1. Innerhalb derselben Jugendjahrgänge ist mit recht unterschiedlichen Einstellungen zu vielen Lebensbereichen zu rechnen. Sie lassen sich u. a. in ein Polmodell: Integration versus Emanzipation einordnen und somit zu den verschiedenen soizalstrukturellen Gruppen der Jugendbevölkerung in Beziehung setzen. 2. Innerhalb der Arbeitnehmerjugend sind besonders benachteiligte Gruppen: Leistungsschwache (bereits auf der Volksschule bzw. Hilfsschule); Ungelernte; Jugendliche in kleinen, abgelegenen Gemeinden und Körperbehinderte. 3. Der aufweisbare Immobilismus vor allem bei Jugendlichen aus den Unterschichten und der unteren Mittelschicht hängt u. a. mit Mängeln in politischer und sozialer Teilnahme, in politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen Kenntnissen, in informatorischen und politischen Aktivitäten, in Aussprachemöglichkeiten und in Bezugs-und Mitglieds-gruppen zusammen. 4. Meinungsimmobilismus zeigt sich u. a. auch in einseitigen Zukunftserwartungen, in Klischeevorstellungen und Vorurteilen gegenüber anderen Völkern, in rational kaum einsichtigen Befürchtungen und Ängsten — und rundet sich damit (speziell für die werktätige Jugend) zum Bild einer tiefergehenden Orientierungskrise ab. 5. Zur Remedur der „Orientierungskrise''wird eine Erweiterung, Differenzierung und Demokratisierung des Bildungs-und Entfaltungsraums der Werkjugend empfohlen — sowie eine frühe Einübung in eine Rollen-und Aufgabenvielfalt mit ihren Möglichkeiten zum Erwerb von Informationen und Aktionsweisen, von Selbstvertrauen und sozialer wie persönlicher Kompetenz. 6. Schließlich werden stichwortartig und generalisierend die „Anliegen" der Neuen Linken erörtert, die bislang und allenthalben die sichtbarste Ausprägung eines Innovationspotentials der jungen Generation darstellt, deren weitere Dynamik im Sinne von Isolierung oder Diffusion allerdings noch ungeklärt ist.
1. Gibt es „Jugendgenerationen"?
Dieser aus Vorträgen vor Jugendreferenten, Jugendschriftstellern, Jugendoffizieren, Juristen, Pfarrern, Berufsschullehrern und Lehrlingsausbildem hervorgegangene Aufsatz bezieht sich nur zum geringeren Teil auf eigene Untersuchungen. Er soll in Thesenform — nicht ohne die in Vorträgen üblichen Vereinfachungen und Verkürzungen — einen Einblick in Einstellungen innerhalb der gegenwärtigen Jugendjahrgänge geben, und zwar in ihre vielfältigen, z. T. konträren, z. T. unerwarteten Dimensionen und Komponenten. Er soll weder larmoyant im Sinne einer „Veredelungstheorie“ noch gar harmonistisch-optimistisch, sondern unter der Leitfrage „Orientierungskrise?“ einige Einstellungs-und Verhaltensbereiche für den Praktiker anleuchten.
Die erste These enthält einige notwendig vorweg zu machende Negationen bzw. Einschränkungen: Es gibt keine — und kann es der Natur der Sache nach nicht geben — generelle Theorie von Jugend in der modernen Gesellschaft; es gibt allerdings spezielle Konzepte, die einen Überblick über die empirischen Resultate ermöglichen.
Es gibt ferner kaum oder nur unter Vorbehalten eine allgemeine Abgrenzung des Jugendalters: man könnte den Beginn (im Zuge der bekannten Akzeleration) mit 13 oder 15 Jahren je nach Geschlecht ansetzen und das Ende — in diesem Alter sind übrigens auch Freizeitbetätigungen und -vorlieben, Leseinteressen usw. ausgebildet und fixiert — für junge Arbeiterinnen mit 16 Jahren, für junge Facharbeiter mit 19 Jahren und bei jungen Akademikern mit 25 Jahren. Das heißt, die „Jugendphase“ wird rascher und einfacher oder langsamer und wahrscheinlich fruchtbarer durchlaufen und beendet je nach Schul-und Berufslaufbahn, nach deren Niveau und Dauer und je nach dem sozio-ökonomisch-kulturellen Status der Eltern — sowie zumeist je nach dem Geschlecht.
Somit gibt es empirisch kein universelles oder typisches oder modales Grundmuster von Mentalität für eine ganze Jugendgeneration, die in der Bundesrepublik etwa sieben bis acht Millionen junger Menschen umfaßt. Vielmehr klaffen ziemlich deutlich auseinander Einstellungen, Verhaltensweisen persönlicher, sozialer, beruflicher Art, Lebenschancen, -wünsche und -pläne, Freizeitverhalten, Wertvorstellungen und schon der bare Informationsbestand. Sie klaffen auseinander je nach den Makro-Sozialgruppen, denen der Jugendliche angehört, worunter am bedeutendsten sind die bereits erwähnte Schul-und Berufslaufbahn, der Sozialstatus der Eltern, das Geschlecht und ferner, mit abnehmender Bedeutsamkeit, das Lebensalter innerhalb der Jugendphase, Wohnortgrößen, Konfession u. a. m. Daß Schul-und Berufsausbildungsniveau so entscheidend diskriminieren, hängt u. a. mit dem noch immer dreiteilig vertikal gegliederten Schulsystem der Bundesrepublik zusammen sowie mit dem dualen Berufsbildungssystem (Lehre, Praktikantenzeit oder Arbeit im Betrieb nebst einem Wochentag Berufsschule) und der stark professionalisierten und ziemlich immobilen Sozialschichtstruktur der Bundesrepublik. Die Sozialisationsunterschiede sind offenkundig wichtiger als die Generationsunterschiede. Das Historikeridiom der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" läßt sich auch auf die jungen Menschen gleicher Geburtsjahrgänge anwenden. Deshalb sollte man vom Konzept einer einhelligen Jugendgeneration völlig absehen — von anderen damit zusammenhängenden und ebenfalls kaum wissenschaftlich lösbaren Problemen hier zunächst ganz abgesehen: nämlich der Generationsabgrenzung, dem Prä-gungsalter einer Generation oder den Generationsvergleichen, die meist in einem kultur-pessimistischen Perspektivismus höchst fragwürdiger Art enden. Das bedeutet nicht, Unterschiede unter den Jahrgangsgruppen zu leugnen, wohl aber die wissenschaftliche Problematik in der Ermittlung solcher Unterschiede deutlich zu machen. 2. Zwischen Anpassung und Emanzipation Wie sieht nun die angesprochene Zwischen Anpassung und Emanzipation Wie sieht nun die angesprochene sozialstrukturell bedingte Verschiedenartigkeit von Einstellungs-und Verhaltensweisen bei Jugendlichen ein und derselben Geburtsjahrgänge aus?
Wie läßt sich die damit implizierte gruppen-spezifische und individuelle Unterschiedlichkeit der Auseinandersetzung mit dem soziokulturellen System, den Zeitumständen, dem „Zeitgeist" einsichtig machen, unter dem die Jugendlichen aufwachsen?
Dazu bedient man sich eines (u. a. von R. K. Merton aufgestellten) Modells mit zwei Polen: nämlich Eingliederung vs. Verselbständigung, Anpassung vs. Erneuerung oder Integration vs. Emanzipation. Auf dem ersten Pol kann man sich eine Eingliederung „als Nachwuchs" mit abnehmender innerer Zustimmung und Entscheidung vorstellen bis zu Extremen wie Ritualismus und Apathie. Auf dem zweiten Pol eine „avantgardistische" Verselbständigung und Mutation in verschiedenen Richtungen — sei es mehr systembezogen reformistisch oder mehr systemkonträr revolutionär. Vielleicht sollte man sich darunter auf einer anderen Ebene die Regression ins Vorgestrige und den Hang zur Destruktion angesiedelt denken. Unterhalb solcher Pole und ihrer extremen Varianten finden sich auch bei jungen Menschen Abweichungen neurotischer, dissozialer und krimineller Art.
Das heißt, Jugend ist nicht qua Lebensalter fortschrittlich und anders als die Erwachsenen; das ist in der Bundesrepublik jeweils nur einem kleinen Teil, einem durch Schulbildung und Berufskarriere sowie Familienstatus begünstigten Teil möglich, während der größere Teil, besonders der Lehrjugend, stärker auf dem anderen Pol steht mit zögerndem Verharren auf dem Status quo, einem übernehmen des „wie gehabt", demgegenüber er sich schwerlich Veränderungen und Alternativen überhaupt vorstellen kann, geschweige denn durchzusetzen in der Lage ist. Man umschreibt diesen Sachverhalt manchmal mit dem Schlagwort vom „Konservatismus der Unterschichten", den ich lieber präzisieren möchte durch den Ausdrude „Immobilismus der werktätigen Jugend". Die Historie allein definiert also keine Jugendgenerationen, dazu sind die Sozialpositionen und Rollenmuster der verschiedenen Gruppen von Jugendlichen viel zu unterschiedlich.
Ihr volles Profil bekommt solche Polarisierung durch Aufdeckung von Zusammenhängen zwischen den Polen der Einstellung und des Verhaltens einerseits — und anderen Bereichen jugendlicher Verhaltensweisen und Leistungen andererseits 1): Mit immobilen Einstellungen hängen offenbar zusammen Mängel im Informationsbestand, in den Bemühungen um Information, in verbaler Intelligenz, in der Offenheit und Bereitschaft zur Diskussion in den Bezugs-und Kontaktkreisen des Jugendlichen, mit Mängeln in sozialen und politischen Aktivitäten und sozialer und politischer Teilnahme. Und sie hängen zusammen im persönlich-sozialen Nahbereich mit Mängeln von Flexibilität, Offenheit und Liberalität 2). Das bedeutet, der aufweisbare Immobilismus dekuvriert sich mehr oder minder als eine schlecht informierte, untätige, defensive Einstellung von in Bildung und Leben Benachteiligten und Inaktiven.
Auf dem anderen Pol, das heißt dem der Progressiven und Emanzipierten, ist relativ stärker das Gegenteil der Fall. Wohlgemerktheißt das nicht: alle Werktätigen seien so eingestellt, aber ein relativ großer, ein überzufällig größerer Teil neigt dem zu, während bei den Schülern und Studenten ein relativ größerer Teil dem progressiven Pol zuneigt und damit zusammenhängend entsprechende Positiva aufzuweisen hat. 3. Rückstand der weiblichen Jugend Die erwähnte Immobilität zeigt sich nun nicht nur allgemein relativ stärker bei der werktätigen Jugend als bei Schülern weiterführender Schulen — sie zeigt sich besonders auch, und zwar generell stärker bei den Mädchen gegenüber den Jungen. Das betrifft ihre Berufswahl, die immer noch weibliche Berufe oder ungelernte Tätigkeiten bevorzugt, die Lebensplanung, die vielfach eine Erwerbstätigkeit nur bis zur Heirat einplant, eine Partnerwahl, die in altmodischer Weise sozialen Aufstieg und Sicherung durch Heirat anstrebt. Das zeigt sich in der Bevorzugung bestimmter Freizeit-und Urlaubsverwendungen, in der Einstellung zur Politik und Kirche. Offenbar haben die Mädchen weithin, selbst in der DDR — wenn auch wiederum stärker in der sozialen Unter-schicht — immer noch das traditionelle jahrhundertealte Rollenverständnis bewahrt und damit noch wenig Konzepte für die in der modernen Gesellschaft erforderliche Rollenvielfalt und Rollenkombination, speziell die Rollenzuordnung auf Ehe, Beruf und Öffentlichkeit entwickelt und erlernt.
Dabei denke ich keinesfalls daran, daß die Mädchen in die immer noch männerbestimmte und männerbeherrschte Berufs-, Leistungsund Konkurrenzgesellschaft eindringen, naiv und unreflektiert „männliche" Verhaltensnormen übernehmen und damit gegen die Männer kämpfen und sie ablösen sollten. Ich hoffe vielmehr auf einen Wandel der Wertprioritäten — weg von der Priorität der bloßen (formalen) Effizienz und deren monetärem Ertrag und hm zu einem ausgewogenen Leben in Gesellschaft, Beruf und persönlicher Sphäre — mit Hilfe beruflich qualifizierter Mädchen und Frauen zusammen mit den Männern als ihren Partnern. Einseitige Zukunftsvorstellungen Der zwar nicht Schlagzeilen machende, aber nachweisbar weithin bestehende „Konservativismus" breiter Jugendkreise wird verständlich, wenn man sich die Zukunftsvorstellungen dieser jungen Menschen vergegenwärtigt — besser: den Mangel an Zukunftsphilosophie, programmatik und -prognostik. H. E. Wolf 4) resümiert seine Untersuchungen über Zukunftsvorstellungen von Hamburger Schülern folgendermaßen: „Viele technische, biologische und medizinische Entwicklungen werden als wahrscheinlich angesehen, während gesellschaftliche und politische Sachverhalte (in der Erwartung der untersuchten Jugendlichen; d. Verf.) so bleiben wie sie sind." J. Galtung faßt eine internationale Vergleichsstudie über Zukunftserwartungen junger Menschen und junger Erwachsener in Europa und außereuropäischen Ländern sehr pessimistisch zusammen: Zukunft sei bei ihnen eine vergessene Dimension menschlicher Existenz. Man stehe (im Bewußtsein der befragten jungen Menschen; d. Verf.) eher am Ende einer Phase menschlicher Entwicklung — und nicht am Beginn einer neuen. Sofern positive Erwartungen geäußert werden, betreffen sie den Fortschritt in Wissenschaft, Technik und Lebensstandard, aber nicht Fortschritte im Zusammenleben der Menschen untereinander, etwa in einer glücklicheren Ausgewogenheit persönlichen und sozialen Lebens. Im Gegenteil, man befürchtet eine Zunahme von Neurosen, Rauschgiftgebrauch und Kriminalität; die Verhinderung von Konflikten wird pessimistisch eingeschätzt. In einer Untersuchung von V. Krumm votieren zwei Drittel der befragten kaufmännischen Lehrlinge dafür, daß der Charakter des Menschen auch in Zukunft so bleiben wird, wie er ist.
Eine der Wurzeln dieses Mangels an Bemühungen um Zukunftskalkulationen und deren Konkretisierung sehe ich in der prognostischen Unsicherheit und Ungewißheit in dem sehr naheliegenden Bereich von Arbeit und Beruf Vieles oder alles wird sich dort verändern oder ist in starker Veränderung begriffen: die Fassungskraft der verschiedenen Berufsgruppen und Berufe, deren Tätigkeitsinhalte, die Ausbildungs-, Aufstiegs-und Sicherheitsmöglichkeiten, ja, auch die sogenannten Arbeitstugenden, das heißt, die moralischen und persönlichkeitsbezogenen Anforderungen der verschiedenen Berufe. In allem werden sich tief-gehende Veränderungen abspielen; wir wissen nur zu wenig — wie? Und es ist nicht ohne unsere Schuld, daß wir unserer Jugend so wenig darüber zu sagen vermögen. Die Zukunft der Arbeitswelt ist immer noch viel unbekannter als die Dynastien-und Kriegsgeschichte der Vergangenheit. Und dabei ist der Sieben-jährige Krieg ein Histörchen gegenüber den millionenhaften Verlagerungen im Sektor von Erwerb, Beruf und Sozialstruktur heute.
Die speziell in der Bundesrepublik solange geübte Professionalisierung der Arbeitswelt mit ihren sehr spezifischen und aufgefächerten Ausbildungs-, Qualifizierungs-und Aufstiegs-möglichkeiten hat sich in vielem überlebt. An ihrer Stelle steht im Bewußtsein sehr vieler junger Menschen und ihrer Eltern ein Dunkel, ein pessimistisches und vielfach zielloses Zufallsverhalten, das zwar Wechsel von Betrieb und Arbeitsplatz und Beruf „irgendwie" in Kauf nimmt, aber eben nicht informiert, vorausschauend und gründlich einkalkuliert. 5. Orientierungskrise der jungen Arbeitnehmer
Somit bringen die Veränderungen unserer Welt speziell für die weniger gut ausgebildeten Jugendlichen eine mehr oder minder tief-gehende Orientierungskrise mit sich. Die Veränderungen vollziehen sich so relativ schnell und umfassend und dazu so wenig durchsichtig und vielfach zwiespältig und gegenläufig oder absichtlich kaschiert, daß die weniger Informierten oder zur Informationsverarbeitung weniger Vorgebildeten kaum erst die vorletzte Phase einer industriellen, professionalisierten Leistungsgesellschaft mit ihren Normen und Anforderungen begriffen und internalisiert oder gar durchschaut haben — während bereits eine neue Phase spätindustrieller, postbourgeoiser Möglichkeiten sich abzeichnet mit veränderten Wertsetzungen etwa einer beruflichen Flexibilität anstelle eines spezifischen Laufbahndenkens, einer Umstellungsfähigkeit und Aufgeschlossenheit für Neuerungen anstelle einer repetitiven Akkuratesse, Team-geist und Kooperationsbereitschaft anstelle von Konkurrenzehrgeiz, integrativer Leitungsstil anstelle hierarchischer Durchsetzung.
Das ist das „Elend des Lehrlings", seine geistig-seelische Verelendung, daß er mit seiner dürftigen Vor-und Ausbildung, seinem engen Informations-und Erfahrungshorizont, seinem geringen Freiheitsspielraum, seiner seltenen Zugehörigkeit zu distanzierenden, entlastenden und orientierenden altershomogenen Gruppen „nicht mehr mitkommt", kaum das Gestern, geschvzeige denn das Heute versteht oder gar Künftiges sich vorzustellen und zu vertreten lernt. Ihm fehlen auch weithin die gruppeneigenen Meinungsbildner, die ihm seine Situation verstehen und deuten helfen so daß er auf ältere Erzieher oder auf die „Neue Linke" angewiesen ist, sofern er sidh nicht gegen beide sträubt, weil ihm die einen zu alt und die anderen zu neu sind. J, H Gagnon resümiert eine Untersuchung an amerikanischen werktätigen Jugendlichen folgendermaßen: Die Veränderungen selber seien ihr Feind! Sie stehen ohne Zielbewußtsein und Zielkenntnis, ohne Identifikationsmöglichkei. ten zwischen der oberen liberalen Wohlstands-schicht und den Slums und den Schwarzen, Ich würde weder diese dramatische Formel noch Galtungs Kulturpessimismus aufnehmen, sondern schlichter hinweisen auf die fahrlässige oder absichtlich so gewollte Diskrepanz zwischen Intelligenz und Macht auf Seiten derer, die die Veränderungen praktizieren, und den Bildungsmängeln und der Mitwirkungsohnmacht auf Seiten der Arbeitnehmerjugend. Sie erreicht mit Verspätung und abgelaufenen Fahrkarten den Bahnhof von Heute, während die wichtigsten Züge in die Zukunft bereits abgefahren sind. Was bleibt ihr übrig, als einstweilen privatistisch in Freizeit auszuweichen mit ihrem illusionären und organisierten oder kommerzialisierten Freiheitsraum oder in Neurosen, Genußmittel und Rauschgift oder Kriminalität. Für eine derart verspätete Generation gibt es kein „Moratorium". 6. Stereotype und Vorurteile Aus einer solchen Orientierungskrise besonders bei der Werkjugend ist verständlich die — eigentlich anachronistische, aber nachweisbare — Zunahme von Vorurteilen Ressentiments und Klischeevorstellungen gegenüber anderen Völkern, Rassen und Sozial-gruppen. In entsprechenden Einstellungsmessungen zeigt sich eine solche Zunahme oder ein Wiederaufleben von Vorurteilen insbesondere gegenüber Gastarbeitern, Entwicklungsländern, den östlichen Partnern und sogar den EWG-Ländern. Ebenso bestehen fort veraltete, simplifizierende und degradierende Stereotypen über das andere Geschlecht. In einer Untersuchung — allerdings an erwachsenen Ar-beitnehmern (R. Bergius — gelten z. B. immer noch „die" Südländer (d. h. die meisten von ihnen in der Sicht der meisten von uns) als „heißblütig, stolz, — faul und feige".
Derartige Vorurteile und Stereotypen dienen, sozialwissenschaftlich gesehen, zur Absicherung gegen fremde und bedrohliche Gruppen im weitesten Sinne und zur Bestätigung der eigenen gefährdeten Gruppenidentität und -Solidarität. Aber wozu ist das bei jungen Menschen von heute nötig? Es ist nur verständlich im Zuge von unbegriffenen und unbewältigten Veränderungen im Gefüge der Staatsgesellschaften, Sozialgruppen, Lebensalter und Geschlechter. Dafür spricht auch die Tatsache, daß damit einhergeht ein beachtliches Fortbestehen von Ängsten und Befürchtungen gegenüber der Zukunft in militärischer, politischer, ökonomischer und innergesellschaftlicher Hinsicht. 7. Das kulturelle Niemandsland der Ungelernten Um diese negativen Aspekte und ihre Zusammengehörigkeit noch ein wenig weiter auszumalen und genauer zu lokalisieren, möchte ich auf die Sondergruppe der sogenannten Ungelernten hinweisen, die immerhin in den Jugendjahrgängen der Mädchen etwa 20 0/0 und bei den jungen Männern 8 0/0 ausmachen Auf eine knappe Formel gebracht, könnte man über sie sagen:
Die auch bei den werktätigen Jugendlichen neben anderen Zügen besonders verbreiteten Züge von Immobilismus, von reaktionären, ja faschistoiden Einstellungen finden sich in dieser Subgruppe in höchstem Maße und in engstem Zusammenhang — sowie in Verbindung mit sozialer und politischer Apathie, mit Informationsmängeln und Zukunftsahnungslosigkeit, mit Vorurteilen und Ängsten. Diese jungen Menschen leben in einem sozio-kulturellen Niemandsland, abgeblendet, eingeigelt, passiv, . vergreist', von Mißgeschicken verfolgt, so daß sie kaum noch ansprechbar sein dürften.
Sie teilen damit viele Merkmale, die generell der sozialen Unterschicht in hochindustrialisierten Gesellschaften zugeschrieben werden
Bei ihnen gerät die anfangs beschriebene polare Unterschiedlichkeit der Einstellungen in den Sog bedenklicher Desintegration und Eskapierung. An ihnen sieht man, wie in einer Jahrgangsgruppe eigentlich ganz verschiedene „Generationen" stecken. Und man muß sich die Frage vorlegen, was geschehen wird, wenn nicht eine Minorität von Studenten, sondern diese Millionen Depravierter einmal „erwachen" und ihrer Situation und ihrer Nichtteilhabe am Leben bewußt würden? 8. Jugend auf dem Lande Zu den sorgemachenden Untergruppen der Jugend muß man auch einen Teil der Landjugend zählen, insbesondere wohl die jungen Menschen in kleinen Gemeinden mit kleinbäuerlicher Bevölkerung oder in abgelegenen Gebieten. Wie man auch im einzelnen ökologisch diese durch Verkehrslage, Bildungs-und Arbeitsmöglichkeiten und Hofgrößen benachteiligten Gemeinden mit unter 5000 Einwohnern beschreiben und eingrenzen will, man geht wohl nicht fehl, daß davon etwa jeder zehnte junge Mensch in der Bundesrepublik betroffen ist. Wie man aus den Studien von U. Planck und D. Wissler (teils auch aus Sendungen des Hessischen Fernsehens) entnehmen kann, leben diese Jugendlichen in einer Art Reservationskultur „auf dem Lande", wo sie mit den Veränderungen unserer Welt erst recht nicht fertig werden und noch viel stärker als andere Jugendliche an einer Orientierungsund Identifikationskrise leiden. Damit gehen offenbar einher Unsicherheit, Mißtrauen, Schadloshalten an Schwächeren und ein Rückzug auf ein sehr fragwürdiges Brauchtum.
Entgegen den Annahmen der Soziologie bieten diesen Jugendlichen altershomogene Gruppen und schichteigene opinion-leader keine Hilfe und ebenso gewinnen sie auch keine Unterstützung aus der angeblich noch lebensnahen Welt der Dorfschule. Im Gegenteil, sie stehen erst recht unter einem erhöhten Konformitätsdruck, der eine Überanpassung an eine vergehende, nur noch in der Defensive stehenden Subkultur erzwingt und der diese jungen Menschen hindert, im eigentlichen Sinne junge Menschen ihrer Zeit zu sein.
Damit sei zur Genüge auf die dunklen Stellen im Bilde der jungen Generation hingewiesen und auf den Umstand, daß die Literatur für die Jugend fast gar nicht oder nur in seltenen Fällen die nicht geringen Gruppen der Depravierten und nicht mal die große Masse der werktätigen Jugend erreicht, sondern weitgehend nur die Schüler aus der mittleren oder oberen Mittelschicht. 9. Hilfen durch die Rollenvielfalt Eine Möglichkeit, statische und „unzeitgemäße“ Verhaltensweisen rechtzeitig zu korrigieren, wäre dann gegeben, wenn man die jungen Menschen schon im Kindesalter auf das Konzept des Rollen-Satzes (Merton) eingestellt hätte, das heißt auf die Vielfalt von Erwartungen, Ansprüchen, Normen und Chancen, die mit den unterschiedlichen Rollen und Positionen verbunden sind, wie sie das moderne Leben in Familie, Schule, Beruf, Verein, Organisation, Kirche, Parteien und sonstiger Öffentlichkeit anbietet. Man hat statt dessen eine solche Mehrzahl von z. T. konfliktgeladenen Aufgaben und Bewährungen eher beklagt und fürchten gelehrt, anstatt dazu ausdrücklich an-zuleiten. Deshalb haben sich junge Menschen in Familie, Schule, Beruf oder Hobby jeweils abgekapselt und in solcher Einseitigkeit den Blick auf die übrige Welt und deren Veränderungen verloren. Statt dessen hätte man sie bildend und praktisch dazu anlernen sollen, eine solche Rollenvielfalt von vornherein zu akzeptieren, die davon ausgehende Dynamisierung zu nutzen, um eine möglichst vielseitige Position im Leben zu finden. Diese Auffassung hat sich erst sehr allmählich verbreitet, von den Gymnasiasten und Studenten bis hinüber zu den Real-und Fachschülern und den höher-qualifizierten Lehrlingen, den aktiven Mitgliedern von Jugendverbänden und den Kindern aus weltoffenen Elternhäusern. Diese jungen Menschen leiden viel weniger unter der oben erwähnten Orientierungskrise. Offenbar muß und kann man es lernen, sich nicht in der Einfalt, sondern in der Vielfalt zu etablieren. 10. Die „Neue Linke"
Unterdessen hat sich in der Bundesrepublik seit etwa 1960, auffälliger erst seit 1965, unter den Studenten und später auch Gymnasiasten eine Bewegung der „Neuen Linken“ entwickelt. Es soll hier zu den zahllos darüber erschienenen Chroniken, Interpretationen und Selbstdarstellungen keine neue hinzugefügt, sondern nur stichwortartig auf einige gesellschaftspolitische Ziele der „Neuen Linken“ hingewiesen werden, die auch für die übrige Jugendbevölkerung relevant sein oder werden können
— die Verwirklichung der im Grundgesetz versprochenen, aber praktisch bisher materiell nicht hinreichend realisierten sozialen und personalen Chancengleichheit für alle Mitglieder dieser Gesellschaft;
— tatsächlich praktizierbarer Pluralismus in Einstellungen und Verhaltensweisen, der nicht dadurch verhindert wird, daß die seit langem etablierten Gruppen mit Hilfe ihrer gesteigerten und konzentrierten Herrschaft abweichende Minderheiten oder Einzelgänger majorisieren oder degradieren (können)
— z. B. im Familienrecht, durch Presse-konzentration u. a. m.;
— genuine Demokratie, die den (jungen) Bürgern inmitten und dank ihrer sozialen Bezüge politische und gesellschaftliche Kontrolle und Mitwirkung effektiv ermöglicht und einübt und diese nicht durch oligarche Führungsmechanismen kanalisiert oder gar als irreal zurückweist;
— Abwehr unlegimitierter, nur traditioneller oder durch Institutionen aufoktroyierter Autoritäten, die ihre Positionen nicht rational und sachadäquat begründen und erweisen (können) oder eine spezielle auctoritas nicht in neue Verhältnisse verminderter hierarchischer Distanzen einbringen
Man könnte noch manches Stichwort hinzufügen: Verspätung vieler notwendiger Reformen in der Bundesrepublik, Mitbestimmung auf vielen Ebenen, Internationalismus, libertines Glück vs. Leistungspression, „contracul-ture" durch neue, originelle Formen der Kommunikation, Information, Publizistik, Unterhaltung usw.
Interessanter wäre hier die Frage der Diffusion, der Ausstrahlung der „Neuen Linken" auf andere soziale Gruppen bzw.deren Antworten auf diese Herausforderung. Nur kann hier leider aus Raumgründen darauf nicht ausdrücklich eingegangen werden. Auch steht dafür bislang m. E. zu wenig konkretes Datenmaterial zur Verfügung; man bleibt auf einzelne Ereignisse (z. B. Lehrlingsproteste) oder allgemeine Vermutungen (z. B. „Pragmatismus der Unter-schichten angewiesen.
In jenen Gruppen werden auch neue Werte aufgestellt bzw. wird unter tradierten Werten eine neue Auswahl und Rangordnung vollzogen. Das geschieht als Distanzierung von soge-nannten spätindustriellen Werten: individuelle Leistung, Härte, Askese, Konkurrenz, Durchsetzung, Kontinuität, Aufstieg, universelle Effizienz speziell in Technik und Wirtschaft und zivilisatorischem Lebensstandard — mitsamt ihren Widersprüchen und ihren Widersinnigkeiten. Zugleich wendet man sich postbourgeoisen Werten zu: humane Selbstverwirklichung und Selbstbefreiung, persönliche Harmonie und Kreativität, individueller Erfahrungsreichtum und religiöse Sinngebung, Freude an der Arbeit, freundliches, respektvolles, egalitäres Miteinanderleben, worin z. T. das „Glück" der europäischen Bürgerkultur des 18. und 19. Jahrhunderts wiederkehrt.
Ein solcher Wandel der Werte manifestiert sich u. a. auch in vermeintlichen Generationsideologien, in der Kontroverse also zwischen einer Altersideologie des harten, schweren, gebundenen Lebens, das Verzicht, Entsagung und verzögerte Belohnung, allerdings auch Sicherheit, Ruhe und Ordnung impliziert — gegenüber einer Jugendideologie des leichten, ungebundenen, unkomplizierten Lebens, das sich vieles oder auch alles möglichst schnell zumessen und zumuten möchte. Mag darin auch etwas Lebensaltersphilosophie und damit ein anthropologischer Generationsgegensatz enthalten sein — man sollte das nicht immer intolerant und doktrinär abstreiten, aber andererseits auch nicht moralisch überhöhen — so ist es doch wichtiger, solche Differenzen vor dem Hintergrund der großen technischen, ökonomischen, sozialen und ideologischen Veränderungen zu reflektieren.
Mit diesen stichwortartigen Andeutungen ist das eigentlich „Neue", das Generationsprofil einer bestimmten Gruppe von Jugendlichen umschrieben, deren Zahl gering, schichtspezifisch begrenzt und deren Ausstrahlung fragwürdig ist.
Gegenüber den extremen Varianten der „Neuen Linken" haben sich Abwehr-und Abschirmungsprozesse eingestellt. Wer nicht Wertprioritäten und Machtstrukturen schrittweise verändern, sondern das ganze System einfach durch ein anderes, theoretisch ersonnenes, ersetzen und eine neue, fraglich legitimierte Machtelite in den Sattel heben will —, der riskiert es, in einem solchen Alleingang keine soziale Ortung und Kooperation, nicht genügend Genossen zu finden und sich in einer zwar internationalen, jedoch auf sich beschränkt bleibenden Subkultur des Protestes zu isolieren. Eine Zukunft, die nicht kalkulierbar und pragmatisch geöffnet, sondern doktrinär usurpiert und besserwisserisch verplant wird, veranlaßt eher Pessimismus, Angst, Defensive oder Flucht nach vorn. Wenn Gegenwart oder nahe Vergangenheit nur mit mitleidigen, bigotten Verurteilungen bedacht und pauschal als irreparabel abgeurteilt, gute Ansätze als reformistisch zurückgewiesen werden, kann das nur Isolierung und Ablehnung hervorrufen und zur Einengung auf die eine (wenngleich gekonnte) Rolle des Protestes nebst seinen Vorurteilen und Ritualien führen. Daß man damit selber unerträglich obsolet und autoritär wird in der Regression auf längst überholte Konzepte und Ideen bzw.deren überholte Ausformungen, wird den Akteuren viel weniger bewußt als ihren Kontrahenten. Trotz ihrer speziellen Aktionsformen aber sollte ihnen gegenüber Toleranz, Verständnis und geistige Auseinandersetzung geübt werden als einer eingeborenen Minorität dieser Gesellschaft mit einem stellvertretenden Mandat gegenüber deren Versäumnissen und Fehlern. Allerdings zeigen sich auf dem extrem linken Flügel ähnliche Komponenten der Fixierung, Intoleranz, Frustration wie auf dem extrem rechten, wenn auch natürlich in anderem ideologischen Kontext. 11. Zwei Prognosen Ist zum Schluß eine Pronose in bezug auf die junge Generation, eine Antwort auf die Frage, wie es in und mit dieser Jugend weitergehen wird, möglich? Wahrscheinlich kann man nur zwei verschiedene Vermutungen ins Kalkül ziehen: eine optimistische und eine pessimistische.
Die optimistische erwartet — im Zuge von Reformen der Bildung und Ausbildung im Sinne höher qualifizierter Bildungsgänge, veränderter Bildungsstile und größerer Mobilität innerhalb der Berufswelt — eine Abschwächung der sozialstrukturellen Unterschiede innerhalb der Jugend und damit besseren Kontakt und Austausch und intensiveres Verständnis zwischen den verschiedenen Sozialgruppen, das heißt zwischen „Bessergestellten" und bisher „Unterprivilegierten", auch zwischen Mädchen und Jungen. Eine solche Entwicklung könnte eine Integration von bisher gleichgültig Immobilen in die Gruppe der engagiert Progressiven fördern. Es kann aber auch ganz anders kommen: die Zwangslage der gegenwärtigen Bundesregierung in Gesellschafts-und Ostpolitik kann zur Verzögerung überfälliger Reformen führen und damit sogar die systembezogen reform-willigen Progressiven unsicher werden lassen und die extrem Linken weiter radikalisieren stärken und organisieren. Eine solche Entwicklung dürfte unter den Immobilen zur Einigelung im Status quo, zur Abwehr und Diffamierung von Reformen oder gar zum Rückfall in das Gestrige führen. Und es könnte bei den Labilen zur Zunahme abweichenden, dissozialen und kriminellen Verhaltens führen, wobei das Rauschgift zwischen allen drei Formen des Fehlverhaltens vermittelt, was wiederum „law and Order" als konservative Remedur oder Rettung erscheinen lassen dürfte. Das würde zur Verstärkung der extremen Haltungen auf dem linken und dem rechten Flügel des Meinungsraumes und damit zur Desintegration innerhalb der Jugend ein und derselben Jahrgänge unserer Gesellschaft führen und jahrelange Spannungen und Unruhen mit sich bringen.
Walter J a i de , Dr. phil., geb. 10. Mai 1911 in Berlin, o. Professor für Psychologie an der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen, Abteilung Hannover; Leiter der Forschungsstelle für Jugendfragen, Hannover; betreibt empirische Jugendforschung. Buchveröffentlichungen: Die junge Arbeiterin (Mitherausgeber), 1958; Die Berufswahl, 1961; Eine neue Generation? 1961; Das Verhältnis der Jugend zur Politik, 1963; Die jungen Staatsbürger, 1965; Leitbilder heutiger Jugend, 1968; Junge Arbeiterinnen, 1969; Jugend und Demokratie, 1970.
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