojas-Sieg mehr und mehr in den Bereich des Möglichen, zumal die ANAPO unter der Regie von Rojas'
Tochter Maria Eugenia eine außerordentlich intensive und wirkungsvolle Wahlkampagne führte Nachdem die ANAPO bereits 1966 750 000 Stimmen erreicht hatte, rechnete Rojas für 1970 mit 1, 2 Mio. Stimmen.
Diese Annahme schien keineswegs unrealistisch, und der amtierende (liberale) Präsident Carlos Lleras Restrepo sah sich noch kurz vor der Wahl gezwungen, seine angekündigte Neutralität aufzugeben und öffentlich für den offiziellen Kandidaten, Misael Pastrana, Partei zu ergreifen. Aber selbst diese Unterstützung reichte nicht aus. Am Abend des Wahltages führte Rojas Pinilla bei der Auszählung deutlich vor Pastrana. Wie das Wahlergebnis tatsächlich ausgesehen hat, wird sich kaum jemals ganz sicher feststellen lassen. Jedenfalls ermittelten die Wahlbehörden, nachdem zunächst eine Nachrichtensperre verhängt und eine erneute Auszählung verfügt worden war, eine knappe Mehrheit von 2 % der Stimmen für Pastrana. Die gesamten Umstände der Aus-zählung und die regierungsamtliche Informationspolitik vor Bekanntgabe des „offiziellen" Ergebnisses lassen zumindest erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Ergebnisses aufkommen
Rojas hat diesen ungewöhnlichen Wahlerfolg vor allem durch einen Wahlkampf erreicht, der auf den Versäumnissen des „undemokratischen" Systems des Frente Nacional aufgebaut war, das bei den Wählern ohnehin an Attraktivität verloren hatte Die Tatsache, daß mit Rojas erstmals seit 1950 wieder eine chancenreiche Opposition zur Wahl stand, steigerte die Wahlbeteiligung dabei von 27 °/o (1968) auf fast 50 0/0.
Erste Analysen der Wahl, die vom Statistischen Amt Kolumbiens veröffentlicht wurden, zeigen, daß Rojas gerade von den Wählern gewählt worden ist, die unter dem geringen wirtschaftlichen Wachstum und unter dem raschen Bevölkerungszuwachs besonders leiden: den Unterschichten, die vor allen Dingen in den Randzonen der Großstädte konzentriert sind
In den Großstädten lag Rojas deswegen auch sehr deutlich vor Pastrana. In den gleichzeitig gewählten kommunalen Parlamenten der Großstädte ist die ANAPO fast überall die stärkste Fraktion geworden. Dabei erscheint ihr Potential noch keineswegs ausgeschöpft: die größte Zahl der Nichtwähler entstammt den Unterschichten, also dem Teil der Bevölkerung, der offenbar am ehesten für den Ex-Diktator zu mobilisieren ist.
Auch in Kolumbien sind es also die Stimmen der natürlichen Wähler linker Parteien, die einem früheren Diktator ihre Stimmen geben, weil sie glauben, daß er die bestehenden Probleme, insbesondere im sozio-ökonomischen Bereich, effizienter in Angriff nehmen würde, als die traditionellen politischen Parteien, deren Mißerfolg sie aller Sympathien beraubt hat.
Auch in Kolumbiens südlichem Nachbarland Peru versuchte ein früherer Militärdiktator, in demokratischen Wahlen die freiwillig abgegebene Macht zurückzuerobern: Manuel Odria, der 1948 durch einen Staatsstreich die Macht übernommen hatte. 1956 schrieb Odria Wahlen aus, aus denen Expräsident Manuel Prado (1939— 1945) als Sieger hervorging Unter Prado wurde Perus stärkste Partei, die Partido Aprista Peruano unter Victor Haya de la Torre, nach mehr als 20jährigem Verbot wieder zugelassen Prado arbeitete zwar mit der APRA zusammen, bemühte sich aber, sie aus den wichtigsten politischen Ämtern fernzuhalten, da er fürchtete, die Feindschaft zwischen dem peruanischen Militär und der APRA könnte zu einem neuen militärischen Staatsstreich führen Am Ende der Regierungszeit Prados entschied sich der Präsident jedoch, den APRA-Führer Haya de la Torre bei den Präsidentschaftswahlen von 1962 zu unterstützen. Gegenkandidaten Hayas waren der 1956 abgetretene Diktator Odria, unterstützt von der von ihm gegründeten konservativen Union Nacional Odriista (UNO), und der Führer des seit 1956 zu politischer Bedeutung aufgestiegenen Partido Accin Populär, Fernando Belaünde Terry. Daneben kandidierten noch einige kleinere Parteien, an der Spitze der Partido Social Cristiano mit seinem Parteiführer Hector Cornejo Chavez. Die Wahl endete mit einem überraschenden Sieg Haya de la Torres über alle anderen Kandidaten. Haya erhielt dabei jedoch nur 0, 7 °/o mehr Stimmen als sein schärfster Konkurrent Belaünde und war damit zwar stärkster Kandidat, ihm fehlten jedoch einige Hundert Stimmen an dem nach der Verfassung erforderlichen Drittel aller abgegebenen Stimmen Dadurch wurde die Wahl in den Kongreß verlagert. Im Kongreß war die APRA zwar die stärkste Partei, sie mußte aber eine Koalition bilden, um eine Mehrheit herzustellen. Nachdem Verhandlungen mit Belaünde gescheitert waren, machte die APRA Odria ein Koalitionsangebot, nach dem APRA und UNO Odria zum Präsidenten und einen APRA-Vertreter zum Vizepräsidenten wählen sollten Ex-Diktator Odria schien damit sein Ziel, erneut und diesmal demokratisch zum Präsidenten gewählt zu werden, erreicht zu haben. Eine Machtübernahme der UNO-APRA-Koalition erschien den peruanischen Militärs jedoch nicht akzeptabel. Sie forderten den amtierenden Präsidenten Prado auf, die Wahlen zu annullieren. Als dieser sich weigerte, übernahmen sie selbst die Macht Unter innerem und äußerem Druck entschlossen sich die Militärs jedoch, 1963 eine neue Wahl abhalten zu lassen. Die Kandidaten waren gleichen wie im Vorjahr. Lediglich die kleinen Parteien verzichteten auf eine neue Kandidatur. Der christlich-soziale Kandidat offiziell zugunsten des Accin Popular-Kandidaten Belaünde Terry, der dadurch — bei offenbar durch die lange Wahlkampagne stark angestiegener Wahlbeteiligung — Haya de la Torre überflügeln konnte. Odrias Anteil ging um etwa 3 °/o zurück.
Die Wahlen von 1962 und 1963 in Peru
Die Zusammenarbeit mit der APRA hat Odria offenbar einigen Kredit bei seinen Wählern gekostet. Unzufriedene UNO-Wähler dürften deshalb 1963 Belaünde als das kleinere Übel gewählt haben. Der AP-Kandidat siegte aber sicher nicht zuletzt wegen der Koalition mit den Christlich-Sozialen und der Unterstützung durch die Militärjunta.
Nach dieser Niederlage dürfte Odria kein politisch bedeutsamer Faktor mehr sein. Sein schlechter Gesundheitszustand und verschiedene Skandale um seine Person haben sicher dazu beigetragen. Seine personalistische Partei dürfte ohnehin seinen Tod kaum überdauern. Zudem hat der neuerliche Staatsstreich von 1968 in Peru neue Verhältnisse geschaffen, unter denen die traditionellen politischen Parteien zumindest vorerst keine nennenswerte Rolle mehr spielen
Anders als Odria in Peru und Rojas Pinilla in Kolumbien, schon ihres denen wegen Alters kaum noch Chancen auf eine erneute Präsidentschaft eingeräumt werden ist können, die Situation für Ex-Diktator Marcos Perez Jimenez in Venezuela erheblich günstigereinzu-schätzen. Zwar hatte der 1957 von der Macht verdrängte Perez Jimenez bei seinem ersten* Auftritt in demokratischen Wahlen 1968 noch keine Chance, gewählt zu werden, aber er verbuchte einen kaum erwarteten Anfangserfolg. Perez Jimenez konnte, nachdem er vom Obersten Gerichtshof wegen Unterschlagungen während seiner Präsidentschaft verurteilt worden war, nicht für die Präsidentschaft kandidieren, doch erreichte seine 1967 gegründete Partei CCN (Cruzada Civica Nacionalista) bei den Wahlen zum Senat 11, 0 °/o der abgegebenen Stimmen — und das trotz Verzichtes auf einen nennenswerten Wahlkampf Im rapide wachsenden industrialisierten Zentrum des Landes erreichte Perez Jimenez'CCN sogar 20, 5 °/o der Stimmen — eine hervorragende Ausgangslage für die Wahl von 1973, für die Perez Jimenez bereits jetzt als erster und keineswegs chancenloser Kandidat feststehen dürfte Die Tatsache, daß Perez Jimenez'Anhängerschaft gerade in den stark industrialisierten Gebieten besonders groß ist, läßt darauf schließen, daß sich darunter — ebenso wie in der Anhängerschaft Rojas Pinillas'in Kolumbien und Odrias in Peru — eine große Anzahl „geborener" linker Wähler befinden. Die Unzufriedenheit mit dem herrschenden System, das insbesondere die Lage der unteren Schichten trotz vieler Versprechungen nicht wesentlich zu verbessern vermochte, treibt viele Wähler in das Lager von Gruppen, die mit nationalistischen Argumenten und oft demagogischen Versprechungen, die ohnehin nicht realisierbar sind, Hoffnung auf Besserung aufkommen lassen.
V. Einige Thesen zur Motivation der Wähler ehemaliger Diktatoren
Die Gründe für das gute Abschneiden von ehemaligen Diktatoren in Ländern mit außerordentlich unterschiedlichen Strukturen sind bislang nicht systematisch untersucht worden. Es scheint aber bereits nach der Darstellung der wichtigsten Fälle von erfolgreichen Versuchen dieser Art während der letzten drei Jahrzehnte deutlich zu sein, daß eine Unterscheidung von „rechten" und „linken“ (also progressiven) Diktatoren nicht weiterhilft. Kaum einer der ehemaligen Diktatoren, die sich in demokratischen Wahlen mit Erfolg zur Wahl stellten, ist eindeutig in ein Rechts-Links-Schema einzuordnen. Perns progressive Sozialpolitik wurde von einer Innenpolitik begleitet, die viele Autoren dazu veranlaßte, seine Regierung als neofaschistisch zu bezeichnen — ähnliches gilt für Vargas. Perez Jimenez'und Rojas Pinillas’ Wohnungsbau-programme für benachteiligte Bevölkerungsgruppen standen neben Beschränkungen der Pressefreiheit, Aussetzung der Freiheitsrechte und offenem Polizeiterror gegen politische Gegner. Auch Szule'Differenzierung in effiziente und wohlwollende auf der einen und unfähige und korrupte Diktatoren auf der anderen Seite scheint wenig brauchbar zu sein, da die verwendeten Kriterien kaum operationalisierbar sind und somit die Einordnung völlig vom Standpunkt des Beobachters abhängig ist
Aber sowohl Diktatoren eher konservativer Herkunft (Rojas Pinilla z. B. oder Odria) als auch solche mit einem progressiven Programm (Perön, Vargas) haben offensichtlich Chancen, auch in demokratischen Wahlen wiedergewählt zu werden. Ihre Chance scheint immer dann am größten zu sein, wenn andere Regime (ganz gleich ob demokratische oder autoritäre) die Erwartungen großer Teile der Wählerschaft nicht zu erfüllen vermögen. Nur so ist es zu erklären, daß ehemalige Diktatoren insbesondere aus den Bevölkerungsschichten, die zur sozialen Unterschicht gehören und die die „geborenen" Wähler linker—• also sozialdemokratischer, populistischer, sozialistischer oder kommunistischer — Parteien sein müßten, einen erheblichen Teil ihrer Stimmen rekrutieren. Da diese Bevölkerungsschichten in allen Ländern Lateinamerikas das rapideste Wachstum aufweisen und die Unzufriedenheit in diesen Schichten weiter wächst, dürfte das Potential, auf das sich demagogische Führungspersönlichkeiten vom Typ eines Peron oder eines Perez Jimenez stützen können, in Zukunft noch wachsen.
Welche Konsequenzen sind nun daraus zu ziehen, daß in fast allen Ländern des lateinamerikanischen Subkontinents die Möglichkeit besteht, daß auf dem Weg über demokratische Wahlen Bewegungen, Parteien oder Persönlichkeiten an die Macht kommen, die Demokratie ablehnen oder ihr zumindest skeptisch gegenüberstehen?
Für das Vorhandensein eines demokratischen Systems reicht offenbar das Abhalten von Wahlen — auch wenn sie noch so freiheitlich organisiert sind — keineswegs aus. Es sind eine Reihe von Grundbedingungen erforderlich, die in den meisten Ländern Lateinamerikas nicht oder nur unvollständig vorhanden sind: „Die persönlichen Grundrechte, die dem Bürger auch wirklich gewährt werden müssen ..., die Trennung der Machtfunktionen, das Prinzip der Mehrheit, der demokratische Konsensus, die rechtlich geregelte demokratische Ordnung, die Garantie für freie Organisation und Betätigung der politischen Parteien, die demokratischen Wahlen, der Grundsatz der Öffentlichkeit der demokratischen Debatte, der demokratische Ausgleich der Interessen der verschiedenen Gruppen und Verbände und schließlich die demokratische Kontrolle der politischen Macht"
Alle diese Voraussetzungen können aber nur gegeben sein, wenn eine Teilnahme der Bevölkerung am politischen System möglich ist. Das wiederum ist nur möglich, wenn „ein Minimallebensstandard für die Bevölkerung" erreicht, ein „guter und allgemeiner Bildungsstand" vorhanden, der Analphabetismus beseitigt, eine gemeinsame, von allen Mitgliedern der Gesellschaft gesprochene Sprache und ein System von Massenmedien vorhanden ist, das die zur politischen Beteiligung notwendigen Informationen über das politische Geschehen jedermann zugänglich macht
In den meisten Ländern Lateinamerikas ist für die Masse der Bevölkerung der Minimal-lebensstandard nicht erreicht. Ein Fundamentalkonsensus — also eine Übereinstimmung über die Grundlagen des politischen Systems — ist von diesem Teil der Bevölkerung nicht zu erwarten. Ein System, das kaum das überleben und noch weniger ein menschenwürdiges Dasein erlaubt, kann nicht ihre Zustimmung finden Die Wahlentscheidung dieser Bevölkerungsgruppen kann deshalb auch keine Entscheidung für oder gegen die Demokratie sein; sie ist lediglich eine Entscheidung für diejenige Person (und ihre Anhängerschaft), von der sie die höhere Effizienz in bezug auf die Verbesserung ihrer Situation erwarten.
Offenbar wird die Effizienz eines ehemaligen Diktators — auch wenn er wie im Falle Kolumbiens von Außenstehenden als „einer der skrupellosesten Diktatoren in der jüngeren Geschichte Lateinamerikas" bezeichnet wird — höher eingeschätzt als die (meist nur formal) demokratisch organisierter Regierungen. Das gilt insbesondere bezüglich der Sicherung der physischen Existenz, einer Garantie der Arbeitsplätze (das mag in vielen Fällen erst die Weckung von Arbeitsinteresse und Arbeitswilligkeit voraussetzen der Beteiligung der breiten Masse der Bevölkerung am wirtschaftlichen Wachstum, einer Verringerung sowohl des Unterschiedes zwischen arm und reich als auch des Unterschiedes zwischen den Ländern Lateinamerikas und den Industrienationen (des Westens und des Ostens). Solange die Erfüllung dieser Forderungen (der Katalog ist keineswegs vollständig und enthält nur Minimalbedingungen) eher von charismatischen Führungspersönlichkeiten als von demokratischen Regimen erwartet wird, auch wenn diese Führer zu früheren Zeiten einmal diktatorisch regiert haben — und z. T. auch keinen Hehl daraus machen, daß sie es in Zukunft erneut so zu halten gedenken —, werden Politiker wie Perön, Perez Jimenez und Rojas Pinilla auch aus freien Wahlen als Sieger hervorgehen. Und solange das der Fall ist, ist es widersinnig, von einer Rückkehr zur Demokratie zu sprechen, wenn in einem Entwicklungsland „freie Wahlen" angesetzt werden. Demokratie ist nicht denkbar, wenn ein großer Teil der Bevölkerung von der Beteiligung ausgeschlossen ist, und das ist heute noch in fast allen lateinamerikanischen Ländern der Fall. Eine demokratische Herrschaftsform in Lateinamerika wird also erst möglich sein, wenn die sozio-ökonomischen und kulturellen Mindestbedingungen erfüllt sind: Beseitigung der Armut, des Analphabetismus, eine ausreichende Gesundheitsfürsorge für alle und eine gemeinsame Sprache als Voraussetzung für die Partizipation am politischen Geschehen. Die (formell) demokratischen Systeme in Lateinamerika sind bislang diesen Zielen kaum nähergekommen — aber auch die Hoffnung vieler Wähler, daß ehemalige Diktatoren mehr erreichen könnten, hat bislang stets getrogen.
Die demokratischen Regime in Lateinamerika stehen heute — wenn es nicht auch dazu schon zu spät ist — vor der entscheidenden Wende: entweder akzeptieren die ökonomischen und politischen Eliten die Notwendigkeit einer Strukturveränderung großen Ausmaßes oder es besteht die Gefahr, daß eine gewaltsame Revolution die bisherigen Regierungssysteme beseitigt, um die notwendigen Reformen auf ihre Weise durchzuführen. Die zukünftige politische Ordnung in Lateinamerika würde dann sicher nicht mehr dem Konzept „westlicher Demokratie" entsprechen. Es gibt bereits heute viele Stimmen, die daran zweifeln, daß demokratische Systeme zu diesen Veränderungen überhaupt in der Lage sind, da das Interesse der herrschenden Eliten dem als unüberwindliches Hindernis im Wege stehe 3. Die Erfahrungen sprechen bislang kaum gegen sie.
Ernst -J. Kerbusch, Dr. rer. pol., Wissenschaftlicher Assistent im Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln, geb. am 22. Mai 1943 in Rheydt. Veröffentlichungen u. a.: Kollegiale Exekutive in Uruguay. Ein gescheitertes Experiment, Jahrbuch Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Köln 1967; Uruguay in der Verfassungskrise, Jahrbuch Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Köln 1969; Das uruguayische Regierungssystem. Der Zweite Colegiado 1952— 1967, Köln 1971.
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