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Ansichten — Einsichten — Aussichten CDU im dritten Jahrzehnt | APuZ 40/1971 | bpb.de

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APuZ 40/1971 Artikel 1 Ansichten — Einsichten — Aussichten CDU im dritten Jahrzehnt

Ansichten — Einsichten — Aussichten CDU im dritten Jahrzehnt

Hans Leo Baumanns /Wolfgang Bergsdorf

/ 43 Minuten zu lesen

25 Jahre lang hat die CDU bisher den politischen, sozialen und ökonomischen Zustand der Bundesrepublik entscheidend geprägt. 20 Jahre nutzte sie als Regierungspartei in Bonn mit wechselnden Koalitionspartnern die Möglichkeit, Ziele und Richtung der Politik zu bestimmen. Seit zwei Jahren sitzt sie auf den Bonner Oppositionsbänken und betreibt in den nächsten zwei Jahren ihre Rückkehr in die Regierungsverantwortung. Die vergangenen und die nächsten zwei Jahre werden von der Union weitgehend als eine Interimszeit verstanden, die eine große Vergangenheit mit einer ebenso großen Zukunft verbindet.

Nadi dem lähmenden Schock der Regierungsverdrängung im Herbst 1969 hat eine Reihe von Faktoren der CDU dazu verholten, das Bewußtsein der Partei wieder zu stabilisieren und zu einer optimistischen Einschätzung der gegenwärtigen Legislaturperiode zu kommen: Erster Faktor des Stabilisierungsprozesses ist der geglückte Versuch von Partei-und Fraktionsführung, durch Arbeitseifer und Dynamik der Union zu einem neuen Selbstverständnis als Opposition zu verhelfen. Die von vielen Beobachtern der Bonner Szenerie erwartete Resignation oder gar der Zerfall der Union blieben aus.

Das unerwartet gute Abschneiden der Union in den Landtagswahlen 1970 und 1971 ist ein zweiter Faktor für die Überzeugung der CDU, daß ihre Oppositionszeit als ein Transitorium zu begreifen sei. Den Unionsparteien ist es in den Wahlkämpfen teilweise gelungen, sich neue Wählerreservoirs zu erschließen, ohne Verluste in den traditionellen Wähler-reservoirs hinnehmen zu müssen. Entscheidend für die Selbsteinschätzung der Union ist jedoch ein dritter Faktor: die Leistungsschwäche der Bundesregierung und ihre Unfähigkeit, die amtliche Politik populär zu machen. Die Popularitätsklimax erreichte die Regierung Brandt am Tage ihrer Installierung. Niemals zuvor wurde eine Bundesregierung in einem solchen Ausmaß mit Vorschußlorbeeren von der öffentlichen Meinung und von einem Großteil des politischen Publikums konfrontiert. Diese hochgespannten Erwartungen verführten die SPD/FDP-Führungsspitzen dazu, aus der Kontinuität der bisherigen Regierungsarbeit auszuscheren und gewaltsame Zäsuren setzen zu wollen. Eine „neue Politik“ wurde angekündigt, propagiert und in vielen politischen Bereichen mehr oder weniger detailliert auf dem Reißbrett konzipiert. Der Pragmatismus der Adenauer-Ära, der Proporz der Großen Koalition wurden abgelöst von einer Politik der Ankündigungen und Versprechungen. Der taktische Fehler der neuen Politik bestand weniger darin, die politische Propaganda an anspruchsvollen Schlagworten neu zu orientieren und auf die Notwendigkeit von Innovationen in allen Bereichen des politischen Lebens hinzuweisen. Er muß vielmehr in der Unterschätzung der Schwierigkeiten gesehen werden, Wünschenswertes und Notwendiges möglich zu machen.

Je stärker die Diskrepanz zwischen amtlichen Plänen und Machbarkeit in das öffentliche Bewußtsein drangen, desto umfassender sah sich die Regierung gezwungen, die selbstgesteckten Ziele zurückzunehmen und damit ihre eigene Politik als Rhetorik zu diskreditieren. Die fortschreitende Desillusionierung der politischen Öffentlichkeit, vor allem im wahlentscheidenden sozio-ökonomischen Bereich, bestärkt die Union in der Überzeugung, daß ihr bei den nächsten Bundestagswahlen die zur Übernahme der Regierung notwendige absolute Mehrheit in den Schoß fallen werde, vorausgesetzt, daß die Bundesregierung bis dahin keinen Tritt faßt.

Die negative Halbzeitbilanz der Bundesregierung aus der Sicht der Opposition muß vervollständigt werden, indem ihre Auswirkungen auf die Selbsteinsdiätzung der CDU berücksichtigt werden müssen. Die negative Beurteilung der Bundesregierung und die positive Einschätzung der eigenen Chancen für 1973 werden von der CDU in einem so engen Zusammenhang gesehen, daß sich daraus gefährliche, aber vermeidbare Fehlerquellen für das politische Kalkül der Opposition ergeben können.

Wenn das Leistungsvermögen der Bundesregierung nicht nur als Hauptfaktor, sondern sogar teilweise als einziger Faktor bei der optimistischen Einschätzung der Wahlchancen der CDU in Rechnung gestellt wird, dann verstellt diese Rechnung den Blick für Probleme und Schwierigkeiten der CDU, die, wenn sie übersehen und nicht angegangen werden, ihre Wahlchancen verringern würden. Selbst wenn der CDU 1973 die Regierungsverantwortung ohne eigenes Zutun in den Schoß fallen würda kann diese Freude nur so lange dauern wie sich der parlamentarische Partner in der Opposition nicht regeneriert hat. Die CDU muß bis 1973 — wenn sie diese Legislaturperiode als eine Interimszeit betrachten will — als Partei, als Apparat und als politisches Aggregat eine überzeugende Alternative zur SPD/FDP bieten, sie muß für die Zeit nach 1973 eine Gewähr dafür bieten, daß sie eine alternative Politik verwirklichen kann. Die zunehmende Stärkung der CDU darf kein Korrelat zur Schwäche der Regierung sein. Eine solche Scheinalternative würde sich langfristig als eine bedrohliche Quelle zunehmender Enttäuschung über die Leistungsfähigkeit des pluralistisch-parlamentarischen Systems herausstellen. Deshalb muß die CDU die Fähigkeit zeigen, die Regierungsverantwortung aus eigener Kraft und nicht durch Verschulden des Kontrahenten zurückzugewinnen. Sie erwirkt sich diese Fähigkeit nur in anstrengenden Akten der Selbstbesinnung und Selbstanalyse, zu denen dieser Aufsatz einen Beitrag leisten soll.

Die Halbzeit

Die SPD/FDP-Koalition trat 1969 an, ein „neues Deutschland“ zu schaffen, brauchte dann aber überraschend lange, um zu erkennen, daß fast jeder zweite Deutsche durch seine Stimmabgabe für die CDU/CSU der Vision von Brandt und Scheel nicht zustimmen wollte. Die stärkste geschlossene Opposition in der Parlamentsgeschichte der Bundesrepublik wuchs in den ersten Monaten durch Übertritte aus der FDP-Fraktion; ihre Mehrheit im Bundesrat bestätigte sich in einem halben Dutzend Landtagswahlen. Mit einer zeitlichen Verzögerung zu dem Vertrauensverlust der Bundesregierung bei den Wählern begannen auch unabhängige Leitartikler und Kommentatoren, die Fähigkeit zur Kritik an der amtlichen Politik wiederzugewinnen.

Dennoch kann die Halbzeit nicht als erfolgreich für die CDU/CSU bilanziert werden, denn die unübersehbaren Leistungsschwächen und Fehlleistungen der Bundesregierung lassen die ideologischen, strategischen und organisatorischen Probleme der Unionsparteien übersehen, die sich in dem Maße offenbaren werden, wie der Bundesregierung eine popularisierbare Politik der unmittelbaren und konkreten Verbesserungen für den einzenen Bürger u. U. gelingt.

Heute Opposition zu betreiben, ist zweifellos schwieriger als in den fünfziger Jahren, als noch weite Teile der damaligen Opposition auf dem Boden der — sozialistischen — Ideologie beharrten, wenigstens bis 1959. In den fünfziger Jahren basierten Kontroversen zwischen Regierung und Opposition auf weltanschaulichen Differenzen. Dem Bürger fiel es nicht schwer, in der Auseinandersetzung alternative Positionen zu erkennen, unter denen er auswählen konnte. Er setzte die Regierung instand, die Weichen in allen Bereichen der Politik, meist gegen den Willen der damaligen Opposition, der SPD, zu stellen. Nachdem die SPD im Godesberger Programm Abschied von Marx genommen hatte, verblaßten die ideologischen Gegensätze, konnte in der Ausbau-phase der Bundesrepublik der Pragmatismus mit seiner Detaildiskussion in den Vordergrund der politischen Auseinandersetzung rücken. Die Alternativen wurden Positionsunterschiede in der Sache. Diese Entwicklung mündete in einer Politik der Gemeinsamkeiten, die die Große Koalition ermöglichte.

Heute ist es noch verfrüht, über Erfolg, Teilerfolg oder Mißerfolg dieses Intermezzos nachzusinnen. Notwendig aber ist es, die psychologischen Nachwirkungen in der politischen Öffentlichkeit und zum Beispiel in der Verwaltung zu berühren.

Die Große Koalition entsprach einem in Deutschland vorherrschenden politischen Wunschbild: Harmonie, Konfliktlosigkeit, Eintracht. Das Bündnis Kiesinger—Brandt war populär. Die SPD benutzte dieses Wunschbild, um Regierungsfähigkeit zu demonstrieren und nutzte die Zeit für ein Fait accompli in Personalpolitik, Behörden, Verwaltungen und Dachorganisationen. Zu selten machte die CDU dabei klar, daß die Große Koalition nur ein befristetes Notbündnis sein konnte. Kein Wunder, daß Wähler und Mitglieder die Tragfähigkeit dieses Bündnisses überbewerteten. Der SPD wurde die Große Koalition als taktisches Manöver für eine Regierungsanwartschaft verziehen.

In der Großen Koalition wurde das Fundament für eine gefährliche Unbeweglichkeit der Union gelegt. Das Spiel mit „Köpfen" als Puzzle-Spiel um die Führungsspitze tat ein übriges. Bisher gelang es der Opposition, die personellen und programmatischen Schwierigkeiten der SPD/FDP-Regierung zu nutzen. Den zum Teil glänzenden Reden im Parlament zur Ostpolitik und zur Budgetpolitik fehlte die spürbare Wirkung, weil sie in ihrer Schärfe nicht von allen Abgeordneten der Fraktion getragen wurden und weil auch hier eine integrierende und profilierte Führung der Union fehlte. Bis zur Halbzeit lebten die Unionsparteien in Schönwetter-Opposition. Die Zeit ab Herbst 1971 bis zum nächsten Bundestagswahlkampf wird mit dem Hinweis auf Versagen und Fehler der Regierung allein nicht zu bewältigen sein, zumal zu erwarten ist, daß SPD und FDP alle personellen und finanziellen Kräfte mobilisieren werden, um jede Gesetzesnovellierung und jede Absichtserklärung als Reformpolitik zu propagieren.

Die warnenden Ratschläge des britischen Premierministers Heath, daß der „Labourismus" auf dem Kontinent nicht heimisch werden dürfte, sollten von der Union ernst genommen werden. Heath formulierte sein Konzept für die Opposition folgendermaßen: „Jeder Abgeordnete der Konservativen Partei hält klare und aktuelle Kurzfassungen zu jedem, aber auch jedem Schritt, zu jeder, aber auch jeder Erklärung der Regierung. Mein Schattenkabinett folgt dem amtierenden Kabinett auf jedem Schritt."

Die Union wird spätestens 1972 eine personell definierte Führungsmannschaft mit einem klaren Regierungsprögramm vorstellen müssen. Die Union würde durch dieses „Schattenkabinett“ nach der Halbzeit wieder „zitierfähig": Der Erklärung eines amtierenden Ministers folgt sofort eine Stellungnahme nach, und zwar nicht durch den Kanzlerkandidaten oder durch einen „Sprecher", sondern durch den „amtierenden Schattenminister". Dabei ist das Gegenargument, hier würden Vorzeitig personelle Fixierungen vorgenommen, kaum zutreffend. Was dem Kanzler recht ist, nämlich Umbesetzungen im Kabinett vorzunehmen, kann den Kanzlerkandidaten nur billig sein.

Die CDU darf allerdings nicht dem Irrglauben verfallen, die personelle Alternative zur Regierung reiche aus, um den Wähler für die CDU stimmen zu lassen. Geschicklichkeit, die richtige Person am richtigen Platz aufzustellen, ist nur ein wichtiges Element der Fähigkeit, eine alternative Politik zu formulieren. Gerade in der Opposition wäre es für die CDU gefährlich, die Bedeutung der Politik mit Personen zu überschätzen. Den Oppositionspolitikern fehlt die hierzulande immer noch wahl-wirksame Amtsautorität, die regierenden Politiker profitieren vom „Gouverment effect".

Bedenklich ist der Jubel, mit dem der Düsseldorfer Programm-Parteitag die These des CSU-Vorsitzenden Strauß aufgenommen hat, nach der Programme für Wahlsiege unerheblich seien. Er signalisierte eine erstaunliche Unterschätzung der Bedeutung von Parteiprogrammen, die insbesondere von den Delegierten eines Parteitages nicht erwartet werden durfte, die zusammengekommen waren, um ihre gemeinsamen programmatischen Ziele zu formulieren. Daß sich die Parteiführung und insbesondere die Fraktion nur schwer entschließen konnten, die Verbindlichkeit des Düsseldorfer Programms für ihre Arbeit zu sehen und die dort formulierten Ziele zu exekutieren, ist so nicht erstaunlich. Erstaunlich aber ist, daß es dem Düsseldorfer Parteitag trotz dieser seltsamen Unterbewertung der Programmatik ge. lungen ist, Leitvorstellungen zu entwickeln die das Selbstverständnis der CDU als Partei der integrierenden Mitte verdeutlichen, die die Union dem wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt gleichermaßen verpflichten, die das Demokratieverständnis der CDU präzisieren. Dennoch ist es der Union bisher noch nicht gelungen, ihr Selbstverständnis nach außen zu vermitteln. Die CDU wird in den nächsten Jahren die schwierige Aufgabe haben, eine Grundsatzdiskussion nachzuholen, ihre „ideologische" Position klar zu umreißen. Vor allem von den jüngeren Wählergruppen und von den der Reflexion verpflichteten Bürgern wird sich die Union die Frage nach ihrem theoretischen Fundament gefallen lassen müssen. Die Antwort: Wir sind fortschrittlich, aber nicht so utopisch progressiv wie die SPD, wir sind konservativ, aber nicht reaktionär, wird die Fragesteller zu Recht nicht zufriedenstellen.

Hoffnung auf das „C"

Seit 1946 diskutiert die CDU ihr „C“. In den vergangenen Jahren wurden Mandatsträger der Union nicht müde, darauf hinzuweisen, daß die CDU und die CSU das „christliche" nicht monopolisiert haben. Unnötig waren amtskirchliche Erklärungen, daß das Christentum nicht durch eine Partei allein verkörpert werden könne. Aber schon Legion sind die Histörchen, nach denen Pfarrer ihren Gläubigen bei Strafe des Fegefeuers die Wahl von SPD und FDP untersagt hätten. Ein ähnliches Fehlverhalten zeigt sich in den eindeutigen Wahlaufrufen von DGB-Funktionären, „ein Arbeiter kann nur die SPD wählen". Es ist bedauerlich, daß solche unrühmlichen Anekdoten Wähler und Mitglieder der CDU/CSU verunsichert haben und sie beim „C" von offensichtlich schlechtem Gewissen geplagt werden. Die programmatische Stoßrichtung des „hohen C" zielt nicht auf eine konkrete Politik, sondern auf das Politikverständnis der Union. Das „C“ will und muß deutlich machen, daß das Politikverständnis der CDU auf dem christlichen Menschenbild basiert. Im Mittelpunkt des christlichen Menschenbildes steht die Person. Dem Menschen wird eine eigene und von seinen Mitmenschen nicht auslöschbare Würde beigemessen. Die Würde der Person beruht auf der Unmöglichkeit, den Sinn seiner Existenz nur aus dieser Welt herauszudeuten.

Der transzendentale Sinnbezug der Person hat Konsequenzen für die politische Ordnung. Diese Konsequenzen können nicht darin bestehen, daß aus dem christlichen Menschenbild Richtlinien für eine bestimmte Politik abgeleitet werden. Die politischen Folgerungen aus dem christlichen Selbstverständnis betreffen vielmehr den Rahmen, in dem Politik geschieht: Aufgabe der Politik kann nicht sein, letzte Wahrheiten zu verkünden. Damit widerspricht jeder Totalitätsanspruch einer politi-sehen Ordnung dem christlichen Selbstverständnis. Vielmehr besteht die Aufgabe der Politik darin, Voraussetzungen und Grundlagen dafür zu schaffen, daß Antworten auf die Sinndeutung der eigenen Existenz in freier Gewissensentscheidung gefunden weiden.

Jede Politik bezieht ihre Maßstäbe aus der Welt, in der wir leben. Die transzendentale Sinndeutung bezieht ihre Maßstäbe aus dem Glauben. Die verschiedenen Antworten auf die Sinnfrage sind politisch nicht relevant und können politisch nicht entschieden werden, weil diesseits bezogene Politik und transzendentaler Sinnbezug nicht miteinander zu vereinbarende Entscheidungskriterien verlangen.

Unter den Bedingungen unserer Welt ist die pluralistische Demokratie die dem christlichen Menschenbild angemessene politische Ordnung. Sie ist die Form einer kontrollierten Herrschaft, in der das Gemeinwohl nicht transzendental festgelegt ist, sondern in der Auseinandersetzung unterschiedlicher Interessen jeweils neu definiert wird. Sie ermöglicht und verlangt die friedliche Austragung von Interessenkonflikten.

Eine pluralistische Demokratie verlangt eine offene Gesellschaft. Eine Gesellschaft ist nur dann wirklich offen, wenn sie Gliederungen enthält, die in ihren eigenen Angelegenheiten autonom sind und sich an anderen Kriterien als die politische Gesamtorganisation orientie-ren. Nur auf diese Weise können sich unterschiedliche Interessen manifestieren und organisieren. Die Optimierung der eigenen Wirksamkeit zwingt sie sogar dazu. So ist auch der einzelne imstande, das Ziel der Sinndeutung der eigenen Existenz um so konsequenter zu verfolgen. Dies gilt auch für die begrenzten Ziele der unterschiedlichen diesseitsbezogenen Interessen.

So plädiert das „C" im Parteinamen für das Bekenntnis zur eigenen Mangelhaftigkeit, für Begrenztheit, für menschliches Versagen, für Bindung: „Was ist aufrichtiger", fragt der Generalsekretär der CDU, Dr. Bruno Hede, „was ist radikaler als die Lehre von der menschlichen Unzulänglichkeit, von der Begrenztheit im Endlichen? Die Authentizität des Christen besteht darin, daß er sich selbst, und zwar in der Weise der Gnade aus Gott bestimmt, nicht darin, daß er sich aus sich selbst, und zwar in der Weise der Analyse zu erklären versucht. Die Analyse führt immer nur zu Teilen — und oft zu arroganten Einseitigkeiten."

Das „C" bedeutet für die Partei gerade heute, sich um jene nicht mehrheitsfähigen Gruppen praktisch zu kümmern, um die ausländischen Gastarbeiter, um Randständige, um Jugendliche, um die Alten im Renten-und Pensionsalter, um alle Gruppen mit dem negativen Vorzeichen. Zwar bieten eben diese psychischen und sozialen Verfremdeten heute den Stoff für interessante und intellektualisierte Betrachtungen am Kamin, in Magazinsendungen und in Akademien. Nur die praktische, die christliche Hilfe fehlt; hier kann das „C“ in der CDU/CSU zeigen, daß soziale Verantwortung sich nicht in der Etablierung von Funktionärsapparaten „Abteilung Soziales" und in trefflichen Analysen erschöpfen. Hier liegt das große Arbeitsfeld für konkrete christlich-soziale Politik. Die Union kann es sich nicht leisten, daß sie einmal ein ähnlicher Vorwurf trifft wie die Amtskirchen, sie hätten zwar das theoretische Konzept fortgeschrieben, hätten intellektuell reflektiert und die vergebbaren Machtpositionen mit Bravour besetzt, betrachteten aber die tätige Hilfe als lästige Aufgabe.

Die von der CDU/CSU geführten Regierungen ab 1949 haben eine bislang zu wenig beachtete soziale Leistung ermöglicht: die Integration von Millionen von Flüchtlingen und Heimat-vertriebenen in unsere Gesellschaft. Der vor einigen Jahren posthum veröffentlichte Plan Stalins, durch Flüchtlingsunruhen den Bestand der Bundesrepublik zu gefährden, wurde in großer finanzieller und moralischer Anstrengung vereitelt. Dies ist ein wichtiges Beispiel für Politik aus christlicher Verantwortung. Heute stehen im Bereich der gesellschaftlichen Integration neue, nicht weniger wichtige Aufgaben an. Neben den Minderheiten sind nicht mehrheitsfähige Ziele in der pluralistischen Demokratie strukturell benachteiligt. Es ist Aufgabe einer auf dem christlichen Menschenbild basierenden Partei, gerade diese Probleme ins politische Bewußtsein zu rufen, indem sie sich zum Anwalt der Schwachen und der Zukunft gegen die Mehrheit und die Gegenwart macht.

Der problematische Konservatismus

Es gibt in Deutschland stachlige Worte; „konservativ" gehört sicher dazu. Hier muß auf neue Definitionsversuche verzichtet werden; aber wenn es konservativ ist, den politischen Schwarmgeistern gegenüber skeptisch zu sein, Ideen nicht mit der Realität zu verwechseln, auch an den „dicken Brettern zu bohren" und staatlicher Autorität zu genügender Achtung zu verhelfen, dann ist die Union eine konservative Partei.

Wenn es konservativ ist, soziale Veränderung für teuflisches Machwerk zu halten, in der Ideengeschichte des Ersten Reiches stehengeblieben zu sein, in „law and Order" die einzigen gesellschaftlichen Gestaltungsprinzipien sehen, dann ist die Union keine konservative Partei.

Politik begreift sich als menschen-und gesellschaftsadäquates Handeln. Für unsere Gesellschaft, die sich immer neuen Anforderungen ausgesetzt sieht, ist eine konservative Partei (im ersten Sinne) notwendig.

Die katholische und insbesondere die protestantische Kirche haben sich in den vergangenen Jahren von den erkannten und erkennbaren Bedürfnissen ihrer Mitglieder oft entfernt. Für manchen jüngeren Theologen gibt es nur noch sogenannte kritische, emanzipierte Christen, die an einen ehemaligen Sozialrevolutionär, vergleichbar den lateinamerikanischen und asiatischen unserer Tage, glauben. Andere Beziehungen zu Christus und Kirche werden als rückständiger Kinderglauben abgelehnt. Die Union aus CDU und CSU ist in Gefahr, ebenso den Kontakt zur Bevölkerung zu verlieren, wenn sie sich zur Diskussionspartei intellektueller Kleingruppen einengen läßt und durch modische Standpunktlosigkeit traditionelle Wähler-und Mitgliederschichten verliert.

Die konservative Komponente in der Unionspolitik muß gegen den allgemeinen Demontagelärm in unserer Gesellschaft klare Fronten beziehen. Die Argumentationsbreite in großen Teilen der Publizistik und bei nicht wenigen politisch Aktiven verkürzt sich immer mehr auf Chiffren und Notenverteilung. Der Illiberalismus wird trotz gegenteiliger Schutzbehauptung der „Liberalen" immer größer.

Alles und jedes hat sich in Frage zu stellen; die Antworten erschöpfen sich in nebulösen Chiffren oder werden für die Zukunft versprochen. Dem „Prinzip Hoffnung" der frühen fünfziger Jahre ist in den sechziger Jahren das Prinzip „Verunsicherung" gefolgt, die siebziger Jahre lassen sich an, indem sie Leer-formeln und Maximen gebären: Kritik, Emanzipation, Antiautorität, falsches Bewußtsein. „Das süße Treiben des Rechthabens, der nahrhafte Haß gegen das Niegesehene, die Programmierung der Programme — was wäre ein Dasein ohne diese Lebensmittel?" (Gehlen).

Bei der Gründung dieses Staates 1945— 1949 war die Mehrheit skeptisch und abwartend; zaudernde Begeisterung fand sich bei wenigen. Der Begriff „Bundesrepublik" gab dem politischen Gebilde einen Hauch von Technokratie und Distanz. Der Staat sollte ein Produktionsfaktor werden, zuständig als Auszahlungskasse, Steuereinnehmer und Sicherer des sozialen Friedens: ein Vehikel der Gesellschaft ohne Mehranspruch. Nun ist es zweifellos richtig und an jüngerer bitterer Erfahrung abgesichert, daß Staats-und Führerbegeisterung den Deutschen fast vier Jahrzehnte Not, Scham, Elend und Verbrechen gebracht haben. Auch die Devise „so wenig Staat wie möglich" ist — wenn sie funktional verstanden wird — bedingt richtig. Wir können mit Recht auf eine jüngere Generation stolz sein, die nicht buckelt und der keine unreflektierten Ehrfurchtsschauer über den Rücken laufen, wenn sie an den „Staat" denkt. Schließlich ist es positiv zu werten, daß der Staat und „seine Diener" ihre tradierten Tabus verloren haben. Aber sind nicht gleichzeitig neue Tabus entstanden? Gibt es nicht schon wieder Erklärungsvariablen und Wortbrocken, die auf Pathos und Schauer zielen? — wie Planung, Emanzipation, Reform . . . Hieß es früher: „Ich bin Preuße, kennt ihr meine Farben?“, so läßt es sich heute umformulieren in:

„Ich bin Reformer, kennt ihr meine Thesen?" Gefahr droht der politischen Diskussion in der Bundesrepublik von einem vergötterten Reformeifer als neuem Glaubens-und Handlungsersatz. Planungsideologie und Reformeuphorismus können eine von den Realitäten enttäuschte nachwachsende Generation zur Folge haben. Hier ist die Skepsis des Konservativen am Platze, doch darf sich diese Skepsis nicht in platter Kulturkritik und anti-technizistischen Affekten äußern, wie sie in der Vergangenheit gelegentlich vorgebracht wurde. Ein konservativer Politiker arbeitet für eine konkrete Realität. Er benötigt dafür brauchbare und verstehbare Alternativen, die er formulieren und für die er werben muß.

In der politisch-ideologischen Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie erweist sich dieses Prinzip Skepsis als wirksames Instrument. Bundeskanzler Brandt gebrauchte bei seiner Haushaltsrede vor dem Parlament im Februar 1971 mehrfach den Ausdruck „konservativ" in abschätzigem Sinne, wenn er Ist und Soll seines Regierungsprogramms miteinander verglich; der Fraktionsvorsitzende der SPD, Herbert Wehner, steigerte sich bei einer ähnlichen Gelegenheit in die Beschimpfung „Ma-digmacher-Union". Es ist in der Tat die Aufgabe der Union, eine realitätsferne Höhenflug-politik der Versprechungen „madig zu machen". Es wäre zu einseitig und zu akademisch, wenn man im Konservatismus ausschließlich eine Lehrmeinung und eine politische Ideologie sehen würde. Der Konservatismus ist ein Handlungsprinzip angesichts sich dauernd verändernder Entscheidungszumutungen. Er entlastet von der übersichtslosigkeit des Augenblicks und macht den Weg des Handelns sicherer.

Konservatismus ist die dauernde Dialektik zwischen Wachsen und Machen; er legitimiert sich im Pragmatischen, nicht in einer beschwörenden Heilslehre.

Neue Ansätze

Der Imperativ unserer Gesellschaft heißt: Verbund von wachsender Produktion und wachsendem Wohlstand für alle. Konservative Theoretiker haben zu Recht auf die Kapitulation des Konservativen vor dem Phänomen der Industriegesellschaft hingewiesen. Die durchgängig kulturkritische Stimmung, auch bei einigen Unionspolitikern, ist ein Indiz hierfür. Hier spielt der Konservative eine lächerliche Figur und wird zum Polittrottel degradiert. Wo liegen aber die relevanten Ansätze für einen neuen Konservatismus in der Union? — Sie liegen heute in erster Linie im Mut zu anscheinend unpopulären Forderungen. Der soziale Rechtsst rat hat sich in weiten Teilen zu einem Berechtigungsstaat entwickelt, bei dem auf dem großen Campus der Öffentlichkeit Forderungen und Leistungserwartungen aufeinander treffen. Leider zu oft haben die Politiker in einer Neidvermeidungs-Strategie jedem Gruppendruck nachgegeben. Vordergründiges Ergebnis ist eine Finanzkrise, deren erste Anfänge wir 1970 und 1971 erlebten. Bedeutsamer aber ist das Hintergründige an dieser Entwicklung: Politisches Handeln in der Bundesrepublik ist zur Dauer-Popularität gezwungen worden — Forderungen an den Bürger entfallen. Eine Zeitlang halten Euphorie und gegenseitige Freundlichkeit von Bürgern und Politikern an. Früher aber als von man-9 chen Politikern angenommen, zeigt „der demokratische Untertan" seinen Unmut. Er überträgt die staatliche Ausgaben-und Redepolitik auf seine unmittelbare Umwelt in Beruf und Familie und er bilanziert negativ. — Die Union aus CDU und CSU muß den Mut haben, unpopuläre Forderungen zu stellen, auch auf die Gefahr hin, daß vorübergehend kleine und kleinste Wählergruppen abtrünnig werden. Sie muß den noch nicht sehr populären Pflichtenkatalog des demokratischen Bürgers mit Inhalt füllen. Klare Stellungnahmen zu den Themenkreisen Umwelt, Bildung, Landesverteidigung und Sozialarbeit sind überfällig. In der kollektiven Arenastimmung der öffentlichen Meinung ist es zwar seit geraumer Zeit üblich, Sündenböcke auszumachen. Dabei werden kleine und größere Gruppen wechselseitig angeschuldigt — ein Verfahren, das um nichts redlicher ist als das andere Extrem, die Vorgaukelung einer heilen Welt. In ihrer Mehrheit weiß die Bevölkerung, daß ohne Konsumverzicht und ohne eigene Mithilfe die nächsten Jahrzehnte nicht zu bewältigen sind. Der Gemeinsinn beim Bürger für umfassende Großaufgaben wird aber nur aktiv werden, wenn der Bürger mit einer realitätsnahen und verstehbaren Politik und mit Politikern konfrontiert wird, die ihre Zielprojektionen glaubwürdig vertreten können. Es ist falsch, anzunehmen, daß nach zwei verlorenen Kriegen, „reeducation" und öffentlich verordneter Staatsverdrossenheit die Bereitschaft des Bürgers verschüttet wäre, für einsichtig gemachte Ziele auch große materielle Opfer zu bringen. Dies gilt auch für das heikle Beispiel der Eigentumspolitik. Gerade aber die Union könnte glaubwürdig die Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums in den Vordergrund stellen mit dem Hinweis darauf, daß ihre Politik nach 1949 gegen den Willen der damaligen Opposition das private Eigentum an die Spitze der Förderung gestellt hatte. Die Sozialdemokratie wird bei dieser Frage immer mit der Hypothek ihrer Vergangenheit belastet sein. — Berufliche Mobilität, politische Entscheidungen und gesellschaftlicher Wandel sind nicht voneinander zu trennen. Wer als Politiker sich aber fatalistisch mit diesem Satz zufrieden gibt, vernachlässigt die soziale Sorgepflicht entsprechend Art. 20 GG. Durch strukturelle Krisen und — oft in Verbindung damit -öffentliche Schelte sind einige Berufsgruppen in den letzten Jahren in ihrer Position verunsichert worden, zum Beispiel Bauern, Lehrer, Polizisten und Soldaten. Quer durch alle sozialen Gruppen sind es aber vor allen Dingen die Eltern, die durch eine offiziell als modern deklarierte Pädagogik in brutale Ratlosigkeit gedrängt wurden. Die CDU/CSU ist aufgrund ihrer politischen Herkunft verpflichtet, auf Auswüchse hinzuweisen, die in modischer Perversion des Inhalts mit dem Begriff „demokratisch" verziert werden. Auch das ist „konservativ": Nicht jede intellektuelle Mode mitzumachen und besonders nicht tatenlos daneben zu stehen, wenn Schwarmgeister psychische Brutalität anwenden und jeder Andersdenkende zum Beschuß freigegeben wird. — Das Verhältnis des Konservativen zur öffentlichen Meinung ist nie spannungsfrei gewesen. Die Union soll auch nicht danach streben, rasch welkende Presselorbeeren anzustreben. Das böse Wort von der „Hofbericht-erstattung“ und von der „Papageienpresse" geht seit dem Antritt der SPD/FDP-Regierung um — und es fällt beim Blick in Zeitungen und Magazinsendungen schwer, diese Vorwürfe zu entkräften. Einige Leitartikler und Kommentatoren arbeiten mit Hingabe daran, jeden konsequent lächerlich zu machen, der sich für Regierungs-und Verwaltungsaufgaben zur Verfügung stellt. Hier werden Witzdien ä la „Plisch und Plum" produziert, hier werden Vornamen verballhornt, um die Personen zu treffen. Bedenklicher sind Anzeichen einer doppelten Moral in der öffentlichen Meinung zu bewerten: Die publizistische Veröffentlichung der amerikanischen Geheimpapiere zum Vietnamkrieg wird als „Sieg der Demokratie“ gefeiert, die vorzeitige Publizierung der Berlin-Papiere gilt als „Brunnenvergiftung“ und „Amoklauf der Opposition"; die Reisen von Politikern nach Griechenland und Persien wer-B den „gerade noch geduldet", Reisen in den Ostblock werden als „staatsmännische und politisch notwendige“ Großtat gefeiert. — Die konservative Komponente der Union muß dem einseitigen Hinken in der öffentlichen Meinung begegnen, muß auf den blinden Fleck bei nicht wenigen Publizisten hinweisen, und zwar durch schonungslose Präsentation von — auch unangenehmen — Tatsachen, nicht aber durch ebenso einseitige Polemik. — In einem sozialen Rechtsstaat „konservativ" zu sein, heißt, die bereits errungenen Freiheiten zu sichern und sie nicht wegen Zukunftsvisionen zu opfern. Wer mehr fordert, als im Augenblick erreichbar ist, gefährdet die vorhandenen Freiheiten und ruft die Reaktion auf den Plan. Freiheit, Augenmaß und Verantwortung bedingen einander. — Der Konservatismus der Union ist ein Prinzip für politisches Handeln — nicht weniger, aber auch nicht mehr. Je mehr die politischen und sozialen Erfahrungen des Bürgers eingeebnet werden, desto mehr ist der Integrationswert des Konservativen notwendig. Als Handlungsregel bietet der Konservatismus eine Richtschnur, die in der Tat nicht „modern“ ist und auf den ersten Blick der Fortschrittsgesellschaft inkonform erscheinen muß. Zieht man aber als Vergleich die kybernetische Wissenschaft heran, dann ist eben nur das Relais außerhalb des Systems imstande, das System zu lenken und zu gestalten.

Pluralismus und Integration sind zu Begriffen geworden, die sich ergänzen, wobei die Integration eine Funktionsbeschreibung des Pluralismus ist. Hier liegt eine Basis der zukünftigen gesellschaftspolitischen Arbeit der Union. In diesem Sinne soll sie es sich gefallen lassen, „konservativ" genannt zu werden. Wer das Prinzip „Pluralismus" zum ausschließlichen Selbstzweck macht, versagt bei der Antwort auf die Frage: Was geschieht in und mit diesem Pluralismus? Gerade hier weichen Sozialdemokraten und Liberale beständig aus. Ein funktional und instrumental gehandhabter Konservatismus in der Union verhindert überdies auch, daß mit dem Anspruch „konservativ" eigene peinliche Mittelmäßigkeit und Handlungsuntätigkeit zugedeckt werden. Nur so wird sich die Union noch stärker als bisher als Volkspartei verdeutlichen und neue Wählergruppen anziehen können.

Pluralismus als Strukturprinzip

Organisatorisches Substrat der Selbsteinschätzung der CDU als einer Volkspartei ist der Pluralismus als Strukturprinzip, der sich in nahezu allen Bereichen des Organisationskomplexes der Union nachweisen läßt. Dies beginnt damit, daß die CDU in Bayern nicht vertreten ist und dort die CSU als organisatorisch selbständige Formation operiert. Für das Verständnis der Entscheidungsprozesse in der Union ist zweitens der Dualismus zwischen der zentralen Ebene und den Landesverbänden bedeutsam. Erhebliche Auswirkungen auf die konkrete Politik der Opposition in Bonn hat als dritter Dualismus das Verhältnis von Partei und Fraktion, dessen strukturelle Aspekte in der bisherigen Führungsdebatte meistens zu wenig beachtet werden. Aufmerksamkeit schließlich verdient viertens der Dualismus von Partei und den Vereinigungen der Partei, der sich wesentlich auf Programmatik und Personalpolitik auswirkt.

Darüber hinaus gibt es eine Fülle von weiteren Dualismen, vor allem auf der horizontalen Ebene; so der Dualismus von Sozialausschüssen und Wirtschaftsrat, deren lang andauernde Fehde die Schwierigkeiten signalisiert, Interessengegensätze in einer Volkspartei durch Kompromisse zu überbrücken. Diese Polarisierung hat dazu geführt, daß der Einfluß zweier weiterer formierter Interessengruppen im sozio-ökonomischen Sektor, der Mittelstands11 Vereinigung und der auf Bundes-, vor allem aber auf Landesebene mächtigen Agrarausschüsse als Fachausschüsse der Partei, weithin unterschätzt wird. Ebenfalls eher personalpolitische und programmatische Auswirkungen als Konsequenzen auf die konkrete Tagespolitik hat der Dualismus zwischen der CDU und ihrer Jugendorganisation, der Jungen Union.

Charakteristisch für die Union ist nicht die Zahl und nicht die Spannbreite der Dualismen, denn die Mehrzahl läßt sich auch bei der Nach-Godesberger-SPD nachweisen, sondern vielmehr, daß diese Dualismen institutionalisiert wurden. Auf diese Weise wurden Mechanismen der innerparteilichen Konfrontation und Diskussion mit spezifischen, begrenzten Konfliktbereichen geschaffen, die es Gruppen mit spezifischen Interessen außerhalb der CDU erlauben, sich mit den Zielen der jeweiligen Gruppierungen innerhalb der Partei zu identifizieren, ohne die gewünschte Distanz zur CDU insgesamt zu verlieren. Eine Konsequenz dieses Organisationsprinzips ist, daß die vollberechtigte Mitgliedschaft in den Vereinigungen der Partei nicht an die Mitgliedschaft der Partei gebunden ist und auch umgekehrt der Erwerb der Parteimitgliedschaft nicht die Organisationspflicht in Vereinigungen bedeutet.

Indem die Partei eine Vielzahl von dualistischen Regelmechanismen in ihre Struktur einbaute, ist es ihr gelungen, die Kriegsschauplätze der Interessenauseinandersetzungen zu begrenzen und die Konflikte an den vorgezeichneten Organisationslinien entlanglaufen zu lassen. Dieses Unternehmen war in dem Maß erfolgreich, wie auf ein in sich geschlossenes ideologisches Konzept verzichtet werden konnte. Solange eine Autorität ausströmende, charismatische und außerdem mit allen Finessen der politischen Taktik vertraute Führungspersönlichkeit wie Adenauer die Funktionen des Regierungschefs mit denen des Parteivorsitzenden vereinigte, fiel dieser Verzicht nicht schwer. Der Verzicht fiel der Partei weitgehend gar nicht auf, weil die Konservierung der Macht eine alle Dualismen in der Partei überbrückende Klammer war. Diese Klammer funktionierte auch noch unter Erhard und Kie. Singer, solange die CDU Regierungspartei war und der Parteichef seine Autorität aus dem Amt des Regierungschefs schöpfen konnte. Auch die Partei schöpfte ihr Selbstbewußtsein aus ihrem Status als Regierungspartei; ein organisationsspezifisches Eigenbewußtsein konnte erst dann entstehen, als Partei und Regierung auseinanderfielen.

Das Selbstbewußtsein der CDU als Partei begann sich seit dem Herbst 1969 weiter zu entwickeln und wurde durch die ersten Signale der Führungskrise gefördert. Die Resignation der Führungsspitze in den Wochen vor und nach der Regierungsbildung nach den euphorischen Erklärungen in der Wahlnacht enttäuschte große Teile der Partei deshalb, weil die Mobilisierung der Partei im Wahlkampf den Erfolg hatte, daß die Union als stärkste Fraktion in den Bundestag einziehen konnte und sie die absolute Mehrheit nur um einige hunderttausend Stimmen verfehlte. Mit dem Hinweis auf die Euphorie der Wahlnacht wurde der Parteiführung vorgeworfen, die Gefahr des Bündnisses gegen die CDU im Wahlkampf unterschätzt und die Möglichkeit, ohne absolute Mehrheit die Regierungsverantwortung zu behalten, überschätzt zu haben. In der Wahlnacht 1969 nahm die CDU endgültig Abschied von einem Selbstbild, nach dem die Partei eine treue Magd der jeweiligen Führungsspitze sei, nur berufen, in regelmäßigen Abständen Wahlen zum Ruhm und zur Ehre ihrer Führung zu gewinnen. Dieses neue Selbstbewußtsein dokumentierte sich in den intensiven programmatischen Debatten in allen Gliederungen, die dem Berliner und Düsseldorfer Parteitag vorangingen, und in den vergangenen Monaten in der Personaldebatte. Der Verlauf der Debatte auf dem Düsseldorfer Parteitag ist charakteristisch für das neue Eigenwertgefühl der Partei: In einer Fülle von Sachfragen wich der Parteitag von der Vorlage des Bundesvorstandes ab, der seiner traditionellen Aufgabe gemäß versucht hatte, strittige Fragen durch mehr oder weniger vage Kompromißformulierungen vorweg zu klären. Zum Autoritätsverlust der Spitzengremien trugen deren Mitglieder selbst bei, indem sie die Tragunfähigkeit der dort beschlossenen Kompromisse dadurch entlarvten, daß sie sich selbst nicht an die Gremienbe-schlüsse hielten. Vor allem der Mitbestimmungsbeschluß und die Strategie der Sozialausschüsse, die diesen Beschluß baldmöglichst revidiert sehen wollen, verdeutlichen, daß das Instrumentarium der innerparteilichen Konfliktregelung nicht mehr so reibungslos wie in früheren Jahren funktionierte. Selbst das wichtigste Konstruktionsmerkmal der Spitzengremien aller Organisationsstufen, die Exponenten der Interessengruppierungen auf der jeweils höchsten Ebene in einem integrierten Gremium zu vereinigen, garantiert nicht länger das Funktionieren der Überbrückungsmechanismen.

Aber nicht nur im Bereich der Interessengruppen sind die Einflußmöglichkeiten der Amts-autoritäten unkalkulierbarer geworden, sondern in stärkerem Maße auch für die Partei selbst. Auf allen Ebenen der Partei haben die jeweiligen Basen ein früher kaum denkbares Selbstbewußtsein gegenüber den Amtsträgern gewonnen. Deutlich spürbar ist dies auf den unteren Organisationsebenen der Partei, in den Orts-und Kreisverbänden. Häufigere Anwesenheit bei Parteiversammlungen, Gruppen-initiativen ohne oder gegen das jeweilige Establishment, Umfrageaktionen, heftige Personalkritik sind Bestandteile des Parteilebens geworden. Wichtigster Bestandteil dieser neuen Entwicklung ist das Streben der Parteimitglieder, unmittelbaren Einfluß auf die Politik der Partei in den Vertretungskörperschaften auf allen Ebenen zu bekommen.

Mehr Effizienz contra mehr Beteiligung?

Der Dualismus Partei und Fraktion ist überall diagnostizierbar. Er ist keineswegs auf die Bundesebene beschränkt, obwohl er dort wegen der Ämtertrennung von Parteivorsitzendem und Fraktionsvorsitzendem besonders auffällig ist. Die Rivalität zwischen Partei und Fraktion beruht auf dem Fraktionsmonopol der Politikformulierung, mit dem sich die Partei nicht länger abfinden will. Verschärft wird diese Rivalität durch die Differenz der Perspektiven. Der höhere Informationsstandard der Parlamentarier, die Hautnähe zum politischen Gegner, kollidiert mit dem Drang der nichtparlamentarischen Parteipolitiker nach Formulierung und Einhaltung der „reinen Lehre", mit ihrem Wunsch, programmatische oder sachpolitische Zielprojektionen ohne taktische Zugeständnisse an den Gegner verwirklicht zu sehen. Taktische Erfordernisse werden von ihnen meist nur als Mittel der innerparteilichen Auseinandersetzung verstanden.

Die unterschiedliche Stoßrichtung der politischen Aktivitäten führt zu nuanciert unterschiedlichen Zielprojektionen und Sichtweiten, wie sie sich in der CDU zwischen den stärker partei-oder stärker fraktionsorientierten Gruppierungen an der heftig umstrittenen Frage verdeutlichen, welche programmatischen Zielsetzungen wann und in welcher Form in parlamentarische Initiativen umgesetzt werden sollen. Das Spannungsverhältnis zwischen der Mitwirkung der Parteien an der politischen Willensbildung und der Unabhängigkeit des Parlamentariers wurde für die CDU erst in der Opposition virulent. Heute wird das Bestreben der Partei nach mehr Einfluß auf die Formulierung der Oppositionspolitik konfrontiert mit der Befürchtung der Fraktion, zum Erfüllungsgehilfen der Partei herabgestuft zu werden.

Die funktionale Konkurrenz von Partei und Fraktion bewirkt eine Rivalität der Apparate. Nach dem Auszug aus der Regierung bemühten sich sowohl Partei wie Fraktion um einen Ausbau ihrer Apparate, um zumindest die notwendigen Hilfsmittel für die Formulierung der Politik nach dem Wegfall der Regierungsapparatur zur Verfügung zu haben. Verschärft wird die Apparat-Rivalität durch das unter-13 schiedliche Maß an finanziellen Ressourcen. Während die Partei finanziell hart am Rande der Zahlungsunfähigkeit vorbeitrudelt, besitzt die Fraktion eine größere finanzielle Flexibilität.

Nadi zwei Jahren Opposition bietet die Union das Bild einer komplexen Organisation mit einer Vielzahl autonomiebestrebter Subsysteme und spezialisierten Schaltzentren, die in ihren Sektoren überwiegend effizient arbeiten, deren sektoral spezialisierte Wirksamkeit jedoch deshalb übersehen wird, weil entscheidungsfähige Spitzengremien fehlen. Dies dürfte der Grund dafür sein, daß die produktiven Möglichkeiten der pluralistischen Organisationsstruktur nicht genutzt werden können und deren desintegrierenden Effekte zur Zeit zu dominieren scheinen.

Die CDU benötigt eine Erneuerung ihrer Struktur nach den Gesichtspunkten „mehr Beteiligung" und „mehr Effizienz". Diese beiden Maximen scheinen einander zu widersprechen, weil Effizienz zumeist als Synonym zu „Schlagkraft" benutzt wird und demokratische Organisationsstrukturen in der Regel alles andere als schlagkräftig sind. Dieser Widerspruch kann aufgelöst werden, indem eine Arbeitsteilung zwischen Basis und Führung definiert wird. Wichtigste Aufgabe der Politik ist die Formulierung der politischen Marschrichtung, d. h. die programmatische Zieldefinition. Diese Aufgabe der politischen Willensbildung kann der Mitgliedschaft, der Basis der Partei, von keinem übergeordneten Gremium streitig gemacht oder auch abgenommen werden. Mit ihren Programmdiskussionen vor und in Berlin und Düsseldorf hat die Mitgliedschaft der CDU gezeigt, daß sie dazu in der Lage und gewillt ist, die politische Zieldefinition von der Basis her zu leisten. Die wichtigste Aufgabe der politischen Führung besteht darin, die Programmatik zu realisieren, umzugießen in konkrete Politik. Dazu gehört Gesprächsbereitschaft, Führungsfähigkeit, Innovationsoffenheit und die Qualifikation, Informationen ordnen und benutzen zu können. Wenn die Führung aus verirrtem Selbstverständnis und mangelnder Entscheidungsfähigkeit nicht in der Lage ist, die politischen Zielprojektionen durch konkrete Aktionen anzugehen, dann verfehlt sie nicht nur ihre Aufgabe, sondern wird mittelfristig zum lähmenden Faktor der Partei. Allerdings gehören zur Fähigkeit, Programmatik zu realisieren, auch Möglichkeiten der Exekution der dazu notwendigen Maßnahmen. Wenn die CDU-Spitze beispielsweise eine großangelegte Aufklärungsaktion zur Deutschland-und Ostpolitik beschließt und nicht über die Mittel verfügt, die Exekution dieses Beschlusses durch die unteren Parteigliederungen zu gewährleisten, dann erweist sie sich nicht nur als führungsunfähig und autoritätsarm, sondern verdeutlicht damit eine strukturelle Schwäche der Partei. Deshalb müssen die Organisationsstrukturen der Union unter den Gesichtspunkten „mehr Beteiligung" von unten nach oben und „mehr Effizienz" von oben nach unten reformiert werden.

Die programmatische Autonomie der unteren Parteigliederungen und die exekutive Autonomie der oberen Parteigliederungen müssen verstärkt werden, um Geschlossenheit der Partei im Programm und in konkreter Politik zu erreichen. Dies wird nur schwer möglich sein, wenn es nicht gelingt, das Schwergewicht der Interessendualismen von den oberen auf die unteren Organisationsebenen zu verlagern und den desintegrativen Wirkungen der Funktionsdualismen durch neue integrative Elemente zu begegnen.

Die Hauptkriegsschauplätze der Interessen-gruppierungen liegen heute vor allem auf der oberen Organisationsstufe der Partei. Dort wird versucht, konkrete politische Initiativen und Aktionen durchzusetzen oder zu verhindern. Die Führungsgremien der Partei oder spezifische Koordinierungsgremien — wie es sie beispielsweise zwischen Sozialausschüssen und Wirtschaftsrat gibt — funktionieren nicht, weil sie an der dafür ungeeignetsten Stelle programmatische Gegensätze sozusagen unter Ausschluß der Parteiöffentlichkeit überbrücken sollen.

Mehr Sachverstand

Der adäquate Platz der Interessenkonfrontation ist deshalb die Basis, sind die unteren Parteigliederungen. Je höher die Organisationsstufe, desto mehr geht es darum, die Pro-grammatik in konkrete Initiativen umzusetzen, desto bedeutsamer wird der Sachverstand. Deshalb muß den Fachausschüssen der Partei auf Bundesebene eine neue Bedeutsamkeit zugemessen werden. Nach der geltenden Satzung der CDU dienen die Bundesfachausschüsse dem Bundesvorstand als Beratungsinstrumente. Der Generalsekretär beruft die Mitglieder auf Vorschlag der Landesverbände. Die Landesverbände betrachten die Mitgliedschaft in den Fachausschüssen zu Unrecht — gemessen am Output dieser Ausschüsse — als eine Ehre und nominieren nicht selten anderswo schlecht verwendbare Honoratioren. Den Führungsgremien der Partei ist die in der Regel mangelnde Produktivität der Fachausschüsse nicht entgangen; sie bedienen sich ihrer nur in wenigen Ausnahmefällen. Das heißt, daß der Bundesvorstand und das Präsidium der CDU bei Diskussion und Beschlußfassung über Sachfragen in der Regel darauf verzichten, sich den Sachverstand nutzbar zu machen, der in einer Partei mit rund 350 000 Mitgliedern steckt. Es müßte also überlegt werden, wie der Sachverstand institutionell von der Parteiführung genutzt werden könnte.

Dazu bietet sich das Institut der Konsultationspflicht an, das allerdings nur dann sinnvoll ist, wenn die Bundesfachausschüsse ihrer Honoratioren entledigt werden. Dies läßt sich am leichtesten durch ein Vorschlagsrecht des Bundesvorstandes für die Mitgliedschaft in Fachausschüssen erreichen, wobei den Landesverbänden bei Kandidaten aus ihrem Land eventuell ein suspensives Veto eingeräumt werden könnte. Auf diese Weise könnte erreicht werden, daß sich die Spitzengremien der Partei bei Sachfragen des Rates von Sachverständigen ihrer Wahl bedienen müßten. Dabei wird natürlich keineswegs ausgeschlossen, daß auch Exponenten von Interessengruppen Mitglieder von Fachausschüssen sein können; denn Interessenorientierung und Sachverstand sind keine Antagonismen. Ausgeschlossen werden sollen Interessenorientierung ohne Sachverstand und Sachverstand ohne Interesse an einem zeitraubenden Engagement. Durch eine solche Reform des Ausschußwesens auf Bundesebene würde erreicht, daß die Parteiführung, von programmatischem Ballast befreit, sich stärker mit konkret politischen Fragen beschäftigen könnte und zu Entscheidungen befähigt würde, die den Sachverstand hinter sich haben.

Führungs-und Leitungsmethoden haben einen unmittelbaren Einfluß auf Gegenstand und Inhalt von Entscheidungen; mangelhafte Führungsmethoden können gefährliche politische Irrtümer zur Folge haben. Die Führungsmethoden der CDU-Spitze wirken oft handgestrickt. Die Spitzengremien lassen sich in der Regel die Gegenstände für Entscheidungen von der aktuellen politischen Diskussion benennen, für die wiederum die Regierung die thematischen Schwerpunkte setzen kann. Das bedeutet, daß in den Spitzengremien der Bundestagsparteien in der Regel die gleichen Gegenstände erörtert werden — mit den entscheidenden Unterschieden, daß die Oppositionsspitze erstens zeitlich hinter der Regierung zurück und zweitens auf einem geringeren Informationsniveau debattiert

Dies ist den Spitzenpolitikern der Union mitlerweile bewußt geworden. Mehrfach wurde deshalb der Versuch unternommen, Gegenstände eigener Wahl in den Vordergrund der politischen Diskussion zu rücken. Sowohl in einer für die Bundesregierung ungünstigen Phase der Ostpolitik wie auch im Bereich der Eigentumspolitik und Rentenpolitik ist dies geschehen, allerdings nicht mit durchschlagendem Erfolg. Gründe dieser Mißerfolge sind nicht nur der Mangel an Exekutionsmitteln und an gründlicher Vorarbeit, sondern auch eine Fehleinschätzung der von der politischen Öffentlichkeit und der Parteibasis gewünschten Fragestellungen. Die Parteispitze unterließ es manchmal, sich über die an ihrer politischen Basis erörterten Fragestellun15 gen zu unterrichten. Diese Unterrichtung kann nicht durch eine noch so gründliche Lektüre von Zeitungen oder durch gelegentliche Auftritte an der Basis ersetzt werden. Der CDU-Führung fehlen Informationskanäle zur Basis. Die Informationen, die sie von der Basis erreichen, sind in der Regel durch zahlreiche innerparteiliche Instanzen gefiltert, vor allem durch die Landesverbände.

Die Informationsproblematik kann nicht durch eine Eliminierung der Zwischenstufen, der Landesverbände, gelöst werden. Vielmehr müßte sich die Parteiführung ein sensibles Instrumentarium schaffen, das ihr die notwendigen Daten liefert, um nicht an den aktuellen Bedürfnissen der Basis vorbei zu operieren. Auf der anderen Seite muß sie ein Instrumentarium an die Hand bekommen, um für die Partei verbindliche Daten setzen zu können. Der 32köpfige Bundesvorstand ist als Führungsorgan dazu selbst nicht in der Lage. Der Parteitag ist dazu zu groß und tritt zu selten zusammen.

Die Doppelaufgabe, der Parteiführung Daten von der Basis zu liefern und Daten der Parteiführung an die Basis weiterzugeben, müßte ein Gremium leisten, über das die Partei auch schon heute verfügt, das allerdings nicht funktioniert. Der Bundesausschuß, der zwischen den Parteitagen deren Aufgaben wahrnimmt, ist eines der traurigsten Kapitel der Union. Er setzt sich aus rund 100 Persönlichkeiten, die von den Landesverbänden zumeist nach dem Prinzip der Ancienität und Honorigkeit entsandt werden, zusammen und führt jährlich drei Sitzungen durch, weil es die Satzung vorschreibt. Effizienz und Produktivität sind nicht erkennbar. Das Niveau der Diskussion bleibt weit hinter dem der Parteitagsdebatten und selbst hinter dem mancher politischen Stammtische zurück. Eine Erhöhung der Bedeutsamkeit dieses potentiell mächtigen Gremiums könnte nur durch eine Veränderung der Konstruktion erreicht werden. Es müßte dafür Sorge getragen werden, daß die Kreisverbände in diesem Gremium ein gemeinsames Forum mit der Parteiführung erhalten, indem sie ihre Vertreter in den Bundesausschuß ent.senden. Auf diese Weise könnte die Abhängigkeit sowohl der Basis wie auch der Spitze von den Landesverbänden verringert werden ohne Wirksamkeit und Bedeutung der mittleren Ebene in ihrer Essenz zu berühren.

Kompliziert ist das Verhältnis der beiden Unionsparteien zueinander. Den Vorschlag ernsthaft zu diskutieren, die CSU der CDU als bayerischen Landesverband angliedern zu wollen, ginge an den politischen Realitäten und Möglichkeiten weit vorbei und würde den Dualismus vielleicht nicht einmal aufheben. Dennoch müssen CDU und CSU versuchen, sich neue integrative Instrumente zu schaffen. Die Fraktion und der Fraktionsvorstand reichen dazu offensichtlich nicht aus. Eher funktionieren noch die Kanäle zwischen den Apparaten der CDU-Bundesgeschäftsstelle und der CSU-Landesleitung in ihren jeweiligen Aufgabenbereichen als Koordinationsmechanismen. Auf die Dauer jedenfalls wird es sich die Union nicht leisten können, in einzelnen wichtigen Fragen vorübergehend keine gemeinsamen Zwischenziele anzusteuern, wie es in den letzten Monaten der Fall war. Da die Formulierung einer einheitlichen Linie in der Fraktion offenbar undurchführbar ist, wird geprüft werden müssen, ob beispielsweise im Bundesvorstand oder im Präsidium der CDU durch ständige Gäste der CSU und umgekehrt eine solche Abstimmung möglich ist oder ob ein spezifisches Koordinierungsgremium zur Spitzenebene geschaffen werden muß. Nicht erreichbar und nicht wünschenswert ist eine Koordinierung in den Details. Eine Politik des nuancierten Unterschiedes gehört zur Arbeitsteilung zwischen CDU und CSU; sie ist nicht nur gewollt, sondern ergibt sich aus unterschiedlichen Strukturen und unterschiedlichen Aktionsfeldern der beiden Parteien.

Partei contra Fraktion?

Der Dualismus zwischen Partei und Fraktion ist funktional bedingt und wurde in den letzten beiden Jahren personell verstärkt. Dem Fraktionsvorsitzenden gelang es sehr rasch, sich als Oppositionsführer zu präsentieren, der die Politik des wichtigsten Instruments der Opposition, der Fraktion, koordiniert und in seiner Person repräsentiert. Dem Ex-Bundeskanzler als Parteivorsitzenden bleibt meist nur die Möglichkeit, die Politik des Fraktionsvorsitzenden nachträglich als Politik der CDU abzusegnen. Diese Konkurrenz zwischen Fraktionsund Parteivorsitz, in deren Fahrwasser auch die beiden Apparate miteinander konkurrierten, nährt sich aus der Chancenungleichheit der beiden Spitzenpolitiker, Entscheidungen zu treffen und durchführen zu lassen. Die funktionale Rivalität, nämlich die unterschiedliche Definition der Funktionen, die dem jeweils anderen Organisationskörper beigemessen werden, wird auch dann bestehen bleiben, wenn die personelle Rivalität auf dem Saarbrücker Parteitag aufgehoben würde, denn die Rivalität an der Spitze ist nur ein Teil der Rivalität der beiden Organisationen. Sie wirkt sich auf den politischen Alltag dadurch besonders stark aus, daß die sachbezogenen Arbeitskreise der Fraktion mit den Fachausschüssen der Partei konkurrieren. Es ist fraglich, ob diese Rivalität überbrückt werden kann, solange die CDU in der Opposition ist. Dies ändert allerdings nichts an der Notwendigkeit des Versuchs, neue Koordinierungsmechanismen zu erfinden.

Regelmäßige gemeinsame Tagungen von Fraktions-Arbeitskreisen und neu strukturierten Bundesfachausschüssen der Partei mit gegenseitiger Informations-und Konsultationspflicht wären das am ehesten denkbare und realisierbare Instrument zur gegenseitigen Abstimmung der politischen Route.

Die notwendige Planung

Planung in der Politik ist notwendig, und es gibt in der Union niemanden, der die Vorteile einer abgesicherten mittel-und langfristigen Planung leugnet. Bundesgeschäftsstelle und Fraktion müssen in weiten Bereichen nach Methoden geleitet und verwaltet werden, die mit der Praxis des Wirtschaftsmanagements vergleichbar sind. Hier besteht ein eindeutiger Nachholbedarf bei der Union. Dennoch ist dringend zu warnen vor der Planungs-Euphorie, der die amtierende Bundesregierung aufgesessen ist: jener Verbindung aus Wissenschaftsgläubigkeit, Zahlenspektakel und blanker Scharlatanerie, die im Zuge der allgemeinen Reformbegeisterung einige Millionen Steuergelder und Mitgliedsbeiträge verschlungen haben. Die so entstandenen Arbeiten sind in Pop und Pep aufgemacht und mit Trivialitäten angereichert, zitieren Zustimmungsvokabeln wie Integration, Kommunikation und Transparenz und werden von nicht wenigen Politikern für Realität gehalten: eine Mischung aus einem mechanistischen Gesellschaftsbild und chicer Fortschrittsgläubigkeit.

Die Union hat sich bislang von diesem politischen Show-business freihalten können und sollte auch in Zukunft darauf verzichten. Die Kritik an diesen intellektuell-ineffizienten Ple-nungsspielwiesen kann aber nicht von denjenigen aufgenommen werden, die beim Ausdruck Planung bereits „kommunistische Infiltration" erkennen wollen und traditionellen Arbeitsund Entscheidungsmethoden ausschließlich das Wort reden.

Eine Partei der politischen Mitte wie die CDU/CSU hat in diesem Jahrzehnt die große Chance, die Qualität der Vorbereitung von Entscheidungen zu verbessern und ihre politischen Aktionen für Mandatsträger, Mitglieder und Wähler zu rationalisieren. Die Union braucht ein Planungsinstitut, in dem Wissen-

schaftler und Praktiker an konkreten Teilaufgaben des mittelfristigen und langfristigen Programms arbeiten und mit Alternativen Entscheidungen vorbereiten, aber nicht die Entscheidungen fällen. Dem gewählten Volksvertreter, und nur ihm, bleibt die Entscheidung Vorbehalten. Die politische Planung darf für den Politiker nicht die Fluchtmöglichkeit aus der Verantwortung bieten.

Das zu gründende Institut für politische Planung sollte von Partei und Fraktion gemeinsam getragen werden und kann bestehende Planungskreise integrieren. Bei einem Regierungswechsel verfügt die Union dann in den Mitarbeitern ihres Planungsinstituts über ein breites Reservoir an Referenten, Beamten und Beratern. Dieses Konzept umschließt der mehrdeutige amerikanische Begriff einer „Government-Administration", die die Ziel-Mittel-Zuordnung nie vergißt. Wichtige Ansätze in diese Richtung haben der Fraktionsvorsitzende, Dr. Rainer Barzel, und der Bundesgeschäftsführer, Dr. Rüdiger Göb, für Fraktion und Bundesgeschäftsstelle gemacht; mehrere kleine Gruppen und Planungsstäbe kommen sporadisch zusammen.

Das Planungsinstitut der Union soll „Standing groups" berufen, in denen Kleinst-Quer. schnitte unserer Gesellschaft zu projektbezogener Arbeit zusammenkommen. Die Basis der Beratungsgruppen wird ständig erweitert und bleibt nicht ausschließlich auf die politische Ebene in Bonn beschränkt.

Manfred Wörner forderte vor Jahresfrist: „Politik, wenn sie einen Sinn haben soll, muß mehr sein als ein zufälliges Handeln; sie muß sich ausrichten an klaren gesellschaftlichen Zielvorstellungen. Ich muß wissen, wie die Welt von morgen aussehen soll, wenn ich danach mein Handeln ausrichten will."

Nach dem Regierungsantritt der kleinen Koalition haben viele CDU/CSU-Mitglieder und „Nahestehende" Zusagen für aktive Mitarbeit gegeben, einige von ihnen haben diese Absicht nicht nur aus kurzlebiger Spontaneität geäußert; sie warten darauf, angesprochen und „gefordert" zu werden.

Reform des Apparates

Eine der wichtigsten Aufgaben für die neue Parteispitze wird die Reform und der Ausbau des Apparates sein, der in den Regierungsjahrzehnten der Partei immer als eine quan-tite negligeable betrachtet wurde. Seitdem die CDU die Oppositionsbänke drückt, entstand zum erstenmal so etwas wie Apparatbewußtsein in den Führungszirkeln der Union. Die Nichtverfügbarkeit der Regierungsapparatur zwang dazu, den Apparat der Partei zusammen mit dem Stab der Fraktion als rudimentären Ersatz für den Regierungsapparat zu betrachten. Es wurde ein neuer Bundesgeschäftsführer eingestellt, der sich der Parteiführung weniger durch politische Ambitionen als durch Erfahrungen und Engagement im Geschäft des politischen Managements empfahl. Es wurde begonnen, zusätzliches qualifiziertes Personal zu gewinnen, neue Methoden des politischen Managements — wie team-work, brain-storm-ing, Delegationsprinzip u. ä. — einzuführen und neue Aufgabengebiete in Angriff zu nehmen. Der Apparat wurde neu gegliedert und eine erhebliche Verjüngung der Mitarbeiter verwirklicht.

Ausbau und Reform der Bundesgeschäftsstelle gerieten jedoch sehr bald ins Stocken. Gründe dafür waren einerseits die finanzielle Misere der Partei, die sich noch lähmender auf die Bundesgeschäftsstelle auswirkte als die Führungskrise, und andererseits der Führungsstil der Spitze, denn in der konkreten Arbeit des Alltags stellte sich sehr rasch heraus, daß die neuen Managementmethoden mit diesem nicht zu vereinbaren waren. Die Führung versorgte den Apparat nicht mit den für seine neuen Aufgabengebiete notwendigen Informationen. Die neue Parteiführung wird die Parteiapparatur wieder flott machen müssen; sie muß ihm jenes notwendige Maß an Eigenwertgefühl vermitteln, ohne daß der Apparat seinem Aufgabenkatalog nicht gerecht werden kann. Sie wird vor allem dafür Sorge tragen müssen, daß an die Initiativen und Projekte der ersten Oppositionsmonate wieder angeknüpft wird. Der CDU-Apparat verfügt über ein erstaunliches Maß an Leistungsfähigkeit, die allerdings von der Führung der Partei herausgeforder werden muß. Ohne Herausforderung unterliegt der Apparat den allen Apparaten eigenen Gesetzen der Trägheit. Die neue CDU-Führung muß sich insbesondere vier wesentlichen Aufgaben stellen: Erste Aufgabe wird es sein, im Apparat neue Informationskanäle zu schaffen, die sicherstellen, daß alle einzelnen Teile des Parteiapparates die für ihre Arbeit benötigten Informationen aus der Führung und aus den Untergliederungen der Par-tei erhalten. Zweitens werden neue Arbeitsund Führungsmethoden eingeführt werden müssen; vor allem sollten die Möglichkeiten der Arbeit in Projektgruppen genutzt werden, die den spezifischen Problemstellungen des politischen Managements eher angemessen sind. Drittens müssen im Apparat institutionelle Instrumente des politischen Vor-Denkens eingebaut werden. Eine längerfristige politische Planung findet bisher nicht statt. Ein außerhalb der hierarchischen Struktur des Apparates angesiedeltes Planungsinstrumentarium könnte dazu beitragen, die Arbeit der Partei systematischer zu planen und vorzubereiten und so die Effizienz der Parteiarbeit zu erhöhen. Schließlich wird die neue Parteiführung sich Gedanken über das Zusammenspiel der Apparate von Partei und Fraktion machen müssen. Dabei sollten sowohl Grundsätze der Arbeitsteilung und Arbeitsabgrenzung formuliert wie auch institutioneile Möglichkeiten für eine gemeinsame Bearbeitung bestimmter Fragenkomplexe ausfindig gemacht werden.

Reform der Finanzstruktur

Eines der unangenehmsten Probleme, die auf dem Tisch der neuen Parteiführung liegen, ohne daß eine Aussicht auf Lösung besteht, ist die katastrophale Finanzsituation der Bundespartei. Diese Frage ist aus zwei Gründen für die CDU von entscheidender Bedeutung. In ihr spiegelt sich einerseits die strukturelle Schwäche der Partei, und andererseits beeinträchtigt sie den Spielraum notwendiger und möglicher Aktivität der Union vor allem im Hinblick auf die kommenden Bundestagswahlen. Damit stellt sich die Frage nach der Chancengleichheit der beiden großen Parteien. Die Sozialdemokraten werden der CDU 1973 den härtesten und kostenintensivsten Wahlkampf in der Geschichte der Bundesrepublik aufzwingen. Die SPD befindet sich dabei in der denkbar günstigsten Ausgangsposition. Ihr stehen nicht nur die Instrumente der Regierungspropaganda zur Verfügung, die sie bis an die Grenze der Legalität für die parteipolitische Werbung ausnutzt und ausnutzen wird. Auch die Partei selbst besitzt dank ihrer langen Existenz, einer langfristigen und sorgfältigen Wirtschaftsführung und einer erstaunlichen Beitragsdisziplin eine überaus solide finanzielle Basis. Dagegen hatte sich die CDU in den Jahren ihrer Regierungszeit angewöhnt, finanziell von der Hand in den Mund zu leben. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1966 und nach dem Spendenrückgang seit 1970 treibt die CDU am Rande des Ruins, der durch den Neubau der unbedingt notwendigen Parteizentrale in bedrohliche Nähe rückte. 1971 z. B. stehen ihr weniger als 100 000 DM für Öffentlichkeitsarbeit zur Verfügung, während die Regierungsparteien im Rahmen der amtlichen und der parteipolitischen Propaganda Millionenbeträge investieren.

Charakteristisch ist ein weiterer Unterschied zwischen CDU und SPD. Während die Bundespartei der CDU nur 30 °/o der Gesamteinnahmen der Partei zur Verfügung hat, kann der Parteivorstand der SPD mehr als 45 ’/o der Gesamteinnahmen nach eigenem Gutdünken in politische Aktivitäten umsetzen. Diese Relationen sind ein weiterer Indikator für die vergleichsweise größere Macht der mittleren Ebene zu Lasten der Parteiführung in der CDU, während die SPD sehr viel stärker an der zentralen Ebene orientiert ist.

Da der Kreditplafond der CDU zeitweilig voll ausgeschöpft war und die Schuldenlast die Zehn-Millionen-Grenze zu überschreiten drohte, sind viele Projekte dem Rotstift des Sparkommissars zum Opfer gefallen. Mittlerweile ist auch der Umfang der laufenden Arbeit bedroht, denn die Sanierungsmaßnahmen der Parteiführung einschließlich einer Umlage der Landesverbände haben nicht zur Beilegung der Finanzkrise geführt. Dem Saarbrücker Parteitag wird dieses Thema nicht erspart bleiben können. Er wird nicht davon ausgehen können, daß diese Krise in absehbarer Zeit durc-h 1 eaiuneonn erneuten Spendenfluß beigelegt werden kann Die Sanierung der CDU-Bundespartei muß von der Partei selbst geleistet werden, indem die Struktur der Gesamtfinanzierung der Partei geändert wird und indem die Beitragsdisziplin der Parteimitglieder erhöht wird. Bisher ist es beispielsweise noch nie zu Zwangsmaßnahmen gegen säumige Beitragszahler gekommen, obwohl die Satzung mit dem vorübergehenden Verlust des Stimmrechts dazu eine sehr wirksame Sanktionsmöglichkeit gibt. Eine Neuverteilung der Gesamteinnahmen der Partei zu Lasten der Landesverbände und zugunsten der Bundespartei könnte nicht nur die Finanzlage der Zentrale konsolidieren, sie würde der Parteiführung außerdem zu einem jener Exekutionsinstrumente verhelfen, die ihr heute fehlen, um Beschlüsse und Entscheidungen durchsetzen zu können.

Führungsmodelle

Der Regenerationsprozeß der CDU in der Opposition scheint insgesamt also nur Etappenziele erreicht zu haben. Allerdings ist ein fundiertes Urteil hierüber nach zwei Jahren Opposition verfrüht. Dennoch kann als eine wichtige Ursache für den Mangel an durchgeführten Reformen in der Partei die Führungskrise diagnostiziert werden, deren Fernwirkungen seit Herbst 1969 in allen Teilen und Aufgabengebieten der Partei nachweisbar sind. Der Wettbewerb um die Spitzenpositionen Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur hat die Partei zwar nicht gespalten, führte jedoch dazu, daß bei allen Entscheidungen und Aktivitäten eine mögliche Parteinahme lür den einen oder anderen Kandidaten mit in Rechnung gestellt wurde. So vorteilhaft sich die Personaldebatte auf die Intensivierung der innerparteilichen Diskussion auswirkte, so unübersehbar auch positive PR-Effekte sind, indem die Debatte der politischen Öffentlichkeit eine ganze Reihe von Spitzenpolitikern der CDU als mögliche Kandidaten für die Führungspositionen in Partei und Staat präsentierte, so lähmend hat sich die Führungskrise auf die eigentliche Parteiarbeit ausgewirkt. Die neue CDU-Führung hat hier aufzuarbeiten.

Ein in der Führungsdiskussion vernachlässigter Aspekt ist die strukturelle Problematik der CDU-Führung. Bis 1969 war der Regierungschef stets Vorsitzender der CDU. Zum ersten-mal muß die CDU mit einem Kanzlerkandidaten in den Wahlkampf ziehen, der nicht Regierungschef ist. Zum erstenmal seit 1949 wird die CDU keinen Kanzlerwahlkampf führen können, sondern sie die Wahl haben, einen an einer Person, an mehreren Personen oder an der Partei orientierten Wahlkampf zu führen. Es ist heute noch nicht möglich, in Umrissen ein Wahlkampfkonzept der CDU zu skizzieren, weil das kommende Jahr noch erhebliche Überraschungen bringen kann und die Wahlkampfstrategie auf der aktuellen Politik basieren muß. Dies gibt den Delegierten des Saarbrücker Parteitages die Möglichkeit, unter mehreren Strukturmodellen für die Führung auswählen zu können.

Drei Modelle stehen zur Wahl: — Erstens die Personalunion der drei Spitzen-positionen Parteivorsitz, Kanzlerkandidatur und Fraktionsvorsitz, — zweitens als erste Variante der Funktionen-trennung: Fraktionsvorsitz/Kanzlerkandi-

datur in eine Hand, Parteivorsitz in eine andere und theorethisch — drittens als zweite Variante der Funktionentrennung: die Kombination Parteivor-

sitz und Kanzlerkandidatur, abgesetzt von der Funktion des Fraktionsvorsitzenden.

Weitere theoretische Möglichkeiten, wie etwa eine triale Führungsspitze oder den Fraktionsvorsitz mit Parteivorsitz zu kombinieren und die Kanzlerkandidatur hiervon abzusetzen, können außer Betracht bleiben, denn die Kanzlerkandidatur ist kein Amt, das mit Macht ausgestattet ist. Die Chancen der Kandidatur erhöhen sich, wenn deutlich wird, daß der von der Union nominierte Kanzlerkandidat auch sichtbar Nummer 1 der Partei ist. Deshalb benötigt der Kanzlerkandidat zumindest eines der beiden höchsten Ämter, die die Union zu vergeben hat.

In Saarbrücken muß also die Vorentscheidung zwischen Personalunion und dualem Führungsmodell fallen. Da der Kanzlerkandidat der Union nicht ohne Beteiligung der CSU auf den Schild gehoben werden kann, wird in Saarbrücken nur über die Führungsspitze der Partei entschieden und die Kanzlerkandidatur-Frage nur vorentschieden werden können.

Beide Modelle haben eine Fülle von Argumenten hinter sich. Für die Personalunion spricht der Gesichtspunkt, daß der neue Parteivorsitzende größere Chancen hat, personelles Integrationssymbol der Union zu werden. Für die Ämtertrennung sprechen die Schwierigkeiten der Parteireform, die ein Engagement verlangt, das von einem Mehrfachamtsträger in der Regel nicht erwartet werden kann. Unter dem Gesichtspunkt Effizienz lassen sich für beide Modelle Argumente ins Feld führen.

Sowohl das Prinzip „alle Zügel in eine Hand“ wie eine institutionalisierte Arbeitsteilung zwischen Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten können effizient sein. Dennoch läßt sich die Vermutung formulieren, daß unter dem Gesichtspunkt der Außenwirkung die Personalunion, unter dem Gesichtspunkt der Innenwirkung die Amtertrennung adäquater zu sein scheint, obwohl diese Unterscheidung mehr theoretischer Natur ist, denn die Reform und Dynamisierung der Partei erhöht ihre Wahlchancen ebenso wie eine Vereinheitlichung ihre Repräsentanz nach außen. Dies bedeutet für die Delegierten des CDU-Partei-tages in Saarbrücken, wenn sie sich für die Personalunion entscheiden, dafür Sorge tragen zu müssen, daß ein Mitglied des Präsidiums mit der Aufgabe betraut wird, die Partei zu führen und zu reformieren.

Fällt die Entscheidung in Saarbrücken für eine Ämtertrennung, dann müßte der neue Parteivorsitzende auf jenen Teil seiner repräsentativen Funktionen verzichten, die ihn nach außen in Konkurrenz mit dem Kanzlerkandidaten geraten lassen könnten. Dem Kanzler-kandidaten dürfte die primäre Verantwortung, die Politik der Partei zu repräsentieren, nicht strittig gemacht werden; der neue Parteivorsitzende hätte seine Hauptaufgabe in der Führung der Partei und in der Einwirkung nach innen zu sehen.

Die neue Führung der Union ist um ihre Aufgabe nicht zu beneiden. Sie wird mit allen programmatischen und organisatorischen Unzulänglichkeiten der Union gegen die Bundesregierung arbeiten und den ins Stocken geratenen Regenerationsprozeß der Partei wieder in Gang bringen müssen. Denn daran kann kein Zweifel bestehen: Je weniger die Bundesregierung der Opposition Angriffsflächen bietet, um so mehr wird die Union ihre Kraft zur Opposition aus sich selbst schöpfen müssen und es auch können.

Bibliographische Hinweise

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Funktion und Auftrag des „C", hrsg. vom Bundesvorstand des RCDS, RCDS-Schriftenreihe Nr. 7, Bonn 1971 Gölter, Georg und Pieroth, Elmar (Hrsg.): Die Union in der Opposition. Analyse — Strategie — Programm, Düsseldorf und Wien 1970 Gross, Johannes: Die Christlich-Demokratische Union, Bonn 1957 Heck, Bruno: Demokraten oder Demokratisierte?, in: Die Politische Meinung, 128/1969 Heck, Bruno: Wozu noch Christ sein?, in: Die Politische Meinung 136/71 Kaack, Heino: Geschichte und Struktur des deutschen Parteiensystems, Opladen 1971 Müller, Ute: Die demokratische Willensbildung in den politischen Parteien, Mainz 1967 Olzog, Günther: Die politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland. Geschichte und Staat, Bd. 104, München 1967 3 Pütz, Helmuth: Zur Problematik der parlamentarischen Opposition, in: Reale Utopien, Glanz und Elend der Parteien, Schriftenreihe des Instituts für Internationale Solidarität, Bd. 6, Mainz 1970 Pütz, Helmuth/Radunski, Peter/Schönbohm, Wulf: 34 Thesen zur Reform der CDU, in: SONDE, Neue christlich-demokratische Politik, Nr. 4/69 Rollmann, Dietrich (Hrsg.): Die CDU in der Opposition. Eine Selbstdarstellung, Hamburg 1970

Fussnoten

Weitere Inhalte

HansLeoBaumanns. Dr. phil., Jahrgang Wolfgang Bergsdorf, Dr. phil., Jahr-1943, sozialwissenschaftlicher Fachberater bei gang 1941, stellvertretender Leiter der Abteilung der Bundesgeschäftsstelle der CDU und beim Presse der CDU, Studium der Politischen Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung; Studium: Wissenschaft und Soziologie in Bonn, Köln Volkswirtschaft und Recht in Aachen, und München, Autor von bildungsund wissenschaftspolitischen Moskau und Köln; seit 1968 Lehrbeauftragter Beiträgen für Zeitungen für Soziologie und Soziographie an der Technischen Zeitschriften und Rundfunkanstalten. Hochschule Aachen; 1970 Habilitationsschrift über die sozialwissenschaftlichen Methoden Veröffentlichungen: Student und Politik im geteilten im Städtebau; Autor von soialwissenschaftlichen Deutschland — Ergebnis einer Diskussion, Sendereihen im Fernsehen und hrsg. vom Kuratorium Unteilbares von Aufsätzen in in-und ausländischen Zeitungen. Deutschland, Bonn 1967; Bonn — Pekin — Pankow, in: Documents 4/1968; Die Zukunft meistern (zusammen mit A. König und J. Thomas), Veröffentlichungen: Volkskatholizismus im Hannover 1968; Hochschul-und Wissenschaftspolitik III. Reich, Köln 1969; Auseinandersetzung mit im geteilten Deutschland, in: dem Kommunismus, Düsseldorf 1968 2, Jugend Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1/1969; und Gesellschaft, Münster 1969 4; Deformierte Schulpolitik in beiden Teilen Deutschlands, in: Gesellschaft?! — Soziologie der BRD, Reinbek Aus Politik und Zeitgeschichte, B 13/1969; Berufsbildung 1969’; Soziologie und Städtebau, Bonn 1971; und Erwachsenenbildung in beiden Pathologie der Studentischen Revolution, Neuwied Teilen Deutschlands, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, 1971; Demokratie auf dem Prüfstand —-Stärken B 50/1969; Primat der Ökonomie, und Schwächen unseres parlamentarischen in: Deutschland-Archiv 2/1971. Systems, Reinbek 1971.