I. Aktualisierung der Inhalte
Da politische Bildung in einem unauflösbaren Zusammenhang mit der Politik selbst steht, müssen ihre Inhalte und Perspektiven immer wieder von der Politik her überprüft werden, damit sie aktuell bleibt. Mangelnde Aktualität macht politische Bildung unwirksam. Eine solche nicht unerhebliche Behauptung bedarf der Präzisierung dessen, was hier mit „Aktualität" gemeint ist. Verlangte man, die Veranstaltungen der politischen Bildung sollten, eben um aktuell zu sein, hinter jedem Ereignis auf politischem Feld nachjagen, würde sie nur die Rolle eines informierenden Nachrichtenorgans spielen, und zwar mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln nur sehr unzulänglich und den Massenmedien unterlegen.
„Aktuell" meint hier jene Fragen, die im Zentrum politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen stehen und die, eben wegen ihrer zentralen Natur, zugleich langfristig sind. Sie können freilich eine unterschiedliche Rolle spielen im Bewußtsein der Bevölkerung oder in den unmittelbaren Plänen der politischen Entscheidungsinstitutionen. Offensichtlich gibt es zwei Kategorien von Aktualitäten: jene, die im öffentlichen Bewußtsein und in den Plänen politischer Institutionen eine zentrale Rolle spielen, und jene, die dies nicht tun. Darf man die letzten überhaupt „aktuell" nennen? Man muß es, da sich durch alle Zurückhaltungen hindurch ihr Sachgewicht dennoch durchsetzt. Solche Probleme sind dann allerdings in besonderer Weise gekennzeichnet. Die zögernde und oft sehr späte Anerkennung ihrer tatsächlichen Aktualität erschwert ihre Lösung, zumindest ihre Behandlung, wenn sich schon keine Lösungen finden lassen.
Ein solches Problem ist zum Beispiel die Hochschulreform. Ein anderes, dessen dringliche Aktualität noch immer nicht genug gesehen und berücksichtigt wird, liegt in den Möglichkeiten und Ansätzen zu weitgehenden Verwaltungszentralisierungen innerhalb vieler gesellschaftlicher Bereiche durch technische Apparaturen, mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Praktizierung demokratischer Prinzipien. Und um noch ein Beispiel hinzuzufügen, ein Problem, das sich im Augenblick und gerade wegen seines Sachgewichts durchzusetzen beginnt, ist der Umweltschutz. Es mag im Bereich der praktischen Politik viele Gründe für die Tatsache geben, daß wir auf nicht oder ungenügend berücksichtigte Aktualitäten stoßen, anerkennenswerte (etwa taktische Notwendigkeiten und Rücksichten)
und beklagenswerte (etwa mangelnde Einsicht oder mangelnder Mut, sich der Aufgabe zu stellen) — politische Bildung aber muß, wenn sie ihre Aufgabe richtig versteht, alle politischen und gesellschaftspolitischen Aktualitäten in ihre Programme einbeziehen.
über die Frage, was Aufgabe und Ziel politischer Bildung sei, wurde oft und manchmal ermüdend diskutiert; es gab Antworten und Diskussionen über diese Antworten.
Dennoch drängt sie sich gerade jetzt angesichts einer politischen Situation auf, die gekennzeichnet ist durch neue oder erneuerte Konfrontationen, durch die Tatsache, daß Zukunft, und zwar eine kaum zu bewältigende Zukunft, in bis dahin unbekanntem Ausmaß in unsere Gegenwart eindringt.
Wenn politische Bildung einen entscheidenden Beitrag leisten will zur Befähigung und zum Willen des Menschen, die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit aktiv mitzugestalten, statt sich ihr nur anzupassen oder gar zu unterwerfen, dann müssen alle Aktualitäten in den Bildungsprozeß einbezogen werden, dann darf das Bildungsprogramm nicht nur auf das gerade Anerkannte reduziert werden.
In gewissen Fällen kann dann politische Bildung in Politik umschlagen, indem sie dazu beiträgt, zurückgedrängte, in manchen Fällen verdrängte Aktualitäten ans Licht zu zie21 hen, ihren Eintritt ins öffentliche Bewußtsein und damit ins politische Feld vorzubereiten, ihre Diskussion einzuleiten. Das kann sie allerdings dicht an die Grenze unmittelbaren politischen Handelns und damit an die Frage führen, ob sie diese Grenze überschreiten darf. Die Frage sei an dieser Stelle nur angedeutet; sie soll in späterem Zusammenhang, im vorletzten Abschnitt dieser Betrachtungen, wieder aufgegriffen werden.
II. Wertentscheidungen als zentraler Bezugspunkt
Das auslösende Moment für die gegenwärtige Aktualisierung oder Wiederaktualisierung zentraler gesellschaftlicher und politischer Fragen und Probleme war der Regierungswechsel in Bonn. Er machte die zwar immer bestehenden, in der Vergangenheit nur manchmal etwas verwischten programmatischen Unterschiede zwischen den Parteien wieder deutlich. In den Parteien verstärkten sich, durch den Rollenwechsel gefördert, die Auseinandersetzungen und Diskussionen, so daß sie sich der Öffentlichkeit nicht mehr nur in ihrer offiziellen Politik, sondern auch mit den neben und unterhalb dieser offiziellen Politik geäußerten Meinungen darboten. Die regierungspolitischen Zielvorstellungen stießen mit weitverbreiteten konservativen Denkgewohnheiten und Vorstellungen zusammen und provozierten pointiert konträre Äußerungen und Auftritte der neuen Opposition und der ihr zuneigenden Interessengruppen. Andererseits wurden Hoffnungen geweckt, die nicht immer verbunden waren mit Einsichten in die Realitäten der Durchsetzbarkeit — alles in allem ein fruchtbarer Augenblick, um zentrale gesellschaftliche Probleme zu aktualisieren.
Die meisten dieser Aktualitäten sind nicht eigentlich neu, sowenig wie die dynamischen Veränderungstendenzen moderner Industrie-gesellschaften neu sind. Manchmal darf man den Eindruck haben, daß zurückgestellte Auseinandersetzungen aus den ersten Jahren nach Kriegsende wieder aufgenommen werden müssen, vor allem auf den Gebieten der Sozial-und Wirtschaftspolitik.
Neu aber und für die gesamte Diskussion von größter Bedeutung ist ein Aspekt der gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Konstellation: das Hineinwachsen jener Generation, für die Nazizeit, Krieg und unmittelbare Nachkriegszeit Geschichte und nicht mehr eigenes Erlebnis sind. Notwendigerweise werden damit neue Maßstäbe in die Beurteilung der Wirklichkeit eingeführt, während andere, bisher anerkannte Maßstäbe, relativiert werden — etwa die durch die unmittelbaren Erfahrungen angestellten Vergleiche des Heute mit dem Gestern. Sie werden ersetzt oder zumindest ergänzt durch Vergleiche zwischen dem was ist und dem was sein sollte und sein könnte.
Nicht zuletzt auf diese Veränderung des politischen Bewußtseins ist eine Aktualisierung zurückzuführen, die alle anderen Aktualitäten durchzieht: Die Frage nach den Wertentscheidungen, aufgrund derer die Probleme gesehen, behandelt und gelöst werden sollten.
Das ist nicht nur für die Betrachtung der Aufgaben politischer Bildung von großer Bedeutung, sondern ist prinzipiell relevant für sie selbst. Politische Bildung ist das Ergebnis einer Wertentscheidung zugunsten des mündigen Menschen und seiner Fähigkeiten und Rechte, das politische und gesellschaftliche Leben aktiv mitgestalten zu können, das heißt, daß sie sich in der Auseinandersetzung der Wertvorstellungen nicht neutral verhalten kann; es sei denn, man versteht sie als ein Instrument anpassender Unterordnung.
Die ursprüngliche Wertbindung der politischen Bildung verbietet ihr die Relativierung der Werte. In ihrer Praxis aber sollte sie sich, da sie „politische" Bildung ist, nicht in abstrakte Wertediskussionen einlassen, sondern Wertvorstellungen und Wertsysteme im Zusammenhang mit ihren gesellschaftspolitischen Auswirkungen sehen, ihre Tendenzen also, nicht ihre Idealbilder, denn kein Wertsystem kann sich jemals in völliger Reinheit verwirklichen. Die heute wieder auflebende Wertediskussion löst die Epoche der sogenannten Entideologisierung ab. Es wäre aber unzutreffend, von einer Re-Ideologisierung zu sprechen, so wie es unzutreffend ist, die politische Diskussion vor allem in den fünfziger Jahren als Entideologisierung zu bezeichnen. Diese Entideologisierung hatte zwei einander zwar häufig durchdringende oder überdeckende, aber doch deutlich unterscheidbare Aspekte. Sie war der Versuch der Entdogmatisierung, der Abwehr ausschließlicher Wertansprüche, die dem System des demokratischen Pluralismus entgegengesetzt sind, war also ein Teil der Herstellung demokratischen Selbstverständnisses. Sie fand statt unter den Bedingungen des Kalten Krieges und war, die innenpolitischen Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Ziele so weit als möglich einengend, ein Mittel zur Verstärkung der abwehrenden Verteidigungsbereitschaft gegen den Kommunismus. Sie erfolgte in der Phase wirtschaftlichen Wiederaufbaus, die, nicht zufällig unter dem Motto „keine Experimente" stehend, von der bewußten oder unbewußten Sorge mitbestimmt war, daß Auseinandersetzungen um Zielvorstellungen diesen Aufbau stören könnten.
Die Phase des Kalten Krieges und des Wiederaufbaus ist endgültig beendet. Die Regierung hat daraus mit ihrer Entspannungspolitik nach Osteuropa hin und mit ihrer Ankündigung, daß sie eine Regierung der inneren Reformen sein werde, die Konsequenzen gezogen und damit eine Situation geschaffen, in der Wertediskussionen stattfinden müssen. Dabei zeigt es sich, daß die sogenannte Entideologisierungsphase ihrerseits eine Ideologie, wenn schon nicht gezeugt, so doch wiederbelebt und gefördert hat: die eines in Grenzen demokratisierten Kapitalismus. Behilflich war dabei einmal das unmittelbare Produkt des Kalten Krieges, der militante Antikommunismus, und zum anderen das fetischisierte Wirtschaftswachstum, das automatisch aus sich selbst Wohlstand und soziale Gerechtigkeit hervorbringe. Der Antikommunismus wurde vor allem als Waffe gegen demokratisch-sozialistische Vorstellungen benutzt. Die Beschwörung eines gefährdeten Wirtschaftswachstum sollte von der Absicht abschrecken, außer dem Staat auch die Gesellschaft und mit ihr die Wirtschaft zu demokratisieren. Nur im Rahmen des ersten der beiden Aspekte ging es also um etwas wie Entideologisierung, genauer als Entdogmatisierung bezeichnet.
Es wäre verfehlt anzunehmen, daß sich die Wertediskussion auf die Konfrontation demokratischer mit nichtdemokratischen Vorstellungen reduzieren ließe, und daß sie durch den Konsensus, auf den sich die das demokratische System bejahenden Gruppen geeinigt haben, innerhalb dieses Systems erledigt sei.
Nicht dieser Konsensus steht zur Debatte, sondern die Prioritäten verschiedener Einzel-werte und der Grad und die Formen der Demokratisierung über den bestehenden Konsens hinaus. Zur Debatte steht, in welcher Weise man den neuen, aus technischer Entwicklung und aus den wachsenden Sozial-aufgaben notwendigerweise sich ergebenden Zentralisierungs-und Planungstendenzen begegnen soll, wie diese den demokratischen Prinzipien unterzuordnen sind und welche verändernden Einflüsse sie auf diese Prinzipien ausüben könnten bzw. nicht ausüben dürften.
III. Aktuelle Bildungsinhalte
Am deutlichsten tritt dieser Prioritätenstreit im Bereich der Wirtschaft zutage, weil hier die verschiedenen Interessen und Ansprüche am radikalsten aufeinanderstoßen. Die Einsichten in dieses Spannungsfeld, die der Staatsbürger braucht, wenn er politisch gebildet sein will, lassen sich nicht gewinnen anhand von Wirtschaftsmodellen und deren Gegenüberstellungen (z. B. Marktwirtschaft kontra zentral gelenkte Wirtschaft), weil sie nicht die tatsächlichen Machtverhältnisse zeigen, sondern realitätsferne Idealtypen sind. Die Auseinandersetzungen finden in Wirklichkeit statt um die Verfügungsgewalt an Produktionsmitteln (Mitbestimmung), um das Recht auf Eigentum, um die Rolle der Wirtschaft im Rahmen gesamtgesellschaftlicher Zielvorstellungen, um die Verteilung des Sozialprodukts.
Beispiele für die Zuspitzung dieser Auseinandersetzungen gibt es genug, und sie sollten in den Programmen politischer Bildungsarbeit auftauchen, mit der kritischen Frage nach den Einstellungen der Parteien und Interessengruppen dazu.
Unser Wirtschaftssystem ist entwickelt worden unter dem Prinzip des Konkurrenzkampfes privater Initiativen und des privaten Profits.
Es hat, nicht zuletzt hervorgerufen durch Konzentrationen verschiedener Grade, zu einer Verfestigung der Verteilung von Verfügungsgewalt und des Anteils am Sozialprodukt geführt. Andererseits wachsen die als Gemeinschaftsaufgaben bezeichneten gesellschaftlichen Gesamtverpflichtungen immer mehr an. Dazu kommt die Tendenz, immer mehr Gleichberechtigungen zu fordern und zu verwirklichen. Die derzeitige Situation in der Wohnungsbaupolitik, in der Strukturpolitik und Städteplanung, in der Konjunkturpolitik, die Diskussion um den Zusammenhang von Wirtschafts-und Sozialpolitik, das heißt um die Einordnung der Wirtschaft in gesamtgesellschaftliche Aufgaben, lassen deutlich genug erkennen, daß wir uns in einem Stadium der Wandlung befinden, welches uns ein neues, nicht mehr nur von Individualismus und Konkurrenzdenken abgeleitetes Gesellschaftsverständnis abfordert. Im Rahmen politischer Bildungsarbeit läßt sich dieser Problembereich gerade deswegen am eindringlichsten abhandeln.
Mit der gleichen Bedeutungsschwere ist das Problem der Fortsetzung und Weiterentwicklung unseres demokratischen Systems gestellt. Es gibt natürlich Überschneidungen, am deutlichsten beim Thema „Mitbestimmung in Wirtschaftsunternehmen". Derartige Überschneidungen ergeben sich aus dem naturgemäßen Zusammenhang von Politik und Wirtschaft. Aus diesem Zusammenhang heraus lassen sich gerade vom Beispiel Mitbestimmung her zwei zentrale Grundfragen stellen: erstens, ob die Demokratisierung auf den staatlichen Bereich zu beschränken oder eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei (mit allen Konsequenzen der einen und der anderen Entscheidung), zweitens, ob und wie sich Verfügungsmacht und Verfügungsanspruch demokratisch legitimieren sollen und können.
Die zentrale Bedeutung und Aktualität beider Fragen für den Problemkreis „Demokratie — Demokratisierung" braucht nicht unterstrichen zu werden. Aus den mit ihnen geforderten Wertentscheidungen ergibt sich politische Praxis, und das heißt umgekehrt, aus der Analyse ihrer programmatischen Vorstellungen, Entscheidungen, Handlungen und deren jeweiliger Begründung lassen sich die Demokratiebilder der verschiedenen politisch tätigen Gruppen erschließen. Analysen haben freilich nur dann Erkenntnis-und damit einen Bildungswert, wenn sie Simplifizierungen vermeiden. Im vorliegenden Fall muß die Analyse deswegen unbedingt die Tatsache berücksichtigen, daß politisch wirkende Gruppen nur in Ausnahmefällen einheitlich in ihren Auffassungen sind, im allgemeinen aber in sich selbst differierende, häufig sogar widersprüchliche Auffassungen auszutragen haben.
Demokratisieren heißt demokratische Praxis zu organisieren und zu institutionalisieren.
Die nächste Fragerichtung unseres Problemkreises zielt also auf das vorhandene Instrumentarium der Demokratiepraxis und im folgenden Schritt auf dessen Übereinstimmung mit der Demokratievorstellung. Demokratisches Instrumentarium ist dabei im weitesten Sinn zu verstehen, bezogen auf den Staat, den Sozialbereich mit seinen verschiedenen Selbstverwaltungsorganen, die Wirtschaft und natürlich auch auf Parteien und Interessengruppen. Politische Bildung kann hier wiederum an die Grenze des Umschlags zum unmittelbaren politischen Handeln stoßen. Institutionen demokratischer Machtausübung oder Machtbeeinflussung haben zwei ebenso unabdingbare wie gleichwertige Aspekte: die Mitwirkung der Staatsbürger zu ermöglichen sowie zu entscheiden und zu handeln. Beide Aspekte sind dialektisch aufeinander bezogen. Die einseitige Betonung des ersten, meist in utopischen Demokratisierungsentwürfen zu finden, führt die Demokratie ad absurdum, die einseitige Betonung des zweiten engt Demokratie, vielleicht sogar bis zu ihrer Abschaffung, ein. Die Auseinandersetzung zwischen beiden Tendenzen ist so alt wie das Bemühen um Demokratie und wird solange aktuell bleiben wie die Demokratisierungsbemühungen andauern. Die Aktualität hat aber an Schärfe gewonnen durch die Entwicklung technischer Apparaturen, durch die Notwendigkeit langfristiger Planungen in den wichtigsten gesellschaftlichen Bereichen, die zur Entwicklung zentraler Machtpositionen führen, um deren demokratische Bewältigung theoretisch und praktisch gerungen werden muß. Dieses so verschärfte Problem einsichtig zu machen, ist eine der wichtigsten und schwersten Aufgaben politischer Bildung heute.
In ähnlicher Beziehung zueinander wie demokratische Mitwirkung in Machtinstitutionen und deren Handlungseffizienz stehen aus Wertentscheidungen hervorgegangene Zielvorstellungen zum situationsabhängigen politischen Handeln. Einseitige Betonung der ersten führt zu Idealmodellen, die, als Wirklichkeit genommen, von der Wirklichkeit wegführen; einseitige Betonung des Pragmatismus kann zu opportunistischer Verleugnung der ursprünglichen Wertentscheidung führen. Politische Bildung muß aber nicht nur diese beiden extremen Möglichkeiten aufzeigen, sondern sehr eingehend den wiederum dialektischen Zusammenhang zwischen diesen Aspekten der Politik erklären. Nicht einmal autoritäre Systeme können ihm entgehen, wieviel weniger ein demokratisches System, das ohne Wertentscheidungen sowenig existieren kann wie ohne Kompromiß.
Selbstverständlich werden im Zusammenhang mit den hier angeschnittenen Fragen-und Problemkreisen auch gesetzgeberische Regelungen behandelt werden müssen. Die Sittlidikeitsgesetzgebung, die Regelung der Ehescheidung, die Regelung der Stellung unehelicher Kinder, um nur drei zu nennen, führen tief hinein in die Auseinandersetzungen um das moralische Selbstverständnis der Gesellschaft, um den Grad von Freiheit und Gleichheit einerseits und von Repression andererseits.
Auf materiellem Gebiet sind Freiheitsmöglichkeiten und Repression offensichtlich.
Auf dem Gebiet der Moral spielt Unduldsamkeit, eng verwandt mit Dogmatismus, eine unbewußtere, von Traditionen scheinbar gerechtfertigte Rolle. Gerade die enge Beziehung zum Dogmatismus macht diese Unduldsamkeit zu einem politischen Phänomen, an dem politische Bildung nicht vorbeigehen darf. Viele Fragen der bisher angedeuteten Problemkreise berühren das Bildungswesen. Das ist besonders deutlich beim Themenkomplex Demokratie, zeigt sich aber auch beim Themenkomplex Wirtschaft und Sozialpolitik immer wieder. Diese Zusammenhänge müssen herausgearbeitet werden, um grundsätzlich unterschiedliche Zielvorstellungen aufzu-decken und die mit ihnen jeweils verbundenen Vorschläge zur Praxis auf ihre Effizienz hin zu analysieren. Offensichtlich gibt es Konflikte zwischen gewissen Interpretationen des Begriffes „Leistungsgesellschaft" und dem umfassenderen Begriff „mündiger Mensch". Leistungsgesellschaft, technokratisch gemeint, entwickelt andere Bildungsinhalte und -ziele, andere Förderungsund Auswahlverfahren. Sie sehen den Menschen als leistenden Funktionsträger und vernachlässigen bestimmte Aspekte menschlicher Existenz. In ihrer Auswirkung kommen sie gewissen elitären Vorstellungen durchaus entgegen. Ein auf den mündigen Menschen zielendes Bildungswesen ist ein Instrument zur möglichst weitgehenden Herstellung von Gleichberechtigungen; in ihm spielen die drei Aspekte des Berufs, der demokratischen Mitwirkung in der Gesellschaft und der persönlichen Gestaltung des Privatlebens eine gleichwertige Rolle; seine pädagogische Dimension beinhaltet eine Förderung individueller Selbstachtung und bewußter solidaritätsfähiger Sozialität.
Politische Bildungsarbeit, die diese Gegenüberstellung von gesellschaftlich bedingten Bildungszielen herausarbeitet, wird auch auf die traditionelle Einstellung stoßen, daß eine Anhebung des Bildungsniveaus nur sinnvoll sei im Zusammenhang mit Anhebung beruflicher Position. In der Auseinandersetzung mit dieser sehr weit verbreiteten Auffassung wird politische Bildung eine Auseinandersetzung über die menschliche Existenz über-überhaupt.
Der hier auftretende einseitige Bildungsbegriff ist ja nur eine Tendenz in einem Bündel von Tendenzen, die durch ihre Einseitigkeit inhumanen Charakter annehmen:
immobile, einspurige berufliche Spezialisierung, technischer Leistungskult, Jugend-kult, Mißachtung und Verkümmerung schöpferischer Fähigkeiten, Verdrängung der Kunst an den Rand der Gesellschaft.
Das Feld, in dem unterschiedliche Interessen und Vorstellungen am schärfsten aufeinanderstoßen, ist das der Berufsausbildung.
Es geht um die organisatorische Frage der Trägerschaft, der Mitbestimmungsrechte verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und des Staates, aber auch der Betroffenen, es geht um Inhalt und Bildungsziel. Ist die zur Zeit praktizierte Berufsausbildung dem augenblicklichen Stand technischer Entwicklung angemessen, macht sie anpassungsfähig und mobil hinsichtlich möglicher technischer Wandlungen? Soweit scheint es sich um eine Frage technokratischer Natur zu handeln.
Geht sie in Wirklichkeit aber nicht weit darüber hinaus? Anpassung an technische Entwicklung bedeutet auch deren bewußte und gefühlsmäßige Anerkennung, Mobilität bedeutet ein neues Verhältnis zum Arbeitsplatz und zur Arbeit überhaupt. Beides ist insofern politischer Natur, als es auch das Selbstverständnis des Menschen, seine Einstellung zur Gesellschaft und das Verhalten in ihr beeinflußt.
Alle diese innergesellschaftlichen Probleme stehen in enger Beziehung zu den Problemkreisen, die sich aus der aktuellen Deutschlandpolitik, der Europapolitik und allgemein der Außenpolitik, einschließlich der Entwicklungspolitik, ergeben.
Die Entspannungspolitik nach Osten hin hebt nicht die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus auf, da er beansprucht, die bestmögliche Lösung gesellschaftlicher Probleme zu sein. Man muß allerdings zwei Dinge voneinander trennen: die Beziehungen von Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftssyste25 men — und die Analyse des Kommunismus als Ideologie und in seiner innenpolitischen Rolle in unserem Land. Dabei lassen sich konfrontierende Vergleiche nicht vermeiden, im Gegenteil, sie sind dann nützlich, wenn sie außer einer kritischen Betrachtung des Kommunismus auch einer kritischen Betrachtung unseres Systems dienen.
Die westeuropäische wirtschaftliche Integration, die sich fortsetzen und eines Tages von der politischen ergänzt wird, führt mit den Ländern auch deren gesellschaftliche Probleme aufeinander zu. Daraus ergeben sich für die politische Bildung zwei Aufgaben: diese Probleme unter gesamteuropäischen Gesichtspunkten zu untersuchen, aber auch die einzelnen Länder genauer zu analysieren. Denn in der Integration verbinden sich nicht einfach nur Staaten miteinander, sondern Parteien und gesellschaftliche Gruppen treten in immer nähere Beziehungen zueinander.
Die notwendige Folge ist die Veränderung nationaler Vorstellungen, auf die politische Bildungarbeit nicht hier, sondern auch im Zusammenhang mit der Entwicklungspolitik eingehen muß. Erstens gilt es, nationale und weltgeschichtliche Interessen gegeneinander abzuwägen, Prioritäten herauszuarbeiten, um das Verhalten des eigenen Landes, nicht zu. letzt seiner Wirtschaft, kennenzulernen. Zweitens müssen kulturelle und rassistische Vorurteile abgebaut werden, soweit sie noch bestehen.
Vor allem aber durch die Ostpolitik, durch die Verträge mit Moskau und Warschau und die darin enthaltenen Grenzabsprachen wird die . nationale Frage’ aktualisiert, und zwar in doppelter Weise: als Gegenstand der Reflexion und als Gegenstand unmittelbarer politischer Auseinandersetzung. In beiderlei Hinsicht muß politische Bildung einen Beitrag leisten. Sie muß beitragen zur Klärung des nationalen Selbstverständnisses und zur Versachlichung einer politischen Diskussion, die wie keine andere der Gefahr unkontrollierter Emotionalisierung ausgesetzt ist. Historische Rückblicke, die nicht nur bis 1945 zurückreichen dürfen, Abwägen der Interessen aller Entscheidungsbeteiligten und -betroffenen, die Analyse der Möglichkeiten sind dabei von ebenso entscheidender Bedeutung wie die Untersuchung der Koftsequenzen, die sich aus der einen oder anderen Entscheidung ergeben können.
IV. Außerschulische Bildung im Gesamtbildungsprozeß
Politische und gesellschaftliche Entwicklungen beeinflussen nicht nur die Programme praktischer Bildungsarbeit, sondern natürlich auch ihre pädagogische Praxis und ihre Organisation. In einem Bildungsfeld wie dem, das hier zur Debatte steht, gekennzeichnet nicht durch allgemeingültige, wissenschaftlich erhärtete Fakten und Wissensstoffe, sondern vielmehr durch offene Entscheidungsfragen und verschiedene Werthaltungen, bedarf es grundsätzlich des Pluralismus der Institutionen. Im Zuge der Reformen unseres Bildungswesens dürfte dieses System nicht prinzipiell angetastet werden. Anforderungen an die pädagogische Leistungsfähigkeit sind dagegen unbedingt notwendig, da ein solcher pluralistischer Freiheitsraum hin und wieder auch Pflanzen hervorlockt, die sich zwar ernähren, aber keine Früchte bringen.
Unangetastet bleiben sollte auch das Prinzip der Freiwilligkeit der Teilnahme an außerschulischen Bildungsunternehmungen. Freiwillige Entschlüsse sind ein entscheidender Teil von Bildungsprozessen, die unter dem Motto des mündigen Menschen stehen. Dieses Prinzip der Freiwilligkeit der Bildung ist unauflöslich und besonders eng mit der Bildungsmotivation verbunden. Motivationen zur außerschulischen Weiterbildung ergeben sich in der Hauptsache aus existentiellen Zwängen oder Bedürfnissen, aus dem Bewußtsein oder zumindest der Hoffnung, daß diese Bemühungen sich in möglichst erfolgreiches Handeln umsetzen lassen — und sie müssen gestützt sein zuerst von der Über-zeugung, dann im eingeleiteten Bildungsprozeß von der Erfahrung, daß man den Anforderungen gewachsen, daß man in der Lage und fähig ist, Ziele zu erreichen. Umgekehrt kann das Bildungsangebot seinerseits motivationsverstärkend — aber auch motivationstötend — wirken, und zwar durch seine Inhalte ebenso wie durch seine Methodik.
So gesehen ist in unserer derzeitigen gesellschaftlichen Situation allgemein und in unserer Bildungssituation besonders die beruf-B liehe Weiterbildung in einem erheblichen Vorteil gegenüber der politischen. Das Bedürfnis nach beruflicher Sicherung, nach Aufstieg, nach Veränderung oder der sich aus technischen Entwicklungen ergebende Zwang zur Veränderung motivieren den Arbeitnehmer zur beruflichen Weiterbildung, wobei diese Motivationen verstärkt werden durch die Abhängigkeit des einzelnen von seiner beruflichen Leistung und Möglichkeit sowie durch das unsere Gesellschaft beherrschende Arbeitsethos, das den Menschen in seinem Selbstverständnis weitgehend auf Beruf und Arbeit fixiert. Nur zum Teil hängen diese Motivationen von der Schulbildung ab. Zumindest der von technischen Entwicklungen ausgehende Motivationszwang wirkt sich unabhängig von ihr aus, wenngleich wir nicht übersehen dürfen, daß gerade dieser Zwang auch Resignation und Lähmung des Willens hervorrufen kann. Eine solche Feststellung deutet auf den Zusammenhang von politischer und beruflicher Weiterbildung hin, über den an anderer Stelle (beim Thema „Bildungsurlaub") noch etwas zu sagen sein wird.
Für die politische Bildung gibt es diese unmittelbar wirksamen Motivationsanstöße nicht oder kaum. Im Gegenteil, es gibt eine Reihe von Behinderungen, von denen drei besonders gewichtig sind: unzulängliche Schulbildung, Resignation gegenüber .denen da oben', geglaubte oder tatsächlich gegebene Unmöglichkeit, politische Bildung in wirksames Handeln umsetzen zu können. Um diese drei in sich zusammenhängenden Behinderungen einzuschränken, bedarf es einer Konzeption, in der Schule und außerschulische Weiterbildung enger aufeinander bezogen werden, als es zur Zeit der Fall ist. Dabei handelt es sich weniger um eine organisatorische als um eine Frage der Methodik und Didak-tik. Die Bemühungen um die Reform des Bildungswesens schaffen eine günstige Gelegenheit, diese zentrale Frage zu lösen.
Schon eine verlängerte Schulzeit wird sich positiv auswirken, da sie die intellektuellen Voraussetzungen für einen lebenslangen Bildungsprozeß erheblich verbessert. Untersuchungen haben immer wieder den Zusammenhang zwischen Schulbildung und Weiterbildungswillen festgestellt. Diese Verbesserungen werden aber erst dann wirklich effektiv, wenn die Schule sich mehr als bisher selbst als Teil des lebenslangen Bildungsprozesses versteht und ihre Inhalte und Methoden entsprechend einrichtet. Die Lehrer, die ja in der pädagogischen Praxis über die Verwirklichung solcher Vorstellungen entscheiden, darüber aufzuklären, ist eine wichtige gesellschaftspolitische und im eigenen Interesse der außerschulischen Bildungsarbeit liegende Aufgabe. Nicht zuletzt gehört die möglichst frühzeitige Förderung von Eigeninitiative zu den wesentlichen Erziehungsaufgaben der Schule, weil sie eine Voraussetzung des freiwilligen Entschlusses zur Weiterbildung ist.
V. Perspektiven des Bildungsurlaubs
Die Herstellung effektiver Zusammenhänge zwischen schulischer und außerschulischer Bildung ist eine langfristige Perspektive. Eine Erhöhung der Nachfrage nach politischer Bildung ist kurzfristiger möglich durch die Verbesserung materieller Voraussetzungen, deren eine und zweifellos gewichtigste die Einführung eines allgemein bezahlten Bildungsurlaubs für Arbeitnehmer sein kann, wenn er richtig genutzt wird. Dazu gehört zumindest, daß er von Anfang an als Urlaub für Bildungsarbeit verstanden und nur so praktiziert wird. Alle Aufweichungen, die man eventuell für nützlich hält, um noch Uninteressierte zu lokken, oder zu denen man sich von materiell an Urlaubsgestaltung interessierten Unternehmen überreden läßt, werden von der ursprüng-lichn Absicht wegführen.
Bezahlter Bildungsurlaub ermöglicht es auch, neue Anstrengungen auf eine Aufgabe zu verwenden, die für die Fortentwicklung unserer Demokratie von größter Bedeutung ist, nämlich am Abbau jenes Bildungsgefälles mitzuwirken, das durch die jahrhundertelangen unterschiedlichen Bildungschancen für die verschiedenen sozialen Gruppen entstanden ist und das sich immer wieder in den Statistiken, auch der außerschulischen Bildungseinrichtungen, erschreckend erkennen läßt.
Der Bildungsurlaub aktualisiert auch das Problem des Verhältnisses von beruflicher zu politischer Bildung. Die Aktualisierung geht auf zwei Aspekte zurück: auf die Bewußtseinslage der Masse der Arbeitnehmer, die eher die Nützlichkeit beruflicher Weiterbildung aner27 kennen und weder Einsicht in deren gesellschaftliche Bedingung haben noch von der Notwendigkeit politischer Bildung überzeugt sind, und auf das Interesse der Arbeitgeber, die, wiederum aus zwei Gründen, an einer beruflichen Weiterbildung interessiert sind. Berufliche Weiterbildung ist aus materiellen Gründen notwendig (hier stimmen die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern überein); sie kann aber auch, schon vorhandene Tendenzen verstärkend, von bewußter politischer Bildung abhalten und Anpassung an bestehende Verhältnisse fördern.
Von welchem der beiden Aspekte man auch ausgeht — in jedem Fall werden sich die Verantwortlichen, soweit sie politische Bildung wollen, um eine Verknüpfung zwischen ihr und der beruflichen Bildung bemühen müssen. Das ist nicht nur für den Bildungsurlaub und die außerschuliche Weiterbildung, sondern für die Bildung überhaupt von entscheidender Bedeutung. Berufliche Bildung hat immer politische Auswirkungen, da sie die soziale Situation der Betroffenen weitgehend bestimmt. Diese Auswirkungen verstärken sich in Zeiten dynamischer Veränderungen, die Mobilität der Arbeitnehmer verlangen. Berufsbildung und Weiterbildung, wenn sie sich auf Erlernung und Einübung der beruflichen Fertigkeiten und den Erwerb unbedingt notwendiger sachbezogener theoretischer Grundkenntnisse beschränken schaffen nur Teilsicherheiten, auch wenn sie auf berufliche Veränderungen eingestellt sind. Man kann sich, so vorbereitet, Veränderungen zwar anpassen, bleibt aber den Ursachen und Zusammenhängen gegenüber verständnislos. Das entspricht nicht dem gesellschaftlichen Ziel des mündigen Menschen. Jede berufliche Erstausbildung und Weiterbildung müßte deswegen auch gesellschaftspolitische Aspekte einbeziehen.
Andererseits muß politische Bildung ihre Bildungsinhalte und -ziele mehr als bisher aus der durch den Beruf bestimmten sozialen Situation heraus entwickeln, wenn sie ihre Notwendigkeit den Arbeitnehmern verdeutlichen will, die ihr bisher zurückhaltend oder negativ gegenüberstehen. Hier ließen sich zweifellos Bildungsmotivationen erzeugen.
VI. Politische Bildung und politisches Handeln
Politische Bildung wird erst sinnvoll, wenn sie sich in Handeln umsetzt und weiterführend Handlungserfahrungen einbezieht. Politisches Engagement und politisches Handeln bedürfen umgekehrt aber nicht unbedingt der politischen Bildung; sie können sich auch aus unreflektierter Emotion und Spontaneität entwickeln und auf diesem Weg zu Aktionen kommen. Politische Bildung hingegen bereitet Entscheidungen vor durch Informierung und Problem-erkenntnis, durch kritische Situations-und Entwicklungsanalysen, durch Analyse der angebotenen oder möglichen Lösungsalternativen, einschließlich der ihnen zugrunde liegenden Wertvorstellungen, durch Untersuchung der Gangbarkeit von Verwirklichungswegen. Politisches Handeln geht von Entscheidungen aus — hier berühren und ergänzen sich beide Aktivitätsweisen. Politisches Handeln kann aber auch von der bewußten oder unbewußten Entscheidung ausgehen, auf alle Entscheidungsvorbereitungen zu verzichten und sich auf Emotionen oder vorgegebene Dogmen zu verlassen. Bevor man jetzt einen Widerspruch zwischen beiden Aktivitätswei-sen konstatiert oder politische Bildung zum Eingreifen fordert, sei zuvor das politische Handeln differenzierter dargestellt.
Es kann sehr vielfältige und unterschiedliche Dimensionen haben und von punktueller Zielsetzung mit zeitlich begrenzter Aktionszeit bis zu langfristig angelegten gesamtgesellschaftlichen Veränderungsvorstellungen reichen. Je breiter und langfristiger die Handlungsziele angelegt sind, desto mehr bedürfen die Handelnden der politischen, kritische und selbstkritische Reflexion mitumfassenden Bildung. Das Scheitern des Aktionismus einiger Gruppen der außerparlamentarischen Opposition beweist, daß der Verzicht auf kritische Reflexion nicht nur zum Widerspruch zwischen ihr und dem Handeln führt, sondern zum Ende des politischen Handelns selbst.
Es bedarf jedoch noch einer weiteren Differenzierung politischen Handelns, und zwar von der Organisationsweise und der Strategie der Handelnden her. Möglich sind, mit vielerlei Formen dazwischen, ad hoc zur Erreichung eines Ziels zusammentretende Gruppen, die sich danach wieder auflösen, und auf längere Dauer angelegte Organisierungen. Ihre Strategie kann die Erreichung von Macht, aber auch die Beeinflussung der Machtausübenden anstreben. Beides kann mit demokratischen Prinzipien vereinbar sein, sich aber auch gegen sie richten, je nach den Zielvorstellungen der handelnden Gruppen.
Jetzt erst läßt sich die Frage nach Rolle und Aufgabe politischer Bildung gegenüber politischen Handlungsgruppen genauer bestimmen. Politische Bildung ist nicht wertneutral, sie ist Teil eines demokratischen Systems und in ihm Mitträger des Demokratisierungsprozesses. Das kann allerdings, wenn der Begriff . Demokratisierungsprozeß" ernst gemeint ist, auch die Förderung von Unzufriedenheit mit unzulänglicher Demokratiepraxis bedeuten.
Es wurde schon zuvor die Frage gestellt, ob politische Bildung nicht in die Situation kommen könne, eventuell die Grenze zum Handeln überschreiten zu müssen, dann nämlich, wenn sie auf Probleme stößt, die von den politischen Entscheidungsinstitutionen nicht berücksichtigt werden, oder wenn die von ihr hervorgerufene Unzufriedenheit mit Demokratiepraxis keine sie aufnehmende politische Institution findet.
Drei — diese Grenze respektierende — Reaktionen sind möglich: Erstens, Unzufriedenheit nicht aufkommen zu lassen und vorhandene weitgehend in Anpassung umzuwandeln; zweitens sich sektiererhaft und besserwisserisch über die unzulängliche politische Wirklichkeit zu erheblichen und in die reinen Gefilde unverbindlicher Betrachung zurückzuziehen; drittens, die Bildungsarbeit im Status kritischer, auf Emanzipation gerichteter, soweit als möglich wissenschaftlich fundierter Aufklärung zu belassen, die weiterhin mit dem Handeln dialektisch verbunden bleibt. Im letzten Fall müßten die Lehrer auch außerhalb ihrer Institution Handelnde und Verantwortung übernehmende im Feld der politischen Wirklichkeit sein. Die Gefahr, daß der Lehrer aufgrund des eigenen politischen Engagements statt Bildung Indoktrination betreibt, ließe sich durch ständige selbstkritische Reflexionen bannen. Sie ist geringer als die Gefahr der Un-glaubwürdigkeit, wenn der zum Engagement auffordernde Lehrer sich selbst jeden Engagements enthält.
Wenn dagegen eine Institution politischer Bildung die Grenze zum politischen Handeln überschreitet, begibt sie sich der Offenheit gegenüber dem Bildungsinteressierten, da sie ihm von ihrem Handlungsziel her eine Entscheidung abfordern muß, statt ihm die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit verschiedenen Entscheidungsalternativen anzubieten. Um politisch handlungsfähig zu sein, müßte sie Diskussionen begrenzen und abschließen mit für alle verbindlichen Entscheidungen. Sie wäre nicht mehr eine Stätte der Distanz, in der Handelnde kritisch ihre Handlungen reflektieren können. Sie hätte nicht mehr die geforderte Freiheit den politischen Aktualitäten gegenüber.
VII. Politische Parteien und politische Bildung
Politische Parteien müssen Propaganda betreiben, um der Öffentlichkeit ihre Ziele und Programme, ihre Entscheidungen und Entscheidungsbegründungen, ihre Leistungen darzustellen. Sie müssen ihre Funktionäre und Meinungsträger schulen, damit sie Programm und Leistungen innerhalb der Partei und nach außen überzeugend vertreten können. Schulung ist komplizierter als Propaganda, weil sie mehr als diese auch auf kritische Fragen erklärend oder richtigstellend eingehen muß; sie wird noch komplizierter in einer Partei, die von ihren Mitgliedern aktive Mitwirkung erwartet bei der Programmgestaltung, den politischen Entscheidungen oder der Repräsentantenauswahl.
Sollten — angesichts solcher Ansprüche — die Parteien nicht auch selbst politische Bildung betreiben? Denn die Schulung wirkt intensiver, wenn die an ihr teilnehmenden Mitglieder bereits eine Bildungsbasis haben; Mitwirkungen an Entscheidungen und Repräsentantenauswahlen sind sachgemäßer, wenn sie von einem gewissen Bildungsniveau her stattfinden. Wenn Parteien an der Mitwirkung ihrer Mitglieder gelegen ist, müßten sie interessiert daran sein, ein möglicherweise bestehendes Bildungsgefälle abzubauen. Darüber hinaus müßten sie an einer Bewußtseinslage der Bevölkerung interessiert sein, die gesellschaftlichen Veränderungen gegenüber aufgeschlossen ist. Denn die aus freien Entscheidungen hervorgehenden Veränderungen sind dauerhaft nur durchsetzbar, wenn sie getragen werden vom Änderungswillen eines großen Teils der Bevölkerung. Wenn andererseits sich unabwendbare Veränderungen durchsetzen, ohne daß die Bewußtseinslage der Bevölkerung mit ihnen korrespondiert, droht der Demokratie Gefahr, da ein derartiger Widerspruch Vehaltensweisen der Unterwerfung, der Resignation und Hoffnungslosigkeit, aber auch der Angst und Panik erzeugen kann.
Scheinbar läßt sich die Frage, ob die Parteien politische Bildung selbst betreiben sollten, rasch mit . Nein'beantworten, weil ihre Programmgebundenheit ihnen nicht erlaubt, zugleich auch der Ort freier, gegenüber Entscheidungen noch offener, ihr Programm womöglich selbst in Frage stellender Ort zu sein. Die Antwort ist freilich vorschnell. Sie trifft zu, weil Parteien Diskussionen um Probleme durch Entscheidungen und Programmformulierungen abschließen und die Aufgabe ihrer Umsetzung in Praxis in Angriff nehmen müssen. Nur ein Mindestmaß an Geschlossenheit und damit verbundener Selbstsicherheit macht sie als möglichen Gestalter gesellschaftlicher Verhältnisse glaubwürdig. Die Antwort trifft insofern aber nicht zu, weil die Parteien als Teile der Gesellschaft in deren Wandlung einbezogen sind und weil sie ihre Programme den veränderten Situationen immer wieder anpassen müssen. Dadurch werden gerade sie zu Stätten sehr intensiver Auseinandersetzungen. Legen sie außerdem noch Wert auf die Mitwirkung ihrer Mitgliedschaft, verstärkt sich dieser Aspekt. Andererseits kann eine Partei als Instrument politischer Gestaltung diese eben angedeuteten Auseinandersetzungen nur austragen, wenn in der Mitgliedschaft ein Konsensus hinsichtlich der Zielvorstellungen besteht und wenn die Notwendigkeit des Entscheidens und Handelns nicht in Frage gestellt wird. Es gibt keine eindeutige, ausschließliche Beantwortung. Das Verhältnis der Parteien zur politischen Bildung ist vielmehr teils unmittelbar, teils mittelbar.
Bei der Darstellung der aktuellen Aufgaben politischer Bildungsarbeit wurde darauf hingewiesen, daß die Bildungspraxis ihrer Institutionen deswegen unvollständig sein müsse, weil sie den in der Realität sich vollziehenden Teil des Bildungsprozesses nicht umschlösse. Dieser Teil des Bildungsprozesses kann sich nur in den verschiedenen Einrichtungen der Selbstverwaltung, in verschiedener Weise im Felde der Politik, nicht zuletzt aber gerade in den Parteien und jenen gesellschaftlichen Organisationen vollziehen, die zum Zwecke der gesellschaftlichen Mitgestaltung und Mitbestimmung eingerichtet worden sind. Diesem ihrem Beitrag zur politischen Bildung dürfen sich diese Organisationen nicht entziehen. Sie müssen die Form ihrer Organisation im doppelten Sinn verstehen: als Instrument zur Verwirklichung ihrer Wert-und Zielvorstellungen und als Übungsfeld für die Staatsbürger, mit deren Hilfe und für die der Demokratisierungsprozeß überhaupt vorwärtsgetrieben werden soll.
Der wichtigste mittelbare Beitrag ist die Förderung der Institutionen der politischen Bildung: für ihre materiell ausreichende Ausstattung zu sorgen und ihnen den Freiheitsraum zu verschaffen und abzusichern, den sie für ihre Tätigkeit brauchen; wozu auch die uneingeschränkte Möglichkeit gehört, jene zentral-aktuellen Probleme in die Programme einzubeziehen, die, sei es aus welchen Gründen immer, in der politischen Praxis noch nicht berücksichtigt werden.