Die Tatsache, daß die theoretische Diskussion um die politische Bildung in der Bundesrepublik lange Zeit fast ausschließlich von Pädagogen bestritten worden ist, berechtigt zu dem Schluß, daß sie primär als pädagogisches, nicht als politisches Problem gesehen wurde. Friedrich Oetinger (Theodor Wilhelm), mit dem die Diskussion begann, sah politische Bildung ebenso bewußt als Teil einer allgemeinen Erziehung wie seine Kritiker, die Pädagogen Erich Weniger und Theodor Litt. Die Didaktiker der frühen fünfziger Jahre, G. Frede, O. Seitzer und F. Messerschmid, die durch Lehrbücher und die erste Zeitschrift für politische Bildung nachhaltig auf die Schulpraxis einwirkten, waren ebenso Pädagogen wie Ellwein, Spranger, Weinstock und Lemberg, die in den späteren fünfziger Jahren in die Diskussion eingriffen. Die hessischen Didaktiker, die Anfang der sechziger Jahre eine Art realistischer Wende zur Schulpraxis vollzogen — K. G. Fischer, Herrmann, Mahrenholz, Billigen und Engelhardt sowie Hermann Giesecke, der mit seiner „Didaktik der politischen Bildung" (1965) eine neue Phase der Diskussion einleitete, und viele seiner Kritiker von „rechts" und „links", etwa Klaus Mollenhauer, Karl-Christoph Lingelbach u. a. — sie alle sind und verstehen sich als Pädagogen.
Politologen, überhaupt Sozialwissenschaftler, mit Ausnahme einiger jüngerer Soziologen, haben sich nur selten und meist ohne erkennbare nachhaltige Wirkung auf die Unterrichts-praxis an der Auseinandersetzung beteiligt. Nur Arnold Bergsträsser und einige seiner Schüler wie z. B. Wilhelm Hennis bilden mit ihren Beiträgen aus den fünfziger Jahren erwähnenswerte Ausnahmen, bis sich in jüngster Zeit mit Heinrich Bußhoff und Hans-Günther Assel Wissenschaftler zu Wort meldeten, die den Anspruch erheben, als Pädagogen und Politologen zu argumentieren. Bislang gründete sich der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit der politischen Bildung auf die Wissenschaftlichkeit der Pädagogik, die ihrerseits Tendenzen in Richtung auf empirische Sozialwissenschaft erkennen läßt.
Im Mittelpunkt der Diskussion um die politische Bildung stand — und steht — ihre Ziel-bestimmung. Inzwischen hat sich allgemein die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Zieldiskussion nicht in die Kompetenz der Pädagogik gehört und ihr Anspruch auf „Autonomie" ein ideologischer Irrtum war. Karl-Christoph Lingelbach fand daher keinen Widerspruch im Funk-Kolleg-Disput mit Wolfgang Klafki und G. M. Rückriem, als er resümierte: „Keineswegs ist es primär die Erziehungswissenschaft, Hans Boulboulle:
Aktualisierung politischer Bildung S. 21 die die pädagogisch relevanten und in der Gesellschaft wirksamen Werte und Leitvorstellungen bestimmt."
Ziele und Inhalte der Erziehung orientieren sich nicht an zeitlos gültigen (absoluten) Werten, sondern an situationsbedingten gesellschaftlichen Notwendigkeiten und politischen Zielsetzungen. Lingelbach weist daher der Erziehungswissenschaft die Aufgabe zu, die Vielfalt der in einer Gesellschaft vorhandenen Normen und Erziehungsziele zu beschreiben, zu klären und zu kritisieren, wobei die Kriterien in ihrer immanenten Stimmigkeit und Logik, zugleich aber in ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen und politischen Begründungszusammenhängen zu suchen wären. Ebensowenig wie aus der Pädagogik können Lernziele aus einer anderen Wissenschaft abgeleitet werden, weder aus einer Fachwissen-schäft noch etwa aus der Politikwissenschaft oder Soziologie. Da die Zielbestimmungen insbesondere der politischen Bildung durch die politischen Entscheidungsträger erfolgen, ist zu fragen, wer diese sind, wie ihre Entscheidungen zustande kommen, wie sie begründet und in pädagogische Praxis umgesetzt werden, welche Rolle pädagogische Explikationen dabei spielen und sich die Rollen von Eltern, Lehrern und Schülern in den Funktionszusammenhang (System) einfügen. Das alles ist ein Stück Analyse der politischen Wirklichkeit, ist Analyse von Entscheidungsprozessen und damit Herrschaftsverhältnissen. „Weil die Schule nicht wissenschaftlich begründet ist und nicht eigentlich Wissenschaft treibt, sondern nie etwas anderes sein sollte als ein politisches Instrument", hat jede Didaktik eine politische Dimension
Von der „Partnerschaft" ...
Das Gemeinte sei an einem Beispiel verdeutlicht, das Lingelbach (a. a. O.) näher ausführt: Es ist heute fast ein Ritual, als Einleitung zu einem Beitrage zur politischen Bildung das Partnerschaftskonzept Oetingers zu verwerfen. Wer aber die Durchsetzungskraft dieser Konzeption als eine Leistung und Wirkung der Persönlichkeit Oetingers wertet, übersieht, daß sie in einer ganz bestimmten Weise die Situation der ersten Nachkriegsjahre spiegelt, als es nämlich nahelag, „die politische Pädagogik auf jene einfachen Sozialgebilde wie Familie, Schule, Betrieb und Gemeinde zu verweisen, die den Zusammenbruch offenbar überdauert hatten" (Lingelbach, a. a. O.). Auch Klaus Wallraven und Eckart Dietrich, die Oetingers Buch als „Evangelium der Gemeinschaftserzieher" bezeichnen, ordnen ihn als „Repräsentanten der ersten Nachkriegsgeneration" historisch in die Situation der jungen Bundesrepublik ein, die sich „als Garant sitt-lich-naturrechtlicher Normen (Menschenwürde) und individueller Freiheitsrechte" verstand und verstanden wissen wollte
Daß die von Oetinger als Erziehungsziel geforderten „elementaren sittlichen Verhaltensweisen“ das „zugkräftige Leitbild" einer sozial-integrativen und letztlich unpolitischen Erziehungsauffassung wurden (Lingelbach), hatte offenbar weitergehende politische Hintergründe: Die 1949 gebildete Bundesrepublik war ein Produkt der Besatzungsmächte und wurde als Provisorium proklamiert und empfunden. Noch war es nicht erklärtes Ziel politischer Erziehung, sich vorbehaltlos und opferbereit mit ihm zu identifizieren, denn wichtiger waren in dieser Situation Menschen, die jene Spielregeln gelernt und als Normen verinnerlicht hatten, die damals primär als „demokratisch" galten: Fairneß, Toleranz, Besonnenheit, Kompromißbereitschaft usw. Oetinger gab der situationsbedingten Notwendigkeit in seiner Konzeption in einer Weise Ausdruck, die ihre politische Brauchbarkeit evident machte, „denn keine Gesellschaftsordnung kann, um ihres Weiterbestandes willen, darauf verzichten, ihre Normen auf pädagogischem Wege durch-zusetzen“ (Wallraven u. Dietrich, a. a. O.).
Wenn diese Annahme richtig ist, dann erlaubt die exemplarisch angedeutete Funktion der Didaktik Oetingers die allgemeine Hypothese, daß nur solche Leitbilder und Zielvorstellungen in die Erziehungspraxis, das heißt in Richtlinien und Schulbücher, eingehen, die die politischen Entscheidungsträger für geboten halten: „Weil die Schule ein Politikum ist . • darum ist sie abhängig von Richtlinien und Stundentafeln", erläuterte Groothoff in Loc-B cum
Angewandt auf Oetingers Didaktik bedeutet das: Oetingers Demokratie-Verständnis entsprach genau den Erwartungen der Besatzungsmächte, besonders der Amerikaner, und der ersten deutschen Schulpolitiker nach dem Kriege. Die Schule habe die Aufgabe, so instruierten die Amerikaner im Januar 1946 die für die Schulen zuständigen deutschen Politiker ihrer Zone, „den Schüler im Rahmen der Demokratie zu den Grundforderungen der Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde, zur Liebe zu Volk und Vaterland und zur Achtung vor allen Völkern und Rassen zu erziehen"
Eben dieses Leitbild und die pädagogische Methode zu seiner Realisierung lieferte Oetinger, entsprechend den vorläufigen Grundsätzen zur politischen Bildung an den Schulen und Hochschulen, die die westdeutschen Kultusminister im Juni 1950 beschlossen hatten. Diese Grundsätze gingen davon aus, „daß das politische Verhalten ein Teil der geistigen und sittlichen Gesamthaltung des Menschen darstellt". Sie stützten damit die Auffassung, politische Erziehung sei nur ein Teilbereich der allgemeinen Erziehung, die sich an einem Leitbilde von einer „geistigen und sittlichen Gesamthaltung" orientiere.
Diese bewußte Entpolitisierung der politischen Bildung in ihrem ersten Stadium nach Gründung der beiden deutschen Staaten wurde von den Pädagogen aufgegriffen, womit sie den Erwartungen der politischen Entscheidungsträger entsprachen: Die Väter des Grundgesetzes hatten eine Verfassung konzipiert, die für unmittelbare Entscheidungen des Volkes keinen Raum ließ, weil sie der Mündigkeit der Bürger zu mißtrauen Grund hatten. Das Volk, noch nicht reif zur Demokratie, sollte darauf vertrauen können, daß die Inhaber der Macht dem einzelnen und der Familie einen Raum der Persönlichkeitsentfaltung gewähren, der vor unliebsamen Eingriffen des Staates geschützt werde. Die Folge dieses liberalen Staats-und Grundrechtsverständnisses, wie es etwa in den Formulierungen der Artikel 2,
In den folgenden Jahren intensivierte sich der Prozeß der Wechselwirkung zwischen politischen Entscheidungen und Pädagogik, als Pädagogen zunehmend als Berater bei der Formulierung von politischen Zielvorstellungen wirkten, z. B. im Deutschen Ausschuß für das Erziehungs-und Bildungswesen, der 1955 das bekannte Gutachten zur politischen Bildung und Erziehung vorlegte. Es erschien im Jahre des Deutschland-Vertrages, des Eintritts in die NATO und der Wiederbewaffnung, aber auch des Adenauer-Besuches in Moskau und liest sich auf weiten Strecken wie die Staats-ideologie der (damals wie heute) herrschenden politischen Machtgruppen, die nunmehr, wie es im Gutachten heißt, die Bundesrepublik „zu einer endgültigen Ordnung führen" wollten und hierfür „ein gesundes Staatsgefühl" bei ihren Bürgern erwarteten 6). Die Verfasser, die vor der Gefahr warnten, „daß die wesentlichen Bildungsgehalte politisiert werden", fühlten sich —-trotz der Warnung vor dem Gebrauch der Begriffe — der Erziehung zur Menschlichkeit, zum Gemeinsinn, zum Verantwortungsbewußtsein und zur Toleranz verpflichtet und erkannten den Grundrechtskatalog als unbestrittene Axiomatik der Politik wie der politischen Erziehung an.
Die in diesen Jahren produzierten und in den Schulen bald verbreiteten Lehrbücher, z. B. „Miteinander — Füreinander", „Freiheit und Verantwortung" oder „Politische Bildung" (Binder, Frede, Kollnig, Messerschmid, Seit-zer), die z. T. noch vor 1955 erschienen, gehen jedoch in mancher Hinsicht auf die Erwartungen der politischen Entscheidungsträger mehr ein als die Verfasser des Gutachtens: Unter dem Etikett „Erziehung zum Menschlichen" machen z. B. Binder und seine Mitautoren die Gewährung der Grundrechte von der Bejahung der Pflichten abhängig, zu denen „Gehorsam dem Staat gegenüber" gehört. Sinn und Gehalt der Menschenrechte aber sollen dem Schüler an Beispielen aus dem „Dritten Reich und in der Ostzone" verdeutlicht werden
Wallraven und Dietrich haben schließlich auf einen möglichen weiteren Zusammenhang aufmerksam gemacht durch den Hinweis auf die gleichzeitig verlaufenden ökonomischen Interessenkonflikte: Das Betriebsverfassungsund das Personalvertretungsgesetz von 1952 bzw. 1953 bedeuteten die Sicherung der Macht der Unternehmer gegenüber den Demokratisierungsbestrebungen der Gewerkschaften, die damit ihre Integration in die bestehende Herrschaftsordnung einleiteten und sich künftig als „Sozialpartner" verstanden. Mitbestimmung in der Wirtschaft wie im Staat blieb ein unverbindlicher Diskussionsgegenstand, die Politik der Gewerkschaften wurde pragmatisch; SPD und CDU betrieben nach dem Verbot der KPD und der SRP eine „Entideologisierung'in Richtung auf sogenannte Volksparteien die ihre Programmatik bis zur Möglichkeit einer Großen Koalition einander annäherten. Von der politischen Bildung erwarteten sie jetzt mehr als die genannten Verhaltensweisen der elementaren Sittlichkeit, nämlich Bejahung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in der Form, wie sie das Bundesverfassungsgericht definiert hatte. Das Verfassungsgericht war damit zur normsetzenden Instanz für die politische Erziehung geworden; die Politiker verlangten von den Staatsbürgern eine klare Ablehnung des „Totalitarismus" und mehr aktive Teilnahme am demokratischen Offentlichkeitsbetrieb.
. .. zum „Konflikt"
Die Vermutung erscheint nicht unbegründet, daß auch die Durchsetzung derjenigen didaktischen Konzeptionen, die „kontroverses Denken" (Engelhardt) oder gar den Konflikt in den Mittelpunkt stellen, nicht auf ihre Überzeugungskraft zurückzuführen ist, sondern durch die veränderte politische Situation bedingt war. Als Giesecke, ausgehend von der Spiegel-Affäre, eine scheinbar neuartige Konzeption zur Diskussion stellte, war die Ära Adenauer beendet, die Position der CDU und ihrer Führer wurde unsicher, Erhard konnte die Rezession nicht verhindern, die Politik der USA unter Kennedy hatte neue Perspektiven in der Ost-West-Spannung eröffnet. Audi in der CDU war deutlich geworden, daß „Reformen" unerläßlich waren — aber erst als 1967/68 diese Notwendigkeit zu Erscheinungen herausforderte, die wie der Beginn einer Revolution wirkten.
Vor diesem Hintergrund wurde Gieseckes „Didaktik der politischen Bildung" zu einem Politikum: Die konservativen Verteidiger des Systems werteten sie als Rechtfertigung derer, die die demokratische Grundordnung zu gefährden schienen; den „linken" Kritikern der bestehenden Ordnung dagegen erschien sie als affirmative Alibi-Ideologie der herrschenden Kräfte. Giesecke geriet unter Ideologie-Verdacht, und zwar durch Kritiker, die mit dem Anspruch der „Ideologiekritik", das heißt mit einem wissenschaftlichen Anspruch gegen seinen Versuch einer wissenschaftlichen Didaktik antraten.
Ideologie und Wissenschaft in „rechter" Sicht
Zu den ersten Kritikern Gieseckes gehörte Heinrich Bußhoff, der später seine Position in dem Buch „Politikwissenschaft und Pädagogik"
(Berlin 1968) dargelegt hat. Er folgert aus der richtigen Prämisse, daß politische Bildung immer eine Funktion innerhalb der bestehenden Ordnung erfüllt, daß sie in der Bundesrepublik nur auf „unsere" freiheitliche demokratische Grundordnung bezogen werden könne. Sinn und Zweck unserer Staatsordnung seien in dem Bekenntnis zu ihrem Grundprinzip, der „Würde des Menschen“, festgelegt, und das bedeutet — nach Bußhoff —, daß der Grundrechtsteil unserer Verfassung ebenso der Bezugspunkt für die Staatsordnung wie für die politische Pädagogik sein muß.
Politik und Pädagogik gehen von einem nicht weiter ableitbaren Minimalkonsens über die Grundwerte aus, die dadurch den Charakter von Axiomen oder Dogmen erhalten. Da nun Bußhoff politische Bildung relativ zur jewei-lig n, das heißt historisch-situativ bedingten Herrschaftsordnung sieht, diese aber Teil der allgemeinen Erziehung ist, bedeutet das, daß die gesamte Pädagogik eine Funktion der Politik ist.
Es ist leicht einzusehen, daß Bußhoff von hier aus zu einer Kritik am Konflikt-Begriff Dahrendorfs gelangt, den er in der Didaktik Gieseckes wiederzufinden glaubt: Der Konflikt, sagt Bußhoff, sei nicht das Grundprinzip politischer Tätigkeit und könne daher auch nicht didaktisches Grundmodell sein (S. 125), womit er zwar Giesecke mißverstanden hat, aber noch eine Basis für wissenschaftliche Kontroversen bietet. Sie wird aber verlassen, wenn er das damit begründet, daß eine Didaktik, die den Konflikt zum Grundmodell erhebe, zu gefährlichen Zielvorstellungen führe, nämlich „entweder den Kampf aller gegen alle oder die Reibungslosigkeit aller gesellschaftlichen Tätigkeit". Die Folge davon aber wäre „eine völlige Veränderung der Struktur der pluralistischen Gesellschaftsordnung" I „Völlige Veränderung der Struktur der pluralistischen Gesellschaft" wäre gleichbedeutend mit Preisgabe der Grundlagen unserer demokratischen Staatsordnung, und darum gefährde Dahrendorfs Konflikt-Begriff die bestehende Ordnung. Genauso argumentiert Hans-Günther Assel gegen Giesecke: „Konflikte sind Symptome dafür, daß sich das innen-oder außenpolitische Gleichgewicht verschob. Sie signalisieren Diskrepanzen und Antagonismen, die man wieder beseitigen muß, wenn nicht gefährliche Zuspitzungen und Zerreißproben entstehen sollen, denn Konflikte können Ordnungen zerstören und Chaos und Anarchie hervorrufen."
Assel hält es für bedenklich, wenn in der politischen Bildung Begriffe wie Konsensus, Gemeinwohl, Kooperation, Grundeinsicht oder Ordnungsnorm abgewertet werden, denn das Ziel müßten „fundamentale Einsichten" bleiben, ohne die es keine Grundlagen für „Ordnungssysteme" gebe. Konflikte müssen gelöst werden, und zwar durch „Wiederherstellung des Gemeinwohls", weil in keinem Falle der Konsensus über die „Prinzipien freiheitlicher demokratischer Ordnung" verlorengehen dürfe.
In seinem 1970 erschienenen Buch „Ideologie und Ordnung als Probleme politischer Bildung" hat Assel näher dargelegt, wodurch seiner Ansicht nach die freiheitliche Ordnung am stärksten bedroht ist: durch ideologisches Denken, das er eine „Entartungserscheinung im Denken und in der politischen Praxis" nennt:
„Ideologisches Denken wird von Normen gesteuert, die man nicht kritisch überprüft, sondern unkritisch hinnimmt."
Selbst wenn man die Frage, ob sich die „freiheitliche Ordnungsform" der USA tatsächlich von „Ideologie" freigehalten hat, für eine Sache der Definition hält, so ist diese Aussage nach Assels eigenen Kriterien nicht wissenschaftlich, sondern ideologisch: Ideologie, so erläutert er ihre Funktion, fördert dichotomi-sches Denken, schafft ein Freund-Feind-Schema mit emotionaler Polarität und damit eine alternative Wertperspektive, aus der die Wirklichkeit gesehen und unter den Kategorien gut-böse bewertet wird. Ideologie hat letztlich die Funktion, die eigene Ordnung als gut, ja als die einzig gute prinzipiell nicht in Frage zu stellen und sie zu bejahen, als moralische Pflicht empfinden zu lassen. Wenn Assel sagt, die freiheitliche Ordnungsform gehe von dem „klassisch-christlichen Menschenbild“ aus, nach dem das Individuum die Fähigkeit (= Vernunft) besitze, in freier Willensentscheidung „das Gute zu verwirklichen und das Böse zu meiden" (S. 138), wenn weiter die „totalitäre Ordnungsform" ideologisch und unmenschlich ist, dann gibt es letztlich keine andere Wahl als das Bekenntnis zur „freiheitlichen Ordnungsform", so wie sie Assel schildert; denn „die Kluft zwischen einer totalitären und einer freiheitlichen Erziehungsform ist unüberbrückbar" (a. a. O.).
Assel, der von „idealtypischen Ordnungsformen" ausgeht und auf eine Analyse der tatsächlichen Herrschaftsordnungen verzichtet, schließt daraus, daß es keinem Zweifel unterliege, welcher Ordnung der Vorzug gebührt — und diese Aussage ist nach seinen eigenen Kriterien ideologisch
Wie in der Politik seit 1968 z. B. bei den Jungsozialisten von „systemüberwindenden Reformen" gesprochen wird, denen die jetzige CDU/CSU-Opposition Reformen entgegensetzen will, die — nach den Worten des Abgeordneten Wörner (s. Anm. 10) — die gegenwärtige Ordnung noch stabiler machen sollen, so polarisiert sich die Diskussion in der Theorie der politischen Bildung parallel dazu um die Begriffe Systemüberwindung und Systemerhaltung. Wenn etwa Giesecke explizit die „Systemüberwindung" ablehnt, wie sie von den marxistischen Kritikern gefordert (wenn auch meist nicht genauer definiert) wird, so gilt er als Rechtfertiger der bestehenden Ordnung und damit politisch als „rechts“ stehend.
Allen didaktischen Konzeptionen, die von dem Axiom ausgehen, Politik und politische Bildung hätten sich gleichermaßen uneingeschränkt auf das Bekenntnis zu den in unserer Verfassung formulierten Grundrechten festzulegen, ist die politische Grundeinstellung gemeinsam, diese unsere Herrschaftsordnung sei im Prinzip die einzig richtige und bedürfe lediglich der Verbesserungen, der Reformen, um einige noch nicht oder nur unzulänglich erfüllte Normen und Ziele zu realisieren. Es ist nachweisbar, daß diese Axiomatik, wie sie bei Bußhoff und Assel beispielhaft gekennzeichnet wurde, auch den didaktischen Konzeptionen von Friedrich Roth, Wolfgang Mickel, Klaus Hornung, Friedrich Minssen und Eugen Lemberg zugrunde liegt. Es ist aber auch nachzuweisen, daß sich auf dieser Grundlage neue Formen nationalistischer Denkweisen ausgeprägt haben, die z. B. bei Eugen Lemberg — nach seiner eigenen Definition von „Ideologie" und „Nationalismus" — den Charakter einer Ideologie und bei Hugo Andreae faschistoide Züge angenommen haben
Ideologie und Wissenschaft in „linker" Sicht
Kritische und radikaldemokratische Tendenzen in der politischen Bildung werden — etwa seit Klaus Mollenhauer („Erziehung und Emanzipation", 1968) — durch den Begriff der „Emanzipation" signalisiert. Von nicht-marxistischen Didaktikern wie z. B. K. G. Fischer, W. Billigen, H. v. Hentig u. a. wird er vielfach als „Selbstbestimmung" übersetzt und verwandt, wie etwa bei Friedrich Roth, der aus dem Grundsatz der Freiheit im Sinne des liberalen Verfassungsverständnisses explizit auch die Aufgabe ableitet, „eine Lebensordnung zu schaffen und zu suchen, die den Prozeß der zunehmenden Selbstbestimmung"
fördere
Ohne den Versuch, die Grundrechtsnormen historisch und ideologiekritisch in Frage zu stellen, bleiben solche Postulate hinter den politischen Intentionen marxistischer Didaktiker zurück, für die eine Gruppe jüngerer Pädagogen repräsentativ ist, die 1970 das Taschenbuch „Erziehung in der Klassengesellschaft" herausgegeben haben
Es gibt weder eine besondere „Pädagogik" noch einen Teilbereich „politische Bildung", vielmehr sind beide „Vorbereitung auf den Kampf gegen die autoritäre Leistungsgesellschaft", durch die die Abhängigen und Unterdrückten befähigt werden sollen, „ihre objektiven Interessen zu erkennen und zu einem radikalen politischen Engagement zu gelangen". Franz Heinisch legt (S. 172 ff.) im einzelnen dar, was dabei unter „sozialwissenschaftlich fundiert" zu verstehen ist, nämlich „Analyse der Gesellschaft in ihrer Totalität"; die für eine „emanzipatorische Erziehung" gültigen Normen und Leitwerte werden zwar immer wieder als „notwendig" bezeichnet, können aber zugegebenermaßen w senschaftlich nicht begründet werden.
Hier liegt auch der Ansatz für die Kritik an Giesecke: Er bezeichnet Politik als „das noch nicht Entschiedene", und das soll heißen: Solange eine Entscheidung noch offen ist, stehen sich verschiedene Lösungen (Wertungen) gegenüber, zwischen denen der einzelne wählen (entscheiden) muß. Politik umfaßt also einen Spielraum, „in dem die zwar motivierte, aber letztlich wissenschaftlich nicht begründete und begründbare Entscheidung ihren Ort hat". Giesecke sagt klar, daß jeder Konflikt „sachlich und ethisch mehrdeutig" und mithin seine Lösung „eine Sache der Parteinahme und Entscheidung" sei (S. 21); aber als Didaktiker wollte er nicht mehr sagen, als daß es so ist, nicht, wofür man Partei nehmen soll. Das aber werfen die Kritiker von „links" ihm vor, die von der politischen Pädagogik verlangen, „auf der Seite der Unterdrückten" zu stehen.
Hatte schon Klaus Mollenhauer in „Erziehung und Emanzipation" den Konflikt-Begriff stärker als Giesecke auf die konkreten Interessenwidersprüche in unserer Gesellschaft bezogen, so vermissen die erwähnten Kritiker aus der Frankfurter Gruppe ein klares Bekenntnis zu der Absicht, „die Struktur des organisierten Kapitalismus in eine sozialistische zu transformieren, d. h. in eine Gesellschaftsordnung, in der in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, besonders aber in den ökonomischen, demokratische Selbstorganisation möglich und Solidarität autonomer Subjekte wirklich ist" (Heinisch, S. 180). Gieseckes Wertneutralität, so erklärt Heinisch, laufe auf „eine kritiklose Hinnahme gesellschaftlicher Antagonismen" hinaus, so daß seine an Dahrendorf orientierte Konzeption eine „ideologische Funktion" erhalte (S. 168 f.).
Aus dieser Sicht erscheinen auch didaktische Kategorien wie „Einsichten" (K. G. Fischer) oder „kontroverses Denken" (Engelhardt) als „die liberalen Prinzipien der Pluralismus-theorie, die in der Bundesrepublik durch Dahrendorf populär wurde" (Heinisch, a. a. O.). Pluralismustheorie aber heiße nichts anderes als die Forderung nach „Toleranz" sich ausschließender Alternativen und sei mithin so fest mit der Auffassung vom „Staat als Wahrer der Ordnung" verbunden, daß die darauf aufbauende Didaktik Gieseckes die bestehenden Herrschaftsverhältnisse rechtfertige, weil sie keine Möglichkeit zu ihrer Überwindung anbiete. Die Kritik gipfelt also in der ideologie-kritischen „Enthüllung", daß sich gerade in der vermeintlichen Ideologiefreiheit der Didaktik Gieseckes ihre ideologische Funktion zeige. Diesen bemerkenswerten Nachweis vermag offenbar nur eine Dialektik zu führen, die ihr wissenschaftliches Selbstverständnis so ausdrückt: „Erst in der solidarischen politischen Aktion selbstbewußter Subjekte, die den ideologischen Schleier des bestehenden Repressionsund Manipulationssystems durchbrochen haben, kann sich die Umwälzung der autoritären Leistungsgesellschaft realisieren. Emanzipatorische Erziehung geht dann in allgemeine politische Praxis über, ist nicht mehr subversives Bildungsprinzip, sondern Erziehung zum Sozialismus, als Aufhebung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, als Konkretisierung einer kritischen Gesellschaftstheorie." (10. These, S. 150 f.).
Hier wird die Problematik des Dialektischen Materialismus evident: Zwischen Dogma und Utopie als den Kennzeichen einer Ideologie versucht die dialektische Methode ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu behaupten in einem Zwei-Fronten-Kampf gegen Dogmatiker aus den eigenen Reihen und gegen die Ideologien ihrer Gegner. Giesecke wird, weil er keine marxistische Position einnimmt, der reaktionären Ideologie zugeordnet. Lingelbach z. B. vermißt bei ihm eine politische Theorie, die „das soziale System“ durchschaubar macht und es dem jungen Menschen ermöglicht, seine soziale Position in ihm zu bestimmen, seine „objektiven" Interessen zu erkennen und aufgrund einer politischen Situationsanalyse rational Stellung zu nehmen und zu handeln Das heißt im Klartext, Giesecke stehe nicht auf dem Boden der „Kritischen Theorie" — und nur diese sei wissenschaftlich. Gewiß wird nicht bezweifelt, daß auch sogenannte positivistische Systemtheorien geeignet sind, Zusammenhänge durchschaubar zu machen, aber sie bieten nicht unmittelbar eine „Anleitung zum Handeln" wie der Marxismus. Darum gibt es für diese Marxisten keine klaren Grenzen zwischen Ideologie und Wissenschaft, außer der, daß jede andere Theorie „bürgerliche* Wissenschaft und mithin Ideologie sei.
Der Boden rationaler Auseinandersetzung und damit der Wissenschaft ist bewußt verlassen, wenn Klaus Wallraven und Eckart Dietrich den „Konfliktpropagandisten" vorwerfen, sie benutzten das Wort-„Konflikt", um „ihre un-eingestandene mächtige Ordnungssehnsucht, ihre tiefe Furcht vor Umwälzung hinter einem Schleier scheinfortschrittlicher Stereotype zu tarnen" (S. 60). Das ist schon deshalb zur Auseinandersetzung ungeeignet, weil die Autoren nicht sagen, wen sie damit meinen, ob z. B. Giesecke. Es bleibt jedenfalls die erstaunliche Tatsache festzustellen, daß ein und dieselbe didaktische Konzeption einmal als Stabilisierungsideologie im Dienste bestehender Herrschaftsverhältnisse erscheint, zum anderen als Ideologie des Umsturzes und Anarchismus, und zwar beides angeblich aus „ideologie-kritischer", will sagen: wissenschaftlicher Sicht.
Kritik der Kritik
Die politischen Aktionen der Jahre 1967 bis 1969, die hauptsächlich von Studenten und z. T. von Schülern durchgeführt wurden, an denen sich aber auch Lehrlinge und Arbeiter beteiligten, waren sicher nicht das Resultat einer so oder so gerichteten politischen Erziehung, schon gar nicht durch den Unterricht in der Schule. Sie waren spontane Reaktionen auf politische Herausforderungen, für die die Theoretiker nachträgliche Rationalisierungen lieferten, z. B. die These, „nur in Aktionen, die gegen un-demokratische Organisationen, Institutionen sowie deren Repräsentanten und Regeln gerichtet seien, könne man das lernen, was man für eine demokratische Veränderung der Gesellschaft wirklich brauche" H). So kennzeichnet Giesecke die Position, die etwa von Peter Brückner und Wilfried Gottschalch eingenommen wird
Brückner ist der Ansicht, eine Demonstration werde zur Methode der Erkenntnis und Selbst-erkenntnis, wenn sie als „tätige politische Reflexion" begriffen werde. Giesecke entgegnet: „Und genau hier scheint mir der gefährliche Irrtum zu liegen, der dafür verantwortlich ist, daß die Schüler-und Studentenbewegung immer mehr im Gestrüpp ihrer unkalkulierten Aggressionen steckenbleibt." „Lernen" und „Aktion" sind nach Gieseckes Ansicht „antinomische soziale Verhaltensweisen", die zueinander in erheblichem Widerspruch stehen. Die Theoretiker des Aktionismus hätten durch ihre mangelnde didaktische Reflexion, durch un-wissenschaftliche „Lerntheorien" die von ihnen gerechtfertigte Bewegung selbst um den Erfolg gebracht.
Brückner, der ebenso wie Gottschalch die Leistung der Kritischen Theorie in der Synthese zwischen Marxismus und Psychoanalyse sieht, fordert den Abbau von Angst durch bewußten Ungehorsam, denn, so habe die Psychoanalyse erkannt, die Mechanismen der Angsterzeugung seien das nachhaltigste Disziplinierungsmittel im Sozialisationsprozeß. Aber Giesecke sieht in der Aufforderung zur Provokation die Gefahr neuer Angsterzeugung, wenn sie nicht in dem Zusammenhang reflektiert werde, in dem das Handeln erfolgt. Er spitzt seine Anti-Kritik schließlich auf die Behauptung zu, der Versuch einer Synthese zwischen Marxismus und Psychoanalyse im Bereich der politischen Erziehung sei „bisher auch nicht andeutungsweise gelungen", weil die in der marxistischen Tradition stehende Kritische Theorie für eine pädagogische Theorie überhaupt keinen Platz habe, und zwar seit Marx. In dieser pointiert formulierten Verallgemeinerung ist das sicher eine unhaltbare Aussage, aber gültig z. B. als Kritik an Gottschalchs „Soziologie der politischen Bildung“.
Anders als die Frankfurter Gruppe, die der Schule als Unterrichtsstätte viel Aufmerksamkeit widmet, bietet Gottschalch dem Lehrer wenig Ansatzmöglichkeiten für eine kritische Unterrichtspraxis. Aber auch in den „Thesen" der Frankfurter Gruppe heißt es in einer wenig originellen Anlehnung an die berühmte These über Feuerbach: „Die . Pädagogen'haben die Pädagogik nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie abzuschaffen." Das heißt: In diesem System ist es nicht nur unsinnig, sondern politisch falsch, ein integriertes Fach zu lehren, schon gar nicht Politik, weil die so vermittelte Bildung zwangsläufig affirmativ ist. Die Konsequenz liegt auf der Hand: Statt Lehrer braucht man zunächst Berufsrevolutionäre; politischer Unterricht in der Schule findet in diesem System bis zur Revolution nicht statt.
Keine Hilfe für den Unterricht?
Bei einer Untersuchung von Publikationen zur politischen Bildung aus den Jahren 1969 und 1970 fand Kurt Gerhard Fischer „keine neuen profunden theoretischen Veröffentlichungen", woraus er schloß, die Theoretiker hätten ihr „Hypothesen-Pulver" verschossen und stünden in teils starren Fronten einander gegenüber
Der sozialkundliche Unterricht wird noch immer nur in Ausnahmefällen von Lehrern mit sozialwissenschaftlicher Vorbildung erteilt, denen Fischer selbst eine praktikable, das heißt in Unterricht umsetzbare „Einführung in die Politische Bildung" anbietet, die indessen ebenfalls — und das ist auch nicht anders möglich — eine theoretische Position markiert und im Zusammenhang mit der didaktischen Konzeption seines Lehr-und Arbeitsbuches „Politische Bildung" für die Hand des Schülers gesehen werden muß, zumal mit ihr die 1969 herausgekommene Neubearbeitung von Wolfgang Hilligens „sehen, beurteilen, handeln" in mehrfacher Hinsicht konkurriert
vistischen Begriff von „Wahrheit"
Die Axiomatik im Ansatz der hessischen Didaktiker liegt seit dem Buch von Fischer, Herr-mann und Mahrenholz in dem Begriff der „Einsichten". Damit sind die „Axiome jeder Gesellschaftsanalyse", das heißt die Normen des politischen Handelns gemeint, die als Urteile a priori „aller Erfahrung vorausgehen", andererseits aber— als Wertvorstellungen (Normen), die der einzelne vorfindet — auf politischen Entscheidungen beruhen, also von Menschen qua Macht gesetzt sind, denn „sie treten aus dem Wertehorizont der Individuen hervor, die Entscheidungsbefugnisse haben"
Folgerichtig stellt Fischer an den Anfang seines Lehrbuches den Minimalkonsensus unserer politischen Ordnung, den Grundrechtskatalog der Verfassung, und fordert: „Wir müssen bereit sein, die Grundrechte zu wahren, zu verteidigen und uns unserer Haut zu wehren!" Damit zielt er zwar nicht auf kritiklose Affirmation, aber die von den Schülern erwartete Auseinandersetzung mit den im Lehrbuch angebotenen kontroversen Texten — hier zum Verbot der KPD — kann und soll zu keiner anderen „Einsicht" als zu unbestrittener Anerkennung dieser Verhaltensmaxime führen. Andererseits postuliert Fischer „einsichtenhaltige" Grundsätze für Demokratie, zu denen die Annahme gehört, es gebe in der Politik niemals die „richtige" Meinung (vgl. Arnold Brecht und Hilligen), sondern nur die „bessere oder schlechtere"; aber zugleich räumt er ein, daß es in der Gesellschaft Gegensätze gibt, die mit den „Einsichten" unvereinbar sind, weil sie „objektive Interessenunterschiede” ausdrücken, die zu erkennen durch ideologische Verhüllungen verhindert werden soll. In wörtlicher Anlehnung an die von ihm abgelehnten Dialektiker formuliert Fischer dann doch eine Zielvorstellung von absoluter Wertigkeit:
„Abbau von Fremdbestimmung und Herrschaft in ihrer Wechselseitigkeit zugunsten von Selbstbestimmung als Verfügungsautonomie von Individuen in allen Bereichen der gesellschaftlichen Praxis"
Die Befürchtung, Fischers Konzeption weiche den wirklich bedeutsamen Konflikten aus, wird spätestens durch das zweite Lehrbuch-Kapitel über „Pluralismus" geweckt, wo die „Einsicht" gelehrt wird: „Es läßt sich sagen: wo die eine Meinung in Staat und Gesellschaft verwirklicht wird, kann eine andere nicht gelten; und umgekehrt.“ (S. 18). Weit von den primitiven Schablonen der „Identifikationen von Faschismus resp. Nationalsozialismus mit kommunistischer Herrschaft als Totalitarismus" entfernt (S. 25), hält Fischer doch an dem Begriff „totalitäres Herrschaftssystem" fest, um die „Einsicht" (d. h. das Dogma) über den „Pluralismus" nicht zu gefährden; denn genau gesehen steht dieser Begriff für „Demokratie", da sich für Fischer der Unterschied zwischen Pluralismus und totalitären Herrschaftssystemen darin äußert, daß es hier mehrere, entgegengesetzte Meinungen gibt und dort nur eine gültige Lehre. Als erklärter Gegner einer antikommunistischen Ideologie, wie sie der Kalte Krieg produziert hat (vgl. Werner Hof-mann), weitet Fischer die Toleranz (d. h.den „Pluralismus") in einer Weise aufeinander ausschließende Alternativen aus, die der Wirklichkeit der Herrschaftsausübung in diesem Staate keineswegs entspricht.
Die zentrale Kategorie dieser didaktischen Konzeption ist nicht „Konflikt", sondern „kontroverses Denken", wie es Rudolf Engelhardt als Grundlage einer „Urteilsbildung im politischen Unterricht"
Das Beispiel der didaktischen Konzeption Fischers sollte verdeutlichen, daß es eine Selbsttäuschung wäre anzunehmen, die Theoretiker hätten an der Praxis vorbeidiskutiert und ihr „Hypothesen-Pulver" in die Luft verschossen. Politischer Unterricht ist ohne didaktischen Bezugsrahmen nicht möglich, und Lehrende wie Lernende müssen sich über ihre theoretische Position im klaren sein, weil diese zwangsläufig auch eine politische ist: „Von jeder Theorie und jeder unterrichtspraktischen Konzeption der politischen Bildung, die sich dem Vorwurf, affirmativ zu sein, nicht von vornherein aussetzen will, ist zu fordern, daß sie ihre politische Position offenlegt und ihre Funktion reflektiert."
Lehrbücher — Kriterien zu ihrer Beurteilung
Das Dilemma des politischen Unterrichts liegt darin, daß die meisten Lehrbücher von Pädagogen verfaßt sind, die keine Sozialwissenschaftler sind, und die Sozialwissenschaftler, die zur ideologiekritischen Problematisierung der Didaktik beigetragen haben, mangels pädagogischer Praxis oder aus wohlerwogenen prinzipiellen Gründen keine Lehrbücher anbieten. Zu den Ausnahmen unter den ausgesprochenen Schulbüchern gehören „Politik im 20. Jahrhundert", das Werk einer Gruppe von Politologen des Otto-Suhr-Instituts unter der Federführung von Hans-Hermann Hartwich, und „Welt der Politik", ein Werk, dessen vier Teile — Politik, Recht, Wirtschaft und Gesellschäft — jeweils von einem entsprechenden Fachwissenschaftler bearbeitet wurden
Daß diese beiden Bücher, die für die integrierte „Gemeinschaftskunde" in der Oberstufe der Gymnasien konzipiert wurden, dort inzwischen weit verbreitet sind, obwohl sie nicht den Anspruch auf eine didaktische Kon-zeption erheben und ihr Informationsgehalt die Schüler vielfach überfordert, hat offenbar andere Gründe, als sie für die Beliebtheit von Hilligens „sehen, beurteilen, handeln" in den Klassen 7 bis 10 aller Schularten vermutet werden. Hans Ritscher bietet im Vorwort zur „Welt der Politik" eine Erklärung, wenn er zugibt, das Buch sei nicht nur für die Hand des Schülers gedacht, sondern zugleich als „ein Hilfsmittel des Lehrers zur Gestaltung einer politischen Bildung, die Leistung und Verständnis der Oberstufe entspricht".
Tatsächlich erfüllen Lehrbücher für den Sozialkundeunterricht weitgehend die Funktion des Informationsträgers für den Lehrer, der also sein Wissen und seine politischen wie didaktischen Kategorien aus denselben Quellen wie seine Schüler bezieht. Die beiden genannten Werke bieten die Gewähr für sachliche Zuverlässigkeit durch das Vertrauen des Laien auf den Fachwissenschaftler, der auf das Verständnisniveau eines Abiturienten eingestellt ist und damit das des Lehrers angemessen berücksichtigt.
Die Grundkategorie der Entscheidung Eine sozialwissenschaftlich fundierte Kritische Didaktik muß davon ausgehen, daß die des Unterrichts als normative Erwartungen Ziele der Schule aufgegeben werden; sie muß diese erkennbar machen, um sie zu überprüfen. In dem im Grundgesetz fixierten Minimalkonsensus über Grundrechte „die Axiomatik heutiger Pädagogik" zu sehen — wie z. B. Heinrich Bußhoff und andere
Lehrbücher, die nicht eindeutig auf eine Auseinandersetzung mit den zentralen Leitvorstellungen und Normen unserer gegenv/ärtigen Gesellschafts-und Herrschaftsordnung abzielen, verfehlen die eigentlich politische Dimension, die das wichtigste Kriterium für Lehrbücher zur politischen Bildung ist. Sie müssen daher zuerst nach dem Grade der Reflexion über ihre eigenen Zielvorstellungen und die damit getroffenen Wertentscheidungen befragt werden, um feststellen zu können, ob sie dem Schüler eine eigene Entscheidung darüber ermöglichen oder ihn zu unkritischer Übernahme veranlassen. Hilligen und seine Mitautoren erfüllen dieses Kriterium, indem sie ihre didaktischen Absichten offen vor den Schülern darlegen und sie in ihrem Lehrbuch zur Auseinandersetzung herausfordern; aber sie gehen davon aus, daß es Entscheidungen gibt, „die einem niemand abnehmen kann', und sind davon überzeugt, daß sie ihrerseits die politischen Grundsatzentscheidungen, um die es letztlich geht, nicht bewerten können, weil es (vgl. Fischer!) die richtige Lösung und die angemessene Verhaltensweise in einer bestimmten Lage nicht gebe
Die Maßstäbe für die persönliche Entscheidung, zu der politische Bildung befähigen soll, hängen aufs engste mit der von Hilligen geforderten größeren Freiheit zusammen, wenn man darunter die Lösung der eigenen Verhaltensmaximen aus der sozialen Umwelt, die sie vermittelt, versteht. Dann aber heißt Erziehung zu größerer Freiheit Gewissensbildung; Gewissen als Entscheidungsinstanz bildet sich jedoch nur in Emstsituationen, die eine Entscheidung mit persönlichen Folgen verlangt. Wiederum sei hier das Buch von Hilligen als Beispiel zitiert: Das Register weist neun Stellen für das Stichwort „Krieg" aus, aber der Schüler findet in dem ganzen Buch keinerlei Entscheidungshilfe für die ihn ganz persönlich berührende Frage, ob und gegebenenfalls warum er Soldat werden und Kriegsdienst leisten oder verweigern soll. Das Grundgesetz verlangt hierfür eine Gewissensentscheidung, wenn auch — expressis verbis — nur für die Verweigerung, weil ansonsten Wehrdienst als eine selbstverständliche Pflicht gilt, die aus der Axiomatik der Grundordnung ableitbar ist. Und diese Entscheidung hat Folgen, mitunter erhebliche persönliche Nachteile. Wenn also die didaktischen Konzeptionen von Hilligen und Fischer trotz des Bekenntnisses zum Prinzip der Entscheidungsfreiheit nicht befriedigen, dann vor allem, weil sie die Betroffenheit in der Ernstsituation vernachlässigen.
Das Prinzip der Betroffenheit Für den politischen Unterricht in der Schule sind alle Entscheidungen didaktisch relevant, die sich auf die Schule beziehen und sich in ihr vollziehen, denn letztlich betreffen sie immer den Schüler als das Objekt politischer Entscheidungen. „Die Schule als organisierte Institution" (W. Klafki) ist ein System, in dem permanent Entscheidungen über den Schüler, aber fast nie von ihm gefällt werden; er ist nahezu vollständig der Fremdbestimmung unterworfen. Versteht man unter Emanzipation das Streben nach Selbstbestimmung, so ist politische Bildung zuvörderst der Erwerb der Fähigkeit, die Entscheidungen, die die eigene Existenz betreffen, selbst zu fällen.
Das beginnt mit der Entscheidung über die „Schulreife", bei der die Frage, ob man ein sechsjähriges Kind darüber mit-oder sogar selbst bestimmen lassen sollte, vermutlich von Eltern und Lehrern gar nicht ernst genommen würde, weil es als selbstverständlich gilt, daß ein Kind ebensowenig dazu fähig ist, wie man einem Patienten die Entscheidung darüber überlassen kann, ob und wie operiert werden soll. Hier stehen Axiome auf dem Spiel, die so unbestritten bleiben sollen wie z. B. das Recht des Staates, jedes Kind in einem bestimmten Alter für eine von ihm festgelegte Zeit in eine von ihm dafür geschaffene Institution durch seine Beamten etwas ganz Bestimmtes mit einem bezeichneten Ziel lernen zu lassen. Wann soll es Entscheidungsfähigkeit erwerben und wie, wenn nicht in der Schule, wo es unmittelbar „betroffen" ist?
Das Grundgesetz bezeichnet die Erziehung der Kinder als „das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht" und stellt zugleich das gesamte Schulwesen unter die Aufsicht des Staates; aber es kennt kein Recht auf Bildung, kein Recht des Kindes und sagt auch nicht, wann es das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit oder das Recht auf freie Wahl der Ausbildungsstätte für sich beanspruchen kann, etwa bei der den künftigen Lebensweg schlechthin bestimmenden Entscheidung über den weiteren Bildungsweg, die in der Regel im 4., spätestens nach dem 6. Schuljahr fällt. Je stärker der Staat durch Institutionalisierung z. B. einer Förder-oder Orientierungsstufe oder auch der integrierten Gesamtschule die Chancengleichheit zu realisieren versucht, desto ausschließlicher entscheiden darüber Lehrer, also Staatsbeamte, nach umstrittenen Kriterien für „Leistung", die — genau betrachtet — die Funktion der Schule als Produktionstätte für ein differenziertes Arbeitskräfte-Angebot erkennen lassen. In jedem Falle ist die Schule kein Vor-Raum des Politischen, in dem durch „Übung" auf künftige politische Wirklichkeit vorbereitet wird, sondern eine Institution, in der sich weitreichende politische Entscheidungen vollziehen, die für den Schüler stets ein Ernstfall der Betroffenheit sind.
Für eine politische Didaktik, deren Grundkategorie die Entscheidung ist, ist das Prinzip der Betroffenheit konstitutiv, das heißt oberstes Kriterium sowohl für die Lernzielbestimmung, die Organisation des Lernprozesses als auch die Auswahl der Gegenstände, m. a. W. für das Curriculum. Der politische Unterricht ist der Ort, an dem die politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge von Entscheidungen erkennbar werden, von denen der ein-15 zelne betroffen ist. Das aber heißt: Der primäre Gegenstand der politischen Bildung in der Schule ist die Schule, und zwar durchgehend als Folge von Entscheidungszwängen durch alle Stufen hindurch.
Ein Beispiel möge das verdeutlichen, und zwar die Entscheidung über den weiteren Bildungsweg nach Abschluß der Grundschule, die in mehreren Ländern während des 5. und 6. Schuljahres fällt. Das Land Niedersachsen beginnt im Schuljahr 1971/72 mit einigen Versuchen zu einer „Orientierungsstufe", die das Ziel hat — wie es sinngemäß im Einführungserlaß heißt —, den Schüler über seine eigenen Fähigkeiten und Interessen sowie über das inhaltliche Angebot der sich anschließenden Sekundarstufe zu orientieren und Lehrern und Eltern Aufschluß über diese Fähigkeiten zu vermitteln. „Aufgrund dieser Orientierung sollte es möglich sein, für jeden Schüler die seiner Leistungsfähigkeit entsprechende Schullaufbahn zu finden“, heißt es dann weiter anstatt: „ . . . sollte es jedem Schüler möglich sein, die ihm entsprechende Schullaufbahn zu wählen".
Aber der niedersächsische Erlaß folgt konsequent dem hier entwickelten Prinzip der Betroffenheit in den Ausführungen über die Aufgabe des sozialkundlichen Unterrichts, was in der Schulpolitik in dieser Form in der Bundesrepublik erst-und bisher einmalig ist: „Das entscheidende Kriterium für die Auswahl der Inhalte ist der Grad der Betroffenheit der Schüler. Unmittelbar betroffen ist der Schüler, wenn seine Umwelt und seine eigene Rolle darin Gegenstand der Reflexion sind. Primärer Inhalt der politischen Bildung ist daher die für ihn eingerichtete neue Schulstufe. Die Möglichkeiten, die dem Schüler in dieser Stufe gegeben sind, sollen ihm bewußt werden; und er soll die Zielsetzung der Orientierungsstuie verstehen lernen. Dabei wird die wechselseitige Beziehung von Schule und Gesellschaft eine erste Klärung erfahren."
Durch den politischen Unterricht soll der Schüler Möglichkeiten politischer Willensbildung und Zielsetzung sowie ihrer Durchsetzung erkennen, um z. B. nicht erfüllte Möglichkeiten von Grundgesetznormen verwirklichen zu helfen, etwa den sozialen Rechtsstaat oder das Gleichheitsprinzip, sowie neuen politischen Entscheidungsraum und mehr Demokratie durch Übernahme selbst erkämpfter Verantwortung zu gewinnen. In dieser Weise orientiert sich eine politische Didaktik unter dem Prinzip der Betroffenheit — durchaus im Rahmen der Normen des Grundgesetzes — an einem Leitbild von Freiheit und Würde des Menschen, das zu erreichen nicht ohne Änderung bestehender Herrschaftsverhältnisse, einschließlich der Schule, möglich ist. Aber dieser politische Unterricht wäre selbst schon ein Stück Veränderung.
Die Prinzipien der Entscheidung und der Betroffenheit verlangen eine flexible Neuordnung der möglichen Unterrichtsgegenstände, die identisch sein müssen mit den jeweiligen Entscheidungsbereichen einer Alters-bzw.
Schulstufe. Statt dessen werden in der Praxis noch immer Lehrbücher benutzt, die dem weder psychologisch noch sachsystematisch ge-
rechtfertigten konzentrischen Prinzip vom Nahen zum Fernen folgen und vielleicht damit sogar der „Betroffenheit" zu entsprechen glauben. Die Erschließung der Umwelt, beginnend mit der Familie und endend (in der Oberstufe)
mit der internationalen Politik und ihren Institutionen, ist in jedem Falle sachlich falsch in einem spezifisch politischen Sinne, da z. B, wie oben dargelegt, die kategorische Trennung von privater und öffentlicher Sphäre der Wirklichkeit nicht entspricht. Die sachliche Richtigkeit Sachlich falsch ist nicht allein eine materiale Fehlinformation, wenn z. B. in einem Lehrbuch unser Staat mehrfach als „Deutsche Bundesrepublik“ bezeichnet wird oder in einem anderen völlig unzutreffende Definitionen der Begriffe „Rechtsstaat" oder „Volkssouveränität“ gegeben werden
Im Zusammenhang mit der beispielhaft genannten Entscheidung über Wehrdienst und seine Verweigerung wäre z. B. die Behauptung, daß zwischen allgemeiner Wehrpflicht und Demokratie ein notwendiger Zusammenhang bestehe, nicht nur in dieser apodiktischen Verallgemeinerung sachlich falsch, sondern auch der an sich richtige Hinweis auf die Entstehung moderner Bürgerarmeen im nordamerikanischen Unabhängigkeitskampf oder in der Französischen Revolution wird sachlich verfälscht, weil er nicht den behaupteten „inneren" und „notwendigen" Zusammenhang beweist, sondern dazu dienen soll, die moralische Verpflichtung zum Wehrdienst zu bekräftigen, wodurch die Information eine ideologische Funktion erhält
Wenn, abgesehen von dem Material für die politische Bildung in der Bundeswehr selbst, in Lehrbüchern oder didaktischen Arbeiten überhaupt von der Bundeswehr und von Wehrdienst die Rede ist, dann entsprechen sie meistens den Erwartungen der politischen Entscheidungsträger in der Weise, wie sie der niedersächsische Kultusminister Langeheine Ende 1968 zum Erlaß, das heißt zur bindenden Anweisung für die Lehrer machen wollte: „Die Schüler sollen wissen, daß der Staat die Pflicht hat, das Leben der Bürger und seiner Einrichtungen zu schützen ..." Der Bürger müsse, verlangte er, die Vorsorge des Staates für die Verteidigung unterstützen und „zum Dienst bereit sein".
Dieser geplante und schließlich durch öffentlichen Widerstand verhinderte Erlaß gehört in eine didaktische Konzeption, der zahlreiche Lehrbuchautoren auch ohne ministerielle Erlasse folgen und die als „Pflichtethos" bezeichnet werden kann: Der Schüler soll lernen, daß er vom Staat erst dann Leistungen und Rechte in Anspruch nehmen darf, wenn er zuvor seine Leistung, die Erfüllung von Pflichten, erbracht hat. Das Lehrbuch „Der junge Staatsbürger — Politik und Recht" (Diesterweg Verlag) steht als Beispiel für viele: „Den Rechten des Staatsbürgers stehen seine Pflichten gegenüber .. . Nur wer bereit ist, diesen Pflichten nachzukommen, kann auf seine Grundrechte pochen" (S. 199). Zu den Pflichten gehören die „Treuepflicht, die Gehorsamspflicht . .., die Eigentumspflicht und, seit 1956, die Wehrpflicht". Abgesehen davon, daß es sich hier um verschwommene und ideologischer Interpretation ausgesetzte Begriffe handelt, ist diese Art der Affirmation und Indoktrination nicht nur sachlich falsch, sondern sie steht auch im eklatanten Gegensatz zum Grundgesetz selbst, wonach bestimmte unveräußerliche Rechte als vorstaatliche Normen dem Individuum zugehören.
Sachlich falsch ist auch die in vielen Didaktiken und Lehrbüchern stark akzentuierte Analogie von politischem Kampf und sportlichem Wettkampf, der Oetingers Partnerschafts-und Toleranzlehre zugrunde liegt und z. B. in die „Politische Verhaltenslehre" eingegangen ist, die — unter maßgeblicher Bearbeitung durch Thomas Ellwein — in großer Auflage durch die Bundeszentrale für politische Bildung verbreitet wurde. Unter den Lehrbüchern war hierfür die frühere Form von Billigens „sehen, beurteilen, handeln" repräsentativ, und zwar so stark, daß sie selbst aus der Neubearbeitung nicht völlig eliminiert werden konnte. So wird darin z. B. die Lage der Schwarzen in den USA durch eine Zeichnung illustriert, auf der zwei Läufer starten, einer jedoch mit einer nicht gerechtfertigten Vorgabe. Billigen fragt zwar den Schüler, ob Politik und Sport vergleichbar sind oder nicht und weist darauf hin, daß es in der Politik im allgemeinen keinen unparteiischen Schieds17 richter gibt, aber die Bilder — je zweimal ein Boxkampf und ein Wettlauf — sind Informationen von möglicherweise erheblicher Eindruckskraft, die in diesem Zusammenhang politische Konflikte falsch bewerten. Politische Konflikte mit sportlichen Wettkämpfen zu vergleichen ist insofern problematisch, als der Schüler durch derartige Darstellungen an der Erkenntnis gehindert wird, welches die wirklichen Ursachen für fehlende Chancengleichheit sind.
Sachlich falsch ist auch die Einordnung des Rassenkonflikts in den USA in das weitere Problemfeld der Vorurteile, auch wenn dabei der Mechanismus der Vorurteile und die Funktion von Stereotypen richtig dargestellt werden. Aber die Konfrontation Schwarz-Weiß gehört nicht unter die Kategorien „in-group" und „out-group", wie Hilligen den Schülern suggeriert, wenn er lehrt, es gebe für jede Gruppe „die anderen", für die Schüler die Lehrer, für CDU-Anhänger die SPD-Anhänger, für die Gewerkschaften die Unternehmer und so eben für die Weißen die Schwarzen. Das ist genauso falsch wie die ausschließliche Erklärung des Antisemitismus als ein, wenn auch ein besonders verwerfliches Vorurteil — wenn damit Auschwitz und das Verhalten der Eichmann, Höss und Kaduk erklärt werden soll, wie Hilligen (S. 234) nahelegt. Die oben gekennzeichnete „Pflichtethik" charakterisiert sie weit treffender als der Hinweis auf Vorurteile, denn sie mordeten in „Pflichterfüllung", erfüllten ihre „Treuepflicht" und brachten damit ihr Gewissen zum Schweigen. Das Gegenteil von Vorurteil ist nicht Toleranz; Politik ist nicht durch angewandte Sozialpsychologie zu ersetzen.
Für die Anwendung des Kriteriums „sachliche Richtigkeit" bietet die Thematik . Gewerkschaften und Streik'in zahlreichen Lehrbüchern bei spielhaftes Material. Wenn die Aussperrun als legitimes Kampfmittel der Arbeitgelg neben das Streikrecht gestellt wird, so ist das leicht schon vom Grundrecht der Koalitionsfreiheit her als falsch zu erkennen. Aber angenommen, man findet die Aussage, Beamte hätten kein Streikredit, weil ihre Situation grundsätzlich anders sei als die der Arbeiter und Angestellten in der freien Wirtschaft, so ist es richtig, daß ein Streik von Beamten -unter den gegenwärtigen Rechtsbedingungen — ungesetzlich ist. Diese Information ist jedoch unvollständig ohne Kenntnis der Tatsache, daß früher jeder Streik ungesetzlich war und die Macht der Unternmehmer noch heute so weit reicht, daß sie — mitunter durchaus mit Erfolg — stets versuchen, Streiks für ungesetzlich erklären oder zumindest durch die Politiker als „schädlich“ bezeichnen zu lassen. Die Aussage, Beamtenstreiks seien ungesetzlich, dient eindeutig der Abwehr eines politisch durchaus berechtigten Anspruches der Beamten auf demokratische Gleichberechtigung und ist damit ideologisch.
Es ist erfreulich und auch richtig, wenn Hilligen ausführlich die „Mitbestimmung" unter dem Aspekt der Interessenlage der Abhängigen behandelt, aber konsequent wäre es, in diesem Zusammenhang — und nicht in einem besonderen Kapitel über Sozialismus — die Alternative einer sozialistischen Ordnung zu verdeutlichen. Ohne die Relevanz für unsere Herrschaftsordnung gerät die Behandlung des Sozialismus im Unterricht in die Gefahr einer „Verdinglichung", die — so paradox das klingen mag — im Widerspruch zur „Sachlichkeit'steht. Sachliche Richtigkeit meint also die Einordnung einer Information in einen relevanten Zusammenhang und ist mithin relativ zur Betroffenheit.
Didaktik — Unterrichtslehre oder Herrschaftsanalyse?
Aus den Maßstäben, die eine kritische Didaktik an Lehrbücher zur politischen Bildung anlegen muß, ergeben sich zwei Folgerungen:
1. Diese Anforderungen kann künftig nur ein Team von Sozialwissenschaftlern erfüllen, kein einzelner Pädagoge. Politische Didaktik ist gleichermaßen sozialwissenschaftliche Theorie und gesellschaftliche Praxis.
2. Da auch neuere Werke, die von einem solchen Team bearbeitet worden sind, kein überzeugendes Curriculum-Konzept aufweisen, ist es zweifelhaft, ob das Lehrbuch überhaupt noch eine den Erfordernissen und Zielsetzungen des politischen Unterrichts angemessene Form ist.
Abgesehen davon, daß es inzwischen audiovisuelle Informationsmedien für den Unterricht gibt, die die gesellschaftliche Wirklichkeit differenzierter erfassen, ist es unverkennbar, daß das zunehmende Angebot an sogenannten Unterrichtsmodellen einem wachsenden Bedürfnis der Lehrer entspricht, die sich von der Wissenschaft im Stich gelassen und von der theoretischen Diskussion der Didaktiker nicht betroffen fühlen, aber andererseits die Unzulänglichkeit des Lehrbuches erkannt haben. Sie verlangen nach sowohl sachlich wie didaktisch einwandfrei bearbeiteten Themen, die Gegenstand eines Unterrichts sein können, dessen Ziele und Methoden in praktikabler Weise mitgeliefert werden.
Diesem Bedürfnis der Praxis versucht in besonderer Weise die von Walter Gagel u. a. herausgegebene Reihe „Politische Bildung" zu entsprechen: Beiträge anerkannter Fachwissenschaftler sollen dem Lehrer zunächst die Problematik und die notwendigen Informationen nach dem gegenwärtigen Stande der Forschung zu dem ausgewählten Thema vermitteln; ein schulerfahrener Didaktiker bietet ihm dann dazu ein „Unterrichtsmodell" nebst „Materialien für den Unterricht" an. Wenngleich der Didaktiker in der Regel den Stoff nach explizierter Zielvorstellung auswählt und strukturiert, so fehlt es doch an einer Zuordnung zu einem umfassenden Curriculum, über dessen Ziel und Art Übereinstimmung bei allen Autoren der Reihe bestehen müßte. Die Folge dieses Mangels ist eine Trennung von Fachwissenschaft und Didaktik, durch die die Didaktik in der Gefahr ist, auf eine Theorie des Unterrichts beschränkt zu werden und sich damit zu befassen, „wie die Gegenstände, die man lehren will, am besten gelernt werden"
Lernziele können nach diesem Verständnis von wissenschaftlicher Didaktik nicht in ihre Zuständigkeit gehören, weil sie „nicht mit wissenschaftlichen Methoden ableitbar oder ausdrückbar" sind, wie es Felix von Cube begründet, was aber nicht heißen soll, daß man Lernziele unkritisch hinnehmen müsse. Nur bieten sie als von außen gesetzte Sollwerte keine Kriterien für eine wissenschaftliche Analyse des Lernprozesses, wenn man Kritik an den normativen Setzungen zwar für berechtigt und sogar notwendig, aber für unwissenschaftlich hält. Wenn nicht zweifelhaft ist, daß „jede Erziehung letztlich nur auf dem Hintergrund der bestehenden Herrschaftsverhältnisse gese-hen werden kann"
Didaktik, die sich nicht auf affirmative Unterrichtstechnik (Methodik) beschränkt, umfaßt das gesamte Feld der sie umgebenden Herrschaftsverhältnisse und analysiert die sich darin vollziehenden Entscheidungsprozesse, insbesondere soweit sie politisch-pädagogische Zielsetzungen, gesellschaftliche Normen und Verhaltenserwartungen betreffen. Politische Bildung macht das Feld sichtbar, in dem sie sich selbst vollzieht; die Schule wird als Teil (Subsystem) der Herrschaftsordnung Unterrichtsgegenstand und trägt damit zur Aufklärung über die Position des einzelnen bei — mit dem Ziel, mehr Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung zu gewinnen. Politische Didaktik wird angewandte Herrschaftsanalyse; es gibt keinen Unterschied zwischen Politik als Wissenschaft und Didaktik der politischen Bildung, wenn sich beide als kritische Sozialwissenschaft verstehen. Auf diese Weise kann politischer Unterricht auch einen Beitrag zur Veränderung der Gesellschaft durch Bewußtseinsbildung leisten, ohne auf den revolutionären Sturz der bestehenden Machtverhältnisse oder auf die Anerkennung dieser Zielsetzungen durch den zuständigen Kultusminister warten zu müssen.
Wenn der Schüler die Funktion der Schule in der politischen Ordnung und darüber hinaus ihre ökonomische Rolle als Produktionsstätte von Arbeitskräften erkennen soll; wenn er fragen lernt, warum was in der Schule gelernt werden soll und wer aus welchen Gründen darüber entscheidet, wie die gesellschaftlichen Strukturen beschaffen sind, in denen Schule und Erziehung ihre Funktion haben, dann dienen Herrschaftsund Konfliktanalyse dem Ziel, den Schüler zur Entscheidung und Bestimmung über sich selbst zu befähigen. Aber diese Konzeption einer politischen Didaktik muß ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit begründen. Politische Bildung erfüllt wissenschaftliche Ansprüche, wenn sie dem Heranwachsenden das Instrumentarium bietet, um die uns umgebende gesellschaftliche Realität handelnd zu erschließen, Zusammenhänge zwischen ökonomischer Struktur und politisch-gesellschaftlicher Macht sowie zwischen gesellschaftlichen Strukturen und individuellen Verhalten zu erkennen. Die drei Säulen politischer Pädagogik sind daher Herrschaftsanalyse, Entscheidungslehre und Ideologiekritik; Politikwissenschaft, Soziologie, Sozialpsychologie und Kommunikationswissenschaft verbinden sich methodisch und inhaltlich zu einer kritischen Sozialwissenschaft, die die Bedeutung der historischen Dimension anerkennt. Aber mit Lingelbach und anderen kritischen Didaktikern muß nachdrücklich betont werden, daß die Wissenschaftlichkeit dieser Didaktik mit einer Gesellschaftstheorie steht und fällt, die nicht nur Zusammenhänge begreiflich macht, sondern auch Entscheidungsmöglichkeiten und Zielrichtungen eröffnet.
Strukturalismus, Behaviorismus, Systemtheorien, Psychoanalyse und Dialektischer Materialismus liefern hierfür theoretische Bezugsrahmen unterschiedlicher Reichweite, und es gehört zu den Voraussetzungen wissenschaftlichen Arbeitens, die Leistungsfähigkeit und die Grenzen einer Theorie und einer Methode zu kennen. Ebenso wie funktionalistische Systemtheorien auf ihre pädagogische und politische Relevanz überprüft werden müssen, ist auch die Tragfähigkeit dialektischer Methoden durch ihre Anwendung zu überprüfen.
Die Geschichte dieser Theorien hat gezeigt, daß jede von ihnen der Gefahr unterliegt, Ideologie zu werden, wenn sie sich auf Axiome und Dogmen stützt, die Macht oder Macht-ansprüche rechtfertigen. Wer das erkennt, wird auch in der politischen Bildung über den Vorwurf erhaben sein, affirmativ zu wirken, weil er bestimmten Aussagen marxistischer oder anderer Dogmatiker nicht zu folgen vermag, Die Tatsache, daß aus wissenschaftlichen Theorien Glaubensbekenntnisse und politische Ideologien werden können, darf nicht dazu verleiten, ihre wissenschaftlichen Ansprüche völlig zu leugnen.