Bei den uruguayischen Präsidentschafts-und Parlamentswahlen vom 28. November 1971 bewirbt sich zum ersten Mal in der Geschichte des Landes eine Volksfront. Sie bietet der Wählerschaft eine substantiell neue Alternative als Antwort auf eine tiefgreifende ökonomische, soziale und politische Krise des einst wegen seines politischen Systems, seiner Sozialpolitik und politischen Kultur als Ausnahme in Lateinamerika angesehenen Landes. Der Autor zeigt zunächst die ökonomischen, sozio-politischen und institutioneilen Entwicklungen und Faktoren auf, die zu der heutigen Situation geführt und Uruguay . lateinamerikanisiert" haben. Nach einer knappen Skizzierung der traditionellen Parteien wird vor allem Genesis und Programm der Frente Amplio untersucht, die uruguayische Volksfront im lateinamerikanischen Vergleich einzuordnen versucht und speziell als ein seiner Grundstruktur nach demokratisches Bündnis von der chilenischen Unidad Populär abgegrenzt. Es wird nach der Stellung von Militär und Kirche gefragt, die den Wahlprozeß beeinflussen, und eine Analyse der öffentlichen Meinung unternommen, die zu dem Ergebnis führt, daß das allgemeine Krisenbewußtsein der Wählerschaft noch nicht zu einer von der Wählertradition grundlegend abweichenden Stimmabgabe führen wird. Schließlich werden einige Aspekte des Verhältnisses von Wahlen und politischem Wandel behandelt und die Bedeutung der uruguayischen Wahlen im Kontext der Auseinandersetzung zwischen Wahlen und Gewalt als Methoden der Machterlangung aufgezeigt.
Ein Jahr nach dem Wahlsieg des marxistischen Kandidaten Salvador Allende bei den chilenischen Präsidentschaftswahlen steht für die Republik Uruguay eine Wahlentscheidung an, die für das Land wie für den Subkontinent ähnliche Bedeutung haben könnte wie die chilenische Wahl"). Am 28. November 1971 werden in Uruguay sämtliche politischen Mandate erneuert. Die wichtigste Wahl ist die des Präsidenten des Landes; aber auch die Senats-und Abgeordnetenhauswahlen haben im polititischen Uruguays große Bedeutung. System Daneben werden noch die Provinzvertretungen und die Intendanten der Städte bzw. Departements neu bestellt.
Zum erstenmal in der Geschichte des Landes bewirbt sich bei den kommenden Wahlen eine Parteienkombination, die Volksfrontcharakter hat und die das Parteiensystem des Landes grundlegend verändern wird. Verschiedene politische Gruppen, die bislang keine besondere Rolle in der uruguayischen Politik gespielt haben, haben sich — angeführt von der Christlich-demokratischen Partei — zur Frente Amplio (Breite Front) zusammengeschlossen und bilden eine gänzlich neue Alternative eines bislang traditionell auf zwei große politische Gruppierungen, Colorados und Blancos, auch Nationale genannt, festgelegten Parteien-systems. Die Frente Amplio versucht, mittels demokratischer Wahlen das Mandat zur Durchführung eines Programms zu erhalten, das den politischen und sozialen Wandel eines von einer tiefen Krise betroffenen Landes einleiten will. Wiederholt sich möglicherweise innerhalb von 15 Monaten eine in Chile gemachte Erfahrung, daß sozialrevolutionäre Bewegungen unter Beachtung der Spielregeln der bürgerlichen Demokratie die politische Macht gewinnen können? Welches sind die sozio-ökonomischen und politischen Voraussetzungen und Möglichkeiten des Falles Uruguay? Welche Bedeutung kommt ihm in lateinamerikanischer Perspektive zu?
Uruguay, ein lateinamerikanisches Land
Während vieler Jahrzehnte hat Uruguay, das heute etwa 2, 8 Millionen Einwohner zählt, eine viel gerühmte Ausnahme unter den lateinamerikanischen Ländern dargestellt. Vielfach mit der Schweiz und ihrer besonderen Entwicklung in Europa verglichen, vermochte das Land im pol 8 Millionen Einwohner zählt, eine viel gerühmte Ausnahme unter den lateinamerikanischen Ländern dargestellt. Vielfach mit der Schweiz und ihrer besonderen Entwicklung in Europa verglichen, vermochte das Land im politisch und sozial bewegten, von Revolutionen verschiedenster Observanz erschütterten Subkontinent ein stabiles politisches System aufzubauen und eine fortschrittliche Sozialgesetzgebung zu erlassen, die ihm den Titel des ersten Wohlfahrtsstaates La-teinamerikas einbrachten 1). Seit 1830 unabhängig, gelangte Uruguay bereits mit Beginn unseres Jahrhunderts zur Einrichtung eines Parteiendualismus zweier Parteien, die ohne Interventionen der bewaffneten Streitkräfte die Politik des Landes bestimmten 2). 1 Heute dagegen ist Uruguay ein „lateinamerikanisiertes" Land, gekennzeichnet wie seine Nachbarn durch wirtschaftliche Stagnation, Inflation und außenwirtschaftliche Abhängigkeit. Es hat den sozio-ökonomischen Kontext des Subkontinents nicht verlassen und scheint eher noch tiefer als andere Länder Lateinamerikas von den Merkmalen und Auswirkungen der Unterentwicklung betroffen. Es konnte nicht ausbleiben, daß die ökonomischen Probleme und die ungerechten Sozialstrukturen Uruguay auch in politisch-ideologischer Hinsicht und in den Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens nach Lateinamerika zurückführten. Repression von oben und violencia, Gewalt von unten, traten in den Vordergrund der Politik. Das Auftauchen der revolutionären städtischen Untergrundbewegung der Tu-pamaros und ihre spektakulären Aktionen haben auch die Weltöffentlichkeit rasch ein sehr verändertes Bild von der uruguayischen Wirklichkeit gewinnen lassen.
Die Analyse dieser Wirklichkeit muß davon ausgehen, daß zwischen politischem System, politischen Traditionen und Verhaltensweisen eines Landes einerseits und sozio-ökonomischer Entwicklung andererseits ein enger Zusammenhang besteht. Wenn wir die Grundlagen und Strukturen der uruguayischen Politik beurteilen wollen, haben wir heute — von sozio-ökonomischen Problemen ausgehend — teilweise neue Kriterien anzulegen, die auch die in vielen Jahrzehnten entwickelte politische Kultur des Landes unter anderem Licht erscheinen lassen.
Die Basis für eine zunächst den Rahmen Lateinamerikas sprengende gesellschaftliche und politische Entwicklung Uruguays bildete in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts die wenig kapitalintensive und mit geringer Technologie auskommende Landwirtschaft Boden und Klima begünstigten die von staatlicher Seite geförderte Produktion, die im funktionierenden System der internationalen Arbeitsteilung hohe Exportüberschüsse abwarf. Die ökonomische Expansion ging einher mit einer zielbewußten Modernisierung des Landes in sozio-kultureller, politisch-institutioneller und sozialer Hinsicht. Relativ frühzeitig wurde die politische Macht demokratisiert erfolgte die Integrierung der Mittelschichten und wurde eine fortschrittliche Sozialpolitik durchgeführt (Achtstundentag, Mindestlöhne für Landarbeiter, Arbeitsunfallgesetz, Schutzbestimmungen bei Frauenarbeit etc.), die ein spezifisches Merkmal der uruguayischen sozio-politischen Entwicklung geblieben ist Während der Periode hoher Exporte bildete sich das Kapital und auch der Markt für eine dynamische Industrialisierung, die Basis eines qualitativen Umschlags der Wirtschaft von der Periode des „Wachstums nach außen" zur Periode des „Wachstums nach innen"
Dieser Wandel in der Wirtschaftsorientierung ergab sich in Uruguay indes bald zwangsläufig als Folge des Preiseinbruchs bei den landwirtschaftlichen Produkten während der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der dreißiger Jahre. In dieser Krise zeigte sich nicht nur, daß das Kapitalaufkommen der uruguayischen Wirtschaft als Produzent von Primärgütern vollkommen vom Weltmarkt abhängig war, sondern vor allem, daß der Verfall der Preise die inländische Produktion entscheidend bestimmte. Die Exportleistungen der uruguayischen Landwirtschaft aus den Jahren 1925 bis 1930 wurden seither nicht mehr erreicht.
Während jedoch die Produktion landwirtschaftlicher Güter stagnierte, entwickelte sich die „importsubstitutive Industrialisierung" zum Eckpfeiler des wirtschaftlichen Wachstums. Der Wert der industriellen Produktion stieg in den Jahren von 1936 bis 1955 um einen jährlichen Mittelwert von 6, 5 Prozent Doch blieb die Industrietätigkeit wesentlich auf die Befriedigung des — für die moderne Techno-logie im übrigen zu kleinen — eigenen Marktes beschränkt. Nur zehn Prozent der Produktion gingen in den Export.
Die sozio-ökonomische Entwicklung auf der Basis importsubstitutiver Industrialisierung reichte aber aus, um die städtische Arbeiterschaft, die im industriellen Sektor seit 1930 von 77 000 bis 1960 auf 207 000 anstieg, in das politische System zu integrieren. Was die Wirtschaft nicht an zur Verfügung stehender Arbeitskraft absorbieren konnte, fing der Staat durch Erweiterung des Verwaltungsapparats auf. Er erzielte damit einen politisch zunächst unbestrittenen positiven Effekt. Solange nur das Wirtschaftswachstum nachkam, konnten die traditionellen staatstragenden Parteien die Bedürfnisse ihrer Klientel weitgehend befriedigen und eine breite Mittelschicht schaffen, die vital an der Stabilität des eingerichteten politischen Systems interessiert war. Die staatliche Bürokratie, die in enger Interessenverbindung mit den traditionellen Parteien verblieb, wurde dabei zur entschiedensten Stütze gegen revolutionäre Ideen und Bewegungen auf der Linken
Die sozio-politischen Kriterien und Bedingungen einer aufgeblähten Verwaltung, die weder Stellenpläne noch Laufbahnen kannte, wandelten sich, als die Wirtschaft seit 1956 zu stagnieren begann. Die in der staatlichen Verwaltung unkündbaren Posten, die 1961 21, 1 Prozent der aktiven Bevölkerung umfaßten banden wichtige Arbeitskraft in für die Volkswirtschaft weniger produktiven Beschäftigungen und belasteten eine Wirtschaft, deren jährliche Zuwachsrate sich dem Nullwert näherte, ja ins Minus ging Da sich einerseits — anders als in der landwirtschaftlichen Krise zu Beginn der dreißiger Jahre — kein neues Feld zeigte, in dem wirtschaftliches Wachstum erzielt werden konnte, und andererseits — als Folge davon — die distributiven Fähigkeiten des Staates, die vordem Wachstums-und so-zialpolitisch regulierend gewirkt hatten, nachließen, schien die sozio-ökonomische Innovationskapazität des politischen Systems erschöpft. Seit 1956 ist die uruguayische Volkswirtschaft in erster Linie durch Stagnation der Industrie und Rückgang der Agrarproduktion gekennzeichnet. Weder kann der Konsumbedarf des Inlandsmarktes durch die nationale Produktion gedeckt werden noch ist die Agrarproduktion in der Lage, hohe Exportgewinne zu erzielen. Bezogen auf den Kopf der Bevölkerung ist die landwirtschaftliche Produktion im Jahre 1970 um 10 Prozent geringer als 1966 und um 15 Prozent geringer als 1955. Der Indexwert für 1968 beträgt 86 bei 100 als Mittelwert der Agrarproduktion der Jahre 1952 bis 1956 Die landwirtschaftlichen Produkte stellen nach wie vor 90 Prozent der uruguayischen Exporte dar.
Zu den weiteren Kennzeichen der Wirtschaftslage gehören u. a. eine negative Zahlungsbilanz, eine hohe Auslandsverschuldung und enorm hohe Inflationsraten, die vor allem die kleinen Lohn-und Gehaltsempfänger und die Rentner treffen und die ungerechte Einkommensverteilung verstärkt haben. Uber die Hälfte der etwa 300 000 Funktionäre der öffentlichen Verwaltung büßten ihren früheren Lebensstandard ein und erreichen nur noch ein Realeinkommen von 30 bis 40 Prozent bezogen auf den Wert von 1957
Die Regierung Pacheco Areco hat seit 1968 versucht, durch ein Bündnis mit den die Wirtschaft beherrschenden Personen in Banken und Handel eine Politik der Stabilität zu betreitreiben — unter Einfrierung der Löhne und Preise und unter drastischer Beschränkung der politischen und gewerkschaftlichen Freihei-ten „Damit veränderten sich die Verhältnisse in Uruguay substantiell ... Der Ausgleich, der Dialog, die friedliche Schlichtung von Konflikten wurden ersetzt durch Repression, .. . Einsperrung von Gewerkschaftsführern, schlimmste Zensur der freien Meinungsäußerung, Gewalt und Tote" ohne daß eine Situation erreicht wurde, die Hoffnung auf ein zukünftiges Wachstum eröffnet Unter veränderten sozio-politischen Voraussetzungen wird die neue Regierung, die aus den Wahlen von 1971 hervorgehen wird, vor den gleichen Problemen stehen wie die gegenwärtige Regierung zu Beginn ihrer Amtszeit
Parteien und Politik
Abbildung 2
Tabelle 1: Jahr 1925 1928 1931 1934 1938 1942 1946 1950 1954 1958 1962 1966 Colorados 49, 1 ’) 49, 0 44, 8’) 51, 0*) 58, 4 57, 2 46, 3 52, 3 50, 6 37, 7 44, 4 49, 4 Nationale 45, 1 48, 3 43, 3 38, 3 30, 4 32, 8 *) 37, 6*) 34, 5*) 38, 6*) 49, 7 46, 4 40, 4 Zusammen 94, 2 97, 3 88, 1 89, 3 88, 8 90, 0 83, 9 86, 8 89, 2 87, 4 90, 8 89, 8 Kommunisten *) Diese Daten schließen die Stimmen für Colorados und Nationale mit ein, abgegeben wurden, sondern für ein Nebenlema beider Parteien. 1, 2 1. 2 2, 0 1, 5 1. 5 2, ﯥ
Tabelle 1: Jahr 1925 1928 1931 1934 1938 1942 1946 1950 1954 1958 1962 1966 Colorados 49, 1 ’) 49, 0 44, 8’) 51, 0*) 58, 4 57, 2 46, 3 52, 3 50, 6 37, 7 44, 4 49, 4 Nationale 45, 1 48, 3 43, 3 38, 3 30, 4 32, 8 *) 37, 6*) 34, 5*) 38, 6*) 49, 7 46, 4 40, 4 Zusammen 94, 2 97, 3 88, 1 89, 3 88, 8 90, 0 83, 9 86, 8 89, 2 87, 4 90, 8 89, 8 Kommunisten *) Diese Daten schließen die Stimmen für Colorados und Nationale mit ein, abgegeben wurden, sondern für ein Nebenlema beider Parteien. 1, 2 1. 2 2, 0 1, 5 1. 5 2, ﯥ
Das uruguayische Parteiensystem wird von zwei großen Gruppierungen bestimmt, den Colorados und den Nationalen. Beide Parteien, die auf das 19. Jahrhundert zurückgehen , weisen „weder eine einheitliche Organisation noch .. . sonstige Kennzeichen auf, die sie jeweils als Einheit charakterisierten. Im politischen Alltag greifbar sind sie nur in der Gestalt vieler fraktionalistischer Klubs und Gruppen, deren Interessen stark divergieren können" . Die Klubs bilden sich in aller Regel um politische Persönlichkeiten, die zumeist selbst die politischen Entscheidungen der Gruppe fällen. Der überstarke Personalismus verhinderte, daß Sachprogramme in der uruguayischen Parteipolitik große Bedeutung erhielten. Deshalb lassen sich die beiden großen Gruppierungen kaum programmatisch, sondern eher von den Interessen und der sozialen Schichtung ihrer Anhänger unterscheiden — Merkmale, die allerdings nur global zutreffen. Die Vielfalt der durch das personalistische Moment bewirkten Verschränkungen läßt nur eine sehr relativierende Charakterisierung der uruguayischen Parteien zu.
Die Nationalen stützen sich wesentlich „auf Teile des städtischen Kleinbürgertums, der oberen Mittelklasse und der ländlichen Ober-klasse" Ihre stärkere Position auf dem Lande wird ihrer etwas konservativ-agrarischeren Orientierung gerecht. Stadt und Land, städtische Mittelklasse und ländliche Ober-klasse, bedingen einen gewissen Gegensatz, den man als Basis für zwei Grundströmungen innerhalb der Nationalen, den „Herrerismo" und den „Nacionalismo independiente", bezeichnen könnte. Die Colorados sind weniger agrarisch als die Nationalen und haben vor allem dank der früheren staatlichen Sozialpolitik in der Industriearbeiterschaft Fuß fassen können. In ihren Reihen spielt der Gegensatz zwischen „colegialistas" und „presidencialistas", den Anhängern des kollegialistischen Regierungssystems nach Schweizer Muster und denen des präsidentiellen Regierungssystems, noch immer eine Rolle — in früheren Jahrzehnten bestimmte er die innerparteiliche Gruppenbildung Er wird nur langsam von Fragen der Wirtschaftsund Sozialpolitik in den Hintergrund gedrängt. Es kann einerseits nicht unberücksichtigt bleiben, daß viele längst der Vergangenheit angehörende Divergenzen zwischen Colorados und Nationalen heute noch nachwirken und die Parteipräferenz gro-ßer Teile der Wählerschaft unverändert prägen; andererseits sind die Grenzen zwischen beiden Parteien heute teilweise fließend, wie die Entwicklung der ruralistischen Bewegung zeigt, die als agrarische Mittelstandsbewegung zunächst innerhalb der Nationalen zu politischen Ämtern aufstieg, sich mehr und mehr mit den Colorados liierte und gegenwärtig über die Person des Landwirtschaftsministers Bordaberry an der Colorado-Regierung teil-hat. Die Pacheco-Areco-Regierung eines Sektors der Colorados findet bei einer Gruppe der Nationalen Unterstützung. Diese Bündnisse über die Grenzen der politischen Parteien hinweg entsprechen der klassen-und interessen-mäßigen Mischstruktur der beiden großen Gruppierungen.
Es würde hier zu weit führen, die einzelnen Gruppen und Tendenzen zu nennen Innerhalb eines unermüdlichen Prozesses von befristeten Absprachen, Neuorientierungen und Standortwechseln der politischen Gruppenführer verdient allerdings erwähnt zu werden, daß sich innerhalb von Nationalen und Colorados auch in den sechziger Jahren fortschrittliche, sozialreformerische Vorstellungen und Gruppen entwickelten. Anders als in der Epoche der großen Modernisierung unter Jose Batlle y Ordonez erhielten sie keine Mehrheit, sondern gingen im Konglomerat widersprüchlichster politischer Ideen, das die traditionellen Parteien darstellen, unter.
Wesentlich größere programmatische Konsistenz zeigen die kleinen Parteien der Mitte und der Linken: Christliche Demokraten, Kommunisten und Sozialisten. Doch ahmten vor allem die marxistischen Parteien durch Bündnisse mit anderen revolutionären Gruppen die innerparteiliche Praxis der großen Parteien nach. Während die Sozialisten darin scheiterten — Versuch einer Union Populär bei den Wahlen von 1962 — und sich vor allem seither von einer ursprünglich sozialdemokratischen Partei so weit nach links entwickelten, daß sie sich der sozialistischen Front der OLAS anschlossen und die These von der nur gewaltsam möglichen Revolution in Lateinamerika übernahmen ging das Bündnis der Kommu-nisten mit der linken Befreiungsfront „FIDEL" (Frente de Izquierda de Liberaciön) nicht ungünstig aus. FIDEL erzielte bei den Wahlen von 1962 3, 6 und bei denen von 1966 5, 7 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen. Die Kommunisten, die unter ihrem Führer Rodney Arismendi die Macht innerhalb von FIDEL ausüben, entwickelten sich so zur stärksten der kleinen Parteien, die sich durch Organisation und Disziplin sowie durch ihre Verankerung in der Gewerkschaftsbewegung und an den Universitäten hervorhebt. Bemerkenswert ist, daß die marxistischen Parteien in Uruguay nie zu einem Bündnis zusammengefunden haben, sehr zum Unterschied von Chile, wo Kommunisten und Sozialisten trotz großer ideologischer Differenzen und Spannungen untereinander seit 1938 stets ein Wahlbündnis zustande brachten
Die Christdemokraten, die der Union Civica del Uruguay nachfolgten, vereinen heute den politischen Linkskatholizismus in ihren Reihen. Sie setzen strategisch dabei auf die sozial fortschrittliche Entwicklung der Kirche. Rechte, konservative Kräfte haben die ideologisch stark an der chilenischen Christdemokratie orientierte junge Partei unter der heutigen Führung von Juan Pablo Terra in zwei Etappen verlassen und ihr zu größerer innerer Geschlossenheit verhülfen Die Ausgetretenen bildeten im Jahre 1963 zunächst das Movi-miento Civico Cristiano (Bürgerlich-christliche Bewegung), das sich 1971 mit der zweiten Abspaltung zur Union Radical Christiano (Radikale Christliche Union) zusammenschloß. Vergleicht man die Wahlen seit 1925, so zeigt sich, daß die traditionellen Parteien stets über 83 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen auf sich haben vereinigen können. Keine der Gruppen außerhalb von Colorados und Nationalen erreichte jemals über 6 Prozent der Stimmen.
Das Parteiensystem ist außerordentlich stabil. Die Wählerschaft hat trotz der ökonomischen Misere und trotz der viel beschworenen Krise der beiden großen Parteien bis einschließlich der letzten Wahlen die traditionellen Träger des politischen Systems gewählt. Der auffallendste Wechsel ist der der Umkehrung der Mehrheitsverhältnisse zwischen Colorados und Nationalen bei den Wahlen von 1958 und 1966. Die politische Linke hat bislang keinen Einbruch in das Parteiensystem erzielen können.
Viele Beobachter führen diese Tatsache darauf zurück, daß Uruguay ein Land der Kontinuität und der politischen Mäßigung sei. Sicher-lieh spielen Faktoren der politischen Kultur und Tradition eine Rolle, auf die wir bei der Analyse der öffentlichen Meinung vor den Wahlen von 1971 eingehen werden Diese Faktoren sind jedoch nicht losgelöst von parteisoziologischen Phänomenen zu sehen. Die Verflechtung von historischen Parteien, Staat (Verwaltung) und Gesellschaft mittels Klientelsystem und Patronage bestimmen in hohem Maße das Wahlverhalten in Uruguay. Die traditionalen Sozialstrukturen vor allem auf dem Lande wirken in die gleiche Richtung. Hinzu kommen schließlich institutioneile Eigenarten des politischen Systems, die die traditionellen politischen Bezüge und Verhaltensweisen verstärken und ihren Wandel erschweren.
Institutionelle Faktoren
Abbildung 3
Tabelle 2: Colorados Nationale Christdemokraten Bürgerlich-christliche Bewegung Sozialisten Union Populär FIDEL Andere Insgesamt Gestido/Pacheco Batlle/Lacarte Vasconcellos/Rodriguez Michelini/Lanza Arechaga/Berchesi Echegoyen/Ortiz Gallinal/Zeballos Heber/Storace ohne Kandidatenformel ohne Kandidatenformel Cardoso/Bernhard Frugoni/Gavazzo ohne Kandidatenformel ohne Kandidatenformel ohne Kandidatenformel Ergebnis der Präsidenten-und Parlamentswahlen vom 27. November 1966 Parteien Stimmen absolut 607 633 4ﰪ
Tabelle 2: Colorados Nationale Christdemokraten Bürgerlich-christliche Bewegung Sozialisten Union Populär FIDEL Andere Insgesamt Gestido/Pacheco Batlle/Lacarte Vasconcellos/Rodriguez Michelini/Lanza Arechaga/Berchesi Echegoyen/Ortiz Gallinal/Zeballos Heber/Storace ohne Kandidatenformel ohne Kandidatenformel Cardoso/Bernhard Frugoni/Gavazzo ohne Kandidatenformel ohne Kandidatenformel ohne Kandidatenformel Ergebnis der Präsidenten-und Parlamentswahlen vom 27. November 1966 Parteien Stimmen absolut 607 633 4ﰪ
Das uruguayische Wahlsystem fußt auf einem abgestuften Organisationsschema von soge-nannten Lemas, Sublemas und Listen Den Status eines Lemas besitzen nach der letzten, verschärften Reform die Parteien, die bei den letzten Wahlen Parlamentsmandate erhalten haben Andere politische Gruppen können nur als Sublema kandidieren, das heißt, sie müssen sich entweder einem Lema anschließen oder können unabhängig auftreten, haben aber dann kein Recht, sich mit anderen Sublemas, die den Status eines Lemas nicht besitzen, zusammenzuschließen oder Listen aufzunehmen, es sei denn, sie bilden eine Einheitsliste. Das Wahlgesetz diskriminiert also kleine oder neue Parteien oder versucht zumindest, sie in das bestehende System zweier großer Parteien zu integrieren. Da auch die Wahlentscheidung sowohl bei Präsidentschaftsals auch bei Kongreßwahlen nach den Stimmen, die auf die Lemas entfallen, getroffen wird und erst nachfolgend in einem zweiten Verrechnungsverfahren Sublemas und Listen herangezogen werden, sind für den Wahlprozeß von der Wahlbewerbung bis zum Wahlergebnis die Lemas von primärer Bedeutung
Dem entspricht keineswegs der Stellenwert der Lemas im Bereich der politischen Willensbildung. „Die eigentlichen Zentren der politischen Willensbildung vor den Wahlen und im Parlament sind dagegen die ... Zusammenschlüsse mehrerer Listen zu einer größeren Gruppe, die als Sublemas ihre Institutionalisierung gefunden haben" Die Sublemas kommen am ehesten dem westeuropäischen Begriff politischer Parteien nahe, obwohl auch sie noch keineswegs als relativ homogene politische Aktionseinheiten angesprochen werden können. Erst die Listen als unterste Stufe im Organisationsschema politischer Willensträger leisten die für das Funktionieren des politischen Systems wichtige politische Willensbildung und Führungsauslese
Zwar gewährt das uruguayische Wahlsystem dem Wähler einen großen Entscheidungsspielraum innerhalb seiner Parteipräferenz. Die wahlgesetzlich verstärkte Integrationsfunktion der großen Parteien geht aber zu Lasten der Profilierung und des Durchsetzungsvermögens substantiell neuer politischer Vorstellungen. Es hat sich gezeigt, daß die traditionale Politik beharrender Tendenz auf Veränderung hinzielende Bewegungen absorbiert. So konnte der Vorwurf nicht ausbleiben, daß die traditionellen Parteien mit der Einführung des Lema-Gesetzes und seiner steten Verfeinerung durch eine Reihe von Änderungen vor allem die Verfestigung der eigenen Herrschaft und den Ausschluß neuer, reformerischer politischer Bewegungen und Kräfte gesucht haben
Für das politische System wurden indes weniger jene Aspekte der Selbstperpetuierung in der Machtausübung, die das Lema-Gesetz kennzeichnen, ausschlaggebend, sondern offensichtliche Funktionsschwächen des so kompliziert anmutenden Wahlsystems. Statt die politischen Meinungen und Interessen zu zwei großen handlungsfähigen politischen Parteien zu integrieren, förderte das Wahlsystem den Fraktionalismus, indem die Institution des Lemas die politische Pönalisierung der Partei-zersplitterung aufhob. Die Zergliederung der Colorados und Nationalen blieb ohne Auswirkungen auf ihre jeweiligen Chancen, die politische Macht zu gewinnen oder zu verteidigen, da die offene Konkurrenz der Fraktionen untereinander durch die Institution des Lemas gegenüber dem politischen Gegner außerhalb des Lemas abgeschirmt wurde. Da die Verteilung der Mandate zudem noch nach Verhältniswahl erfolgt, bleibt den politischen Gruppen der politische Besitzstand innerhalb des Lemas gesichert, wie sehr sie sich auch teilen und zersplittern. Das Wahlsystem gibt keine Anregung zur Bildung aktionsfähiger politischer Mehrheiten Die Institution des Lemas verhindert, daß sich der politische Willensbildungsprozeß bis in die zu treffenden Entscheidungen über Regierungsamt und Abgeordnetenmandat fortsetzt. Dieser notwendige Prozeß bricht nach der Organisationsstufe der Sublemas ab, so daß das uruguayische Parteiensystem aus Colorados und Nationalen zwar nach dem äußeren Erscheinungsbild ein Zweiparteiensystem, seiner inneren Struktur nach aber ein Vielparteiensystem ist. Es gab deshalb in aller Regel keine Präsidenten, die von einer Mehrheit des Volkes gewählt worden waren, noch eigentlich parteiliche Mehrheiten im Kongreß Das Ergebnis der letzten Präsidentschafts-und Parlamentswahlen, das Tabelle 2 wiedergibt, zeigt im Detail auf, wie zersplittert das Parteiensystem in Wirklichkeit ist Die siegreiche Präsidentschaftsformel Oscar Gestido — Jorge Pacheco Areco erreichte nur 261 977 Stimmen, das sind 21 Prozent der insgesamt 1 231 762 abgegebenen gültigen Stimmen. Die Mandatsverteilung auf die verschiedenen Gruppen entspricht im Hinblick auf Colorados und Nationale nur einer Momentaufnahme direkt, nach den Wahlen. Der gewählte Präsident erhielt für das von ihm angeführte Sublema 24 Abgeordnete und 7 Senatoren bei einer Mitgliederzahl des Abgeordnetenhauses von 99 Repräsentanten und des Senats von 31 Senatoren.
Politische Situation im Wahljahr 1971
Abbildung 4
Tabelle 3: Colorados Nationale Frente Amplio Andere Ohne Antwort/Unentschieden Nicht wahlberechtigt 1 Dezember
1970 29 19 27 — 20 5 Januar 1971 28 16 24 — 26 6 Februar 1971 26 16 20 — 33 5 März 1971 28 15 22 — 31 4 I April 1971 26 15 20 — 34 5 I Mai 1971 24 17 25 — 31 3 Juni 1971 21 13 23 — 39 4 Juli 1971 22 16 25 1 31 5 August 1971 23 15 21 1 36 4 September
1971 27 19 22 1 26 5 Montevideo in der Zeit von Wahlintention der Befragten im wahlberechtigten Alter in Dezember 1970 bis September 1971, inﴰ
Tabelle 3: Colorados Nationale Frente Amplio Andere Ohne Antwort/Unentschieden Nicht wahlberechtigt 1 Dezember
1970 29 19 27 — 20 5 Januar 1971 28 16 24 — 26 6 Februar 1971 26 16 20 — 33 5 März 1971 28 15 22 — 31 4 I April 1971 26 15 20 — 34 5 I Mai 1971 24 17 25 — 31 3 Juni 1971 21 13 23 — 39 4 Juli 1971 22 16 25 1 31 5 August 1971 23 15 21 1 36 4 September
1971 27 19 22 1 26 5 Montevideo in der Zeit von Wahlintention der Befragten im wahlberechtigten Alter in Dezember 1970 bis September 1971, inﴰ
Die kommenden Wahlen finden unter außergewöhnlichen Umständen statt. Obwohl die Tupamaros angesichts des Urnengangs ihre Aktivitäten eingeschränkt haben, hat Präsident Pacheco Areco sich gegenüber dem Parlament durchgesetzt und gegen dessen Willen den Ausnahmezustand aufrechterhalten. Die traditionellen Parteien haben den Erfolg einer von den Linken sofort angestrengten Verfassungsklage vereitelt. Alle Anzeichen deuten jetzt darauf hin, daß Uruguay seinen neuen Präsidenten unter Ausnahmezustand wählen wird. Diese illegale Situation hat der Regierung und den traditionellen Parteien große Vorteile im Wahlkampf verschafft. Pacheco Areco ließ mehrfach Organe der linken Presse verbieten, zuletzt Anfang September die Tageszeitungen Ahora, El Populär, La Idea, El Eco und die Wochenzeitung Liberaciön. Wie viele Verhaftungen aus politischen Motiven erfolgten, ist empirisch schwer nachzuweisen. Wichtig scheint jedoch, festzustellen, daß die Frente Amplio unter effektiven Beschränkungen und psychischem Drude arbeitet und die Chancengleichheit der politischen Gruppierungen bei der Wahl keineswegs gewahrt ist Von freien Wahlen kann nur bedingt gesprochen werden.
In die Bemühungen der Regierung um die Aufrechterhaltung der Ordnung, die mehr als Folge der Repression als aus revolutionärem Aktionismus der Tupamaros oder der freien Meinungsäußerung oppositioneller Kräfte gestört ist, hat Pacheco Areco nach dem Massen-ausbruch der gefangen gehaltenen Tupamaros vom 7. September 1971 die bewaffneten Streitkräfte mit eingeschaltet. Während die politische Linke mutmaßt, daß Pacheco Areco das Militär gegebenenfalls zum Eingreifen bewegen möchte, um letztlich doch die Wahlen zu verhindern oder um ein der politischen Rechten unliebsames Wahlergebnis zunichte zu machen, hat nach Umfragen des uruguayischen Gallup-Instituts die Maßnahme Pacheco Arecos, den Fuerzas Armadas den Kampf gegen die Tupamaros zu übertragen, das Vertrauen der Bevölkerung in die Aufrechterhaltung des politischen Systems und die Abhal-tung von Wahlen gestärkt Es ist deshalb von Interesse, nach der Verfassung und dem politischen Standort der bewaffneten Macht zu fragen.
Das uruguayische Militär hat wie nur in wenigen Ländern Lateinamerikas eine relativ unpolitische Rolle gespielt. Die staatsstreichähnlichen Interventionen von 1933 und 1942 wurden von der Polizei durchgeführt, die in viel stärkerem Maße politisiert und mit den bestehenden Parteiinteressen liiert ist Wenn auch neuere Studien eine apolitische Verfassung der Streitkräfte als Mythos herausstellen, „den als ersten aller Mythen zu -es zer stören" gelte so sind die uruguayischen Streitkräfte doch bis 1966 außerhalb der Politik verblieben. In dieses Bild paßt auch, daß der militärische Führer als aktiver Politiker nach Austritt aus den Streitkräften eine Ausnahme darstellte Jedoch darf nicht übersehen werden, daß die Colorados die militärischen Laufbahnen beherrschten. Erst der Wahlsieg der Nationalen im Jahre 1958 und der nachfolgende Wechsel in der Führungsspitze der Streitkräfte hat der Öffentlichkeit die enge Verbindung von Politik und Militär mittels gezielter Personalpolitik aufgezeigt.
Das Selbstverständnis des Militärs hat sich vor allem in den sechziger Jahren gewandelt, seit die Vereinigten Staaten die Funktion der bewaffneten Streitkräfte als innenpolitische Ordnungshüter, die die kommunistische Unter
Wanderung des Subkontinents abzuwehren hätten, proklamierten. Als Folge dieser Strategie sah sich das uruguayische Militär als potentieller repressiver innenpolitischer Faktor bewertet. Das Heer begann, „als beschützen-de Macht des Systems visualisiert zu werden" Der Einsatz der Streitkräfte zur Bekämpfung der Tupamaros hat diese von der Pacheco-Areco-Regierung kontinuierlich geförderte Entwicklung besiegelt. Die Wechselwirkung ist evident. „Politisierung der Streitkräfte bedeutet Militarisierung der Politik."
Diese Politik jedoch einen Bruch innerhalb hat des uruguayischen Militärs gezeitigt. Er wurde deutlich durch den 1968 erfolgten Rücktritt des Generals Liber Seregni, Chef der ersten Militärregion mit Sitz in Montevideo, aus dem aktiven Dienst. Seregni protestierte damit u. a. gegen die Besetzung der Universität durch Militärverbände. Seither muß von zwei Tendenzen innerhalb der Streitkräfte ausgegangen werden. Auf der einen Seite stehen die konservativen sogenannten golpistas, die die herrschenden politischen Kräfte repräsentieren, auf der anderen Seite die sogenannten legalistas, die das Institutionensystem verteidigen wollen und ideologisch als fortschrittliche sogenannte desarrollistas bezeichnet werden können. Beide Gruppen sind sich wohl noch darin einig, nach Möglichkeit die bestehenden politischen Institutionen zu stärken und eine offene Auseinandersetzung untereinander zu vermeiden. Die Kandidatur eines ehemaligen Generals als Repräsentant der politischen Linken kann dazu beitragen, die Neigung zu einem Staatsstreich (, golpe'(von rechts zu verringern. Fraglich bleibt, ob nicht die Militarisierung der Politik langfristig einem Staatsstreich auf kaltem Wege gleichkommen wird.
Kandidaturen 1971
Wie in fast allen präsidialen Verfassungen Lateinamerikas ist die Wiederwahl des Präsidenten auch in Uruguay nicht gestattet Erst eine Verfassungsänderung, die vom Volk mit einfacher Mehrheit angenommen werden muß, könnte diese Möglichkeit eröffnen.
Pacheco Areco hat bereits frühzeitig seine Absicht verkündet, sich bei den November-wahlen der Wiederwahl zu stellen und im Wahlakt selbst zu versuchen, eine Verfassungsänderung herbeizuführen. Dies ist in der uruguayischen Verfassungsgeschichte kein unbekanntes Verfahren. Sämtliche Verfassungsänderungen per Referendum haben bislang in Verbindung mit der Wahl der Regierungsspitze und des Parlaments stattgefunden Der Wähler gibt seine Stimme am Wahltag unter zwei verschiedenen Annahmen ab. Er wählt einmal unter der Annahme, daß in Zukunft das bisher bestehende System erhalten bleibt, und zum anderen unter der Annahme, daß die Verfassungsreform zum Zuge kommt. Die Praxis zeigt, daß die geforderte differenzierte Stimmabgabe den Wähler keineswegs überfordert.
Die sogenannten reelecionistas um Pacheco Areco kalkulieren ein, daß der gegenwärtige Präsident die erforderliche Mehrheit eventuell nicht erreichen wird, wie Umfrageergebnisse erwarten lassen Diese Gruppe hat deshalb auch unter dem bestehenden System Kandidaten aufgestellt.
Vier Wochen vor den Wahlen scheinen unter dem gegenwärtig gültigen Verfassungssystem unter Außerachtlassung der Kandidatur von Pacheco Areco auf Wiederwahl sieben Kandidaturen als sicher:
Bei den Colorados sind dies Jorge Batlle/Renan Rodriguez Juan Maria Bordaberry/Jorge Sapelli Amilcar Vasconcellos/Manuel Flores Mora Juan Pedro Ribas/Ruben Gorlero bei den Nationalen Wilson Ferreira Aldunate/Carlos J. Pereyra General Aguerrondo/Alberto Heber und bei der Frente Amplio Liber Seregni/Dr. Crottogini Die Christlich Radikale Union hat keinen Präsidentschaftskandidaten aufgestellt und bewirbt sich nur um Mandate in den parlamentarischen Institutionen.
Fragen wir nach den programmatischen Grundlagen der verschiedenen Kandidaturen, so muß vor allem für die Colorados festgestellt werden, daß sie traditionsgemäß ihre Hauptaufmerksamkeit auf den personellen Aspekt der Nominierung von Präsidentschaftsformeln gerichtet haben und Bemühungen um programmatische Aussagen dagegen verblassen. Die erst fünf Wochen vor dem Wahltag erklärte Option Pacheco Arecos für den ehemaligen Nationalen Juan Maria Bordaberry als Kandidat des Colorado-Regierungsblocks hat zu einer Reihe von Zerwürfnissen mit dem gegenwärtigen Präsidenten geführt und wird noch neue Kräftekonstellationen innerhalb der Colorados hervorrufen, die für die Stimmenstärke der einzelnen Gruppen wichtig werden können und für die Programmatik insignifikant sind.
Die Nationalen haben dagegen bereits im März 1971 ein Grundsatzprogramm vorgelegt auf das sich die Kandidatur von Wilson Ferreira Aldunate, eines reformerischen Konservativen, stützt Das Programm bekennt sich zu einer „tiefgreifenden Struktur-reform" mit dem Ziel, „die ökonomische Ungleichheit und die Privilegien abzuschaffen" Es hebt die Staatsintervention als notwendig im Rahmen einer weiterhin kapitalistischen Wirtschaft und Entwicklung hervor, „die die Begriffe der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit stets miteinander verbinden" soll Wesentlicher Programmpunkt ist eine Agrarreform, die „vom Prinzip ausgehen soll, daß der Boden dem gehört, der ihn bearbeitet" und die vor allem den kleinen und mittleren Besitzstand fördern soll.
Unter ähnlichem Programm — und das zeigt die Krux der traditionellen Parteien — hatten die Nationalen den Wahlkampf von 1958 geführt, als sie nach Beginn der Wirtschaftskrise, gestützt auf die agrarische Mittelstandsbewegung des ruralismo, zum erstenmal seit 94 Jahren die Colorados in der Machtausübung ablösten. Die damals von Wilson Ferreira Aldunate als Landwirtschaftsminister geplante Agrarreform wurde von der Nationalen Partei selbst verhindert. Die Frage an das Grundsatzprogramm ist deshalb, wie ernst die Reformabsicht und wie groß die Realisierungschance innerhalb der eigenen Gruppierung ist. Wird sie sich nicht wieder an den Interessen der die Partei gesellschaftlich tragenden Kräfte stoßen und folglich keine parlamentarische Mehrheit finden?
Frente Amplio: Genesis und Programm
Diese mögliche Kluft zwischen Programm und Politik wird der Frente Amplio („Breite Front") kaum unterstellt werden können; denn diese neue Alternative im uruguayischen Parteien-system wird ähnlich wie die chilenische Unidad Populär mit den Ankündigungen des Regierungsprogramms ernst machen.
Viel weniger aber als gemeinhin angenommen wird, hat das Experiment der chilenischen Volksfront auf die substantiellen Veränderungen im uruguayischen Parteiensystem Einfluß gehabt. Zwar wird auch in Uruguay nach Chile geschaut, und dies nicht erst seit dem Wahlsieg Allendes. Doch ruht der politische Prozeß Uruguays in erster Linie auf sozio-ökonomischen Entwicklungen dieses Landes. Der eigene nationale Kontext bestimmt die Politik des Landes sowie Gefüge und Programmatik der politischen Parteien. Der Vergleich mit Chile, den wir nachfolgend unternehmen wollen, hat keine kausale Bedeutung für Ereignisse in Uruguay; auch wird in explikativer Hinsicht zumeist die Leistungsfähigkeit des Vergleichs überschätzt.
Sicherlich hat der Wahlerfolg der chilenischen Volksfront die Einigungsbemühungen der Linken in Uruguay gefördert. Doch längst bevor es in Chile zur Bildung der Unidad Populär kam, wurde im Juni 1968 von den Christdemokraten wenige Tage nach Inkraftsetzen der Ausnahmegesetze die Idee einer Frente Amp-* lio propagiert. Damit antwortete die PDC auf die einsetzende Repressionspolitik der Pache-co-Areco-Regierung. Wichtiger als das Argument der zeitlichen Priorität gegenüber dem Wahlsieg Allendes erscheinen jedoch Fragen der Genesis und des Programms der uruguayischen Volksfront. Es ist bereits ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal, daß die Initiative zur Bildung einer Frente Amplio von einer nicht-marxistischen Partei ausging. Gestützt auf eine Umfrage unter ihren Parteimitgliedern in zwei Departements waren die Christdemokraten auch maßgeblich am Zustandekommen der Frente Amplio beteiligt und sind — anders als in Chile — integrierter Bestandteil des Bündnisses. Die zentrale Idee des Vorschlags zur Bildung einer Frente Amplio war, eine große Massen-bewegung ins Leben zu rufen und mit ihrer Hilfe das alte politische Kräfteverhältnis von Status-quo-Politik und Reform aufzuheben. In dieser Strategie eines Durchbruchs war die PDC daran interessiert, eine „Breite Front" zu bilden, die in der Lage sein würde, auch Kräfte aus den traditionellen Parteien herauszulösen. Die Christdemokraten lehnten deshalb einerseits ein Zweierbündnis mit den Kommunisten ab, was jene zuerst forderten, und schlossen zunächst einen Pakt mit Gruppen, die sich in der Aussicht einer großen neuen Alternative von den Colorados und Nationalen abgespalten hatten Sie traten andererseits für eine ideologisch möglichst offene Einigungsbewegung der Linken ein. Ihnen erschien bereits von der Namensgebung her eine Frente Amplio eine realere Machtalternative zu sein als eine frente revolucionario, frente de izquierda oder frente populär. Da die PDC sich „der Schwierigkeit bewußt war, die es darstellt, mittels Wahlen an die Regierung zu kommen" setzte sie sich auch programmatisch für eine demokratische und nationalistische Basis ein. Schließlich waren es auch die Christdemokraten, die den Präsidentschaftskandidaten Liber Seregni vorschlugen und durchsetzten. Man wird deshalb das Gewicht der PDC kaum überschätzen können: sie hat im wesentlichen den Namen, die Formgebung, die politische Strategie, den Präsidentschaftskandidaten und das Programm des Bündnisses bestimmt
Die PDC stellte darüber hinaus der Frente Amplio ihr Lema zur Verfügung, so daß das Bündnis unter dem Namen der Christdemokraten kandidiert. Entsprechend den Möglichkeiten, die das Wahlgesetz bietet, bewerben sich die verschiedenen politischen Parteien und Gruppen der Frente als Sublemas oder Listen voneinander getrennt. Dies entspricht der in der konstruktiven Erklärung der Frente Amplio ausgedrückten Konzeption, daß die Frente Amplio keine politische Partei sei, sondern ein dauerhaftes, über die Wahlen hinausreichendes Bündnis, in welchem alle Mitglieder ihre Identität behalten würden Nur für den Präsidenten und Vizepräsidenten sowie für die Intendanten in den 19 Departements hat die Frente gemeinsame Kandidaten aufgestellt. Für die Mandate im Kongreß und in den Departementsvertretungen bewerben sich innerhalb der Frente Amplio neun Sublemas, die ihrerseits eine Vielzahl von Listen umfassen, zu denen sich verschiedene Parteien, Unabhängige, Wählervereinigungen etc. zusammengeschlossen haben. Die wichtigsten Sublemas sind die Frente del Pueblo unter Beteiligung der Christdemokraten (Liste 808) und ehemaliger Nationaler sowie Colorados um den Senator Zelmar Michelini (Liste 9988), die Frente de Izquierda, die eine einzige Liste bildet (Liste 1001), bestehend aus FIDEL, Kommunistischer Partei und ihnen nahestehender Gruppen, schließlich das Sublema Frente Socialista
Das von elf Gruppen ausgearbeitete Programm der Frente Amplio vom 17. Februar 1971 soll nach der konstituierenden Erklärung dazu dienen, „die strukturelle Krise zu überwinden, dem Land die Zukunft einer unabhängigen Nation wiederzugeben und dem Volk die volle Ausübung seiner Freiheiten, seiner individuellen, politischen und gewerkschaftlichen Rechte wiederzuverleihen" Es anerkennt zunächst die „volle Gültigkeit der verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Freiheiten, Rechte und Garantien". Daraus wird konkret u. a. die Aufhebung des Ausnahmezustandes und eine allgemeine Straffreiheit und Amnestie aller politisch Verfolgten und Inhaftierten abgeleitet mit dem Ziel, die Dialektik von Repression und Gewalt zu überwinden. Das Programm fordert also keine revolutionär neuen, sondern die Wiederherstellung alter Freiheiten.
Im ökonomischen Teil des Programms postuliert die Frente Amplio als wichtigste Strukturveränderungen eine Agrarreform und die Verstaatlichung der Banken und des Außenhandels. Der politische Effekt dieser Maßnahmen soll sein, die ökonomischen Eckpfeiler der uruguayischen und ausländischen Oligarchie zu zerstören und damit die sozio-politische Voraussetzung für eine an den nationalen Notwendigkeiten ausgerichtete Entwicklung zu schaffen. Die Agrarreform soll mittelgroße, vor allem genossenschaftlich geführte Betriebe zum Ziel haben, die einerseits die Produktion steigern und andererseits die soziale Entwicklung auf dem Lande fördern sollen. Der Staat wird dabei finanzielle und technische Assistenz leisten, um eine ökonomisch effektive neue Wirtschafts-und Sozialstruktur auf dem Lande zu ermöglichen. Mit einer Wachstumspolitik in der Agrarwirtschaft, die auf Exportüberschüsse abzielt, soll eine intensive Industrialisierung vor allem im Bereich der Weiterverarbeitung und Kommerzialisierung landwirtschaftlicher Produkte, aber auch importsubstitutiver Güter einhergehen, die nach staatlicher Planung erfolgen wird, ohne indes für die Basisindustrien Nationalisierungen vorzusehen. Einzige Ausnahme bildet die die Wirtschaft beherrschende Gefrierindustrie, der großen Gesellschaften also, die das Vieh von der Weide ankaufen, verarbeiten und verkaufen — für den Export in Form von Gefrierfleisch. Schließlich will die Frente eine umfassende Reform des Steuersystems und der Steuerverwaltung durchführen, dabei die direkten Steuern zugunsten der indirekten erhöhen und die Steuerprogression vor allem bei unproduktivem Kapital oder Gütern und Wirtschaftstätigkeiten erhöhen, deren sozial-und entwicklungspolitischer Beitrag gering ist.
Die Sozialpolitik der Frente Amplio sieht eine gerechtere Verteilung des Einkommens vor, wobei Investitionserfordernisse berücksichtigt werden sollen. Geplant ist die Fixierung eines nationalen Minimallohnes. Das Erziehungswesen soll demokratisiert und die Ausbildung an den Notwendigkeiten der ökonomischen, sozialen und politischen Transformation des Landes orientiert werden.
Im politischen System will die Frente vor allem das Wahlgesetz ändern und die Lemas aufheben. Das Programm spricht sich für eine „Demokratie mit Pluralität von politischen Parteien“ aus und kündigt eine Verstärkung der plebiszitären Elemente mittels Volksbegehren und Volksentscheid sowie eine umfassende Verwaltungsreform an.
Die internationale Politik der Frente soll auf Unabhängigkeit und Anti-Imperialismus beruhen. Dabei soll einerseits die Integrationspolitik in Lateinamerika gefördert, anderseits die Politik multinationaler Organisatio-nen nach dem Maßstab der Interessen der Völker und hier speziell Uruguays revidiert werden. Da im Rahmen der Außenverschuldung für Zins und Tilgung gegenwärtig 32 Prozent der Exporterlöse aufgebracht werden müssen, will die Frente Amplio die Rückzahlungsmodalitäten der biund multilateralen Kredite modifizieren und Zahlungsmoratorien erwirken, um das Inlandkapitalaufkommen den ökonomischen und sozialen Zielen des Programms dienstbar zu machen. Sie glaubt, auf diese Weise das Problem der Finanzierung der angestrebten Entwicklung lösen zu können.
Es ist hier nicht der Ort, eine detaillierte Kritik des Programms zu liefern und seine Praktikabilität zu untersuchen. Einerseits wird man jedoch hervorheben müssen, daß die Frente Amplio eine aufeinander abgestimmte Politik von Transformation und Entwicklung vorsieht, und andererseits darauf hinweisen, daß in der Gleichzeitigkeit der in Angriff zu nehmenden Reformen das Hauptproblem einer erfolgreichen Programmausführung liegen dürfte.
Die ökonomischen und sozialpolitischen Aussagen Ces Programms sind eher gemäßigt als revolutionär zu nennen. Sie greifen unverkennbar Vorstellungen auf, die bereits im nationalen Entwicklungsplan von 1966 enthalten sind Die Mittel und Wege, Entwicklung zu erreichen: Produktionssteigerung im Agrarbereich, Exportüberschüsse und -erlöse, Steigerung des Inlandkapitalaufkommens, Industrialisierung zur Importsubstituierung etc., entsprechen auch den Empfehlungen des Prebisch-Berichts und stehen kaum im Widerstreit der Meinungen von Wirtschaftsexperten. Woran es bislang gefehlt hat, ist die gesellschaftliche und politische Basis für eine Durchführung der unabdingbaren Strukturreformen. Hier wirken die Interessen der in-und ausländischen Kapitalisten mit dem das soziopolitische Verharren stärkenden politischen System und mit dem traditionalen Wählerverhalten zusammen in die gleiche, eine Transformation verhindernde Richtung.
Frente Amplio und Unidad Populär
Kommen wir nun zu unserem Vergleich zwischen chilenischer Unidad Populär und uruguayischer Frente Amplio zurück, so zeigen sich doch gravierende Unterschiede. In keinem Dokument der Frente Amplio wird von Sozialismus gesprochen oder auch nur von einer Ubergangsphase zum Sozialismus, die das Bündnis einleiten will. Dahin gehend will sich aber gerade die Unidad Populär verstanden wissen. Zwar denken natürlich die sozialistischen und kommunistischen Gruppen der Frente langfristig an eine marxistische EntWicklung doch ist das Programm der Frente frei von marxistischer Ideologie. Thesen der extremen Linken haben eigentlich nur einige Aussagen zur internationalen Politik beeinflußt. Hervorzuheben ist auch, daß die nicht-marxistischen Parteien bei den gemeinsamen Kandidaten dominieren. In dieser Hinsicht gleicht die Frente Amplio viel mehr den traditionellen Volksfrontregierungen, wie sie Europa und auch Chile aus den dreißiger Jahren kennt. Generell läßt sich mithin feststellen, daß die marxistischen Parteien, ohne Chance, selbst bereits eine wichtige Rolle im politischen Prozeß Uruguays spielen zu können, sich der Sozialrevolution anschließen, die die demokratischen Kräfte formulieren. So versteht sich, daß am bürgerlich-demokratischen Institutionensystem festgehalten und die parlamentarische Demokratie nicht problematisiert wird, während gerade die Unidad Populär ihre Politik in der Praxis vom Gegensatz zwischen sozialistischem Inhalt und bürgerlich-demokratischer Prozedur erschwert sieht.
Wenn man schon den Vergleich zu Chile wählt, so scheint in vieler Hinsicht die Frente Amplio stärker dem christdemokratischen Modell der „Revolution in Freiheit“ Eduardo Freis verbunden. Mit der Unidad Populär teilt sie im wesentlichen nur das Merkmal eines Konglomerats vieler Parteien. Das Programm dagegen ist der Frei-Regierung vergleichbar: Sozial-revolution in Freiheit.
Es versteht sich, daß die historische und politisch-strategische Situation beider Länder für alle gewählten Vergleiche eine andere ist. Während Chile bereits seit den vierziger Jahren eine zunehmende Linksgravitation im Wählerverhalten aufweist, die schließlich dazu führte, daß sich bereits 1964 das demokratische und das marxistische Modell einer Revolutionierung der Gesellschaft als einzig valide Alternativen gegenüberstanden, beherrschten in Uruguay eindeutig die Parteien des gesellschaftlichen Status quo bis in die Gegenwart die Politik des Landes. Zwar haben sich die Mitte-Links-Parteien in Uruguay programmatisch ebenfalls nach links entwickelt — besonders deutlich bei Sozialisten und Christdemokraten erkennbar —, doch kam das Wähler-verhalten dem nicht nach. Erst die Bildung der Frente Amplio öffnet vor dem Hintergrund eines sich der Krise bewußter gewordenen Landes die Politik zu Prozessen struktureller Transformation von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, indem diese Alternative als Angebot erscheint. Eine solche Politik vollzog in Chile bereits die Frei-Regierung, ehe die Unidad Populär aus dem Patt der Reaktion und der demokratisch-pluralistischen Alternative der Sozialrevolution den Nutzen ziehen konnte, der zum Wahlsieg führte.
Kirche und Wahlprozeß
Wie für Chile und Lateinamerika insgesamt ist die sozialreformerische Entwicklung innerhalb der katholischen Kirche seit Mitte der sechziger Jahre auch für Uruguay eminent wichtig. Unidad Populär und Frente Amplio verstehen sich als Manifestationen des Dialogs und der Zusammenarbeit von Christen und Marxisten. Die Kirche in Uruguay betrachtet die Öffnung des politischen Systems und die Erweiterung des Parteiensystems um eine sozialreformerische Alternative wohlwollend. Eine bischöfliche Konferenz hat sich speziell mit der Frage beschäftigt, wie sich der Christ zum politischen Prozeß Uruguays im Wahljahr zu verhalten habe. Sie antwortete damit zum einen auf eine Frage, die die politische Rechte des Landes an die Kirche gestellt hatte, zum anderen aber auch auf das traditionelle Verhalten von Kirchenfürsten im Landesinneren, die sich gegen jede Form eines Dialogs zwi-sehen Christen und Marxisten ausgesprochen hatten.
Die Erklärung der uruguayischen Bischofskonferenz vom 15. September 1971 folgt der sozial und politisch engagierten Linie der lateinamerikanischen Bischofskonferenz von Medellin (1968) und betont die Verbundenheit der Kirche mit den „tiefgreifenden und dringenden Erneuerungen der Gesellschaft" Sie übernimmt die These von der institutionalisierten Gewalt, die ausschließt, die revolutionäre Gewaltanwendung zur Überwindung der ungerechten, verkrusteten Sozialstrukturen zu verdammen. Die Kirche anerkennt die Gewissensfreiheit des gläubigen Katholiken im Hinblick auf politische Ideologien und auf die Methoden, die Gesellschaft zu verändern, mit einer einzigen Einschränkung: Für den uruguayischen Klerus bleiben Christentum und Marxismus inkompatibel. „Der Christ kann nicht der marxistischen Ideologie anhängen, ihrem ungläubigen Materialismus, ihrer Dialektik der Gewalt und der Art, wie sie die individuelle Freiheit in der Gemeinschaft versteht, ohne seinem christlichen Glauben zu widersprechen . . . Christ und Marxist sind einander widersprechende Termini."
Doch schließt die Ablehnung des Marxismus durch die Kirche den Dialog zwischen Christen und Marxisten nicht aus, ebensowenig wie die Kirche „den Anspruch nach einer verstärkten Sozialisierung der Produktionsmittel in Übereinstimmung mit den Erfordernissen des allgemeinen Wohls nicht in Frage" stellt Die Bischöfe erklären sodann, daß die politischen Parteien (Lemas) in Uruguay als pluralistisch zu verstehen sind. „Allein vom Gesichtspunkt des Glaubens her finden wir keine ausreichenden Argumente, um entweder eine bestimmte Stimmabgabe für ein Lema (wir beziehen uns nicht auf die Sublemas) zu empfehlen, was nicht in unserer Kompetenz liegt, noch als verboten auszuschließen." Die Bischöfe stellen dem Gläubigen die Wahl unter den Kandidaten und Lemas frei; sie erleichtern durch ihre Stellungnahme den Christen, die sich als Folge ihres politischen Engagements für die sozialrevolutionäre Alternative in Gewissensnot befanden, das Bekenntnis zu einer Politik gesellschaftlicher Reformen. Sie exkulpieren die Stimmabgabe für ein Parteienbündnis, in dem die Marxisten vor allem vom Stimmenpotential her eine nicht unbedeutende Rolle spielen.
Gerade diese Tatsache, das Stimmgewicht der Marxisten, wurde von der politischen Rechten sowie von konservativer kirchlicher Seite im Wahlkampf hochgespielt. In polemischer Zuspitzung wurde die Wahlentscheidung für die Frente Amplio als Stimmabgabe für den Marxismus bezeichnet und die Argumentation der bischöflichen Erklärung auszuhöhlen versucht. Die sehr differenzierte Betrachtungsweise des Problems durch die Autoritäten der uruguayischen Kirche wird in den Pamphleten rechtsklerikaler Observanz durch teilweisen blinden Ahtikommunismus ersetzt
Es bleibt dahingestellt, welchen Einfluß der orthodoxe Antikommunismus angesichts der soziopolitischen Krise des Landes und der zunehmenden Öffnung der Kirche nach links unter der Wählerschaft noch ausüben kann. Es wäre nicht verwunderlich, wenn die Motivation für die Wahl der konservativen und gesellschaftlichen beharrenden Kräfte unter der allgemeinen Erkenntnis, daß eigentlich etwas geschehen müßte, stärker als je zuvor von simplen, im politischen Bewußtsein aber tief verankerten antikommunistischen Axiomen bestimmt würde.
öffentliche Meinung und Wahlausgang
Die stärksten Kandidaten der Wahlen scheinen Jorge Pacheco Areco unter der Formel der Wiederwahl und Wilson Ferreira Aldunate sowie Liber Seregni unter dem gegenwärtigen System zu sein. Doch entscheidet nicht primär die Stimmenzahl, die ein Kandidat auf sich vereinigen kann, sondern die Stimmenzahl des Lemas die Wahl (und im Falle von Pacheco Areco, ob er über 50 Prozent der Stimmen erhalten kann). Die Kandidati en der Colorados können ihren Mangel an jeweiliger Zugkraft im einzelnen deshalb leicht dadurch ausgleichen, daß ihre 1 reinte Stimmenzahl in der Auseinandersetzung mit den Nationalen und der Frente Amplio zählt. Deshalb muß eine Analyse der Wahlchancen der Kandidaten-formeln bei den Lemas ansetzen.
Verschiedene Institute der Demoskopie haben seit Ende 1970 Umfragen durchgeführt zu den Wahlabsichten der Bevölkerung im wahlberechtigten Alter. Besonders hervorzuheben sind die kontinuierlichen monatlichen Befragungen des Gallup-Instituts Uruguay, das über eine langjährige Erfahrung in Umfragen zum Wahlverhalten verfügt. Die Ergebnisse beschränken sich allerdings auf das Gebiet des Departements Montevideo und liefern somit keine nationalen Daten, die von Montevideo nicht unwesentlich abweichen dürften. Für Montevideo ergaben die Gallup-Umfragen folgende Werte zur Wahlintention der Befragten: Die hohe Quote derjenigen Befragten, die nicht anworten wollten oder sich noch nicht entschieden hatten, welches Lema sie wählen würden, läßt den Wahlausgang zwischen den Lemas zunächst als völlig offen erscheinen, auch nach Daten des Instituto de Siencias Sociales an der Nationaluniversität von Monte-video Das Bild muß jedoch ergänzt werden durch Daten aus dem Landesinnern, das konservativer und traditionaler ist als die Stadt. Der Frente Amplio können dort keineswegs die Werte eingeräumt werden, die sie im Departement Montevideo aufweist. Eine Gallup-Umfrage in zwölf Ortschaften des Landesinnern ergab im August 1971 als Wahlintention der Befragten für die Colorados 29 Prozent, die Nationalen 26 Prozent und die Frente Amplio 16 Prozent bei 27 Prozent Nichtantwortenden oder Unentschiedenen; ein Prozent „Andere" und ein Prozent Nichtwahlberechtigte komplettieren die Daten
Die Aufgliederung der Angaben nach Alter und Geschlecht, sozialer Schichtung, Bildung und politischem Interesse der Befragten gibt Auskunft über die Struktur der mutmaßlichen Wählerschaft der drei konkurrierenden Lemas Es kann generalisierend festgestellt werden, daß sich erhebliche Unterschiede in der Wählerstruktur der Frente Amplio im Vergleich zu den traditionellen Lemas zeigen. Die Bevölkerung, die als Wahlintention die Frente Amplio angibt, ist jünger, hat eine bessere Ausbildung genossen und ist stärker an Politik interessiert. Vor allem die Altersstruktur und die Schulausbildung der mit Wahlintention Frente Amplio geführten Befragten ver-halten sich umgekehrt proportional zu denen mit Wahlintention Colorados. Während zwischen Männern und Frauen bei der Frente Amplio kein nennenswerter Unterschied in den Werten besteht — die Daten sind hier allerdings nicht einheitlich, zumeist überwiegen die Frauen —, geben die Männer in höherem Maße als die Frauen ihre Wahlintention mit Colorados an. Sie scheinen mit dem bestehenden politischen System bzw.seinen bisherigen Trägern weit mehr verbunden als die Frauen, die im Generationskonflikt — auf den die Daten schließen lassen — offensichtlich weniger entschieden sind (sie weisen höhere Werte bei Nichtantworten und Unentschiedenheit auf) und tendenziell stärker die politischen Ideen der Jugend teilen.
Da sich die an der Politik sehr Interessierten in bedeutend stärkerem Maße für die Frente Amplio entschieden (August 1971: Frente Amplio 37 Prozent, Colorados 24 Prozent und Nationale 14 Prozent Wahlintention in Monte-video) und unter denen „Ohne Antwort" und „Weiß nicht“ jener Bevölkerungsteil vorherrscht, der an Politik nicht interessiert ist (52 Prozent nicht interessiert, 31 Prozent wenig interessiert, 22 Prozent sehr interessiert) werden sich die Stimmanteile der Fronte Amplio bei den Wahlen im November gegenüber den Werten von Tabelle 3 wahrscheinlich noch reduzieren. Diese Tendenz zeigt sich bereits im Vergleich der Daten der August-und September-Umfrage Sie wird durch eine weitere Umfrage von Gallup bestätigt, die zu erfahren sucht, welches Lema die noch Unentschiedenen auf keinen Fall wählen werden. Dabei entfallen auf die Frente Amplio die höchsten Negativwerte Es zeigt sich tendenziell, daß die noch unentschiedenen Wahlberechtigten sich noch nicht unter den traditionellen Parteien entschieden haben und daß dabei die Nationalen die größeren Sympathien besitzen. Es muß offenbleiben, ob diese Unsicherheit in der Wahlintention einer so umfangreichen Wählerschaft vier Wochen vor den Wahlen auf die Auswechselbarkeit der traditionellen Parteien zurückzuführen ist oder ob sich in ihr nicht bereits eine Überlegung kundtut, in Abwehr der Frente Amplio als neuer dritter Kraft jenes Lema zu wählen, von dem man in letzter Minute mit größerer Sicherheit annehmen kann, daß es die politische Linke schlagen wird. Die Aufputschung der öffentlichen Meinung durch die von Antikommunismus getragene Propaganda der traditionellen Parteien gegen die Frente Amplio könnte die zuletzt angesprochene Lage des noch unentschiedenen Wählers mit beeinflußt haben.
Innerhalb der Lemas, die mehrere Kandidaten-paare aufgestellt haben, spricht bei den Nationalen alles für Ferreira Aldunate und bei den Colorados vieles für Jorge Batlle. Es hängt allerdings im letzteren Falle sehr davon ab, ob Pacheco Areco der von ihm propagierten Präsidentschaftsformel Bordaberry/Sapelli einen großen Teil der auf ihn entfallenden Stimmen übertragen kann, ob die Transaktion gelingt, von der viele Beobachter meinen, daß sie das eigentliche Motiv für die als solche wohl aussichtslose Kandidatur Pacheco Arecos auf Wiederwahl sei.
Innerhalb der Frente Amplio werden die Sublemas, in denen die Christdemokraten und die Kommunisten vertreten sind, als die stärksten einzuschätzen sein. Den Vorsprung, den die Frente de Izquierda gegenüber der Frente del Pueblo im Departement Montevideo erhalten dürfte, werden die demokratischen Parteien wahrscheinlich im Landesinneren voll ausgleichen können.
Von großer Bedeutung für den Wahlausgang wird sein, wie die Wählerschaft die ökonomische Situation des Landes auffassen und in welche politischen Präferenzen sie ein stark gewachsenes Krisenbewußtsein umsetzen wird. Festzuhalten ist zunächst, daß die Abhängigkeit der uruguayischen Wirtschaft vom ausländischen Kapital der öffentlichen Meinung bewußt ist: Auf die Frage, welche der drei Gruppen, der Staat, die uruguayischen Kapitalisten oder die ausländischen Kapitalisten die nationale Wirtschaft kontrollieren, antworteten im Februar 1971 48 Prozent der Befragten, daß ausländische Kapitalisten die uruguayische Wirtschaft in der Hand hätten, 15 Prozent glaubten, es sei der Staat, und elf Prozent, es seien uruguayische Kapitalisten Diese realistische Einschätzung verbindet sich jedoch noch keineswegs mit der Meinung, die Verhältnisse seien zu ändern. 48 Prozent der Befragten glauben, die ausländischen Gesellschaften begünstigten die nationale Wirtschaft, 49 Prozent sind der Meinung, noch mehr ausländische Gesellschaften sollten ins Land kommen, 31 Prozent sprechen sich dagegen aus (20 Prozent Enthaltungen)
Der empirische Befund besagt, daß das Bewußtsein der Abhängigkeit, der Unterentwicklung, der Krise von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft gewachsen ist. Es zeigt sich aber auch, daß die traditionalen politischen Wertvorstellungen davon nicht grundlegend erschüttert werden. Offensichtlich ist, daß die politische Lösung der Krise nicht außerhalb des traditionellen Verfassungssystems gesucht wird. Seit 1968 ist die Zahl derjenigen, die die „Lösung der nationalen Probleme innerhalb von Recht und Ordnung" wünschen, von 77 Prozent auf 93 Prozent angestiegen sicherlich nicht zuletzt auf Grund des Bekenntnisses auch und gerade der Frente Amplio zu den bestehenden Institutionen, das Wahlge-setz ausgenommen. Zwar hat die Frente Amplio die Grundsituation des uruguayischen Wählers grundlegend verändert: Er kann zwischen drei Alternativen wählen. Zum ersten Mal geht die Linke nicht ohne jegliche Chance in den Kampf mit den traditionellen Parteien um Wahlsieg und Machtausübung Das Postulat der Linken nach einer tiefgreifenden Erneuerung der Politik hat aufgehört, eine für Uruguay völlig irreale Formel zu sein. Indes fragt sich, ob die Wählerschaft mit dem Vertrauen in das politische System, das gesellschaftlich tief verankert ist, nicht doch trotz anhaltendem Krisenbewußtsein erneut ein Vertrauen in die traditionellen Parteien verbindet, die Probleme besser lösen zu können. Die neue politische Alternative wird noch nicht recht visualisiert, letztlich weil aus dem Krisenbewußtsein nicht die Vorstellung hervorgeht, daß neue Wege beschritten werden müssen sondern vielmehr der Wunsch, wieder zum Uruguay von früher, zum alten Uruguay zurückzukehren
Wahlen und politischer Wandel
Daß trotz des Bewußtseins der Krise die traditionalen Muster des politischen Verhaltens, vor allem die daraus resultierenden politischen Präferenzen, anhaltend gültig sind, betrifft für den Fall Uruguay aufs engste die Frage, ob mittels Wahlen die politische Basis einer notwendigen sozioökonomischen Transformation erreicht oder ein entwicklungspolitisch wünschbarer Wandel beschleunigt werden kann! Definitorisch ist zunächst zu erklären, daß wir das Problem politischen Wandels und bürgerlich demokratischer Wahlen beleuchten wollen. Wahlen im bürgerlich demokratischen Verständnis sind dabei abzugrenzen von bolschewistischen Wahlen oder solchen, denen durch den Ausschluß der Konkurrenz von Kandidaten und Pogrammen von vorneherein eine hohe dirigistisch bewußtseinsbildende Funktion zugedacht ist Was die Methode pluralistischer Wahlen anbelangt, in denen Status-quo-Politik und gesellschaftliche Trans-* formation sich gegenüberstehen, so zeigt sich in Uruguay, daß die Wählerschaft ein hohes Vertrauen in sie besitzt, selbst den extrem zugespitzten politischen Konflikt zu lösen. Die Ausnahmesituation, die diktatorialen Verhältnisse, die zu den Wahlen von 1971 herrschen, haben an der Überzeugung der Uruguayer nicht ernsthaft rütteln können, daß es erstens im November Wahlen geben werde und damit die Frente Amplio eine Chance erhielte und daß zweitens im Falle, daß die Frente Amplio gewinnen würde, den Links-parteien die Macht übergeben werde. Hier allerdings waren die erzielten Positivwerte nicht so hoch. 71 Prozent der Befragten in Monte-video, 62 Prozent im Landesinnern glaubten, daß wenn die Frente siegen würde, ihr Wahlsieg anerkannt werde In der öffentlichen Meinung hat sich im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der Spielregel unabhängig vom Wahlausgang die repressive Tendenz der Pacheco Areco Regierung nicht durchgesetzt. Dies zeigt zweifellos den hohen politisch-institutionellen Konsens, den eine lange Tradition demokratischer Methoden und Techniken in Ländern wie Uruguay geschaffen hat. Doch wird die erneute Hinwendung der Wählerschaft zu den traditionellen Parteien, auch wenn diese ihre früheren Prozentzahlen an Stimmenanteilen nicht mehr erreichen werden, zu neuen Überlegungen über den Sinn von Wahlen führen. Dabei wird der Ausnahmezustand, Pressezensur, Schließung von Oppositionsblättern, Verhaftungen etc., die den Wahlkampf der Frente Amplio begleiteten, für weite Teile der Linken ein willkommenes Argument sein gegen die Wahl als Weg zur Erlangung der Regierungsgewalt. Vor allem von sozialistischer Seite wird man heftige Kritik an der Wahlthese und eine verstärkte Tupamarisierung erwarten dürfen. Die neue Regierung wird feststellen müssen, daß Wahlen, in denen Chancengleichheit der Parteien nicht -die ge währleistet ist, statt den sozialen Konflikt zu lösen ihn eher verschärfen und in das Feld der gewaltsamen Austragung führen werden.
Doch gilt es, jene Funktion von Wahlen hervorzuheben, die erfüllt werden können, ohne daß der Wahlsieg sie krönen muß. Nie zuvor wurde der uruguayischen Wählerschaft die Notwendigkeit ökonomischer, sozialer und politischer Reformen so deutlich gemacht wie im Wahljahr 1971. Die substantielle Neuorientierung bleibt ein gültiges Gebot der uruguayischen Politik. Ihm können langfristig die traditionellen Parteien nicht länger ausweichen, wollen sie den sozialen Konflikt nicht weiter verschärfen und an Boden für demokratische Lösungen verlieren. In dieser Perspektive wird sich das Wahlergebnis vom November 1971 relativieren. Die Aufweichung tief verankerter politischer Verhaltensweisen hat keine bessere Chance, eingeleitet und erreicht zu werden, als im Wahlkampf. Die politische Linke als Motor sozialrevolutionärer Veränderung muß sich dieser Tatsache bewußt werden und von hier her die strategische Funktion und Bedeutung von Wahlen begreifen.
Wird die Frente Amplio die Wahlen im Zusammenhang politischer Bewußtseinsbildung für und über sozialen und politischen Wandel verstehen, so dürfte die „tesis electoralista" gegenüber dem bewaffneten Austrag der Gegensätze weiter an Boden gewinnen, ohne daß sich das Wahlergebnis Chile 1970 wiederholt. Auch die rechten Regime Lateinamerikas suchen heute nach einer „salida electoral", eine Lösung des politischen Engpasses durch Wahlen. Besonders deutlich wird dies im Falle Argentiniens. Es wäre in diesem Land allerdings nicht der erste Versuch, und ob er 1973 gelingt, so daß sich langfristig ein demokratisches System einrichten kann, muß sehr bezweifelt werden. Ähnliches gilt für Ecuador, wo der greise Präsident Velasco Ibarra, selbst gewählt durch das Volk, seit einem Jahr gestützt auf das Militär, mit Volkswahl Abgang einer seines Nachfolgers verschönern will. Wo die politische Funktion des Militärs indes die professionell-militärische in den Schatten gestellt hat, wo Putsch und Wahl einander abwechselten, wird auch in Zukunft die Wahl als Methode, zumal als solche, politischen Wandel herbeizuführen, umstritten bleiben. Ob in Uruguay die Anerkenntnis der Wahl aufrechterhalten werden wird, ist eine offene Frage.
Dieter Nohlen, Dr. phil., geb. 1939, Studium der Geschichte, Romanistik und Politischen Wissenschaft, Lehrbeauftragter und Leiter des Forschungsprojektes „Wahl der Parlamente" am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg; Mitarbeiter des Instituts für Internationale Solidarität; z. Z. Forschungsaufenthalt in Lateinamerika, Dozent an der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (FLACSO) in Santiago de Chile. Veröffentlichungen u. a.: Spanischer Parlamentarismus im 19. Jahrhundert, Meisenheim/Glan 1970; Begriffliche Einführung in die Wahlsystematik sowie zahlreiche Beiträge in: Die Wahl der Parlamente und anderer Staatsorgane, hrsg. von Dolf Sternberger und Bernhard Vogel, Red. Dieter Nohlen, Band I, Europa, Berlin 1969; Wahlen in Deutschland, Berlin und New York 1971 (zusammen mit Bernhard Vogel und Rainer-Olaf Schultze); Die Bundestagswahl in wahlstatistischer Perspektive, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 51— 52/69 (zusammen mit Rainer-Olaf Schultze); Chile vor den Präsidentschaftswahlen. Westliche Demokratie und sozialer Wandel in Lateinamerika, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 35— 36/70; in Vorbereitung: Las elecciones chilenas del 70 (zusammen mit Genaro Arriagada Herrera).
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